Fossum, Karin Die Stille bringt den Tod

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Das Zitat stammt aus Georges Simenon, Brief an meinen Richter.
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille und Barbara Klau.
Copyright der deutschsprachigen Übersetzung © 1977 Diogenes Verlag AG Zürich.

 

© Karin Fossum 2016
Titel der norwegischen Originalausgabe:
»Hviskeren«, Cappelen Damm AS, Oslo 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Friederike Arnold
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Trude Vaade/FOAP/Getty Images

 

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Zitat

An den Untersuchungsrichter

Ernest Coméliau

Rue de la Seine 23 b

Paris 6

 

Mein Richter

Ein Mensch, ein einziger, soll mich verstehen. Und ich möchte, dass Sie dieser Mensch sind.

Wir haben in den Wochen der Untersuchung lange Stunden zusammen verbracht, in den Wochen, aber da war es noch zu früh. Sie waren ein Richter. – Sie waren mein Richter, und es hätte so ausgesehen, als ob ich versuchte, mich zu rechtfertigen. Dass es darum nicht geht, wissen Sie jetzt, nicht wahr?

Georges Simenon
»Brief an meinen Richter«

Kapitel 1

Schön war sie nicht, und darüber war sie sich natürlich im Klaren, sie bewegte sich, wie unansehnliche Frauen das meistens tun, mit vorsichtigen Schritten und einem Blick, der um Entschuldigung zu bitten schien. Ohne den Wunsch, Raum einzunehmen, oder die Hoffnung, Eindruck zu machen, dass man ihr glaubte oder sie überhaupt auf irgendeine Weise ernst nahm. Seit weit über vierzig Jahren hatte der Spiegel sich über ihre mangelnde Schönheit geäußert, und sie hatte den Kopf gesenkt und dieses Urteil zur Kenntnis genommen. Wenn der Wind einen Funken mit sich gebracht hätte, hätte sie vermutlich Feuer gefangen, ihre Haare waren strohtrocken, und sie war bleich wie Papier. Sie trug einen Nylonkittel mit großen tiefen Taschen, die rein gar nichts enthielten, sie waren längst durchsucht und entleert worden. Auf die Brusttasche, dort, wo sich ihr Herz befand, war ein rot-grünes Logo gestickt, das Wort »Europris« in großen Buchstaben. Quer über ihren weißen Hals zog sich eine hässliche und unsauber verheilte Narbe. Sie war untergewichtig und vielleicht anämisch, rothaarig und sommersprossig. Aber trotz ihrer Farblosigkeit floss natürlich Blut durch ihre Adern, vor allem in diesem Augenblick, als sie hier vor ihm stand und ihre Aussage machen sollte. Die Hände tief in den sorgfältig durchsuchten Kitteltaschen vergraben. Sie wartete auf die Erlaubnis, sich zu setzen, war nicht dreist genug, eigenmächtig zu handeln. Sejer hatte im Laufe der Jahre schon viele Menschen vernommen, aber noch niemanden wie sie.

Sie zog vorsichtig den Stuhl zu sich heran, er durfte nicht über den Boden scharren, das hätte doch jemand hören und sich gestört fühlen können. Sie hatte noch nie mit den Anklagebehörden zu tun gehabt, um nichts in der Welt wollte sie ihn irritieren, provozieren oder seinen Zorn erregen. Erst jetzt entdeckte sie Sejers Hund hinten in der Ecke, der Hund erhob sich und kam auf sie zugetrottet. Der Hund Frank Robert, ein kleiner fetter Shar-Pei, war mit seinen vielen Falten und Runzeln ein bezauberndes Geschöpf, er schien einen viel zu großen Kittel zu tragen, genau wie sie selbst. Der Hund stellte sich auf die Hinterbeine und legte ihr seinen schweren Kopf auf den Schoß. Seine in den Falten kaum sichtbaren Augen rührten sie und ließen sie den Ernst der Lage vergessen. In ihrem Blick lag eine Andeutung von Freude, ein kleines Leuchten. Auch ihre Augen waren farblos, die Iris war hell und wässrig, die Brauen kaum zu sehen und dünn wie Marderhaare. Sie hatte nicht mit einem Hund gerechnet. Vor allem nicht mit einem, der auf diese Weise auf sie zukam, zutraulich und ohne Vorbehalte. Sie war nicht daran gewöhnt, Begeisterung zu erwecken, nicht bei Volk und nicht bei Vieh. Als alter Bettler, der er war, blieb Frank auf den Hinterbeinen stehen und sabberte auf den grünen Europris-Kittel. Als sie aufhörte, ihn zu streicheln, legte er ihr die Pfote aufs Knie und hoffte auf mehr.

»Frank«, sagte Sejer, »leg dich hin.«

Der Hund trottete zurück an seinen Platz. Er hatte eine Decke, die er mit den Pfoten zu einer Art Nest zusammengeschoben hatte. Die vielen überzähligen Kilos machten ihn langsam, und jedes Kommando des Leittieres musste sorgfältig übersetzt und bewertet werden, bis es befolgt wurde, deshalb dauerte es. Außerdem war er ein in die Jahre gekommener Hund. Sehkraft, Gehör und Beweglichkeit waren deutlich reduziert.

»Wir können uns doch mit Vornamen anreden«, sagte der Kommissar. »Konrad.«

Er streckte die Hand aus.

»Ragna«, flüsterte sie. »Riegel.«

»Wie die Schokolade«, sagte Sejer und lächelte. »Die hab ich als Kind so gern gegessen, und da kostete sie nur dreißig Öre. Einmal Riegel konnten sich alle leisten.«

Als diese Worte gefallen waren, ging ihm auf, was er da gerade gesagt hatte, aber sie musste lächeln, und das Eis war gebrochen.

Ihre Hand, schmal und weiß, lag für einen Augenblick in seiner. Er registrierte den Mangel an Kraft, der bescheidene Händedruck war warm und trocken, aber sie zeigte keine Anzeichen von Angst, obwohl sie rasch die Augen niederschlug. Der Händedruck war der erste Schritt zu etwas Unvermeidlichem. Zu allem, was besprochen, erklärt und verstanden werden musste.

Sie musterte ihn verstohlen. Musste an altes, imprägniertes Holz oder Baumstämme in einem Fluss denken, an etwas Schweres, Treibendes. Er war um einiges älter als sie, groß und grau. Er trug ein schlichtes Hemd mit einem dunkelblauen Schlips. Auf den Schlips war eine Kirsche mit grünen Blättern gestickt. Die Kirsche war keinesfalls maschinell angebracht worden, dachte Ragna, jemand, vermutlich eine Frau, hatte sich mit Nadel und Faden ans Werk gemacht und ihm diese kleine Frucht als Liebeserklärung geschenkt.

»Jetzt wollen Sie sicher Vertrauen zwischen uns aufbauen«, flüsterte sie. »Sie werden mit keinem Wort erwähnen, warum ich hier sitze, noch lange nicht. Sie wollen mich langsam anwärmen, bis ich platze wie ein Maiskorn in einem Kochtopf. Und mein Inneres ausstülpe.«

»Vertrauen wäre schön«, sagte Sejer. »Möchten Sie das?«

Ragna hatte sich rein gar nichts erhofft. Die Polizei wollte doch ein Geständnis; wenn das vorlag, konnte Anklage erhoben werden, und dann würde der Fall vor Gericht kommen. Und die Polizei könnte sich auf den Nächsten konzentrieren.

»Ja, bitte«, flüsterte sie. »Vertrauen wäre schön.«

Er wusste, dass sie keine Stimme hatte. Die hatte sie einige Jahre zuvor bei einer Halsoperation verloren, einem belanglosen Eingriff, der fatale Folgen gezeitigt und ihre Stimmbänder unwiderruflich ruiniert hatte. Außerdem war die Narbenbildung unvollständig gewesen, sie hatte nun eine grobe, gezackte Linie am Hals, die für alle Welt deutlich zu sehen war, und das Narbengewebe war noch immer rot. Er stellte sich vor, dass sie die Narbe vielleicht mit einem Rollkragenpullover oder einem Halstuch verdeckte. Jetzt hatte sie sich diese Mühe nicht gemacht. Der nackte, narbige Hals war ein Teil ihrer Erklärung. Aber obwohl sie nur flüstern konnte, hatte er keinerlei Probleme damit, sie zu verstehen. Ragna artikulierte sich besser als die meisten anderen. Sie nutzte die Gesichtsmuskeln, bildete die Wörter deutlich mit Zunge und Lippen. Außerdem gewöhnte Sejer sich rasch an die Situation. Er schärfte alle Sinne, las ihr von den Lippen ab und registrierte ihre Mimik, das machte er ohnehin immer bei Vernehmungen. Ihm kam der Gedanke, dass gerade das hier, so zu sitzen, einem anderen Menschen gegenüber, der etwas zu erzählen hatte, eine Geschichte über Angst und Wut, über gefährliche Gegner oder über unvermeidliche Notwehr, großes Unglück oder brennenden Hass, ihn noch immer faszinierte, trotz seines Alters. Eine Erinnerung aus seiner Kindheit tauchte auf. Die kleinen Jungen, die auf dem Schulhof aufeinander einschlugen und danach dem Lehrer, der sie zur Ordnung rief, den üblichen Kommentar servierten: Der da hat aber angefangen!

»Ragna«, sagte er ernst. »Sie sitzen seit achtundvierzig Stunden in Untersuchungshaft. Sie müssen vorläufig vier Wochen hierbleiben, dann erfolgt eine Verlängerung um weitere vier Wochen, vermutlich wird das mehrere Male geschehen. Werden Sie das aushalten?«

»Sicher«, flüsterte sie.

»Schaffen Sie es, sich an die Wärter zu wenden und zu sagen, was Sie brauchen? Auch wenn es Ihnen manchmal vielleicht verweigert wird?«

»Ich brauche nichts. Ich bekomme zu essen und zu trinken. Ich habe meine eigene Decke. Genau wie Frank.«

Sie nickte zu dem Hund hinüber.

»Der kriegt jedenfalls, was er braucht«, fügte sie hinzu und spielte damit auf die viel zu vielen Kilo des Hundes an.

Diese kleine Frechheit wurde von einem gutmütigen Lächeln begleitet, vielleicht als Antwort auf seine Stichelei über die Schokolade.

»Ich weiß, dass Sie keine Familie haben«, sagte Sejer. »Oder irre ich mich da?«

»Ich habe einen Sohn«, flüsterte Ragna rasch. »In Berlin. Aber der kommt nie nach Hause. Er hat auch keine Familie, er leitet da unten ein Hotel. Ich bekomme immer zu Weihnachten eine Karte, oder zum Geburtstag. Bei seiner Geburt war ich erst siebzehn.«

»Wie heißt er?«

»Rikard Josef.«

»Und sein Vater?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum kommt Ihr Sohn nie nach Hause?«

Sie zuckte mit den schmalen Schultern und schaute in eine andere Richtung. Sejer schob den abwesenden Sohn beiseite, wie ein Stück Gepäck, für das er im Moment noch keine Verwendung hatte.

Während des Gesprächs beobachtete er die zurückhaltende Gestalt. Sie saß gerade und still auf dem Stuhl, fast in Habachtstellung, und zeigte deutlich ihren Respekt vor der Autorität, die er hier vertrat. Dennoch wusste er, dass sie nach einiger Zeit, einigen Stunden oder Tagen, langsam auftauen würde. Sie würde anfangen, sich zu bewegen, würde ihre Hände mehr benutzen, würde sich anders hinsetzen, sich vorbeugen oder zurücklehnen, er sah das alles nicht zum ersten Mal. Aber sie war nicht wie die Angeber, aggressiv, von denen ihm so viele begegnet waren. Die hingen gern über dem Tisch und betonten ihre Aussagen mit der Faust, oder sie kippelten mit dem Stuhl, um so viel Lärm zu machen wie möglich. Einige trampelten durch das Zimmer, sie fluchten und pöbelten, während sie genau die Wörter schrien, die er so oft auf dem Schulhof gehört hatte. Er machte den Anfang.

Ragna würde niemals laut werden können. Diese Tatsache hatte ihr eine stoische Ruhe verliehen, hielt sie fest, hielt sie vielleicht gefangen. Es ist schwer, aus der Haut zu fahren, wenn man nicht schreien kann. Sie gehört nicht hierher, dachte er, bei ihr herrscht Ordnung. Ein altes Haus in Kirkelina, das sie von ihren Eltern geerbt hat. Feste Stelle und freundliche Kollegen. Sie verdiente zwar nicht viel, aber sie lebte allein und brauchte kein Darlehen abzubezahlen. Sie sah nicht aus wie eine Frau mit teuren Angewohnheiten, und drogensüchtig war sie auch nicht. Dennoch saß sie vor ihm auf dem Stuhl.

»Haben Sie eine Tonbandaufnahme Ihrer Stimme aus der Zeit, als sie noch unversehrt war?«, fragte er.

Die wasserblauen Augen weiteten sich vor Erstaunen. Diese Frage war ihr noch nie gestellt worden, von keinem einzigen Menschen. Sie überlegte rasch, dass es so ein Gefühl sein musste, wenn eine Frau über ihr totes Kind sprechen durfte. Für den Rest ihres Lebens, mit jemandem, der keine Angst davor hatte, die Trauer noch einmal aufleben zu lassen.

»Warum wollen Sie das wissen?«, flüsterte sie und freute sich. Ihre Wangen röteten sich sogar.

»Ich bin nur neugierig«, antwortete Sejer. »Wenn Sie eine Aufnahme hätten, würde ich sie gern hören. Ich versuche, mir vorzustellen, wie Sie gesprochen haben, als Sie das noch konnten.«

»Es gibt keine Aufnahme«, sagte Ragna. »Aber alle sagen, ich hätte mich angehört wie ein kleines Mädchen. Wenn Fremde anriefen, ein Vertreter zum Beispiel, und ich mich mit Ragna Riegel meldete, kam immer dieselbe Frage: ›Sind irgendwelche Erwachsenen zu Hause?‹ Ich fand das jedes Mal witzig. Nach und nach wurde es zu einem Spiel, das mir Spaß machte. Menschen mit der Mitteilung in Verlegenheit zu bringen, dass ich fast vierzig und allein zu Hause bin und meine Eltern nicht mehr leben.«

»Witziges Spiel«, bemerkte Sejer. »Jetzt können Sie nur flüstern. Bringen Sie noch immer Leute am Telefon in Verlegenheit?«

»Ich gehe gar nicht ran, wenn ich die Nummer im Display nicht kenne. Ich stelle mir vor, wenn es wichtig ist, versuchen sie es wieder. Wenn eine SMS kommt, antworte ich. Oder auf Mails. Aber ich bekomme nicht viele Mails. Nur Reklame.«

»Wenn es an der Tür klingelt, machen Sie dann auf?«

»Meistens«, flüsterte sie und schlug die Augen nieder. »Ich kann inzwischen gut nicken und lächeln oder den Kopf schütteln, oder ich nehme die Hände zu Hilfe. Und ich mache schnell die Tür zu, wenn es nicht wichtig ist, und es ist doch nie wichtig. Alle wollen irgendwas verkaufen. Aber wenn ein Kind etwas für einen guten Zweck sammelt, gehe ich ins Haus und hole ein paar Münzen. Und dann winke ich die Leute weg. Ich kann sehr unterschiedlich winken«, flüsterte sie, »freundlich oder abweisend. Ich kann Leute verscheuchen wie Insekten. Oder die Hand wie ein Stoppschild heben.«

Sie hob die Hand.

»Wie ist es, wenn Sie unter Leuten sind?«

»Nicht so gut«, gab sie zu, »das können Sie sich ja vorstellen. Ich bin nicht oft in der Stadt unterwegs, da ist zu viel Verkehrslärm. In fast allen Läden läuft Musik. Eine Rolltreppe oder ein Fahrstuhl reichen. Wenn ich da auf Leute stoße, die reden wollen, kann ich nicht mithalten. Wenn jemand zum Beispiel nach dem Weg fragt, versteht er meine Antwort nicht, und weil ich Angst davor habe, abweisend oder unfreundlich oder vielleicht arrogant zu wirken, versuche ich, solche Situationen nach Kräften zu vermeiden. Aber ich muss ja ab und zu aus dem Haus. Ich muss doch essen, und ich muss einkaufen. Immerhin wissen die Nachbarn, was los ist, und ich kaufe fast alles im selben Laden.«

»Und Ihre Arbeitskollegen? Bei Europris?«

»Die haben keine Probleme mit meiner Stimme, sie sind daran gewöhnt und haben die Technik gelernt. Aber natürlich müssen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Sie werden sich auch daran gewöhnen«, flüsterte sie, »aber ich sehe, dass Sie sich anstrengen. Diese Anstrengung wird für mich zur Last. Ich dränge mich anderen nicht auf, wenn es nicht unbedingt sein muss. Aber jetzt muss es sein.«

»Aber im Laden gibt es doch viele Kunden«, sagte Sejer.

»Ich löse ein Problem nach dem anderen«, flüsterte sie. »Ich nicke und lächele und zeige.«

Sie senkte wieder den Kopf. Ein Zeichen, dass der Ball jetzt bei ihm lag. Er überlegte, ob sie wohl ein ungewöhnlich gutes Gehör entwickelt hatte, so wie Menschen mit einer Hörschädigung, die laut und deutlich sprachen. Er fragte nicht danach. Er staunte noch immer darüber, dass sie hier saß, dass sie in diese Situation geraten war. Wo sie doch wirklich dünn wie ein Grashalm war und noch dazu kaum zu hören. Er konnte ihre Hände nicht sehen, sie hatte sie zwischen ihren Knien versteckt. Wie viel kann sie wohl hochheben, überlegte er, wie schnell kann sie laufen, wie hart kann sie zuschlagen? Jeder greift zu den Waffen, die gerade zur Hand sind. Von Angesicht zu Angesicht, dachte er plötzlich, so wie wir hier sitzen, unter vier Augen, ohne Lärm oder Störungen, haben wir den besten Ausgangspunkt, um die Wahrheit zu finden. Die Lüge hat in diesem Raum keine guten Bedingungen. Was hatte seine alte Mutter noch gesagt, ehe in ihrem Gehirn ein Blutgefäß geplatzt war wie ein Fahrradschlauch und ihr Leben zur Wüste gemacht hatte? Die großen Gebiete der Erinnerungen, alles, was gewesen war, alles, was kommen würde und was sie nicht speichern könnte.

»Alle Menschen sollten einmal im Leben heftig in Tränen und Reue zusammenbrechen.« Genau das hatte sie gesagt. Und dann war sie gestorben. Ragna Riegel saß vor ihm auf dem Stuhl, und nur die Entschlossenheit hielt sie aufrecht. Würde auch sie heftig in Tränen und reuevoll zusammenbrechen?

Kapitel 2

Die Stelle bei Europris hatte sie seit einigen Jahren. Aber niemand dort hatte sie vor der Operation gekannt und etwas gewusst, als sie zum ersten Mal den Mund aufmachte. Na gut, sagten sie nur und waren entgegenkommend. Ab und zu saß sie an der Kasse, oder sie war im Lager und öffnete mit einem scharfen Messer Kartons, um danach die Waren in einem Einkaufswagen in den Laden zu schieben, mit Preisen zu versehen und in die Regale zu stellen. Wenn ein Kunde sie ansprach und eine Frage stellte, lächelte sie freundlich und ging wortlos zu dem Regal, wo die gewünschte Ware lag, zeigte darauf und lächelte ein weiteres Mal. Das Lächeln war ihre Waffe, ihre Selbstverteidigung. Wenn doch eine Frage kam, die sie beantworten musste, flüsterte sie so deutlich, wie sie konnte, und legte den Zeigefinger auf die Lippen, um zu signalisieren, dass sie ein Handicap hatte. Die Kunden nickten höflich und drehten sich eilig zum Regal um. Viele waren Stammkunden, die inzwischen begriffen hatten. Mehrere von Ragna Riegels Kollegen und Kolleginnen waren in ihrem Alter, darüber freute sie sich. Sie konnte mit den jungen nicht so gut umgehen, die machten sie unsicher. Sie kannte die Welt nicht, in der sie lebten, verstand kaum ihre Sprache. Es gab unendlich viele Wörter, deren Bedeutung sie nicht kannte, seltsame Abkürzungen, oft auf Englisch. Einer ihrer Kollegen, Lars, der etwas jünger war als sie selbst, nannte sie Ragnarokk, das gefiel ihr. Es gefiel ihr, dass er nicht versuchte, sie zu schonen, dass er niemals seine Worte auf die Goldwaage legte und manchmal, wenn es ihm gerade angebracht schien, auf eine geflüsterte Bemerkung ihrerseits antwortete: Jetzt schrei mich doch nicht so an!

Dann prusteten sie beide los, Lars herzlich und dröhnend, sie auf ihre leise Weise wie ein kurzatmiger Hund. Sie hatte den Kollegen stillschweigend eine Art Recht eingeräumt, sie zu necken. Aber das galt nicht für die von außerhalb, die Fremden. Weil sie keine Stimme hatte, waren ihr die Stimmen der anderen wichtig. Die Leute hatten gar keine Vorstellung, wie viel sie von sich verrieten, wenn sie nur den Mund aufmachten. Einige versteckten sich hinter einem schrillen Gackern, andere murmelten etwas Unverständliches. Einige sprachen mit einem melodischen Singsang, andere hatten flache und ausdruckslose Stimmen, wieder andere dröhnten und brüllten, um sich zu behaupten.

Sie arbeiteten in Schichten. Von zehn bis fünf oder von eins bis acht, ihr war das recht so. Sie wohnte allein in dem Haus in Kirkelina, sie brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Die Einsamkeit, die sie natürlich verletzlich machte, gab ihr auch ein Gefühl von Freiheit und Kontrolle. Sie kam und ging, wie sie wollte, niemand wartete, niemand stellte Fragen. Aber sie dachte jeden Tag an Rikard Josef, es freute sie, dass sie wusste, was es bedeutete, ein Kind zu haben, sie gehörte gern dazu, wenn die Kolleginnen über ihre Kinder sprachen, was sie ununterbrochen taten.

Über ihren eigenen Sohn konnte sie allerdings nicht sehr viel erzählen. Das Wenige, was sie wusste, hatte sie längst gesagt, aber sie wiederholte es gern. Oder sie dichtete ein wenig dazu oder übertrieb, um das Gespräch länger in Gang zu halten. Sie war auf ihre eigene Weise stolz auf ihn, auch wenn er fast jegliche Verbindung zu ihr gekappt hatte. Nie ein Brief, nie ein Anruf, nie ein Besuch. Nur die übliche Weihnachtskarte und dann vielleicht noch eine zu ihrem Geburtstag im Frühsommer. Einmal hatte sie eine Karte aus Pattaya bekommen, wo er Ferien machte. Allein, glaubte sie, sonst erwähnte er niemanden. Aber es machte Spaß, den anderen zu erzählen, dass er in Berlin ein Hotel leitete, das Dormero hieß und bei TripAdvisor fünf Sterne hatte. Sie war zwar nie dort gewesen, er hatte sie nie eingeladen, aber sie hatte sich im Internet Bilder angesehen. Oft, wenn sie sich ganz besonders nach ihm sehnte, konnte sie ganze Abende verträumen, während sie Bilder von Sälen und Suiten und Restaurants betrachtete. Die große offene Rezeption mit den Kronleuchtern, die Bar mit den tiefen Sesseln. Wenn sie ehrlich war, hatte sie einen großen Traum. Sich in ein Flugzeug nach Berlin zu setzen und in der Ankunftshalle von ihrem Sohn erwartet zu werden, danach ins Zentrum zu fahren, vielleicht in einem großen Mercedes, um dann durch sein Lebenswerk geführt zu werden. In einem schönen Saal gut zu essen, in einem Zimmer zu übernachten, das er sorgsam für sie ausgesucht hatte, vielleicht in einer Suite. Aber das passierte nicht. Und die Jahre vergingen. Die ganze Zeit gab es nur eine Karte zu ihrem Geburtstag am 17. Juni und eine zu Weihnachten, mit einem Engel oder einem Stern und einem kurzen, vorgedruckten Gruß auf Deutsch. Und seinem Namen natürlich, oder nur den Initialen, die schrieb er mit der Hand, und sie waren kaum leserlich. Sie bezweifelte, dass er sich erinnern konnte, wie alt sie jeweils wurde. Er war erst siebzehn gewesen, als er sie verlassen hatte, voller Träume und Visionen, es hatte ihn nicht viel gekostet, ihr den Rücken zu kehren. Sie war damals vierunddreißig gewesen, und seit jenem schweren Tag waren über zehn Jahre vergangen.

Was, wenn ich einfach hinfahre, dachte sie plötzlich, und auf eigene Faust den Weg zum Hotel suche und mit einem Koffer in der Hand an der Rezeption stehe? Und nach dem Chef frage? Nach nur einer halben Minute würde er auftauchen, natürlich durch eine Tür hinter dem Tresen, vermutlich in einem eleganten Anzug. Er würde über den mit Teppich ausgelegten Boden gehen, weltmännisch und mit fragendem Blick. Es würde einige Sekunden dauern, bis er sie erkannte, sie sah seine großen Augen und die gehobenen Augenbrauen vor sich, vielleicht wäre er verlegen. Sie würde herumstottern, Wörter, die er nicht hörte, und die Verlegenheit würde nur wachsen. Er wusste nicht, dass sie ihre Stimme verloren hatte, hatte keine Ahnung von der Katastrophe. Sie begriff nicht ganz, warum es zwischen ihnen so weit gekommen war, sie hatte nie gewagt zu fragen. Aber ehrgeizig war er jedenfalls, und abenteuerlustig. Das war sie selbst nicht. Dass er eine leitende Stellung innehatte, noch ehe er dreißig war, machte sie unendlich stolz.

Das meiste war ihre eigene Schuld, so sah sie das. Mit sechzehn schwanger zu werden, von einem Mann von weit über vierzig, der natürlich schon eine Familie hatte und sie nicht verlassen wollte, das war nicht klug gewesen. Also war Rikard ohne Vater aufgewachsen. Aber sie hatte ihn so geliebt und alles für ihn getan! Sie hatte ihn Tag und Nacht umhergetragen. Was gleichaltrige Mädchen machten, interessierte sie nicht mehr, sie hatte rein gar nichts vermisst, hatte nicht ausgehen oder sich verlieben oder Jungen in ihrem Alter kennenlernen wollen. Sie war nur in ihren Sohn verliebt. In seinen Anblick und seinen Geruch, das flaumige Köpfchen, den feuchten Mund. Sie träumte nicht von Status oder Familie. Es gab nur sie und ihren Jungen.

 

Noch zehn Minuten, dann war die Schicht zu Ende. Sie schob den schweren Wagen vor sich her, in dem zwei offene Kartons mit Badezimmerartikeln lagen. Unten in den Wagen hatte Lars eilig einen Karton gestellt, in den sie noch nicht hineingeschaut hatte. Sie fing an, Klobürsten in ein Regal zu sortieren, sie waren aus Kunststoff und hatten drei verschiedene Farben und kosteten neunzehn Kronen, gegen den Preis gab es nichts einzuwenden. Als die Bürsten einsortiert waren, sahen sie aus wie Blumen in einem Beet, rote, lila und gelbe. Sie wusste, dass nicht alles von guter Qualität war. Die Kerzen, die sie verkauften, tropften und zerliefen und hielten nicht so lange wie andere, teurere Kerzen. Der Kaffee war bitter und dünn und die Pralinenschachteln oft so alt, dass der Inhalt grau und trocken geworden war. Einige Male hatten die Pralinen helle Flecken, weil die Schachteln Temperaturveränderungen ausgesetzt gewesen waren. Aber vieles andere war in Ordnung. Plastikdosen und Flickenteppiche, Vorhänge, Frotteehandtücher, Küchengeräte und Werkzeug. Als alle Klobürsten untergebracht waren, öffnete sie den Karton von Lars. Sie las das Wort »Malaysia«. Der Karton enthielt acht kleinere Schachteln. Lachend stellte sie fest, dass jede davon einen Totenschädel aus Keramik enthielt, sie waren wirklich ziemlich naturgetreu, wie sie da auf ihrem kleinen Sockel standen. Sie hob einen hoch und entdeckte, dass in den Augenhöhlen kleine rote Glühbirnen waren, und die dazugehörigen Batterien lagen in der Schachtel und mussten in den Sockel geschoben werden. Sie öffnete die kleine Klappe und steckte sie hinein, sofort leuchteten die dunklen Augenhöhlen auf. Danach stellte sie die übrigen sieben Schachteln ins Regal, und zuoberst kam der Totenschädel mit den leuchtenden Augen. Sie dachte an die Kinder, die vielleicht so einen Schädel zu Weihnachten bekommen und auf den Nachttisch stellen würden. Allein lagen sie in der Dunkelheit und starrten in die roten Augen, ja, so wie sie jetzt in diese Augen starrte, sie blieb lange stehen, ohne sich losreißen zu können, diese Augen hatten etwas Eindringliches. Sie würde sie sofort Gunnhild zeigen. Dann könnten sie zusammen lachen.

Sie stellte den leeren Wagen zurück, holte aus der Garderobe ihre Handtasche, zog den Mantel an und flüsterte Gunnhild und Lars einen Abschiedsgruß zu, nachdem sie auf die Totenschädel gewiesen hatte. Sie hatte am meisten mit Lars und Gunnhild zu tun. Einige hatten nur eine halbe Stelle oder arbeiteten am Wochenende, die ignorierte sie. Und sie sorgte dafür, dass sie von ihnen ignoriert wurde. Ihre Welt sollte klein und übersichtlich sein, dann hatte sie alles im Griff. Es war Viertel nach acht, als sie zur Bushaltestelle ging, es war Herbst und dunkel. Vier Fahrgäste standen im Wartehäuschen, sie stellte sich davor hin und kehrte ihnen den Rücken zu. Im Laufe der Jahre hatte sie sich einen festen Platz am Fenster in der dritten Reihe hinter dem Fahrer auserkoren. Wenn der Platz besetzt war, fühlte sie sich unwohl. Dann kam sie sich vertrieben vor. Jemand war in ihr Revier eingedrungen. An diesem Tag war ihr Platz frei, und sie setzte sich zufrieden hin, es war fast, wie in eine perfekt passende Form zu gleiten.

Der Bus brauchte vierzig Minuten bis Kirkelina. Sie saß gern im Bus und schaute aus dem Fenster. Manchmal, wenn sie müde war, lehnte sie die Wange an das kühle Glas und schloss die Augen. Wenn der Bus eine Ampel passierte, blinkte es durch ihre Lider. Ihre Gedanken waren immer frei, wenn sie in Bewegung war, umgeben von der Karosserie des Busses wie von einem dicken Panzer. Die Fahrt nach Hause war ihr lieb und teuer geworden, es war ein goldener Moment, in dem sie ein Teil der Welt und des Verkehrs und trotzdem beschützt war.

 

Die Straße lag dunkel und still da, als sie an ihrer Haltestelle ausstieg. Es dauerte nur wenige Minuten bis zu ihrem Haus, aber zuerst lief sie schnell auf die andere Straßenseite zu Irfans Laden. Der hatte immer offen. Sie stellte sich vor, dass Irfan im Hinterzimmer auf einer Matratze schlief, und wenn die Türklingel ging, egal, ob tagsüber oder nachts, sprang er sofort auf, um seinen Kunden zu Diensten zu stehen. Sowie sie die Tür öffnete, ertönte die Klingel, und sie hatte das Gefühl, feierlich angekündigt zu werden. Sie nahm den exotischen Duft der Gewürze und der anderen guten Dinge aus seinem Heimatland, der Türkei, wahr. Sie kaufte Reis, Tee, Tomaten und große, selbst gebackene Fladenbrote, die sie gern mit Käse und Schinken aß. Und vier Flaschen Uludag Frutti. Immer wenn sie bei Irfan Baris war, im Licht und in der Wärme, schlenderte sie an den Regalen vorbei und freute sich wie ein Kind. Der Laden war ganz anders als die norwegischen Läden, eher wie ein Miniaturmarkt, duftend und bunt. In einem eigenen Regal stand eine Auswahl an Parfüm in knallbunten Flaschen. Manchmal nahm sie eine in die Hand und drehte den Verschluss ab. Sie rochen alle scharf und billig, aber sie kosteten auch nicht viel. Starry Night. Secret Dream. Killer Queen. Es gab auch ein reiches Angebot an Dörrobst, außerdem gefüllte Kekse und ungewöhnliche Soßen im Glas. Windeln und Seife, Obst und Gemüse. Das Obst blieb in der Auslage, auch wenn es braune Flecken hatte, die Bananen lagen oft lange da, ehe sie durch frische ersetzt wurden. Die Plastiktüten waren von der billigsten Sorte, dünn und ohne Reklame. Wenn sie etwas Schweres gekauft hatte, musste sie die Tüte umklammern, der Griff riss viel zu leicht. Aber sie brauchte ja nur die Straße zu überqueren, dann war sie zu Hause. Irfan war ein schöner Mann, um einiges jünger als sie selbst, schlank, golden und dunkel. Er lächelte nie. Seine ganze Haltung strahlte Rastlosigkeit aus, die Sorgen hatten sich in seinen Körper eingeprägt, der ununterbrochen zu vibrieren schien. Oft telefonierte er, während er sie bediente, manchmal führte er auch Selbstgespräche in seiner eigenen, für sie unverständlichen, aber schönen Sprache. Er schaute immer wieder eilig aus dem Fenster, als ob er nach jemandem Ausschau hielt, aber er hatte auch Zeit für einige Worte in gebrochenem Norwegisch. Dann beendete er das Gespräch mit einem kleinen Nicken, vielleicht hatte er das von ihr gelernt.

 

Sie knipste nie die Lampen aus, wenn sie das Haus verließ. Es sollte leuchten und sie voll Wärme willkommen heißen, wenn sie von der Arbeit kam, vor allem jetzt, in der herbstlichen Dunkelheit. Es war ein bescheidenes ebenerdiges Haus, Wohnzimmer und Küche, zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer und ein Keller, wo die Waschmaschine stand und wo Platz für allerlei Schrott war, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Von ihr und Dinge, die ihre Eltern hinterlassen hatten. Der Keller war kalt und feucht, bei heftigem Regen bildeten sich auf dem Kellerboden feuchte Flecken. Sie hatte immer schon in diesem Haus gewohnt, auch nach der Geburt ihres Sohnes, sie hatte kein Geld gehabt, als sie schwanger wurde und Hilfe brauchte. Sie waren zu einer vierköpfigen Familie geworden. Vor dem Haus gab es einen kleinen Garten, wo sie nicht viel machte, solch eine Begabung besaß sie nicht. Sie hatte auch eine kleine Veranda, auf der sie selten saß, es gefiel ihr nicht, wenn sie von der Straße aus gesehen werden konnte. Und mit ihrer weißen Haut und ihren verblichenen roten Haaren vertrug sie Sonne nicht. Unten an der Straße standen die Mülleimer, ein Gestell mit einem Briefkasten und nicht zuletzt, gleich an ihrer Auffahrt, eine große Straßenlaterne. Der Eingang zum Haus war immer hell erleuchtet. Jedes Mal, wenn sie vom Bus kam, stellte sie sich vor, dass die Laterne gerade für sie so aufgestellt worden sei, um ihr den Weg nach Hause zu weisen. Man darf doch spielen, dachte Ragna Riegel. Kinder spielen die ganze Zeit.

Sie hatte die Straße überquert. Sie hielt die Einkaufstüte in der linken Hand und öffnete den Briefkasten. Nahm die Lokalzeitung und das Gemeindeblatt heraus, eine Werbebroschüre für Möbel und einen unscheinbaren weißen Briefumschlag. Sie bekam nicht viele Briefe. Auf dem Umschlag stand nur ihr Nachname, RIEGEL. In Großbuchstaben, ohne Adresse. Sie stellte die Tüte auf den Boden. Auf dem Umschlag waren weder eine Briefmarke noch ein Absender. Sie blieb im Licht der Straßenlaterne stehen und drehte und wendete ihn. Das Papier war schlicht und vielleicht recycelt, dünn und fast schon grau. Meine Güte. Eine Nachricht ohne Absender. Vielleicht Olaf von nebenan, der etwas auf dem Herzen hatte, oder Teigens von gegenüber. Oder vielleicht war es auch nur Reklame, die in der ganzen Straße, die sich zwischen Spinnerei und Kirche erstreckte, in den Briefkästen gelandet war. Es kam vor, dass Ausländer auf diese Weise ihre Dienste anboten. Sie putzten und strichen an und zimmerten, entrümpelten und reparierten, und sie überlegte, dass sie sich vielleicht wegen ihres Lattenzauns an so jemanden wenden sollte. Der musste angestrichen werden. Es konnte auch eine Mitteilung von der Gemeindeverwaltung sein. Nein, natürlich nicht, ihr Name war mit der Hand geschrieben. Sie ging über den Kiesweg zum Haus und schloss die Tür auf, legte die Post auf den Küchentisch. Ihre Handtasche fiel zu Boden, und sie streifte die Schuhe ab. Sie packte die Einkaufstüte von Irfan aus und beschloss, Risotto zu kochen. Falls die beiden Würste, die im Kühlschrank lagen, nicht schon über das Verfallsdatum hinaus waren. Nein, sie konnte sie noch essen. Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken und starrte den Briefumschlag an. Drehte und wendete ihn mehrere Male, als erwarte sie, dass auf der Rückseite doch noch ein Firmenname oder ein Logo auftauchen würde. Aber nichts dergleichen. Also öffnete sie den Umschlag und fand darin einen zusammengefalteten Zettel mit einer kurzen Mitteilung.

DU WIRST STERBEN.

Verwirrt stand sie mit dem Zettel in der Hand da. Sie war vor Schreck aufgesprungen. Ihr Herz schlug schwer und langsam. Unwillkürlich starrte sie zum Fenster hinüber, als ob dort draußen jemand stünde, der ihr alles erklären würde. Aber draußen war nichts, nur Dunkelheit und Licht in einigen Fenstern gegenüber bei Teigens. Sie erkannte eine schwache Bewegung, als sie näher an das Fenster herantrat, bleich und gespenstisch, ihr eigenes Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte. Wieder drehte sie den Umschlag um und musterte die Rückseite, aber immer noch kein Absender.

»Großer Gott«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. Du wirst sterben. Geschrieben in Blockbuchstaben, wie ein Kind schreiben würde, ein tüchtiges Kind. Die Buchstaben waren regelmäßig und schön. Sie lächelte, wenn auch ein wenig unsicher. Das werden wir doch alle, dachte sie. Sie beschloss, mit den Schultern zu zucken und so zu schnauben, wie ihr Vater das immer getan hatte, wenn er jemanden verachtete, was durchaus vorgekommen war. In Gedanken ging sie die ganze Straße durch. Sie kannte nicht alle, die hier wohnten, nur die nächsten Nachbarn. Aber viele waren in ihrem Alter oder älter. Die Häuser waren alt, errichtet in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, viele Bewohner waren alleinstehend. Keine jungen Familien. Keine Rotzgören, keine frechen Jugendlichen, soviel sie wusste. Aber es gab ja Enkelkinder, fiel ihr nun ein. Olaf und Grethe von nebenan hatten vier, die oft zu Besuch kamen. Olaf hatte im Garten ein Trampolin aufgestellt, sie konnte es von der Veranda aus sehen. Im Sommer hörte sie Lachen und Rufe, sie sah die schmächtigen Körper auf und ab hüpfen, auf und ab, umgeben von dem dichten, beschützenden Netz. Aber sie kannte Olaf und Grethe doch, das waren solide Leute. Sie glaubte nicht, dass ihre Enkelkinder solche Drohbriefe verschickten. Wenn der Brief überhaupt von einem Kind stammte. Kinder hatten zudem kein Auto, sie konnten nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad von einem Haus zum anderen gelangen. Aber die herbstliche Dunkelheit hatte ja etwas Einladendes. Was man da alles unbemerkt anstellen konnte! Sich von Haus zu Haus und von Garten zu Garten schleichen. Auf Gummisohlen, schwarz gekleidet, die Kapuze hochgeschlagen. Aber machte es bei solchen frechen Streichen nicht auch Spaß, die Wirkung dieser gemeinen Ideen zu beobachten? Niemand konnte sie jetzt sehen, wie sie hier in der Küche stand und die drei Wörter las. Ob sie sich aus Verzweiflung an den Kopf fasste oder den Brief voller Wut in Stücke riss und in den Ofen warf, ob sie fluchte oder Verwünschungen ausstieß. Es war also ein Streich, der keine Folgen haben würde, außer vielleicht, dass der Quälgeist sich ein bisschen gefreut hatte, als er den Brief in ihren Briefkasten fallen ließ und weitertrottete. Na gut, dachte Ragna Riegel. Manche sind ja wirklich schnell zufrieden. Wieder warf sie einen Blick zum Fenster hinüber, wo die Dunkelheit wie eine Wand schien. Sie dachte, dass die Zeit, in der Kinder sich auf der Straße herumtrieben und anderen Streiche spielten, längst vorüber war. Sie saßen jetzt in ihren Zimmern vor dem Computer, sie mobbten andere online. Sie würden sie gar nicht erst bemerken, würden sich nicht für ihre Schwäche, ihr Universum interessieren. Niemand wusste, was ihre große Angst war. Sie war nur eine einsame ältere Frau, die sich nie auf die Straße traute. Und jetzt wollte sie ihr Risotto kochen, es in aller Ruhe essen und sich dann mit der Zeitung hinsetzen, wo sicher allerlei über den Pöbel in der Stadt und die unmögliche Jugend von heute stehen würde. Es war ja schließlich Herbst. Doch, ja, die trieben sich auf der Straße herum. Unter Drogen standen sie sicher auch, denn sie stellte sich vor, dass es mehrere waren, bestimmt Jungen, wahrscheinlich sehr jung, im Teenageralter. Oder sie waren noch jünger. Aus ihrer eigenen Kindheit erinnerte sie sich an einige grausame Mädchen, acht oder zehn Jahre alt. Sie faltete den Zettel zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag, schnaubte noch einmal, um ihre Verachtung zu betonen. Dann brachte sie Wasser zum Kochen und schnitt die Würste in Scheiben, hackte Zwiebeln und Tomaten und Chili. Würzte großzügig, das Essen sollte scharf sein. Die ganze Zeit kehrte sie dem weißen Umschlag den Rücken zu. Aber sie spürte ihn durch ihre Kleidung, wie einen Stich, der Brief wollte etwas von ihr. Er lag dort und schrie. Sie warf den Kopf in den Nacken, um ihre Unruhe zu dämpfen. Um auf ihre zaghafte Weise Krach zu schlagen. Um diese Tür zu schließen, die sich geöffnet hatte, zu einem fremden Raum. Das Wasser im Topf blubberte, zuerst leise, dann energischer. Sie schaute wieder zum Tisch hinüber, konnte es einfach nicht lassen. Der Umschlag sah vollkommen anonym aus. Er schrie jetzt nicht mehr, er hatte angefangen zu flüstern, so wie sie, er verlangte Aufmerksamkeit. Sie hatte noch nie etwas dermaßen Belangloses gesehen, das gleichzeitig wie eine Bedrohung wirkte.

Sie goss Irfans Reis in den Kochtopf und gab einen Stich Butter dazu, drehte die Hitze herunter und legte den Deckel halb darüber. Die Wurststücke bräunte sie in einer Pfanne, zusammen mit Tomatenpüree und den übrigen scharfen Zutaten. Den Tisch wollte sie auf schlichte Weise decken, mit Teller, Glas und Besteck und einem Krug mit Wasser. Also musste sie den Brief wegnehmen und woanders hinlegen. Sie fluchte leise vor sich hin, wollte das wirklich nicht, öffnete den Brief aber und las ihn ein weiteres Mal.

Du wirst sterben. Von hinten würde es lauten: Sterben wirst du. Genau DU. Wer diese Nachricht geschrieben hatte, verfügte über eine feine Motorik. Die Buchstaben waren sorgfältig einer nach dem anderen gezeichnet worden. Der Absender wollte nicht, dass die Schrift ihn durch Schnörkel und Bögen verriet. Wie ein Fingerabdruck. Ein Mann, natürlich. Eine Frau würde nicht auf diese Weise drohen. War es jetzt plötzlich ein Mann, dachte sie, und kein Rotzbengel mehr? Sie drehte den Zettel um. Die Mitteilung war mit starkem Druck auf das dünne Papier geschrieben worden. Die Buchstaben waren deutlich zu erkennen. Was, wenn auf dem Umschlag nun »Ragna« gestanden hätte anstelle von »Riegel«? Oder beides. Ganz zu schweigen von »Kirkelina 7«. Dann hätte sie sich nicht so gefürchtet, also, ehe sie den Inhalt gelesen hätte, auch wenn sie sich den Unterschied nicht ganz erklären konnte. Die Botschaft richtete sich direkt an sie, sie hatte in ihrem Briefkasten gelegen. Ihr Sohn war ausgezogen, ihre Eltern tot. Und sie erweckte den Eindruck, dass sie, Ragna, nichts wert sei. Sie war nur »Riegel«. Und sie würde sterben. Es war das Knappe, das ihr Angst machte, das Nackte und Erbarmungslose, das gelassen Feststellende. Ich habe Hunger, dachte sie verwirrt und faltete den Zettel wieder zusammen. Steckte ihn in den Umschlag, öffnete die Tür unter dem Spülbecken und stopfte ihn tief in den Mülleimer. Dort lag er zusammen mit einigen alten, verdorbenen Essensresten.

 

Sie aß langsamer als sonst, und sie war empört. Als hätte jemand hinter ihrem Rücken getuschelt oder Gerüchte in die Welt gesetzt. Empört, weil sie niemals irgendwem etwas getan hatte, nie war sie aufgefallen, nie hatte sie schlecht über andere gesprochen, weder über Kinder noch über Erwachsene. Sie war verletzt. Sie war ernsthaft verstört. Sie schniefte ein wenig, aß fertig und stand auf, nahm die Mülltüte aus dem Schrankfach, verknotete sie energisch, schob die Füße in die Schuhe und ging hinaus, trug die Mülltüte zur Straße hinunter. Öffnete die Mülltonne. Sie war halb voll. Sie starrte die Straße hinunter und dann zur Kirche hinüber. Der Turm war gerade noch zu erahnen. Sie ließ die Mülltüte fallen und machte den Deckel zu. Auf einmal bemerkte sie ihren Nachbarn Olaf mit seinem Hund, er ging auf die Kirche zu. Olaf und der Hund trugen beide gelbe Reflexwesten. Sie blieb stehen, weil sie gern ein paar Worte wechseln wollte. Sie kannte Olaf gut, sie hatten immer schon nebeneinander gewohnt. Der Rottweiler Dolly hatte sie entdeckt und wollte zu ihr. Der Hund sah aus wie ein Welpe und wurde nie erwachsen. Sie sah ihren netten Nachbarn an und hatte nur einen Wunsch, er sollte ihr erzählen, dass auch er in seinem Briefkasten einen albernen Drohbrief gefunden hatte. Mit der Mitteilung, dass er sterben werde. Und auf dem Umschlag stehe nur sein Nachname. Skiold in Großbuchstaben. Keine Adresse, kein Absender. Aber er sagte kein Wort über einen solchen Brief, sah entspannt und munter aus, wirkte nicht besorgt. Er war ja auch ein Mann, er hatte eine Stimme, sogar einiges an Muskeln, glaubte sie, er war breit und stark und um etliche Jahre älter als sie. Er betrachtete die Straßenlaterne vor ihrer Einfahrt und sagte: »Um die Laterne beneide ich dich, Ragna. Vor unserem Haus ist es stockdunkel.«

Er zog an der Leine, denn Dolly wollte weiterrennen.

»Aber du hast das sicher verdient«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Ragna fragte sich, wie er das meinte. Ob er vielleicht meinte, dass sie ein wenig Hilfe brauchte, da sie ihre Stimme verloren hatte, sie hatte ja ein Handicap. Jetzt bin ich wohl gemein, dachte sie, Olav ist so ein lieber Mann. Olaf hört, was ich sage, auch wenn in dem Moment, wo ich den Mund aufmache, auf der Straße ein LKW vorüberfährt, er kommt einfach näher, er hört zu und liest mir von den Lippen ab.

»Teigens ziehen um«, teilte er ihr mit und nickte zu dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Das Haus konnte sie von ihrer Küche und ihrem Schlafzimmer aus sehen.

»Ach?«, flüsterte sie überrascht.

»Sie haben das Haus an eine thailändische Familie mit zwei Kindern verkauft«, sagte Olaf. »Die wollen in der Innenstadt ein kleines Restaurant aufmachen, und die Frau hat angeblich auch die Erlaubnis erhalten, ein Massageinstitut zu betreiben. Bei sich zu Hause. In einem Kellerraum.«

»Hä?«, rutschte es Ragna heraus. »Massage?«

Olaf musste über ihren Gesichtsausdruck lachen.

»Es ist sicher nur ein ganz bescheidenes Unternehmen. Sie kann offenbar ihre Ausbildung aus Thailand belegen und kennt sich mit Rückenbeschwerden aus. Es ist bestimmt billig, sie will nur jeden zweiten Tag öffnen.«

»Wirst du hingehen?«, flüsterte Ragna.

»Das kann ich nicht ausschließen«, sagte Olaf, »wenn meine Frau nichts dagegen hat. Die sind doch so hübsch, diese Thailänderinnen.«

Er zwinkerte ihr zu. Die Straßenlaterne spiegelte sich in seinen Augen und ließ tief drinnen etwas aufleuchten. Er drehte sich um und schaute einem Auto hinterher, es jagte an ihnen vorbei zur Kirche. Sie konnten die große Kirchturmuhr gerade noch sehen, das Zifferblatt leuchtete bleich wie ein Mond.

»Die Kalkablagerungen liegen auf meinem Skelett wie Schnee auf einem amerikanischen Weihnachtsbaum«, sagte Olaf. »Meint mein Hausarzt. Na komm, Dolly. Wir müssen weiter.«

Er zog den Hund mit sich, und sie sah die gelben Westen in der Dunkelheit tanzen. Er hatte keinen Brief bekommen. Nur sie hatte einen bekommen. Sie drehte um und ging zurück zu ihrem Haus, setzte sich in den Sessel vor dem Fernseher, blieb sitzen und verfolgte eine Nachrichtensendung. Sie musste unbedingt wissen, was in der Welt vor sich ging, ihre eigene war so unendlich klein, und die anderen bei Europris gingen immer die nächtlichen Ereignisse durch, wenn sie zur Arbeit kamen, und sie wollte orientiert sein. Wenn in Berlin etwas passiert war, spitzte sie die Ohren. Aber die Bilder fingen ihre Aufmerksamkeit nicht mehr so ein wie früher. Sie war noch immer verstört. Die Verstörung hatte sich wie ein Nagel in ihren Kopf gebohrt, hatte tief drinnen etwas getroffen. Sie saß still da, hatte die Hände im Schoß liegen und dachte, dass sie natürlich eine Idiotin war, weil sie den Brief nicht sofort in den Holzofen geworden und verbrannt hatte. Sie hatte ihn nicht einmal in Fetzen gerissen oder zerknüllt, die Mitteilung lag in der Tonne unten an der Straße und war unversehrt. Die Bedrohung war noch immer vorhanden, sie hatte sie nicht zerstört, sie lag da und schrie, schrie so laut, dass der Deckel der Mülltonne vibrierte, vermutlich konnte die ganze Straße das konstante Klappern hören. Sie hörten, dass Ragna die Ängstliche und Hilflose aus Nummer 7 war, die keinen Mann hatte, und nicht einmal eine Stimme. Sie stand auf und ging durch das Zimmer, zog die Schuhe an und riss die Tür auf, lief zur Straße hinunter und öffnete die Mülltonne. Beugte sich darüber. Es war dunkel, sie stand mit dem Rücken zur Laterne und sah fast nichts. Welche Mülltüte war es doch noch gleich, die oberste oder die, die ein wenig zur Seite gerutscht war? Einige stammten aus Irfans Laden, waren weiß und ohne Aufdruck, aber sie fand auch welche mit dem grünen Logo von Europris. Hm, welche Tüte hatte sie aus dem Küchenfach genommen und zur Mülltonne gebracht? Sie wühlte im Abfall, betastete jede Tüte, versuchte, den Inhalt zu identifizieren. Endlich fischte sie eine heraus. Der Deckel fiel mit einem Knall zu. Sie wollte gerade gehen, als Olaf zurückkehrte. Er warf einen Blick auf die Tüte, die an ihrer Hand baumelte, und sie lief knallrot an.

»Tja«, sagte er mit einem Lächeln. »Manchmal werfen wir Dinge weg, die wir dann aus dem Müll ausgraben müssen. Hast du vielleicht einen Lottoschein weggeworfen? Oder einen Tippzettel?«

Sie drückte die Tüte an sich und schüttelte den Kopf.

»Hatte mich nur in der Eile vertan«, flüsterte sie. »Überall stehen Tüten herum, ich stelle sie in den Gang. Einige sollen in den Keller und andere in die Mülltonne. Ich miste gerade aus.«

»Du willst doch wohl nicht auch umziehen?«, fragte er.

»Aber nein, nie im Leben.«

Sie kehrte ihm den Rücken zu und rannte zurück ins Haus. Ihre Wangen glühten noch immer vor Verlegenheit. Sie hatte Olaf doch gern. Sie konnte sich ihr Leben nicht ohne ihn vorstellen, den sympathischen Nachbarn, schon längst im Rentenalter, der immer ein nettes Wort für sie hatte, der vielleicht ihr Haus im Auge behielt, ob morgens Licht gemacht wurde, das sichere Zeichen dafür, dass sie am Leben war. Oder vielleicht um sicherzugehen, dass das Haus nicht in Brand geriet oder jemand versuchte einzubrechen. Er wusste, dass sie nicht schreien konnte.

Sie öffnete die Mülltüte. Der Umschlag war nach unten gepresst worden und steckte zwischen feuchten Kartoffelschalen und einigen zerbrochenen Eiern, die das Verfallsdatum überschritten hatten. Sie ergriff den Brief mit zwei Fingern und ging damit zum Holzofen, legte ihn auf die graue Asche neben die verkohlten Holzscheite, nahm den Ofenanzünder vom Tisch. Aber der Umschlag war nass geworden und wollte nicht brennen.

Kapitel 3

Ihr Gesicht wurde lebendig, wenn sie erzählte. Sie fesselte ihn, trotz ihres fehlenden Stimmvolumens. Ihre ganze Gestalt hatte etwas Inniges. Ab und zu hob sie die Hand und malte Zeichen in die Luft, um etwas zu betonen, sich zu unterstützen, die Illusion von Klang zu erzeugen. Ihr Flüstern brachte ihn dazu, ebenfalls leise zu reden. Er lauschte so konzentriert, dass er sogar eine Katze gehört hätte, die sich an ihre Beute anschlich.

»Sie haben nicht darüber gesprochen«, sagte Sejer. »Nicht mit den Nachbarn oder den Kollegen, mit Irfan im Laden oder anderen Bekannten. Oder mit Rikard Josef in Berlin. Der Brief, den Sie im Briefkasten gefunden haben, war natürlich eine Drohung. Die aus heiterem Himmel kam, wie ein Blitz. Aber Sie haben niemanden eingeweiht.«