Göpfrich, Astrid Herr Fliegenbein und die Suche nach der Stille

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© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2019
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Covermotiv: Stephan Schmitz by Marsha Heyer Illustrationen

 

 

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Der Lärm der Welt

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Der Tag, an dem sich das Leben von Herrn Fliegenbein buchstäblich auf einen Schlag verändern sollte, war ein Montag. Wie immer war er am Morgen viel zu früh aufgestanden, um dem unerträglichen Schrillen seines Weckers zuvorzukommen, und hatte sich in seiner blassgelb gekachelten Küche ein bescheidenes Frühstück zubereitet.

Der Raum war nur spärlich eingerichtet: eine einfache Küchenzeile mit einer Spüle, einem alten Kühlschrank, der beständig vor sich hin brummte, und ein wenig benutzter und daher sehr blanker Herd. Den schlichten Holztisch, mit einer Wachstischdecke bekleidet, flankierten zwei Stühle, die Herr Fliegenbein in einem Secondhandkaufhaus erstanden hatte, falls doch einmal jemand zu Besuch käme. Aber natürlich kam niemand.

Über dem Tisch tickte seit Jahren die gleiche moosfarbene Keramik-Küchenuhr, die in einer Online-Auktion unter der Zuordnung Vintage sicher eine Menge Geld eingebracht hätte, wenn Herr Fliegenbein die Bedeutung dieses Wortes gekannt, geschweige denn zu Hause einen Computer gehabt hätte. Außerdem war die Küchenuhr immer etwas ihrer Zeit voraus, sodass er jeden Tag mühevoll auf einen der Küchenstühle klettern musste, um sie mit lang ausgestrecktem Arm vier Minuten zurückzustellen. Dabei wackelten die Stuhlbeine stets bedrohlich, sodass Herr Fliegenbein sich bereits am frühen Morgen der allergrößten Gefahr aussetzte, der er sich in seinem geordneten Dasein überhaupt auslieferte.

Zudem ging die Uhr am nächsten Morgen schon wieder vor. Doch er konnte keinesfalls darauf verzichten, die richtige Zeit einzustellen, da die Uhr ansonsten noch sehr viel mehr vorgegangen wäre. Unvorstellbar, dass sie dann innerhalb eines Monats eine Verfrühung von zwei vollen Sunden aufweisen würde, was auf das Jahr gerechnet einen Zeitverlust von einem ganzen Tag bedeutete!

Dennoch konnte er sich nicht dazu entschließen, eine neue Uhr zu kaufen, da sie ansonsten noch gut war. Noch gut bedeutete für Herrn Fliegenbein, dass sie keine abgeschlagenen Kanten aufwies, das Glas der Abdeckung intakt und die Zeiger der Uhr nicht verbogen waren. So etwas gab man nicht einfach in den Müll.

 

An diesem Morgen beschloss Herr Fliegenbein aber, das Zurückstellen der Uhr zu verschieben und zuerst zu frühstücken, was einer kleinen Revolution in seiner morgendlichen Routine gleichkam. Den Grund dafür hätte er später nicht mehr nennen können, vielleicht mochte das frische Glas Marmelade ihn dazu verleitet haben, das er am Samstagnachmittag gekauft hatte.

Ein frisches Glas Marmelade ist die Verheißung dafür, dass man etwas Neues beginnt, ging ihm, der Neues doch gar nicht schätzte, seltsamerweise durch den Kopf, als er das Glas auf den Tisch stellte.

Herr Fliegenbein öffnete den Deckel, versenkte seinen Löffel tief in den Fruchtaufstrich und belud die Scheibe Graubrot aus dem Discounter, die auf einem Melaninbrettchen lag, gerade so großzügig damit, dass die Butter darunter nicht mehr zu sehen war.

»Es geht nichts über selbst gemachtes Quittengelee«, sagte er in den Raum hinein und erschrak über seine Stimme, die ein wenig rostig klang, weil sie das ganze Wochenende über nicht benutzt worden war. »Wichtig ist nur, dass absolut keine Klümpchen darin sind. Man darf dazu nur den Saft der ausgekochten Früchte verwenden.«

Leider war sein Quittengelee nicht selbst gemacht, sondern stammte ebenfalls aus dem Discounter. Aber daran zu glauben, jemand habe sich die Mühe gemacht, für ihn reife Quitten zu pflücken, sie an einem Spätsommertag zu putzen und einzukochen und die Gläser auf einem Holzregal im Keller für den Winter aufzubewahren, sodass man ein wenig Staub wegpusten musste, wenn man es vom Brett nahm, täuschte ihn darüber hinweg, dass es in seiner Küche niemanden gab, der ihm das Marmeladenglas mit einem freudigen Lächeln über den Tisch zuschob. Es gab auch niemanden, der ihm das Glas grimmig herüberreichte, und niemanden, der überhaupt nichts von all dem tat, sondern einfach nur dasaß. Denn Herr Fliegenbein lebte allein. Er kannte es nicht anders.

»Diese Menschen mit ihrem eigentümlichen Bedürfnis, sich zu versammeln«, spottete er manchmal, wenn er vor sich selbst vertuschen wollte, dass die Einsamkeit zuweilen über ihm zusammenbrach wie eine Welle, ihn mit sich riss und tagelang in einem Strudel der Melancholie gefangen hielt. Und tatsächlich wäre er vielleicht nach all den Jahren gar nicht mehr in der Lage gewesen, ein Gegenüber zu ertragen.

Zu seinem morgendlichen Quittengelee-Brot trank Herr Fliegenbein stets eine Tasse Verbenen-Tee, von dem es hieß, er habe einen beruhigenden Charakter. Ob sich dies tatsächlich vorteilhaft auf sein Gemüt auswirkte, konnte er allerdings nicht beurteilen, da er das Getränk noch nie weggelassen hatte und trotzdem stets aufs Äußerste angespannt war.

»Vielleicht wäre ich ohne den Tee noch viel anfälliger«, überzeugte er sich, wenn er selbst manchmal an der Wirkung des Getränks zweifelte. Also setzte er doch jeden Morgen aufs Neue eine Tasse davon an, die er gemächlich und ohne besonderen Genuss austrank.

Die Tageszeitung hatte Herr Fliegenbein schon vor ein paar Jahren abbestellt. Er fand es zunehmend erschöpfend, sich bereits bei Anbruch eines neuen Tages mit dem Schrecken der Welt zu befassen. Flugzeugabstürze, Terroranschläge, über Jahrzehnte andauernde Fehden zwischen zwei Völkern ohne jeglichen Fortschritt, ein weiterer havarierter Tanker, dessen auslaufendes Öl das Gefieder der Meeresvögel verklebte, Plastikmüll in der Tiefsee, bedrohliche Folgen des Klimawandels, die keinerlei Maßnahmen nach sich zogen, der verrückte amerikanische Präsident, der verrückte russische Präsident, die verrückten Präsidenten in allen entfernten Winkeln der Erde … Jeden Tag schien sich dieses Kaleidoskop des Schreckens einfach nur zu wiederholen, ohne dass jemand etwas Nennenswertes dagegen unternahm.

Er bewunderte die Menschen, die diesen Widerspruch scheinbar mühelos ertrugen, dabei einen so stabilen und heiteren Eindruck machten und zudem noch beschwingt in ihren Tag starteten. Nach der morgendlichen Lektüre derartiger Katastrophenmeldungen war er bereits so vernichtet gewesen, dass er kaum noch den Arbeitsweg bewältigt hatte. Also hatte er eines Tages bei der Zeitung angerufen und auf deren Lieferung aus ungenannten Gründen verzichtet.

Nach dem Frühstück wartete Herr Fliegenbein stets in seinem geblümten Wohnzimmersessel darauf, dass es Zeit wurde, zur Arbeit zu gehen, und betrachtete dabei das Bild an der gegenüberliegenden Wand. Das Wochenende lag in seiner Ereignislosigkeit hinter ihm wie ein Felsbrocken, an dem man auf einer langen Wanderung achtlos vorbeigeht, weil er in der hoch stehenden Mittagssonne kaum Schatten wirft und daher wenig Linderung verspricht.

Herr Fliegenbein freute sich dennoch nicht darauf, zur Arbeit gehen zu können, genauso wenig, wie er sich am Freitagnachmittag auf das Wochenende freute.

»Wann habe ich mich überhaupt zuletzt über etwas gefreut?«, erschrak Herr Fliegenbein auf einmal und wurde noch blasser, als er es ohnehin schon war.

Er zählte innerlich die wenigen Dinge auf, die ihm dazu einfielen. Ein unverhoffter Sonnenstrahl, der an einem regenreichen Tag durch eine dicke Wolkenschicht geblinzelt hatte, ein Eichhörnchen, welches den Nussbaum hinter seinem Haus hinaufhuschte, um sich für seinen Wintervorrat an dessen Früchten zu bedienen, ein Stück Apfelkuchen, das er sich manchmal auf dem Nachhauseweg aus dem Café in der Planetenstraße mitnahm.

»Das ist doch immerhin etwas«, atmete Herr Fliegenbein erleichtert aus.

Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, blieb er jedoch lieber in seiner Wohnung. Denn es gab da draußen eine kritische Angelegenheit, die für ihn tatsächlich noch unerträglicher war als all die Schreckensberichte in der Zeitung. Und dieses Problem konnte er nicht einfach abbestellen. Denn es handelte sich um etwas, das er nicht beeinflussen konnte: Und dieses Etwas war der Lärm.

Die kreischenden S-Bahnen, die johlenden Schulkinder, die quietschenden Autoreifen beim abrupten Abbremsen vor der Ampel, ungeduldig hupende Fahrer. Und warum konnten die Wartenden an den Bushaltestellen nicht einfach mal still sein?

Letzteres Lärmproblem hatte sich in den vergangenen Jahren etwas gebessert, musste er zugeben, da die Menschen mittlerweile einfach zu müde waren, um sich zu unterhalten, oder sich dankenswerterweise still in ihre Mobiltelefone versenkten. Dagegen hatten aber alle motorisierten Störenfriede deutlich hinzugewonnen.

Lange hatte Herr Fliegenbein noch viel mehr unter dem Lärm gelitten, bis er eines Tages an einer Baustelle vorbeigegangen war, auf der ein Bauarbeiter gerade mit einem Presslufthammer hantierte, und er so etwas wie eine Offenbarung erlebte.

Der Presslufthammer gab ein an sich vollkommen unerträgliches, bohrendes und ratterndes Geräusch von sich, dennoch blieb Herr Fliegenbein fasziniert stehen. Dem Bauarbeiter schien der Krach nämlich überhaupt nichts auszumachen. Mit einem unerschütterlichen Gleichmut ließ er sich gar von dem lärmenden Gerät durchrütteln, als ob es eine neu entwickelte Gesundheitsmethode wäre.

Der Grund für seine Gelassenheit war, wie Herr Fliegenbein auf Anhieb erkannte, ein riesiger knallgelber Gehörschutz, der seine Ohren komplett umschloss.

»Hallo, Sie da!«, rief Herr Fliegenbein elektrisiert, doch der Bauarbeiter konnte ihn aus zweierlei nachvollziehbaren Gründen nicht hören.

Herr Fliegenbein betrat entschlossen die Baustelle, ging zu dem Mann und zupfte am Ärmel seiner Arbeitsjacke. So nah an ihn und damit auch an sein Arbeitsgerät heranzugehen, war allerdings eine Qual. Herr Fliegenbein glaubte, sein Kopf müsse sogleich in zwei Teile zerspringen.

»Könnten Sie mal bitte das Gerät abstellen?«, fragte er dennoch sehr höflich in den Krach hinein.

Der Bauarbeiter schaltete den Presslufthammer aus und sah die seltsame Gestalt, die sich verbotenerweise auf seine Baustelle verirrt hatte, verwundert an.

»Wo bekommt man so einen?« Herr Fliegenbein deutete auf die gelben Ohrenschützer des Mannes, der aber weiterhin verständnislos dreinblickte.

»Sie hören immer noch nichts«, dämmerte es Herrn Fliegenbein, »kein Wort?«

Endlich nahm der Bauarbeiter seinen Gehörschutz ab und musterte ihn mürrisch: »Für den Lärm kann ich nichts. Wir machen auch nur unsere Arbeit.«

Herr Fliegenbein stutzte kurz und beeilte sich dann, den Sachverhalt richtigzustellen. »Nein, nein, ich möchte mich nicht beschweren. Ganz im Gegenteil!«

»Was wollen Sie dann?« Von der anderen Seite der Baustelle sah ein Blaumann-Kollege zu ihnen hinüber und machte ein fragendes Gesicht.

»Ich möchte Ihnen dieses Ding abkaufen«, sagte Herr Fliegenbein schnell, zeigte auf die Hand des Mannes und nahm sein Portemonnaie aus der Manteltasche. »Wie viel?«

Der Bauarbeiter erkannte möglicherweise, dass es der eigentümlichen Figur mit den zu kurzen Hosenbeinen absolut ernst damit war. Er witterte wohl die Chance, seinen am Monatsende stets etwas knappen Lohn aufzubessern, und nannte daher aufs Geratewohl einen Preis, den der Mann, ohne mit der Wimper zu zucken, bezahlte.

Seit diesem Tag war Herr Fliegenbein um unverschämte zweihundert Euro ärmer, aber sein Arbeitsweg war nun um einiges erträglicher.

Dass er mit seinen etwas unmodischen Anzügen (bei schlechtem Wetter durch einen ausgeblichenen Trenchcoat kaschiert), der Aktentasche und dem massiven gelben Gehörschutz auf dem gescheitelten, grauen Haar ein seltsames Gesamtbild abgab und die Menschen ihn fragend anstarrten und über ihn tuschelten, bemerkte Herr Fliegenbein kaum. Zu groß war die Erleichterung, nur noch zehn Prozent des Lärms wahrzunehmen, den er zuvor hatte erdulden müssen.

Außerdem trugen die jungen Leute selbst oft riesige Kopfhörer und kommentierten sein noch gewaltigeres Modell manchmal sogar mit einem anerkennenden Daumen-hoch-Zeichen: »Mega-Teil, Opa!«

Er konnte jedoch nicht richtig einordnen, ob dies positiv oder spöttisch gemeint war, da er die Codes der Jugend nicht beherrschte, und beantwortete sie daher stets mit einem scheuen Lächeln, das auch dann nicht ganz verkehrt war, wenn sie sich nur über ihn lustig machen wollten.

Wenn er nach dem mühsamen Arbeitsweg endlich im Gebäude der Versicherung angekommen war, in der er seit unzähligen Jahren arbeitete, wurde es einigermaßen erträglich. Die Firma hatte Herrn Fliegenbein nach einer Umstrukturierungsmaßnahme vorübergehend einen Raum zugewiesen, in dem zuvor das Druckerpapier und die Putzmittel für die Reinigungskolonne aufbewahrt worden waren.

»Da ist aber kein Fenster drin«, hatte er protestieren wollen, doch er war es nicht gewohnt, für sich selbst einzutreten, und schwieg also, während ein säuerlicher Geschmack seinen Hals emporstieg. Die Kollegen hatten alle feige zur Seite geblickt oder plötzlich nach etwas sehr Wichtigem in den untersten Schubfächern ihrer Schreibtische gesucht.

Nur der Abteilungsleiter hatte ihm auf die Schulter geklopft: »Toll, Fliegenbein, dass Sie sich so kollegial verhalten! Beim nächsten Mal sind Sie dran! Versprochen! Kommen Sie jederzeit zu mir, wenn Sie etwas brauchen.«

Zwei Monate später war der Abteilungsleiter befördert und in eine andere Niederlassung versetzt worden und ein anderer Abteilungsleiter war gekommen, und Herr Fliegenbein war folglich kein einziges Mal mehr dran gewesen.

Seitdem saß er in seinem fensterlosen Raum und rechnete.

Neben ihm stapelten seine Kollegen die Schriftstücke mit jenen Fällen der Schadensregulierung, die komplizierte Kalkulationen erforderten, zu welchen sie sich selbst nicht in der Lage fühlten. Solange sie dabei nicht versuchten, Herrn Fliegenbein in ein Gespräch, geschweige denn ein Privatgespräch, zu verwickeln, war ihm dies nur recht. Passierte dies trotzdem, fielen ihm ohnehin keine interessanten Themen ein oder er stotterte herum und wurde rot, was noch viel schlimmer war. Nach so einem Vorfall konnte er sich ausmalen, dass er wieder einmal ein willkommenes Tagesgespött war, wenn sich die Kollegen ohne ihn am Kopierer trafen.

In ein Schriftstück jedoch konnte er abtauchen wie andere in einen spannenden Kriminalfall. Es reizte ihn, die Schwachstelle zu finden, die jeder Vorgang zwangsläufig aufwies. Mal steckte diese in einer verborgenen und unbeachteten Klausel des Vertrages, mal war es zwar augenfällig, dass der Schadensfall nur vorgetäuscht war, es ließ sich jedoch nur schwer nachweisen. Herr Fliegenbein wühlte sich wie ein Trüffelschwein durch die zweifelhaften Fälle, und immer fand er den Fehler, der zuvor keinem ins Auge gestochen war. Deshalb behielt ihn die Firma, obwohl er eigentlich für untragbar gehalten wurde.

Langjährige Kollegen hatten es längst aufgegeben, ihn anzusprechen, neue Mitarbeiter versuchten am Anfang noch ein-, zweimal, ihn in eine kleine Plauderei zu verwickeln.

»Kommen Sie mit in die Kantine?«

»Mhm«, hatte Herr Fliegenbein nicht unfreundlich, aber auch nicht gerade euphorisch geantwortet und so lange gewartet, bis der Kollege schließlich aufgegeben hatte und allein gegangen war.

»Haben Sie heute Abend was Schönes vor?«

»Was soll ich schon vorhaben?«, war es aus Herrn Fliegenbein herausgebrochen. Er würde, erledigt vom Tag, in seinem Sessel sitzen, ein Mortadellabrot mit Gürkchen Güteklasse 1A verzehren und sich in die Wunderwelt seines Bildes wünschen. Aber die junge, in seinen Augen etwas zu sorglose Frau, die ihn erschrocken ansah, würde niemals verstehen, dass genau das für ihn das Allerschönste war.

»Ich bin verhindert«, hatte er daher nur unbeholfen geantwortet, bevor sie weiter nachhaken konnte.

Einmal besaß eine neue Auszubildende sogar die Dreistigkeit, ihn zu fragen, ob er am Abend zum Betriebsfest kommen würde. Er, Herr Fliegenbein, zu einem Betriebsfest voller ausgelassen krakeelender Kollegen und lärmender musikalischer Darbietungen! Und dafür abends noch einmal das Haus verlassen und sich dem Getöse der Nacht aussetzen müssen!

»Hätten Sie nicht Lust, einmal so richtig abzutanzen?«, hatte sie unter den spöttischen Blicken der Kollegen dann auch noch nachgehakt.

Früher, und dieses Früher war so sehr Vergangenheit, dass es ihm kaum mehr real erschien, war er ein recht passabler Tänzer gewesen, der zuweilen über die frisch gewachsten Tanzböden der Stadt geschwebt war. Doch diese Zeit war weit entfernt. So weit wie Pluto, der ehemals äußerste Planet des Sonnensystems, den er als Kind mit seinem Teleskop gesichtet hatte. Der nun zum Zwergplanet herabgestuft und dem damit der Planetenstatus aberkannt worden war. Herr Fliegenbein konnte nachvollziehen, wie Pluto sich jetzt fühlen musste mit seiner Kleinplanetennummer 134340.

Die Frage nach dem Tanzen hatte er mit einem schweigsamen Heben seiner linken Augenbraue beantwortet und nicht einmal aufgesehen, sodass auch diese junge Kollegin es schließlich aufgegeben hatte und die Schriftstücke seitdem dankenswerterweise ebenso wortlos bei ihm ablegte wie alle anderen.

 

Doch nicht immer gelang es ihm, gemeinschaftlichen Aktivitäten aus dem Weg zu gehen. Eines Tages wurde er vom neuen Abteilungsleiter dazu verdonnert, in der Mittagspause an einem Kurs zum »betrieblichen Stressbewältigungsmanagement« teilzunehmen. Der eilfertige Neue hatte ein Seminar zur Mitarbeiteroptimierung belegt und war danach überzeugt, dass er mehr aus seiner Mannschaft herausholen konnte, wenn sie sich entspannt an die Arbeit machte. Natürlich ging es dabei letztlich nicht darum, dass die Mitarbeiter sich besser fühlten, sondern dass sie mehr Leistung brachten und weniger Fehlzeiten auf ihrem Arbeitszeitkonto zu verzeichnen hatten.

Nach derlei Fortbildungen war der Abteilungsleiter eine Weile lang besonders motiviert, sein Team mit unsinnigen Maßnahmen zu strapazieren. Nach ein paar Wochen legte sich sein Übereifer zwar wieder, doch der Friede hielt nur so lange, bis er erneut ein Seminar belegte. Daher war es am besten, einfach bei allem mitzumachen, wenn seine Anordnungen auch noch so unsinnig waren.

»Lassen Sie heilsame Bilder vor Ihrem inneren Auge ablaufen«, hatte die Entspannungstrainerin Herrn Fliegenbein und seine Kollegen beschworen, während sie im Eingangsbereich des Versicherungsgebäudes auf einer Bodenmatte lagen. Stattdessen musste Herr Fliegenbein jedoch an einen besonders vertrackten Schadensfall denken, bei dem ein Kunde immer wieder Autounfälle provozierte, um die Versicherungsprämie zu kassieren, ihm dies aber absolut nicht nachzuweisen war. Herr Fliegenbein lag auf dem Boden, bekam Schluckauf und sah vor seinem inneren Auge das wenig heilsame Bild zweier Autos, die an einer an sich übersichtlichen Kreuzung ineinanderkrachten. Danach hatte er sich so verspannt von seiner Matte hochgequält, als ob er selbst in einem der Autos gesessen hätte.

»Tut gut, Fliegenbein, was?« Der Chef, der ganz demokratisch ebenfalls an der Übung teilgenommen hatte, zwinkerte ihm tiefenentspannt zu. Er selbst hatte sich gekrümmt an seinen Schreibtisch zurückgeschleppt, mit der Kontraktion seines Zwerchfells gekämpft und ohne viel Aufhebens die nächste Akte vom Stapel genommen. Und dann die nächste und wieder die nächste. Wie jeden Tag.

Den vertrackten Fall der inszenierten Mehrfachunfälle hatte er als einzigen in seinem gesamten Versicherungsleben niemals gelöst.

Ein unheilvoller Morgen

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Die Katastrophe, die an jenem Montagmorgen roh in das Leben von Herrn Fliegenbein krachte, wovon er aber, als er nach dem Frühstück im Schein der Stehlampe in seinem Sessel saß, nicht das Geringste ahnte, kündigte sich mit einer kleinen Irritation an.

Wie jeden Morgen blickte er auf das Gemälde, das an der Wohnzimmerwand hing und eine kitschig gestaltete Alpenlandschaft zeigte. Das Bild war ihm vor ein paar Jahren in einem Sperrmüllhaufen an der Straße aufgefallen und irgendetwas daran – er konnte nicht genau sagen, was es war – hatte ihn so sehr angezogen, dass er es mitgenommen hatte.

Im Vordergrund des Bildes war ein Bergsee mit eisblauem Gletscherwasser zu sehen, der rundum von schroffen, schneebestäubten Bergwipfeln umgeben war, welche sich in der glatten Oberfläche des Sees spiegelten. Eine kleine, schiefergedeckte Kapelle stand am gegenüberliegenden Ufer, die vor langer Zeit ihren letzten Besucher gesehen haben musste. Auf der viel zu grell gemalten, steilen Hangwiese voller Hahnenfußblüten grasten gelangweilt ein paar Kühe. Die vorderste Kuh und demnach die größte auf dem Bild war anatomisch falsch gezeichnet. Sie hatte viel zu kurze Vorderbeine, sodass sie, wenn sie die Schräglage verließ und auf die Ebene gestellt werden würde, unweigerlich umfallen müsste.

Die Farben des Bildes waren zu schrill gewählt und zu dick aufgetragen, sodass manchmal kleine Farbsplitter von dem Bild herabfielen und sich in den Teppichboden des Wohnzimmers fraßen.

Doch Herr Fliegenbein bemerkte auch an diesem Morgen die Unzulänglichkeiten seines Bildes nicht. Für ihn zählten andere Dinge als dessen künstlerische Qualität.

Es gab auf diesem Bild nämlich keine Menschen, die herumschrien, keine Autofahrer, die sich wichtigmachten und ohne Not hupten, und keine Maschinen, die erbärmlich quietschten, weil sie vielleicht schlecht geölt waren.

Das gelegentliche Muhen einer Kuh stellte er sich seltsamerweise sehr beruhigend vor, doch hatte er seit Jahren keines gehört, da er nie aus der Stadt herausgekommen war. So konnte er nicht wirklich beurteilen, ob er damit richtiglag. Die Freiheit, sich die Akustik des Ortes als bestmöglich vorzustellen, nahm er sich einfach.

Stets blickte er auf dieses Bild und atmete die Stille, die von ihm ausging, ein wie den lindernden Hauch einer Eukalyptus-Inhalation.

Alle Unbill der Welt verschwand lautlos in dieser Berglandschaft.

»Dieser Anblick ist beruhigender als alle Tees und Entspannungskurse der Welt«, befand er. »Ohne ihn würde ich den Irrsinn da draußen gar nicht überstehen.«

Er atmete tief ein und ließ seinen Atem langsam wieder herausströmen, ganz so, wie die Entspannungstrainerin es gelehrt hatte. Wenigstens etwas hatte der Kurs ihm gebracht.

Und mitten hinein in diese für Herrn Fliegenbein so seltene und daher kostbare Fata Morgana des Seelenfriedens bohrte sich auf einmal ein ganz und gar unpassendes und vollkommen unverschämtes Brummen. Ein Brummen, das außerdem stetig näher kam und sich in seine Gehörgänge wand wie ein Wurm in das Holz einer Kommode. Ein Brummen, das auf keinen Fall vor das Wohnhaus gehörte, in dessen fünftem Stockwerk er seit nun schon über dreißig Jahren lebte.

Enerviert stand Herr Fliegenbein auf und ging zum Fenster, um nachzusehen, wer der frühe Ruhestörer war. Ein gelber Kran, an dessen Ausleger eine Abrissbirne an einer dicken Eisenkette baumelte, rangierte auf der Straße hin und her und versuchte offenbar, den richtigen Winkel für sein zerstörerisches Werk zu finden.

Herr Fliegenbein atmete aus, tiefer, als die Entspannungstrainerin es jemals verlangt hätte, und erinnerte sich an die Bekanntmachung, die vor drei Tagen im Hausflur gehangen hatte:

 

Sehr geehrte Anwohner,

kommenden Montag wird das Bestandsgebäude der Planetenstraße Nummer 17 rückgebaut. Wir entschuldigen uns vorab für etwaige Beeinträchtigungen durch Lärm und Staub.

Vielen Dank für Ihr Verständnis, die Baugenossenschaft.

 

Herr Fliegenbein dachte daran, dass er sich über das seltsame Wort rückgebaut gewundert hatte. Was hatte Abreißen mit Bauen zu tun? Doch noch ehe der Hauch der Erleichterung seine Lungen verlassen hatte, erkannte er die drohende Gefahr: »Um Himmels willen, gleich wird es einen fürchterlichen Knall geben!« Herr Fliegenbein hastete zu seiner Aktentasche, die schon bereitwillig neben seinem Sessel auf den Arbeitsbeginn wartete, und zerrte hektisch seinen Gehörschutz heraus.

Gerade als er sich diesen auf den Kopf gesetzt hatte, kam der Donnerschlag, und er war weit ohrenbetäubender, dröhnender und erschütternder, als Herr Fliegenbein es sich jemals hätte vorstellen können.

Die Wucht des Schlages schleuderte ihn mit einer Gewalt zurück, die ihn in ihrer Ungeheuerlichkeit überraschte. Er wurde buchstäblich in seinen Sessel hineingepresst. In seinen Ohren schwoll der einzelne Schlag zu einem tausendfach verstärkten, wütenden Donnern eines Sommergewitterhimmels an. Unvorstellbar, solch ein Dröhnen ohne die lebensrettenden Ohrenschützer zu überstehen!

Herr Fliegenbein hatte unwillkürlich die Augen zusammengekniffen und die Hände schützend über dem Kopf zusammengeschlagen. In dieser Haltung verharrte er nun und wartete angsterfüllt darauf, ob ein weiterer Angriff erfolgen würde.

Doch nach dem einen Schlag war es auf einmal seltsam still. So still, als ob alle Lebewesen der Welt gleichzeitig die Luft anhielten und in einer stummen Atemlosigkeit verharrten.

Ein Hauch von Stadtluft drang verwegen zu seiner Nase vor. Als Nächstes vernahm er das Quietschen einer schweren, schlecht geölten Eisenkette, begleitet von einem Luftzug, der sachte an seiner Wange entlangstrich.

»Moment. Ein Luftzug?« Herr Fliegenbein riss die Augen auf.

Das Bild, das sich ihm nun bot, war gleichzeitig fremd und vertraut und zudem äußerst erschreckend. Er machte seine Augen schnell zu und nach einer Weile wieder auf, zu und wieder auf. Doch der ungeheuerliche Anblick blieb.

In seiner Wohnzimmerwand klaffte, genau an der Stelle, wo zuvor sein geliebtes Alpenpanorama gehangen hatte, unbestreitbar und genauso unübersehbar, ein riesiges Loch. Das allein war schon eine außerordentliche Zumutung. Doch das Schlimmste war: Sein Bild, Sehnsuchtsort, Quell der Ruhe und Seelensalbung zugleich, war verschwunden. Unwiederbringlich, auf alle Zeiten verloren!

Erstaunlicherweise waren, außer ein wenig Staub, keinerlei Mauerteile in das Zimmer gefallen. Gerade das machte den Verlust so unbegreiflich. Bis auf die Stelle in der Wand war alles Mobiliar unangetastet und unberührt, nur das Gemälde war einfach fort.

»Mein Bild«, stammelte er, »mein wundervolles Bild«, und starrte wie betäubt auf die offene Wunde, die die abscheuliche Abrissbirne in sein Dasein geschlagen hatte. Vor die sich nun mit einer federleichten Drehung die Krankabine nebst ihrem verhängnisvollen Lenker schob. Bedrohlich schwankte die Abrissbirne an ihrer Kette, jederzeit willens, ihre destruktive Tat an derselben Stelle fortzuführen.

Herr Fliegenbein duckte sich unwillkürlich. Der Kranführer blickte ins Wohnzimmer, lachte verlegen, erkannte sogleich die Verwandtschaft von Ohrenschützermann zu Ohrenschützermann, kratzte sich am Kopf und hob bedauernd die Achseln.

Die spielerische Leichtigkeit, mit der der Kranführer seinen Fauxpas einfach wegwischen wollte, wie man eine lästige Fliege von seinem Unterarm vertreibt, hätte Herrn Fliegenbein beinah zur längsten Brandrede seines bislang so wortkargen Daseins verleitet: »Sie haben mir …«

Doch seine Stimme brach, lange bevor er den Satz vollenden konnte. Er hatte sagen wollen, dass der Mann ihm sein Glück geraubt hatte, seine ganze Existenz an diesem Bild hing und er nun nicht mehr wusste, wie er den Lärm dieser Welt ertragen sollte. Doch kamen ihm diese Sätze mit einem Mal viel zu groß, zu dramatisch und ganz und gar nicht passend für einen Mann seiner genügsamen Art vor.

»Sie haben mir mein ganzes Glück geraubt!«, hätte er gerne gerufen, aber, nein, das konnte er nicht über seine Lippen bringen, ohne sich vollends der Lächerlichkeit preiszugeben.

Der Kranführer versuchte, teilnahmsvoll dreinzublicken, doch bald wurde sein ganz offensichtlich vorgetäuschtes Bedauern von einem verräterischen Zucken um seine Mundwinkel herum verscheucht.

Herr Fliegenbein kannte diese robusten Naturen, die sich durch eine Kleinigkeit wie einem Loch in der falschen Wohnzimmerwand nicht erschüttern ließen und das Leben ohnehin als ein einziges großes Spiel ansahen.

»Wenn ich einmal sein könnte wie sie«, hatte er oft geseufzt. Doch nun spürte er nur noch einen unseligen Zorn auf diesen beispiellosen Vertreter der Nachlässigkeit.

Erschöpft nahm er seine Ohrenschützer ab. Selbst der Lärm war ihm gleichgültig.

Durch das Loch in der Wand drangen nun unverhohlen die Geräusche der Stadt zu ihm hinauf. Ein Kind klagte, weil es müde war und nicht mehr weitergehen wollte, in der Ferne ratterte ein Zug durch den klaren Wintermorgen, ein paar Krähen schraubten sich in den Himmel und stießen ihre krächzenden Laute aus: »Krahkrah, krahhhh!«

»Das kann man flicken«, behauptete der Kranführer nun und zeigte breit grinsend auf das Loch, »ein paar Backsteine, etwas Mörtel …«

»Aber … mein Bild, es liegt da unten«, antwortete Herr Fliegenbein tonlos. Sein Hals fühlte sich eng an.

»Es gibt tausend Bilder auf der Welt«, versprach der Kranführer, »die Wohngenossenschaft zahlt Ihnen bestimmt ein neues.«

Etwas in Herrn Fliegenbein gab auf. Er wollte kein neues Bild, er wollte sein einzigartiges und besonderes Bild zurück.

Restlos erledigt nahm er seine Aktentasche, ging hölzern in sein Schlafzimmer, schüttete den Inhalt der Tasche auf das Bett, öffnete die Tür des Kleiderschranks, stopfte wahllos einige Kleidungsstücke in die Aktentasche, sodass ein Hemdsärmel und eine gepunktete Krawatte kraftlos hinaushingen. Dann lief er zurück ins Wohnzimmer, zerrte den Stecker seiner Stehlampe aus der Dose, verließ mit der Leuchte in der Hand sein Wohnzimmer, ohne noch einmal zu dem erbärmlichen Loch in der Wand und dem verdutzt dreinblickenden Kranführer zu sehen, streifte im Flur seinen gefütterten Trenchcoat über, schleppte sich fünf Etagen die Treppe hinab und verließ das Haus, in dem er einunddreißig lange Jahre ohne größere Vorkommnisse gelebt hatte. Unten angekommen, vermied er es, nach seinem Bild zu suchen, da ihm klar war, dass es nach solch einem Schlag nicht mehr zu retten sein würde und er die Trümmer seiner Existenz nicht mit eigenen Augen erleben wollte.

Der Kranführer blieb verständnislos zurück und sah der kleinen Figur nach, wie sie auf langen, dünnen Beinen die Planetenstraße entlangstolperte, sich rasch entfernte und schließlich nur noch als winziger Fleck sichtbar war, bevor sie ganz von der Krümmung der Straße verschluckt wurde.

Entscheidungshilfen

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Woher nahmen all die Menschen bloß ihre Sicherheit? Wie konnten sie ahnen, dass sie genau dorthin gehen mussten, wohin ihre Beine sie mit festen Schritten trugen, dass sie jene Ziele wählen sollten, die sie mit einer Gewissheit ansteuerten, als ob der Zweifel eine Fehlentwicklung der Menschheitsgeschichte wäre?

Herr Fliegenbein stand bereits seit einer Stunde in der Abflughalle des Flughafens und starrte hilflos auf die Anzeigetafel der aktuellen Abflüge.

Um ihn herum herrschte ein emsiges Gewirr von Reisenden, Rollkoffern und Gepäckwagen, in dem Herr Fliegenbein sich mit seiner Stehlampe und den Bauarbeiterohrenschützern wie eine Insel der Unbeweglichkeit ausnahm.

»Was tue ich hier? Und warum habe ich nur ausgerechnet die Stehlampe mitgenommen?«, wunderte er sich nun selbst. Die Lampe war altmodisch und hatte drei verschiedenfarbige Lampenschirme, die ein mildes Licht erzeugten. Die Entscheidung, sie mitzunehmen, erschien ihm auf einmal äußerst fragwürdig, dennoch bot ihm seine Stehlampe an einem solchen Ort der Ruhelosigkeit einen sicheren Fixpunkt und zugleich eine Rechtfertigung für seinen momentanen Stillstand.

Wie war er an diesem Ort gelandet? Der Taxifahrer, in dessen Wagen er sich einfach gesetzt hatte, nachdem er zunächst ziellos durch sein Viertel gehetzt war, hatte natürlich gefragt, wohin er wolle.

Herr Fliegenbein hatte geschwiegen und unentschlossen mit den Achseln gezuckt.

»Sie müssen doch ein Ziel haben!«, hatte der Taxifahrer insistiert, eine leichte Ungeduld in seiner Stimme.

Nachdem Herr Fliegenbein ihm geschlagene fünf Minuten die Antwort schuldig geblieben war, hatte der Taxifahrer enerviert in den Rückspiegel geblickt und unauffällig das Taxameter angestellt.

»Ein Taxi ist keine Aufwärmzelle!«

»Sicher«, hatte Herr Fliegenbein geantwortet und weiter aus dem Fenster geblickt. Dunkle Schneewolken waren träge über den Winterhimmel hinweggezogen, jederzeit bereit, sich ihrer schweren Last zu entledigen. »Ob das Wetter wieder umschlägt?«

Den Taxifahrer hatten jedoch ganz andere Fragen beschäftigt. »Soll ich Sie in ein Hotel bringen?«

Herr Fliegenbein hatte nachgedacht. Draußen begann es tatsächlich zu graupeln. »Es war bisher zu warm für diese Jahreszeit«, hatte er sinniert.

Der Taxifahrer hatte nur gebrummt.

Nach weiteren drei Minuten hatte er bereits mit den Fingern auf das Armaturenbrett getrommelt. »Wir können auch eine Stadtrundfahrt machen.«

»Um Gottes willen, nein!« Eine Stadtrundfahrt im Berufsverkehr bedeutete Stau. Stau bedeutete Fahrzeuge und Fahrzeuge im Stau lautes Hupen und Lärm.

»Sie müssen doch wissen, wohin Sie wollen. Sonst steigt man doch nicht in ein Taxi. Ein Taxi ist zum Fahren da. Das ist sein einziger Zweck. Stehen bleiben können Sie auch draußen.«

»Aber hier drin ist es trocken.« Das Graupeln hatte deutlich zugenommen und ein unangenehm böiger Wind sich dazugesellt.

Herr Fliegenbein hatte mit dem Mantelärmel das Messing seiner Stehlampe gewienert, die er quer über seinem Schoß im Fahrgastraum untergebracht hatte.

»Messing ist so empfindlich! Man poliert es und am nächsten Tag sieht es wieder ganz genauso aus.«

Da hatte der Taxifahrer endgültig die Nerven verloren. »Wissen Sie was? Ich bringe Sie jetzt zum Flughafen. Dort können Sie sich hinsetzen und überlegen, wohin Sie wollen! Trocken ist es da auch.«

Er hatte den Wagen gestartet, ohne die Zustimmung seines eigentümlichen Fahrgasts abzuwarten, war losgefahren und hatte sich in den Berufsverkehr eingefädelt.