Burger, Wolfgang Wenn Rache nicht genügt

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Für Kimi

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Annika Krummacher
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Vostok / GettyImages und Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com

 

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1

Für die meisten von uns ist die Familie ein Ruhepunkt, die Wärme spendende Sonne, um die unser Leben kreist. Für andere ist sie der Vorhof zur Hölle. Gustaf Cordes zählte zur zweiten Gruppe.

Seinen Namen hörte ich zum ersten Mal, als ich an einem feuchten Samstagnachmittag Anfang Juli durch die Heidelberger Altstadt streifte, um mir zwei oder drei Hemden der Preisklasse zu kaufen, die ich für den Berufsalltag bevorzugte. Nicht so teuer, dass ich mich ständig über das ausgegebene Geld ärgern musste, das sich im Alltagsstress zügig in Luft auflöste. Nicht so billig, dass ich mir von Sönnchen, meiner aufmerksamen Sekretärin, jeden Morgen ein Stirnrunzeln gefallen lassen musste. Es war ein grauer, windstiller Tag, der Sommerschlussverkauf bereits in vollem Gang.

»Herr Gerlach!«, brüllte eine Männerstimme in meinem Rücken, als ich eines der preiswerteren Bekleidungsgeschäfte an der westlichen Hauptstraße betrat, dessen Schaufenster von oben bis unten mit alarmroten »SALE!«-Plakaten zugekleistert waren. »Das ist ja ein Ding, dass Sie mir hier einfach so über den Weg laufen!«

Ich unterdrückte einen Seufzer und wandte mich um. Im ersten Moment glaubte ich unter Halluzinationen zu leiden, denn hinter mir stand niemand. Erst als ich den Blick weiter nach unten wandern ließ, entdeckte ich den Mann, dessen Körpergröße nicht zum durchdringenden Organ passte. Ich schätzte den Kerl, der mich von unten herauf tatendurstig anstrahlte, auf knapp einen Meter siebzig und maximal fünfzig Kilo. Und ich war mir sicher, ihm schon einmal begegnet zu sein. Und zwar in Ausübung meines Berufs. Ich wusste nur nicht, wo und wann und in welchem Zusammenhang.

»Ach, guten Tag«, sagte ich. »Sie …?«

»Strohschneider«, grölte der Fremde mit dem kräftigen Organ begeistert und streckte mir mit einer sportlichen Bewegung seine knochige Rechte hin. »Jetzt wissen Sie nicht, wo Sie mich komischen Vogel hinstecken sollen, gell?«

Natürlich! Der Mann, der gerade meine Hand quetschte, war Bewährungshelfer und in seinem Job außerordentlich erfolgreich. Obwohl er auf den ersten Blick nicht so wirkte, als könnte er seinen Klienten, meist harte Jungs und Wiederholungstäter, Respekt einflößen. Als ich im vergangenen Jahr bei ihm war, hatte er einen mehrfach verurteilten Hundertfünfzig-Kilo-Riesen und Gewohnheitsschläger herumkommandiert wie einen verschüchterten Erstklässler.

»Hätten Sie ein paar Sekündchen für mich?«, fragte Strohschneider, immer noch so freudig erregt, als hätte er endlich die Frau seiner Träume angesprochen und sich keinen Korb eingefangen. »Dann brauch ich Sie nicht anrufen. Das hatt ich nämlich eigentlich vor, Sie am Montag anrufen.«

Eine ausgeblichene, mehr graue als schwarze Jeans schlabberte um seine Hüften. Das blassgelbe T-Shirt mit der Aufschrift I’m not old but vintage war ihm zwei Nummern zu groß. An den Füßen trug er Sportschuhe, die schon bessere Tage gesehen hatten. Im schmalen, nachlässig rasierten Gesicht hing ein wenig schief eine kleine Nickelbrille mit dicken, runden Gläsern.

»Also, eigentlich …«, erwiderte ich zögernd.

Hatte er bei unserem letzten Treffen nicht geschielt? Oder war er am Ende doch nicht der, für den ich ihn hielt?

»Weiß schon, es ist Samstag, und am Samstag haben Sie meistens frei. Aber jetzt geben Sie sich halt mal einen kleinen Ruck, Herr Gerlach«, forderte er grinsend. »Tun Sie auch mal was für die Resozialisierung. Sie können nicht immer bloß Leute in den Knast bringen und mich dann später die Drecksarbeit machen lassen.«

Als ich immer noch nicht in Begeisterung ausbrach, erlosch sein Grinsen. »Ich spendier Ihnen sogar einen Kaffee. Auf meine Kosten. So was wie Spesen gibt’s in meinem traurigen Geschäft ja nicht.«

 

Bald darauf standen wir an einem Stehtisch vor einem Backshop unweit der traditionsreichen Buchhandlung mit der dunkelgrünen Fassade. Vor mir dampfte ein doppelter Espresso, der Bewährungshelfer hatte sich von seinem schmalen Gehalt einen Latte macchiato geleistet.

»Es geht um Gustaf Cordes.«

»Nie gehört.«

Mit theatralischer Geste langte er sich an den Kopf. »Logisch. Den hat ja noch Ihr Vorgänger eingelocht, der Seifried.«

Bei der Nennung des Namens klangen wenig Sympathie und eine Menge Vorbehalte mit. Offenbar waren die beiden Männer seinerzeit nicht die allerbesten Freunde gewesen.

Gustaf Cordes hatte vor fast sechs Jahren seinen Bruder erschlagen und war später wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt worden.

»Und seit vierzehn Tagen ist er jetzt wieder raus.«

»Wo ist das Problem?«

»Das Problem?« Strohschneider nippte an seinem hohen Glas, sah einer bis zu uns hin duftenden Rothaarigen nach, die ihn um mindestens einen Kopf überragte und in ultrakurzem Röckchen und auf rekordverdächtig hohen Absätzen in Richtung Innenstadt schnürte. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Das Problem ist«, sagte er in einem Ton, als würde er mir ein Staatsgeheimnis anvertrauen, »er behauptet, er war’s gar nicht.«

Ich konnte mir ein Lachen nicht ganz verkneifen. »Unsere Gefängnisse sind überfüllt mit angeblich Unschuldigen.«

Gleichmütig rührte er mit einem langen Löffel in seinem Glas, wodurch der Latte macchiato sich zügig in einen Café au Lait verwandelte. Aus dem Inneren des Backshops wehte der Duft von frischen Brötchen heran.

»Weiß ich, Herr Gerlach, weiß ich doch auch. Aber in diesem Fall – ich bin normalerweise auch ziemlich dickfellig in so Sachen …«

»Sie glauben ihm?«

Er hörte auf zu rühren und sah mir wieder ins Gesicht. »Sagen wir, ich hab so ein Gefühl. Ja, lachen Sie ruhig. Tät ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch. Aber trotzdem …«

Cordes hatte seine Tat im Drogen- und Alkoholrausch und weitgehender geistiger Umnachtung begangen, erfuhr ich in den folgenden Minuten, weshalb er nicht wegen Mordes verurteilt worden war. Eine Menge Indizien hatten gegen ihn gesprochen, und nach anfänglichem Leugnen hatte er die Tat bald zugegeben. Dieses frühe Geständnis war einer der Gründe dafür gewesen, dass der Richter eher am unteren Ende des möglichen Strafmaßes von drei bis acht Jahren geblieben war. Während der Haft hatte der junge Mann einen Drogenentzug begonnen und auch durchgehalten und sich im Großen und Ganzen ordentlich aufgeführt, sodass er eigentlich lange vor der Zeit hätte auf Bewährung entlassen werden können. Da er jedoch schon wenige Monate nach der Verurteilung begonnen hatte, seine Unschuld zu beteuern und Protestbriefe und Eingaben an alle Welt zu schreiben, hatte er seine Strafe wegen mangelnder Schuldeinsicht bis zum bitteren Ende absitzen müssen.

»So weit verstanden.« Ich leerte mein Tässchen, stellte es mit demonstrativer Endgültigkeit auf den Teller zurück. »Nicht verstanden habe ich, was mich das alles angehen soll.«

Strohschneiders Interesse galt vorübergehend einer kleinen Blonden, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe hatte. »Dass Sie mal mit dem Gusti reden«, sagte er, als auch diese Ablenkung außer Sicht war. »Dass Sie sich eine Viertelstunde Zeit nehmen und seine Geschichte anhören. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«

»Und was sollte dabei herauskommen?«

Marilyn kam schon wieder zurück, stöckelte mit hüpfenden Löckchen und ohne nach rechts oder links zu sehen in Richtung Bismarckplatz.

»Sie wissen so gut wie ich …«, setzte ich an.

Der Bewährungshelfer seufzte so tief, als hätte er genau diesen Ausgang des Gesprächs vorhergesehen, und leerte sein Glas. »Klar weiß ich. Ich kenn auch die Gesetze. Aber irgendwie …« Er zuckte die schmalen Achseln. »Herrgott, ich will mir halt später nicht vorwerfen müssen, irgendwas versäumt zu haben.«

»Fürchten Sie, er könnte sich was antun?«

Er stierte in sein leeres, mit bräunlichem Milchschaum verschmiertes Glas. In der Ferne verklang das Tackern von Marilyns Absätzen. »Ich komm einfach nicht mehr an den Knaben ran. Hab ihn während der Haftzeit betreut, und eigentlich haben wir immer ein prima Verhältnis gehabt. Aber seit er raus ist … Vielleicht wirft er wieder irgendwas ein, was weiß ich, und eigentlich würd’s mich ja auch gar nichts angehen, schließlich ist er nicht auf Bewährung.«

Um der Sache ein Ende zu machen, versprach ich, mir die Angelegenheit durch den Kopf gehen zu lassen und Strohschneider im Lauf der kommenden Woche anzurufen.

Meinen Espresso bezahlte ich vorsichtshalber selbst.

2

Am Montag wurde es später Nachmittag, bis ich Gelegenheit fand, einen Blick in die vier prallen Ordner zu werfen, die Sönnchen, meine Stütze in allen Lebenslagen, kluge Ratgeberin und nebenbei auch noch Sekretärin, ohne zu meutern aus dem Archiv geholt und auf meinen Schreibtisch gewuchtet hatte. Das Wochenende war gemütlich verregnet gewesen, sodass ich mich gut erholt hatte. Hemden hatte ich am Samstag dann doch keine gekauft, weil mir nach dem Gespräch mit Strohschneider nichts mehr gefallen wollte.

Das Allermeiste von dem, was ich flüchtig durchblätterte, interessierte mich nicht. Als Polizist interessierte ich mich für Fakten, weshalb ich erst zu lesen begann, als die Berichte kamen, die die Kollegen vom Dezernat für Kriminaltechnik vor fast sechs Jahren angefertigt hatten. Die Tat war am späten Abend des 15. September geschehen, einem Samstag. Nicht einmal die ungefähre Tatzeit hatte sich später noch feststellen lassen. Ohne Angabe von Gründen hatte jemand als Todeszeitpunkt »zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens« notiert.

Fotos waren beigefügt, wie damals noch üblich, säuberlich auf dünne Pappe geklebt. Der Tatort hatte ausgesehen, dass selbst ich als völlig Unbeteiligter schlucken musste. Eine blutige Schweinerei, wie man sie auch als Kriminalist glücklicherweise nicht oft zu sehen bekommt. Das Gemetzel hatte jedoch nicht der Täter angerichtet, sondern die zwei großen Hunde der Familie. Das Verbrechen hatte sich im geräumigen und hell eingerichteten Wohnraum eines Einfamilienhauses in Wiesloch ereignet, einem Städtchen etwa fünfzehn Kilometer südlich von Heidelberg. Nachdem der Täter die eiserne und scharfkantige Statue, die ihm als Waffe gedient hatte, wieder ordentlich an ihren Platz gestellt und sich schlafen gelegt hatte, waren irgendwann die Hunde über den Toten hergefallen. Gustaf Cordes hatte nach seiner Tat so tief geschlafen, dass er erst am Nachmittag des Folgetages wieder zu sich kam, als der Rest der Familie von was auch immer zurückkehrte und die grauenvolle Bescherung entdeckte. In der Akte fand ich mehrere vom Erkennungsdienst angefertigte Porträtfotos des geständigen Täters. Gustaf Cordes hatte ein längliches, etwas eingefallenes Gesicht. Unter den tief liegenden Augen hingen dunkle Ringe. Der Blick war leer und verriet nichts darüber, was in dem jungen Mann vor sich ging. Er erweckte den Eindruck, als hätte er zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht verstanden, wie ihm geschah.

Die Statue war aus einem nicht genauer bezeichneten Metall gefertigt, gut dreißig Zentimeter hoch, stellte einen länglichen Frauenkopf mit Kussmund und geschlossenen Augen dar und besaß einen wuchtigen, kantigen Sockel. Das untere Ende war der Teil gewesen, der den Kopf des Opfers traf.

Das Blut des Toten hatte auch am nächsten Nachmittag noch an Gustafs Händen geklebt, seine Fingerabdrücke fanden sich auf der Tatwaffe, und sogar an seinen dicken Wollsocken hatten unsere Techniker Spuren von Blut gefunden. Um die Sache komplett zu machen, hatte er – offenbar in völliger Verblödung – auch noch einige Geldscheine und eine Kreditkarte aus der Geldbörse seines Bruders entwendet. Es war bekannt gewesen, dass die beiden sich hassten. Erst wenige Stunden vor dem tödlichen Zusammentreffen hatte es wieder einmal Streit und Geschrei gegeben. Alle, wirklich alle Indizien sprachen gegen Gustaf Cordes. Nach einigem Hin und Her hatte er gestanden. Das unterschriebene Geständnis war auf den 18. September datiert, also drei Tage nach der Tat.

Ich klappte den Ordner wieder zu, legte ihn auf den Stapel zurück und rief Strohschneider an.

»Vergessen Sie es«, sagte ich. »Solange er nicht irgendwas Belastbares beibringt, irgendwelche neuen Aspekte, die damals nicht bekannt waren oder von mir aus im Hauptverfahren nicht ausreichend gewürdigt wurden, wird kein Staatsanwalt der Welt die Akte noch mal anfassen.«

Der Bewährungshelfer wirkte nicht überrascht. »Trotzdem danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.«

»Dann schicke ich den Krempel jetzt wieder ins Archiv zurück.«

»Versteh ich. Ich versteh Sie vollkommen.«

»Aber es passt Ihnen trotzdem nicht.«

Zögern. Unbehagliches Schnaufen. Dann: »Logisch nicht. Nein.«

»Herr Strohschneider …«

»Herrgott, ich versteh nicht, wieso mir die blöde Geschichte nicht aus dem Kopf geht.«

»Da werde ich Ihnen vermutlich nicht helfen können.«

»Doch. Können Sie.«

»Und zwar wie?«

»Indem Sie halt mal mit dem Gustaf reden. Indem Sie sich selber ein Bild machen von ihm und seiner Story.«

Ich nahm die Brille ab und massierte meine müden Augen. »Haben Sie WhatsApp auf Ihrem Handy?«

»Klar. Wieso?«

»Darf ich Ihnen mal ein Foto von meinem Schreibtisch schicken?«

Strohschneider lachte. »In meinem Büro sieht’s auch aus wie in einem Hühnerstall, in dem die Füchse Party gemacht haben. Wir sind einfach zu wenige. Der Staat gibt zu wenig Geld für die Resozialisierung aus und zu viel für die Knäste. Und dann wundert man sich, wenn die Knackis ein paar Wochen nach ihrer Haftentlassung schon wieder einsitzen. Aktuell hab ich knapp hundert Kunden auf meinem Zettel. Und es werden ständig mehr. Wir kämpfen mit Kinderschäufelchen gegen einen Dammbruch, Sie so gut wie ich, Herr Gerlach. Und trotzdem, in unseren Jobs geht’s doch um Menschen und nicht bloß um Fakten und Beweise. Hinter jedem einzelnen Namen auf meiner Liste steht ein Mensch mit seinem Schicksal …«

»Vielleicht sollten Sie sich mal ein paar Wochen Urlaub gönnen?«, schlug ich vor.

Sein Lachen klang dieses Mal nicht lustig.

 

»Selbstverständlich wirst du feiern!«, verkündete Theresa beim Abendessen ungehalten und legte das Messer neben den Teller. »Es ist dein Fünfzigster, das wäre ja noch schöner.«

»Es ist mein Geburtstag«, erwiderte ich trotzig. »Und deshalb habe ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden.«

»Ebendeshalb. Man wird nur einmal im Leben fünfzig.«

»Eigentlich habe ich noch nie Geburtstag gefeiert, so mit Gästen und allem.«

»Dann ist es höchste Zeit, das zu ändern.«

Ich beschmierte eine Scheibe Roggenvollkornbrot dick mit fetter Leberwurst und biss mit Genuss hinein. Seit einigen Monaten aß und schlief ich abwechselnd bei meinen Töchtern und bei Theresa. Heute war ein Theresa-Abend.

»Ich sehe nicht ein, was es da zu feiern geben soll«, sagte ich, als ich den Happen heruntergeschluckt hatte. »Geburtstag heißt doch, der Tod ist wieder ein Jahr näher gerückt. Fünfzig heißt, die Hälfte des Lebens ist vorbei. Wo, bitte schön, siehst du da einen Grund, sich zu freuen?«

Darauf wusste zu meiner Überraschung selbst Theresa keine Antwort.

»Na ja«, sagte sie nach längerem Nachdenken, während sie Radieschen in dünne Scheiben schnitt und mit grobem Meersalz bestreute. »Man feiert, dass man es so weit geschafft hat, ohne von einem Bus überfahren worden oder an Krebs gestorben zu sein. Das Leben ist ja nicht ganz ungefährlich.«

Schließlich ließ sie die Angelegenheit auf sich beruhen und wechselte das Thema. Vor drei Wochen hatte sie endlich ihr drittes Manuskript an den Kölner Verlag geschickt, der auch ihre ersten beiden Bücher herausgebracht hatte. Den Arbeitstitel »Die lange Geschichte des ältesten Gewerbes der Welt« hatte die Lektorin bereits abgeschmettert. Vom Text dagegen war sie sehr angetan.

»Sie hat kaum etwas zu bemäkeln gefunden, sagt sie. Ende der Woche kriege ich es schon wieder zurück. Als Erscheinungstermin peilen sie den November an. November ist gut fürs Weihnachtsgeschäft. Demnächst soll auch der Vertrag kommen.«

Ich nippte am Rotwein, den ich mir inzwischen eingeschenkt hatte, und überlegte, ob ich mir noch eine zweite Scheibe vom frischen Brot mit dieser unglaublich leckeren geräucherten Leberwurst erlauben durfte. »Gibt es schon andere Titelvorschläge?«

»Esther meint, so was wie Sex for sale oder Money for Love wäre gut. Aber mir klingt das zu reißerisch.«

»Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse kriegen Gold und Silber«, fiel mir spontan ein.

Theresa lachte. »Erinnert an ein Buch, das sich nur wegen seines Titels irre gut verkauft hat. Aber es macht neugierig, keine Frage. Ich kann es ja mal vorschlagen.«

»Wie laufen eigentlich deine anderen Bücher?«

Vor wenigen Tagen erst war die Abrechnung für das vergangene Jahr gekommen. Theresa hatte sie in meinem Beisein geöffnet, mir jedoch nicht gezeigt und anschließend längere Zeit schlechte Laune gehabt.

»Vom Ersten haben sie im vergangenen Jahr dreihundertsomething verkauft. Vom Zweiten nicht mal hundert.«

»Wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis du davon leben kannst.«

Schnaubend griff sie sich in die honigblonde Lockenpracht. »Dazu müsste ich bei einem der großen Verlage sein. Diese Winzverlage werden vom Buchhandel einfach nicht ernst genommen.«

Ich entschied mich gegen Brot und Leberwurst, nahm mir stattdessen ebenfalls eine Handvoll Radieschen und schenkte mir Wein nach.

»Vertrag kommt demnächst – das heißt, du hast noch nichts unterschrieben?«

Theresa schüttelte den Kopf.

»Was hindert dich dann daran, das Manuskript anderen Verlagen anzubieten? Größeren Verlagen?«

Über diesen Punkt musste sie ein Weilchen nachdenken. »Nichts eigentlich«, sagte sie schließlich. »Außer dass ich ein schlechtes Gewissen hätte. Sie haben meine ersten beiden Bücher herausgegeben und sind bereit, auch das neue zu machen, obwohl sie damit bestimmt auch keinen Bestseller landen.«

»Du könntest es doch einfach mal versuchen. Kopier das Ding ein paarmal, schick es an ein paar große Verlage, das kostet nicht die Welt …«

»Die Verlage nehmen Manuskripte heute nur noch elektronisch an. Spart das Porto für die Rücksendung der Papierberge.«

»Umso besser. Schreib eine originelle und witzige Mail dazu. Was hast du schon zu verlieren?«

»Den Glauben an mich. Ich käme mir schäbig vor.«

»Eines habe ich gelernt im ersten halben Jahrhundert meines Lebens …« Ich seufzte. »Die Leute, die das große Geld machen, haben alle einen Gendefekt, der verhindert, dass sie sich jemals wegen irgendwas schäbig fühlen.«

Theresa grinste und nahm nun ebenfalls einen kräftigen Schluck vom Primitivo, den sie heute auf den Tisch gestellt hatte. »Zimperlichkeit ist nicht hilfreich im Geschäftsleben, das ist mir auch schon aufgefallen.«

»Und was machst du jetzt?«

»Jetzt räume ich den Tisch ab. Und dann machen wir es uns im Wintergarten gemütlich.«

Auf den Wintergarten freute ich mich. Man hatte nach zwei Seiten freien Blick in Theresas Garten, der aber über die Jahre so zugewuchert war, dass keiner der Nachbarn uns sehen konnte.

Theresa war eine attraktive, selbstbewusste Frau mit den richtigen Rundungen an den passenden Stellen und Zärtlichkeiten selten abgeneigt. Draußen ging ein friedlicher Sommerdauerregen nieder. Es versprach ein unterhaltsamer Abend zu werden.

3

Am Dienstagmorgen saß ich noch nicht einmal richtig am Schreibtisch, als mit unheilvollem Triller das Telefon loslegte. Am anderen Ende war wieder einmal Strohschneider. Diesmal laut und atemlos.

»Himmel, Arsch, Herr Gerlach … Also, Morgen erst mal, jetzt ist genau das passiert, nein, stimmt überhaupt nicht, damit hab ich echt nicht gerechnet, damit nicht.«

Der Bewährungshelfer hatte auf dem Weg zu seinem Büro einen kleinen Umweg gemacht, um bei seinem aktuellen Problemfall Gustaf Cordes nach dem Rechten zu sehen.

»Er ist aber nicht da, und die Wohnungstür hat sperrangelweit offen gestanden, und am Boden ist Blut.«

»Wir sind in zehn Minuten bei Ihnen. Fassen Sie nichts an.«

Als wir die Krämergasse erreichten, in der Gustaf Cordes’ Wohnung lag, war trotz Blaulichtraserei fast das Doppelte der veranschlagten Zeit vergangen. Die schmale Gasse lag im Zentrum der Heidelberger Altstadt, und das Haus, vor dem Sven Balke unseren Wagen rumpelnd auf dem kaum vorhandenen Gehweg abstellte, wirkte auf den ersten Blick unbewohnt. An den meisten Fenstern waren die hellgrau gestrichenen Klappläden geschlossen, eines im Erdgeschoss, an dem die Läden fehlten, hatten übermütige Jugendliche oder schwachsinnige Erwachsene beim Steinewerfen als Zielscheibe benutzt. Nur im zweiten Stock waren die Läden teilweise offen, und es hingen Gardinen an den Fenstern.

Hintereinander stürmten wir die staubigen und auf weiten Strecken mit Abfall und Bauschutt bedeckten Treppen hinauf. Offenkundig wurde das Haus gerade renoviert. Es roch nach Baustaub und Altbaukeller. Je weiter wir nach oben kamen, desto stärker mischte sich ein Duft nach Eukalyptusbonbons und Urin dazu.

»Herr Gerlach?«, tönte Strohschneiders Stimme hohl von oben. »Sie müssen ganz rauf. Und passen Sie auf, grad seh ich, auf den obersten Stufen ist auch Blut.«

Als wir das Dachgeschoss erreichten, schnaufte Sven Balke kaum weniger als ich, obwohl er zwanzig Jahre jünger war und regelmäßig Sport trieb. Die Joggerei zusammen mit Theresa schien allmählich doch Früchte zu tragen. Inzwischen schafften wir unsere Abendrunde über die Felder westlich von Handschuhsheim schon fast komplett ohne Atempause.

Der kleine Bewährungshelfer erwartete uns vor einer klapprigen Weichholztür, von der an vielen Stellen der blaugrau schmutzige Anstrich bröselte. Grau schien die Farbe dieses Hauses zu sein.

»Der Besitzer ist dabei, die Hütte zu sanieren«, erklärte der Bewährungshelfer mit einer allumfassenden Geste. »Aber irgendwie geht’s nicht voran. Nehme an, die Handwerker lassen ihn hängen. Sie fangen an, damit die Leute zufrieden sind, und dann kommen sie wochenlang nicht mehr. Immer das Gleiche.«

»Bis auf diese und die Wohnung darunter scheint alles leer zu stehen.«

»Die Mieter in den unteren Stockwerken hat er schon rausgeekelt. In der Wohnung unter uns haust der Herr Hausbesitzer persönlich. Ist schon über neunzig und kann das Wasser nicht mehr halten, und ein grausliger Querschädel ist er auch, kann ich Ihnen sagen. Einen halben Nachmittag lang hab ich an den Mann hingelabert, dass er den Gusti hier wohnen lässt, wenigstens, bis es mit der Renoviererei wirklich ernst wird. Man weiß ja, wie lang sich so was hinziehen kann. Und das in einer Stadt wie unserer!«

In Heidelberg eine bezahlbare Wohnung zu finden war auch für Menschen schwierig, die nicht frisch aus dem Gefängnis kamen.

Mit einem Papiertaschentuch in der Hand hielt Strohschneider uns die Tür zur Unterkunft seines Schützlings auf.

»Hab bloß im Wohnzimmer Licht gemacht, damit keiner aus Versehen in irgendwas reintritt. Ins Zimmer rein bin ich natürlich nicht.«

Balke und ich trugen jetzt Überschuhe aus weißer Plastikfolie, ebensolche Hauben auf den Köpfen und Latexhandschuhe. Den Raum, in dem sich die Tat ereignet haben musste, betraten auch wir nicht, sondern verharrten im Türrahmen und sahen uns um. Das Zimmer war bis auf einen quadratischen kleinen Tisch und zwei schon etwas ramponierte Holzstühle unmöbliert. Die klobigen Möbel sahen aus, als stammten sie aus einer Kneipe der einfacheren Sorte. Auch ohne kriminalistisches Talent war zu erkennen, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Der Tisch war umgekippt, einer der Stühle ebenfalls, am Boden lagen diverse Gegenstände verstreut, die wohl zuvor auf dem Tisch gestanden hatten, darunter eine zerbrochene Bierflasche in einer Pfütze, daneben eine heile, ebenfalls mit Pfütze und ein schwerer, dreiarmiger Kerzenleuchter aus Messing ohne Kerzen. Neben dem Leuchter war ein schwarzer Fleck am Boden, den Strohschneider wohl nicht zu Unrecht für Blut hielt.

»Am Leuchter, gucken Sie, da ist auch was«, sagte er aufgeregt zappelnd. »Irgendwer hat dem Gusti eins übergebraten. Und jetzt gucken Sie mal hier, das sind doch Schleifspuren, oder was meinen Sie?«

Mit bloßen Augen war zu sehen, dass jemand etwas Schweres vom Blutfleck weg in Richtung Wohnungstür geschleppt und dabei zwei schmale Spuren im Baustellenstaub hinterlassen hatte. Vermutlich stammten sie von den Fersen des Menschen, der hier zuvor niedergeschlagen worden war.

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«, fragte ich Strohschneider.

Der zog die Stirn kraus, wodurch die Nickelbrille ein Stück nach oben rutschte und noch schiefer hing. »Vergangenen Freitag? Stimmt, am Freitag war’s.«

Von der Straße her waren Bremsenquietschen und das Klappen von Autotüren zu hören. Die Kolleginnen und Kollegen vom Kriminaldauerdienst rückten an und brachten auch gleich die Spurensicherung mit.

Strohschneider hatte den Tatort nicht betreten, versicherte er noch einmal. »Kennt man ja aus dem Fernseher«, meinte er ungewohnt ernst.

An der Decke des Zimmers baumelte eine nackte Glühbirne, den Boden bedeckte abgewetztes und miserabel verlegtes Laminat im Kirschholz-Look. Im Staub waren bei genauerem Hinsehen abgesehen von den Schleifspuren auch Sohlenabdrücke zu erkennen, offensichtlich von verschiedenen Schuhen. An der Längswand stand links neben der Tür ein waldgrünes Sofa im Fünfzigerjahre-Design, sah ich erst jetzt.

»Früher hat hier ein Studentenpärchen gehaust. Für den Gusti ist es ganz praktisch gewesen, dass sie einen Teil der Möbel einfach dagelassen haben, wie sie ausgezogen sind.«

Während die Spurensicherer ihre Metallkoffer öffneten und die Gerätschaften auspackten, besichtigten wir die anderen Räume – Küche, Bad und Schlafzimmer. Alle Räume hatten schräge Wände, die kleinen, einfach verglasten Fenster befanden sich in Gauben und ließen wenig Licht herein. Die Möblierung schien sich im Wesentlichen auf das zu beschränken, was die früheren Bewohner zurückgelassen hatten. Das Schlafzimmer war bis auf eine Matratze am Boden, einige herumliegende Kleidungsstücke und einen billigen, farbverschmierten Klappstuhl leer. Auf der Matratze lag ein zerknäulter hellblauer Schlafsack, und als Kopfkissen diente Gustaf Cordes ein mehrfach gefaltetes Handtuch mit aufgedruckten Röschen. Überall roch es nach feuchtem Altbau und verstopften Abflüssen.

»Wenn Sie meine unmaßgebliche Meinung hören möchten«, sagte Strohschneider in meinem Rücken, »nach Einbruch sieht das hier nicht aus.« Er deutete auf die altersschwache, aber unbeschädigte Wohnungstür. »Der Gusti muss den Typ gekannt haben, der ihm eins übergebraten und ihn anschließend fortgeschafft hat.«

Balke hatte sich inzwischen im Treppenhaus umgesehen. »Die Schleifspuren hören nach ein paar Stufen auf«, berichtete er. »Entweder das Opfer ist wieder zu sich gekommen, oder der Täter hat ihn sich über die Schulter gewuchtet und die Treppe runtergetragen.«

»Das könnte gehen.« Der Bewährungshelfer nickte eifrig und fand sichtlich Spaß an dem Ratespiel, das uns der Täter aufgegeben hatte. »Der Gusti ist zwar nicht so klein wie ich, aber trotzdem ein ziemliches Fliegengewicht. Viel mehr als sechzig Kilo bringt der nicht auf die Waage, würd ich schätzen. Ein kräftiger Bursche schmeißt sich den Jungen locker über die Schulter, und dann ab damit.«

Erneut kam Getrappel die Treppe herauf. Zwei junge Kollegen und eine noch jüngere Kollegin stürmten an uns vorbei. Die Männer schleppten weitere Metallkoffer in die Wohnung, die Frau trug einen aufgeklappten Laptop auf dem linken Arm wie ein Baby, tippte im Gehen darauf herum, nickte uns grüßend zu, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Von unten war eine gurgelnde Klospülung zu hören. Der alte Herr ein Stockwerk tiefer war offenbar schon wach.

Balke klärte die neu Hinzugekommenen über das Wenige auf, was wir bisher wussten, und ich stieg derweil die Treppe hinab. Dabei achtete ich darauf, wohin ich die Füße setzte, um keine Spuren zu verwischen. Ich erreichte das zweite Obergeschoss, läutete an der Tür, hinter der Licht brannte, wie ich durch das Oberlicht erkennen konnte.

Nichts geschah.

Ich drückte den Knopf ein zweites und drittes Mal, dann hörte ich endlich Geräusche aus der Wohnung, schlurfende, tappende Schritte.

»Gehen Sie weg!«, kreischte eine zittrige Greisenstimme durch die dünne Tür. »Ich schieße, wenn Sie nicht weggehen!«

»Polizei«, erwiderte ich ruhig. »Es geht um Ihren neuen Nachbarn.«

»Hier gibt es keine Nachbarn«, kam es von innen nach kurzer Pause. »Ich lebe allein im Haus.« Weitere Pause. Dann: »Und woher soll ich, bitte schön, wissen, dass Sie wirklich von der Polizei sind?«

»Wenn Sie die Tür einen Spalt öffnen, kann ich Ihnen meinen Dienstausweis zeigen.«

»Oder Sie überfallen mich und nehmen mir meine Sachen weg. Weil ich alt bin, bin ich noch lange nicht verblödet. Ich werde diese Tür nicht öffnen.« Wieder Pause. »Was ist das denn für ein Lärm oben?«

»Das sind meine Kollegen. Der junge Mann, der seit zwei Wochen über Ihnen wohnt, ist überfallen worden. Wahrscheinlich in der vergangenen Nacht.«

Das Blut am Boden war stellenweise noch feucht gewesen, hatte ich gesehen. Mehr als einige Stunden konnte der Kampf nicht zurückliegen, der dort oben getobt hatte.

»Da sehen Sie es. Nirgends ist man mehr sicher heutzutage. Seit diese ganzen Flüchtlinge durch die Stadt stromern, kann man kaum noch das Haus verlassen, ohne ausgeraubt zu werden. Und was tut die Polizei? Nichts tut sie, gar nichts!«

»Jetzt machen Sie schon auf«, seufzte ich, allmählich ein wenig angespannt. »Klinge ich, als wäre ich ein Flüchtling?«

»Nein, das tun Sie tatsächlich nicht, das muss ich zugeben …«

»Und ein Verbrecher bin ich auch nicht.«

»Behaupten Sie. Wer sagt mir denn, dass nicht in Wirklichkeit die Amerikaner Sie schicken?«

»Die Amerikaner?«

»Sehen Sie keine Nachrichten? Die Amerikaner sind im Begriff, Europa zu erobern und zu unterjochen. Dieser … wie heißt er noch?«

»Trump?«

»Richtig. Haben Sie gewusst, dass der angeblich Pfälzer sein soll?«

»Ich bin keiner.«

»Aber ich. Kurpfälzer, nämlich. Und wir Pfälzer sind anständige Leute, ob Kur oder nicht Kur. Aber dieser Trump, der ist kein Pfälzer, weiß Gott nicht.«

»Anständige Leute machen der Polizei die Tür auf, wenn sie klingelt.«

Dieses Argument schien ihm zu denken zu geben. Ich hörte Geraschel, die Sicherheitskette rasselte schon, da überlegte der kämpferische Alte es sich doch wieder anders.

»Wir können doch gut durch die Tür reden. Wieso sollen wir nicht durch die Tür reden?«

Es folgten einige Sekunden ratloser Stille auf beiden Seiten. Von oben hörte ich Gemurmel und leises Gespräch, hin und wieder sogar Lachen. Polizisten sind Schlimmeres gewohnt als ein wenig Blut am Boden.

»Herr Balke«, rief ich schließlich halblaut. »Schicken Sie mir bitte mal die junge Kollegin runter.«

Augenblicke später kam sie die Treppe herabgesprungen, Mitte zwanzig, rote Locken, ein fröhliches Lächeln um die ungeschminkten Lippen. Flüsternd erklärte ich ihr mein Problem.

»Herr Schuster?«, startete sie in säuselndem Ton ihren Versuch, dem alten Mann Vertrauen einzuflößen. Im Gegensatz zu mir hatte sie das Namensschild unter der Klingel bemerkt. »Machen Sie doch bitte auf. Wir haben bloß ein paar Fragen, und dann lassen wir Sie gleich wieder in Frieden.«

Der Ton des Schweigens jenseits der Tür schien sich verändert zu haben. Nach einigen stillen Sekunden wurde der Schlüssel gedreht, dann noch ein zweiter, schließlich die Tür einen Spalt geöffnet. Ich sah eine schwere verchromte Kette, die immer noch eingehakt war, und eine magere, zittrige Hand voller Altersflecken. Die Kollegin drückte dem misstrauischen Greis ihr Ausweiskärtchen mit dem Emblem des Landes Baden-Württemberg in die Hand, und kurz darauf standen wir endlich in der nach Desinfektionsmitteln, Eukalyptusbonbons und Altherrenurin duftenden Wohnung.

Herr Schuster bewegte sich unsicher auf seinen dünnen Beinen und benutzte einen Rollator, um vor uns her durch den langen, miserabel beleuchteten Flur ins Wohnzimmer zu wackeln. Er hatte tatsächlich vergessen, dass er seit Neuestem nicht mehr allein in seinem heruntergekommenen Haus lebte. Seine Wohnung verließ er nur noch an hohen kirchlichen Feiertagen oder wenn ein Arztbesuch es erforderte. Einkäufe und alles andere erledigte eine Zugehfrau namens Greta, auf die der alte Mann große Stücke hielt.

»Sie wohnt in Kirchheim draußen und kommt jeden Tag mit dem Rad, bei jedem Wetter. Und wenn die Amerikaner mich aus dem Haus haben wollen, dann werden sie mich schon vorher erschießen müssen. Was haben sie nicht alles schon versucht! Drohung, Bestechung, Schikanen jeder Art, Briefe, die angeblich von der Stadt kommen. Das Neueste ist jetzt, dass das Treppenhauslicht nicht mehr funktioniert. Wenigstens haben sie mir Strom und Wasser noch nicht abgestellt.«

Offenbar war ihm entfallen, dass er selbst der Auftraggeber der Handwerker war, die die Leitungen der Treppenhausbeleuchtung aus der Wand gerissen hatten.

Um den schmalen, runzligen Mund des Alten spielte ein selbstgefälliges Lächeln. Von den wenigen Schritten außer Atem, plumpste er auf ein mintgrünes, sichtlich neues Sofa. Auf seinen Wink hin nahmen wir auf den beiden gegenüberstehenden Sesseln Platz.

In der vergangenen Nacht hatte Herr Schuster nichts gehört und nichts gesehen. Abends hatte er sich auf seinem riesigen und offensichtlich nagelneuen Flachbild-Fernseher eine DVD zu Gemüte geführt.

»Des Teufels General mit Curd Jürgens, einer meiner Lieblingsfilme. Hat mir die Veronika besorgt, meine Schwiegertochter, aus der Stadtbücherei. Mit meinem Sohn verstehe ich mich nicht so gut, deshalb kommt er nur noch her, wenn er mal wieder gucken will, ob es bald was zu erben gibt. Da hat er sich aber geschnitten, mein Herr Sohn. Hier wird es noch lange nichts zu erben geben.«

Das Gespräch war mühsam, voller Irrwege und Missverständnisse, da Herr Schuster nicht nur schlecht hörte, sondern seine Gedanken sich immer wieder selbstständig machten. Die junge Kollegin verstand er sehr viel besser als mich, sodass ich ihr die Gesprächsführung überließ und nur hin und wieder halblaut Regieanweisungen gab. Dass Herr Schuster vorhin überhaupt an die Tür gekommen war, verdankte ich dem Umstand, dass er genau in dem Moment zur Toilette musste, als ich zum dritten Mal den Klingelknopf drückte. Über dem Riesenfernseher hingen einige Blumenaquarelle in schmalen, silbernen Rahmen. Den Boden bedeckte ein weicher und gut gepflegter Berberteppich. Und über allem hing dieser penetrante Uringeruch.

Die Kollegin fragte den alten Herrn noch einmal, ob er in der Nacht ungewöhnliche Geräusche gehört habe. Wieder verneinte er energisch, was ich ihm angesichts seiner Schwerhörigkeit inzwischen glaubte.

»Die Veronika vielleicht«, sagte er mit plötzlich wieder wachem Blick. »Sie kommt morgens und hilft mir beim Aufstehen und Waschen, und abends kommt sie noch mal und hilft mir ins Bett. Später am Vormittag kommt dann die Greta und kocht und putzt und kauft ein.«

»Ist Ihre Schwiegertochter heute schon da gewesen?«, wollte die rothaarige Kollegin mit standhaftem Dauerlächeln wissen.

Schuster zwinkerte zum Fenster hinaus. »Ich meine, ja«, murmelte er abwesend. »Ich vergesse so schrecklich viel in letzter Zeit. Wahrscheinlich tun die Amerikaner uns was ins Trinkwasser, um uns dumm zu machen. Obwohl ich schon lange kein Wasser aus der Leitung mehr trinke. Was haben Sie gesagt?«

Gestern Abend war die Schwiegertochter bei ihm gewesen, in diesem Punkt war Herr Schuster sich sicher. Heute Morgen wahrscheinlich auch, denn er lag ja nicht mehr im Bett.

»Sie hat mir eine Wärmflasche ins Bett getan und das Spiel gestartet. Ich friere in letzter Zeit so leicht, deshalb die Wärmflasche im Sommer. Aber was sage ich, das ist ja kein Sommer. Da reden die Leute von Klimaerwärmung. Klimaerfeuchtung nenne ich das, Klimaverwässerung …«

Die nicht etwa irgendwelche Treibhausgase bewirkten, sondern eine weitere Schikane des amerikanischen Präsidenten war.

Wir erfuhren, dass Herr Schuster im Schlafzimmer einen zweiten, noch größeren Fernseher stehen hatte und außerdem eine Playstation der allerneuesten Generation. Da er selten länger als eine Stunde am Stück schlief, vertrieb er sich die Nacht, indem er virtuelle Feindarmeen niedermähte, Panzer vernichtete, Fregatten versenkte und geschwaderweise Flugzeuge vom Himmel schoss.

»Fragen Sie ihn bitte, wann die Schwiegertochter gestern Abend das Haus verlassen hat«, bat ich die Kollegin, die auf den Namen Judith Redtenbacher hörte, wie mir endlich wieder eingefallen war.

Es sei schon dunkel gewesen, als sie ging, erinnerte sich der alte Mann. »Jetzt, mitten im Jahr, wird es spät dunkel.«

Die Kollegin verzog den Mund mit den vollen Lippen, sah mich an. »Zehn? Halb elf?«

Immer öfter starrte der kämpferische alte Herr uns plötzlich mit offenem Mund an, als rätselte er, wie diese beiden merkwürdigen Gestalten in seine Wohnung gekommen sein könnten. »Veronika ist sehr verlässlich, wissen Sie?«, sagte er völlig zusammenhangslos. »Ganz im Gegensatz zu meinem Sohn, der nur auf mein Geld aus ist.«

»Dürften wir Ihre Schwiegertochter anrufen?«, flötete Kollegin Redtenbacher. »Sie haben doch bestimmt ihre Nummer.«

Wieder erhielten wir keine Antwort. Der Alte wurde immer verwirrter und gab fast nur noch Unsinn von sich. Nach einigen Anläufen, noch einmal mit ihm ins Gespräch zu kommen, gaben wir auf.

Ich legte eine Visitenkarte auf den blitzsauberen Couchtisch und erhob mich mit dem üblichen Sprüchlein. »Falls Ihnen oder Ihrer Schwiegertochter noch etwas einfällt …«

Judith Redtenbacher folgte mir fröhlich grinsend aus der Wohnung.

 

»Cordes hier«, meldete sich eine dumpfe Männerstimme im Telefon.

»Gustaf Cordes?«

Inzwischen war es elf Uhr geworden. Seit einer halben Stunde saß ich wieder an meinem Schreibtisch. Die Kriminaltechniker arbeiteten immer noch in der Krämergasse, würden jedoch demnächst ebenfalls zurückkommen und mit der Auswertung ihrer Funde beginnen.

»Ralph Cordes. Ich bin Gustafs Vater. Ein Herr Strohschneider hat mich eben informiert, Gustaf sei etwas zugestoßen?«

Ich berichtete dem besorgten Mann in knappen Worten, was wir am Morgen in der Dachwohnung in der Krämergasse vorgefunden hatten.

»Ein Kampf?«, fragte der Vater, als wüsste er nicht recht, was das Wort bedeutete.

»Es muss nicht zwingend das Blut Ihres Sohnes sein, was wir gefunden haben. Vielleicht hat er selbst jemanden niedergeschlagen und ist anschließend geflüchtet, aus welchen Gründen auch immer. Bisher wissen wir nur, dass es ein Handgemenge gegeben hat, bei dem jemand verletzt wurde. Nichts spricht dafür, dass dieser Jemand ernsthaft zu Schaden gekommen ist. Wie es aussieht, war er nur kurz bewusstlos.«

Am anderen Ende herrschte für einige Sekunden ratloses Schweigen.

»Hört dieser Wahnsinn niemals auf?«, hörte ich Ralph Cordes dann murmeln. »Wird das denn nie ein Ende haben?«

»Sie hören von mir, sobald ich mehr weiß. Bis zum Abend werde ich Ihnen zumindest sagen können, ob das Blut von Ihrem Sohn stammt. Falls er sich in der Zwischenzeit bei Ihnen meldet, geben Sie mir bitte umgehend Bescheid, ja?«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Vater kraftlos. »Er hat sich all die Jahre nicht bei mir gemeldet, die er im Gefängnis saß.«

»Ihnen ist bekannt, dass er behauptet, seinen Bruder nicht getötet zu haben?«

Ralph Cordes klang resigniert, als er erwiderte: »Natürlich weiß ich das. Es macht die Sache nicht gerade leichter für mich.«

»Haben Sie mit ihm über das Thema gesprochen?«

»Wir haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Gustaf hat sich völlig von uns zurückgezogen, hat sich mehr und mehr verrannt in seinen … Wahnideen. Er will einfach nicht wahrhaben, was er getan hat. Aber auch schon vor seiner schrecklichen Tat sind wir kaum noch zu ihm durchgedrungen. Ich nicht, meine Frau nicht, oder besser gesagt, meine geschiedene Frau. Als er später im Gefängnis saß, wurde es nicht besser, sondern noch schlimmer. Gustaf hat sich regelrecht abgekapselt und sich seine eigene Welt zusammenfantasiert. Eine Welt, in der alle anderen böse sind und er das verkannte Unschuldslamm.«

»Wissen Sie, was seine nächsten Pläne waren? Was er nach der Haftentlassung machen wollte?«

»Nichts weiß ich, woher denn auch? Er wollte im Gefängnis nicht besucht werden, zumindest nicht von mir. Er hat meine Briefe nicht beantwortet, ich bin … Ich sagte es schon – ich bin einfach nicht mehr zu ihm durchgedrungen.«

Ralph Cordes’ Ehe war nach der Unglücksnacht vor fast sechs Jahren zerbrochen.

»Unser Leben ist damals regelrecht implodiert. Meine frühere Frau lebt jetzt in Bayern und ist wieder verheiratet. Unsere Tochter hat die Schule ein Jahr vor dem Abitur abgebrochen und ist ebenfalls eigene Wege gegangen. Ich selbst bin krank geworden, brauchte Therapie, jahrelang. Später musste ich sogar meinen Beruf aufgeben. Inzwischen bin ich im Ruhestand und vegetiere mehr oder weniger vor mich hin.«

Der vom Schicksal so schwer gebeutelte Vater war vor seiner Frühpensionierung Beamter gewesen, zuletzt Regierungsrat im Bauordnungsamt von Wiesloch.

»Alles perdu.« Er seufzte schwer. »Alles in Trümmern. Dabei waren wir doch eine ganz normale Familie. Nicht jeden Tag Sonnenschein, wo gibt es das schon, aber im Großen und Ganzen doch … Ich meine, wo gibt es denn nicht hin und wieder Streit?«

»Ich muss jetzt leider Schluss machen«, fiel ich dem mitteilungsbedürftigen Frühpensionär ins Wort, um ihn loszuwerden. »Wenn Sie mögen, rufen Sie mich am späten Nachmittag noch mal an. Dann kann ich vielleicht schon Entwarnung geben.«

»Vielleicht …«, hörte ich ihn brummeln, als hätte er mir nicht zugehört. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns treffen? Dann kann ich Ihnen mehr von Gustaf erzählen.«

Dazu sah ich bisher keine Veranlassung, aber wenn er unbedingt wollte? Schaden würde es nicht, mir seine Geschichte anzuhören.

»Meine Sekretärin gibt Ihnen einen Termin.«

Diesen Vorschlag fand er im Prinzip gut. Aber in mein Büro wollte er keinesfalls kommen. Er schien panische Angst zu haben vor allem, was sich Polizei nannte. Am Ende wollte er dann unter Umständen vielleicht doch, aber nicht heute. Ralph Cordes war offenbar ein wenig verwirrt infolge der jüngsten Ereignisse.

»Rufen Sie mich an, wenn es Ihnen passt«, beendete ich seine fruchtlose Grübelei und legte auf, weil jemand an die Tür geklopft hatte und er mir außerdem auf die Nerven ging.

4

»Kein Zweifel?«

»Kein Zweifel«, wiederholte Laila Khatari, die in meinem Auftrag die bisherigen Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen gesichtet hatte. Die junge, aufgeweckte Kollegin war im Irak geboren, aber schon im Alter von zwei Jahren zusammen mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Als Jesiden hätten sie im Irak auf Dauer keine Überlebenschance gehabt. Laila zeichnete sich durch sehr dunkle Augen aus, die bei Bedarf sehr unschuldig gucken konnten, und durch ihr schier unverwüstliches, herzerwärmendes Lächeln. Sie war die jüngste Mitarbeiterin im Team, und ich sagte ihr eine steile Karriere voraus. Wenn sie sich in einen Fall verbissen hatte, dann standen die Chancen für den Täter schlecht, ungeschoren davonzukommen.

»Es ist definitiv sein Blut. Und am Kerzenständer kleben auch Haare von ihm. Logisch haben wir noch keine endgültige Sicherheit, weil die DNA-Ergebnisse aus Stuttgart erst in ein paar Tagen kommen. Aber die Blutgruppe stimmt, die Haarfarbe stimmt, bisher stimmt einfach alles.«

Inzwischen war früher Nachmittag. Der Tag hatte mit Regen begonnen, dann hatte es kurz aufgeklart, aber inzwischen schüttete es draußen schon wieder, als wollte es kein Ende nehmen.

»Was ist mit den Fußspuren?«

»Vier verschiedene haben wir bisher identifizieren können. Die meisten sind ziemlich deutlich, weil’s da so furchtbar dreckig ist.« Laila nickte eifrig, als müsste das Gesagte noch verstärkt werden. »Alle sind von Männern, bis auf eine vielleicht.«

Gestern Nachmittag waren die Handwerker zum letzten Mal im Haus gewesen und hatten frischen Staub produziert.

»Drum war’s einfach, alte Spuren von neuen zu unterscheiden. Wie der erste die Treppe rauf und wieder runter ist, war noch kein Blut auf den Stufen.«

»Ein Mann also …« Ich versuchte ein wenig Struktur in die Sache zu bringen.

Die junge, fast knabenhaft schlanke Kollegin, heute nach Vanille duftend, trug einen sandfarbenen Rock zu einer azurblauen Bluse. An den Ohren funkelten bunte Glitzersteinchen, um den Hals hing ein dünnes, goldenes Kettchen. Den daran vermutlich baumelnden Anhänger konnte ich nicht sehen, da die Bluse ihn verdeckte. Im Moment blätterte sie hektisch in ihren Notizen hin und her und schien ein wenig den Überblick verloren zu haben. Aber dann ging es weiter:

»Wir sprechen von einem Herrenschuh, Größe vierundvierzig oder fünfundvierzig, glatte Ledersohle. Der zweite hat Sneakers getragen, eine bis zwei Nummern kleiner als der erste, wahrscheinlich Made in China, das wird momentan noch abgeklärt.« Kopfschüttelnd blätterte sie noch einmal zurück, schien das Gesuchte immer noch nicht zu finden. »Jedenfalls, das Sohlenprofil haben wir nicht im Computer. Der käme als Täter infrage. Er ist als Zweiter oder vielleicht auch als Erster rauf und definitiv als Letzter wieder runter.«

Die dritte Spur, meinte sie, könne von einer Frau stammen.

»Größe achtunddreißig bis vierzig, auch wieder Sneakers, von Nike diesmal und noch relativ neu. Der oder die ist aber bloß bis in den Flur gekommen, hat dort kehrtgemacht und ist wie der Blitz die Treppe wieder runter. So schnell, dass es ihn oder sie auf dem Treppenabsatz voll hingehauen hat.«

»War der Erste auch in der Wohnung?«

»Das ist noch nicht geklärt. Im Flur ist ein solches Durcheinander am Boden, dass wir die Spuren teilweise nicht mehr auseinandersortiert kriegen.«

»Noch mal der Reihe nach, damit ich es verstehe.«

»Also.« Sie holte Atem. »Nummer eins, der mit den glatten Sohlen, ist rauf und wieder runter. Zu dem Zeitpunkt war noch kein Blut auf der Treppe. Nummer zwei ist in der Wohnung gewesen und war als Einziger auch am Tatort. Er ist als Letzter wieder gegangen. Nummer drei, der auch ein Mädchen sein könnte, ist nach den ersten beiden gekommen und definitiv nach Nummer eins wieder gegangen.«

»Und Nummer vier? Sie haben von vier Spuren gesprochen.«

»Die sind vom Opfer, auch Sneakers. In der Wohnung haben wir seine Abdrücke überall gefunden. Auf der Treppe fangen sie erst nach ein paar Stufen an. Da, wo die Schleifspuren aufhören.«

Erneut blätterte sie, überflog noch einmal ihre Notizen. »Ansonsten haben wir noch massenhaft unausgewertetes Material. Das Blut auf der Treppe, Schmierspuren am Geländer, Faser- und Fingerspuren überall. Das wird noch ein bisschen dauern, bis wir damit durch sind.«

Laila blickte auf und sah mir erwartungsvoll ins Gesicht.

»Saubere Arbeit«, sagte ich. »Und Komplimente ans Labor. Das ging ja diesmal wie der Blitz.«

Sie strahlte.

»Wenn ich alles richtig verstanden habe«, rekapitulierte ich sicherheitshalber noch einmal, »dann war das Opfer zwar verletzt, konnte sich aber bald wieder aus eigener Kraft fortbewegen.«

»Und als er wieder auf den Beinen war, hat er sein eigenes Blut an der Hand gehabt«, führte sie meinen Gedankengang fort. »Wahrscheinlich hat er sich an die Wunde gefasst. Daher das Blut am Geländer.«

Vor den Fenstern wurde es noch dunkler, und der Regen wurde stärker. Ich knipste meine Schreibtischlampe an.

»Und anschließend sind die zwei einträchtig zusammen die Treppe runter?«, fragte ich verwundert.

Lailas dunkle Augen wurden noch ein wenig größer. »Vielleicht hat der Täter ihn gezwungen mitzugehen? Mit einer Waffe bedroht oder so?«

»Wer ist vorne gegangen und wer hinten?«

»Mal der eine, mal der andere.«

»Und das Opfer hat keinen Versuch gemacht, den anderen loszuwerden? Davonzulaufen oder zu kämpfen?«

Ratloses Kopfschütteln.

»Klingt irgendwie nicht danach«, folgerte ich, »als hätte der Täter eine Waffe in der Hand gehabt.«

»Ich versteh’s auch nicht, Herr Gerlach«, gestand Laila Khatari mit treuherzigem Blick.

 

»Ich schon wieder.« Als Strohschneider mich zum zweiten Mal an diesem Dienstag anrief, war es schon später Nachmittag. »Da ist noch was, das müssen Sie wissen.«

Gustaf Cordes hatte in den Monaten vor seiner Tat Drogen nicht nur konsumiert.

»Er hat auch gedealt, hat mir grad jemand erzählt. Geschnappt worden ist er aber nie.«

»Eine Akte dazu finde ich auch nicht«, sagte ich nach einer kurzen Anfrage in unserem Intranet.

»Er hat sich seinerzeit hauptsächlich in Mannheim rumgetrieben.«

»Denken Sie, der Anschlag auf ihn hat etwas mit seinen Drogengeschäften zu tun?«

»Möglich wär’s. Alte Schulden, eine offene Rechnung? Solange er im Knast war, konnten sie ja nicht an ihn ran …«

»Klingt nicht ganz unplausibel«, gab ich zu.