Horst, Jørn Lier Wisting und der Tag der Vermissten

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Diese Übersetzung wurde von NORLA, Norwegian Literature Abroad, gefördert. Wir bedanken uns herzlich.

 

Übersetzung aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

 

© Jørn Lier Horst 2017
Titel der norwegischen Originalausgabe: »Katharina-Koden«, Gyldendal, Oslo 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2019
Published in agreement with Salomonsson Agency.
Redaktion: Annika Krummacher
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Anton Petrus / Getty Images

 

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1

Die drei Pappkartons standen auf dem Boden des Kleiderschranks. Wisting zog den größten heraus, der an einer Ecke eingerissen war, und trug ihn vorsichtig ins Wohnzimmer.

Die vier Deckelklappen des Kartons waren ineinandergesteckt. Wisting öffnete ihn und nahm den obersten Aktenordner heraus, der schwarz war und einen vergilbten Aufkleber auf dem Rücken trug: Katharina Haugen. Er legte ihn zur Seite und zog nacheinander drei rote Ordner mit den Aufschriften Zeugen I, Zeugen II und Zeugen III heraus. Gleich darunter entdeckte er den Ordner, nach dem er gesucht hatte. Er trug die Aufschrift Kleivervei.

Die Pappkartons enthielten alles, was im Fall Katharina Haugen dokumentiert worden war. Wisting hätte die Dokumente eigentlich nicht mit nach Hause nehmen dürfen, doch andererseits war niemandem damit gedient, wenn sie in einem verschlossenen Archivraum lagen. Auf dem Boden des Kleiderschranks hingegen erinnerten sie ihn jedes Mal an den Fall, wenn er ein frisches Hemd herausnahm.

Er fischte seine Lesebrille aus der Tasche und setzte sich mit dem Ordner auf dem Schoß in einen Sessel. Das letzte Mal hatte er vor einem Jahr einen Blick in die Akten geworfen.

Katharina Haugen hatte im Kleivervei gewohnt. Das schlichte Einfamilienhaus war aus verschiedenen Blickwinkeln fotografiert worden. Es war auf allen Seiten von Wald umgeben, und auf einem der Fotos glitzerte im Hintergrund ein See, der Kleivertjern. Das Haus lag auf einer kleinen Anhöhe, etwa hundert Meter von der Straße entfernt. Es war braun mit weißen Fensterrahmen und einer grünen Tür, die Blumenkästen vor den Fenstern waren leer.

Beim Durchblättern der Akte kam es Wisting so vor, als bewege er sich in einem Geisterhaus. Katharina Haugen war nicht mehr da, doch auf dem Fußboden des Windfangs standen ihre Schuhe. Graue Joggingschuhe, braune Stiefeletten und Holzschuhe neben den großen Sandalen und Arbeitsstiefeln ihres Mannes. An den Garderobenhaken hingen drei Jacken. Auf der Kommode im Gang lagen ein Kugelschreiber und eine Einkaufsliste, ein ungeöffneter Brief, eine Zeitung, einige Werbebroschüren und ein halb verwelkter Rosenstrauß. Drei Klebezettel hingen am Spiegel über der Kommode: einer mit einem Datum und einer Uhrzeit darauf, ein zweiter mit einem Namen und einer Telefonnummer und ein dritter, auf dem drei Großbuchstaben, vermutlich irgendwelche Initialen, und ein Geldbetrag verzeichnet waren. AML 125 Kr.

Katharinas Koffer lag geöffnet auf dem Bett. Er war gepackt und sah so aus, als hätte sie geplant, lange wegzubleiben: zehn Paar Socken, zehn Unterhosen, fünf BHs, zehn T-Shirts, fünf Hosen, fünf Pullover, fünf Blusen und Trainingszeug. Etwas an dem Inhalt war Wisting immer merkwürdig vorgekommen, ohne dass er es genauer hätte benennen können. Die Auswahl der Kleidung wirkte so unpersönlich, als wäre der Koffer eigentlich von jemand anderem gepackt worden, oder für jemand anderen.

Er blätterte weiter. Auf dem Wohnzimmertisch lagen fünf Bücher, die jemand aus dem Regal genommen hatte. Wisting hatte einige davon gelesen: Mengele Zoo, Der Alchimist, Weiße Nigger. Neben den Büchern lag ein Foto, auf dem Katharina Haugen zusammen mit ihrem Mann Martin zu sehen war. Sie umarmten sich und lächelten jemandem zu, vielleicht einem Passanten, den sie gebeten hatten, sie zu fotografieren. Das Foto war aus dem Rahmen genommen worden.

Die Aufnahmen aus der Küche waren besonders rätselhaft. Auf der Arbeitsplatte standen ein Teller mit einem Butterbrot und ein Glas Milch. Der Stuhl, auf dem Katharina Haugen immer gesessen hatte, war etwas vorgezogen, auf dem Tisch lagen ein Kugelschreiber und das, was mittlerweile als »Katharina-Code« bezeichnet wurde.

Wisting spähte angestrengt auf den Code. Eine Ansammlung von Zahlen, die über drei senkrechte Linien verteilt waren. Niemand hatte bisher herausfinden können, was das bedeutete.

Neben Spezialisten von der Polizei hatten unter anderem Kryptologen vom Militär die mysteriöse Mitteilung untersucht, ohne dass irgendjemand einer Lösung näher gekommen war. Der Code war sogar Experten im Ausland vorgelegt worden, doch auch sie konnten nichts anderes als eine sinnlose Zahlenkombination darin erkennen.

Wisting drehte und wendete die Kopie in den Händen, als hätte sich plötzlich etwas verändert, was ihn in die Lage versetzen würde zu begreifen, was dahintersteckte.

Jäh blickte er auf. Seine Tochter Line stand vor ihm. Er hatte nicht gehört, was sie gesagt hatte, ja, er hatte nicht einmal gemerkt, dass sie ins Zimmer getreten war.

»Hm?«, murmelte er, nahm die Lesebrille ab und ließ sie an der Schnur um seinen Hals baumeln.

Line setzte sich aufs Sofa, nahm ihr Kind auf den Schoß und fing an, der Kleinen Jacke und Schuhe auszuziehen, während sie einen Blick auf den Pappkarton warf, den Wisting hervorgeholt hatte.

»Ich hatte ganz vergessen, dass morgen der 10. Oktober ist«, wiederholte sie.

Wisting legte den Ordner weg, streckte die Hände nach seiner Enkelin aus und hob sie zu sich herüber. Sie war wirklich kein Baby mehr. Das winzige, hilflose Geschöpf, das er vor vierzehn Monaten zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, war schon eine richtige kleine Persönlichkeit. Er drückte die Lippen auf ihre runde Wange und gab ihr einen dicken Schmatzer. Amalie krümmte sich vor Lachen und versuchte, mit ihren kleinen Händen seine Lesebrille zu packen. Wisting nahm die Brille ganz ab und legte sie weg.

»Glaubst du, da steht auf einmal was drin, was du bisher noch nicht gelesen hast?«, fragte Line und deutete mit dem Kopf auf den Aktenordner.

Sie wirkte erschöpft und leicht gereizt.

»Stimmt was nicht?«, fragte Wisting.

Line seufzte, griff in ihre Handtasche und zog schnell einen gelben Plastikstreifen hervor. Lippenstift, Kugelschreiber, eine Kaugummipackung und weitere Gegenstände folgten.

»Ich hab ein Strafmandat bekommen«, erklärte sie, warf den Plastikstreifen auf den Tisch und fing an, die anderen Sachen wieder in die Tasche zu stecken. »Siebenhundert Kronen.«

Wisting warf einen Blick darauf.

»Ordnungswidriges Parken gemäß Verkehrszeichen 372«, las er. »Was ist Verkehrszeichen 372?«

»Parken verboten.«

Wisting grinste, beugte sich vor und rieb seine Nase an der Wange seines Enkelkinds.

»Mama hat einen Strafzettel bekommen«, sagte er mit verstellter Stimme.

Line stand auf.

»Ich verstehe nicht, warum du dich immer noch mit diesen Unterlagen beschäftigst«, sagte sie und ging in die Küche. »Nach all den Jahren.«

»Willst du Widerspruch einlegen?«, fragte Wisting. »Gegen den Strafzettel?«

»Wozu sollte das gut sein?«, erwiderte Line. »Ich hab das Schild eben nicht gesehen. Nur um das Geld tut es mir leid.«

Sie kam mit einem Teelöffel zurück, nahm einen Becher Joghurt aus der Wickeltasche und setzte Amalie wieder auf ihren Schoß.

»Hast du noch weitere Verwandte von ihr aufgetrieben?«, fragte Wisting.

Line riss den Deckel des Joghurtbechers ab.

»Ein paar Cousins und Cousinen vierten oder fünften Grades, in Bergen«, erwiderte sie und lächelte ihren Vater kurz an.

»Vierten oder fünften Grades? Wie geht das denn?«

»Wenn man dieselben Urururgroßeltern hat«, sagte Line und fing an, Amalie zu füttern.

»Und von welchem Urururgroßvater reden wir hier?«

»Arthur Thorsen«, erklärte Line. »Er war der Urgroßvater von Mama.«

»Nie von ihm gehört«, musste Wisting zugeben.

»1870 auf Askøy geboren«, entgegnete Line.

Wisting schüttelte den Kopf und griff nach dem Bericht, den er bis eben gelesen hatte.

»Und du findest, dass ich zu viel in alten Papieren herumstöbere?«, fragte er und grinste.

»Das, wonach du suchst, ist ja nicht da«, wandte Line ein. »Seit fünfundzwanzig Jahren beschäftigst du dich jetzt damit, aber die Antwort steht nicht da drin.«

»Vierundzwanzig«, entgegnete Wisting und stand auf. Ihm war bewusst, dass sich die Antwort wohl kaum in einem der Kartons im Kleiderschrank befand, war aber gleichzeitig davon überzeugt, dass mindestens eine der siebenhundertdreiundsechzig Personen, die in der Ermittlungsakte genannt wurden, genau wusste, was sich in jenem Oktober vor vierundzwanzig Jahren zugetragen hatte.

Er griff nach einem der roten Aktenordner und schlug ihn an einer zufälligen Stelle auf. Eine Zeugenaussage. Das Papier war dünn und die Schrift ausgeblichen. Wisting fing an einer Stelle mitten im Text an zu lesen und wusste, wie der Satz endete, bevor er fertig gelesen hatte. Es handelte sich um das schriftliche Protokoll einer Routinevernehmung. Es enthielt keine interessanten oder wesentlichen Details, doch jedes Mal, wenn er dieses oder ein beliebiges anderes Dokument aus der Ermittlungsakte las, überkam ihn die Vorstellung, dass er auf etwas stoßen würde, was er zuvor übersehen hatte, oder dass er den Inhalt plötzlich so deuten könnte, dass sich daraus ein ganz neuer Zusammenhang ergab.

»Und, fährst du?«, fragte Line und riss ihn aus seinen Gedanken.

Wisting schloss den Ordner und musste sich eingestehen, dass er seiner Tochter abermals nicht zugehört hatte.

»Fährst du wieder mit ihm in die Hütte?«

»Mit wem?«, fragte Wisting, obwohl er genau wusste, wen sie meinte.

»Mit ihm«, sagte Line leicht gereizt und deutete auf den Unterlagenstapel.

»Ich glaube nicht«, erwiderte er.

»Aber du fährst morgen zu ihm?«

Wisting nickte. So hatte es sich im Lauf der Jahre ergeben. Jedes Jahr am 10. Oktober besuchte er Martin Haugen.

»Tut mir leid«, sagte er und legte den Ordner weg.

Er wusste genau, wie eigenartig er sich benahm, wenn der Jahrestag näher rückte. Der alte Fall drang wieder ins Bewusstsein und schob alles andere beiseite.

»Was macht ihr heute Abend?«, fragte er und trat ans Fenster. Draußen war es dunkel. Ein paar Regentropfen klebten an der Scheibe.

Line gab Amalie einen letzten Löffel Joghurt.

»Ich wollte ins Fitnessstudio«, gab Line zur Antwort und stellte die Kleine auf den Boden. »Ich hatte gehofft, dass du auf sie aufpassen kannst. Sie fühlt sich in der Kinderbetreuung des Studios nicht besonders wohl.«

Die kleine Amalie stand schwankend auf dem Fußboden.

»Dann übernehme ich die Betreuung«, sagte Wisting lächelnd und klatschte in die Hände, um seine Enkelin zu sich zu locken.

Sie stapfte auf ihn zu und lachte, als Wisting sie auffing und hochhob.

»Vorsicht«, warnte Line. »Sie hat gerade gegessen.«

Wisting setzte Amalie wieder auf den Fußboden, ging ins Nebenzimmer und holte eine Kiste mit Spielzeug. Dann verteilte er den Inhalt auf dem Boden und setzte sich neben die Kleine.

Amalie nahm einen roten Holzwürfel in die Hand und sagte etwas, das Wisting jedoch nicht verstehen konnte.

»Vielen Dank fürs Aufpassen«, sagte Line und erhob sich. »Ich bin in zwei Stunden wieder da.«

Sie winkte den beiden zu, aber Amalie war viel zu beschäftigt, um überhaupt wahrzunehmen, dass ihre Mutter wegging.

Etwa zehn Minuten saßen Wisting und Amalie zusammen auf dem Fußboden. Allerdings fand es die Kleine nach einer Weile interessanter, für sich allein zu spielen.

Seine Kniegelenke knackten, als er sich erhob und zum Karton hinüberging. Dort zog er das Notizbuch heraus und ließ sich wieder in den Sessel fallen. Er blätterte vor und zurück, griff nach der Lesebrille auf dem Tisch und setzte sie auf.

Alle Informationen aus den Fällen, an denen er arbeitete, landeten in seinem dicken blauen Notizbuch. Zunächst Stichwörter zu den nackten Tatsachen, dann Einzelheiten, Zeugenaussagen, Dokumentationen und Laborberichte. Das Notizbuch war für ihn eine Art Archiv. Es enthielt Aufzeichnungen über jede einzelne Vernehmung, jeden gewonnenen Beweis und diente stets als Grundlage für die Planung der nächsten Schritte.

Er verstand nicht, weshalb Line so ablehnend darauf reagierte, dass er sich weiterhin mit dem alten Fall befasste. Normalerweise fand auch sie ungelöste Rätsel und offene Fragen interessant. Die gleiche Wissbegier, die ihn zum Ermittler hatte werden lassen, hatte sie zur Journalistin gemacht. Wenn sich der Weg, den sie beschritt, irgendwo teilte und sie sich für die eine Abzweigung entschied, wollte sie dennoch wissen, wohin sie die andere Richtung hätte führen können. Seit Amalies Geburt interessierte sie sich für Ahnenforschung. In erster Linie ging es dabei vermutlich darum, ihrer Tochter eine größere Familie zu verschaffen, da der Vater der Kleinen mehr oder weniger abgetaucht war. Doch es steckte ein viel tieferer Wissensdurst dahinter. Wisting verstand sehr gut, dass es ihr eine gewisse Befriedigung verschaffte, immer mehr familiäre Verbindungen ausfindig zu machen, um allmählich ein Gesamtbild zu erkennen. So etwas hatte durchaus Ähnlichkeit mit einer polizeilichen Ermittlung.

Die Suche nach Antworten war die Grundlage für Lines bisherige journalistische Tätigkeit. Dabei ging es ihr nicht nur um die Präsentation einer Nachricht. Sie wollte wissen, was dahinter verborgen lag. Eine Eigenschaft, die die Redaktion von Verdens Gang sehr zu schätzen wusste. Die Zeitung wollte Line gern behalten und hatte ihrem Antrag auf eine Verlängerung der Elternzeit zugestimmt, in der Hoffnung, dass sie danach in die Festanstellung zurückkehren würde.

Wisting hatte gar nicht den Wunsch, dass Line sich mit dem Fall Katharina Haugen beschäftigte, konnte aber auch nicht verstehen, weshalb sie so demonstrativ desinteressiert war. Das lag vielleicht daran, dass dieser Fall immer schon präsent gewesen war. Line war sechs Jahre alt gewesen, als Katharina Haugen verschwand. Seine Tochter kannte es, dass er in regelmäßigen Abständen die alten Unterlagen hervorkramte und sich darin vergrub. Oder es hatte damit zu tun, dass Line, wie so viele andere, die gängige Erklärung zu dem Fall akzeptiert hatte: dass Katharina Haugen in einer dunklen Oktobernacht vor vierundzwanzig Jahren beschlossen hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Aber wo war dann ihre Leiche?

Eine andere Theorie besagte, dass Katharina Haugen einem Unfall zum Opfer gefallen war. Vielleicht hatte sie eine Wanderung unternommen und war dabei gestürzt. Aus dieser Vermutung ergaben sich aber statt Antworten nur umso mehr neue Fragen.

Neben der Tatsache, dass sie verschwunden war, gab es weitere Umstände, die Wisting Jahr für Jahr veranlassten, die Unterlagen wieder hervorzuholen. Wie etwa den mysteriösen Code auf dem Küchentisch, den Nachbarn, aus dem er nie richtig schlau geworden war, oder Katharina Haugens unbekannten Vater. Und dann waren da noch die Blumen. Vierzehn rote Rosen.

Amalie war aufgestanden. Sie war ganz in ihre eigene Welt versunken, hielt sich dabei an der Armlehne eines Sessels fest und biss in eine bunte Rassel.

Wisting lächelte sie an, öffnete dann einen der Ordner und zog das Protokoll einer Vernehmung hervor, die mit Mina Ruud durchgeführt worden war, einer der letzten Personen, die Katharina Haugen lebend gesehen hatten. Die beiden hatten gemeinsam im Chor gesungen und sich fünf Jahre gekannt. In den letzten Wochen vor ihrem Verschwinden war Katharina Haugen nicht zu den Proben gekommen. Am Telefon hatte sie der Freundin erklärt, sie sei nicht in Form und habe nicht genügend Energie. Zwei Tage vor Katharinas Verschwinden hatte Mina Ruud sie daher zu Hause besucht. Tatsächlich hatte Katharina erschöpft und blass ausgesehen. Mina hatte den Eindruck, dass ihr irgendetwas Sorgen bereite. Auf ihre direkte Nachfrage hatte Katharina das Ganze als Bagatelle abgetan und erklärt, sie nehme jetzt Vitamintabletten, in der Hoffnung, sie würden ihr helfen. Während der Vernehmung hatte Mina Ruud ausgesagt, dass sie im Laufe des letzten Jahres eine deutliche Veränderung an Katharina wahrgenommen habe. Für gewöhnlich sei sie nämlich ein Energiebündel gewesen, wie Mina Ruud sich ausdrückte. Immer gut gelaunt und sprudelnd vor Energie. Doch dann musste etwas passiert sein, was ihre Persönlichkeit verändert hatte. Sie sei zu Hause geblieben, nur noch selten ausgegangen und fast nie mehr mit Freunden zusammen gewesen. Katharina Haugen habe verschlossen und niedergeschlagen gewirkt.

In Mina Ruuds Aussage gab es einen Abschnitt, den Wisting besonders interessant fand. Ihr sei es so vorgekommen, als hätte Katharina ein dunkles Geheimnis mit sich herumgeschleppt, hatte sie geäußert. Etwas, von dem sie anscheinend niemandem erzählen konnte.

Einige ihrer Freunde und Arbeitskollegen hatten Katharina Haugen als depressiv beschrieben. Allgemein war man der Ansicht, dies liege daran, dass sie Heimweh nach ihrer Familie und ihren Bekannten in Österreich habe.

Unverhofft blieb Wisting an einem Satz hängen, der ihm bislang noch nicht aufgefallen war. Mina Ruud versuchte, sich an den genauen Zeitpunkt einer Unterhaltung mit Katharina zu erinnern. Die hatte ihr nämlich erzählt, dass sie zwei Tage zuvor einem Mann aus Österreich begegnet sei. Es habe sich um ein zufälliges Zusammentreffen in einem Café gehandelt. Er hatte gefragt, ob der andere Stuhl an ihrem Tisch noch frei sei, und da Katharina sein Akzent aufgefallen war, wollte sie wissen, ob er aus Österreich komme. Es sei wirklich schön gewesen, jemanden aus ihrem alten Heimatland zu treffen.

Die Ermittler hatten viel Zeit und Ressourcen darauf verwendet, diesen Mann zu finden. Deswegen war es auch so wichtig herauszufinden, wann diese Begegnung stattgefunden hatte. Soweit Mina Ruud sich erinnern konnte, war es ein Nachmittag Mitte August gewesen.

Zumindest hatte Wisting das gelesen, obwohl es so nicht im Protokoll stand.

Er las den Satz noch einmal: Es war Nachmittag Mitte August.

Da fehlte ein Wort. Bisher hatte er immer Es war ein Nachmittag Mitte August gelesen. Aber das Wort ein fehlte. So etwas kam häufiger vor. Mitunter passierte es ihm selbst. Nicht alle Wörter, die er im Kopf hatte, landeten auch auf dem Papier. Wenn man den Satz las, wurde dem Gehirn suggeriert, dass das fehlende Wort dastand, weil man streng genommen ja nicht ein Wort nach dem anderen las, sondern den Blick über den ganzen Satz gleiten ließ.

Dass das Wort fehlte, hatte weiter nichts zu bedeuten. Es veränderte nicht den Sinn der Aussage, brachte Wisting aber auf den Gedanken, dass es vielleicht andere Details in der umfassenden Ermittlungsakte gab, die er übersehen hatte.

Er legte das Protokoll zur Seite und stürzte sich mit neuer Energie auf den nächsten Aktenstapel. Wenn jemand spurlos verschwand, gab es vier Möglichkeiten: Selbstmord, Unfall, Flucht oder eine kriminelle Handlung. Die Polizei hatte alle vier Möglichkeiten untersucht und darüber hinaus die These aufgestellt, dass Katharina das Land verlassen habe, ohne jemandem Bescheid zu sagen, weil sie entweder in ihrer alten Heimat oder irgendwo sonst auf der Welt ein neues Leben beginnen wollte.

Wisting hatte niemals an die Möglichkeit geglaubt, dass Katharina Haugen aus freien Stücken weggegangen war. Obwohl es weder eine Leiche noch einen Tatort gab, hatte er den Fall immer als Mordfall betrachtet. Seine Schlussfolgerung basierte nicht etwa auf einem bestimmten Umstand, vielmehr hatte ihn die Summe der Umstände auf diesen Gedanken gebracht. Wie der Koffer auf dem Bett, die aus dem Regal gezogenen Bücher oder das Foto, das jemand aus dem Rahmen genommen hatte. Und natürlich der Code auf dem Küchentisch.

Abermals holte er die Kopie hervor und betrachtete sie eingehend. Drei leicht gebogene Striche teilten das Blatt und bildeten zwei Spalten. Darunter war ein horizontaler Strich gezogen worden. Der Rest bestand aus Zahlen. Die 362 war von einem Kreis umgeben und tauchte zweimal auf. Dasselbe galt für die Zahl 334. Die 18 gab es ebenfalls doppelt, allerdings war sie beide Male von einem Quadrat umgeben. Weitere Zahlen waren auf dem Papier verteilt: 206, 613, 148, 701, 404, 49. Was die kryptische Nachricht besonders interessant machte, war eine Markierung am Rand des Blattes, die einem Kreuz ähnelte. Die Linien waren mehrmals mit schwarzem Kugelschreiber nachgezogen worden, so fest, dass im Blatt fast ein Loch entstanden war.

Wie schon so oft zuvor blickte Wisting angestrengt auf das Kreuz und die Zahlen. Dieses Mal kam es ihm so vor, als rege sich etwas in seinem Unterbewusstsein. Als ob die Zahlen plötzlich einen Sinn ergeben könnten.

Er holte tief Luft und hielt den Atem an. Immer, wenn er die alten Unterlagen hervorholte, hoffte er darauf, einen solchen Moment zu erleben. Vielleicht hatte er im Laufe des vergangenen Jahres etwas gehört, gesehen oder wahrgenommen, das seinen Erfahrungshorizont erweiterte und ihn in die Lage versetzte, den Inhalt der Ermittlungsakte neu zu beurteilen. Genau an dieser Stelle befand er sich jetzt, kurz vor einer neuen Erkenntnis. Eine Aussage, ein Foto oder ein unbedeutendes Detail, das sich im Laufe der letzten zwölf Monate in sein Unterbewusstsein eingebrannt hatte, stand kurz vor dem Auftauchen an die Oberfläche.

Er las die Zahlen laut und versuchte, auf diese Weise seinem Gehirn auf die Sprünge zu helfen.

Die kleine Amalie äffte ihn nach. Sie versuchte, die gleichen Zahlen auszusprechen, und lachte angesichts ihres Misserfolgs.

Wisting sah zu seiner Enkelin hinüber. Sie war ganz blau um den Mund. In der Hand hielt sie einen Kugelschreiber. Sie hatte ein Loch hineingebissen, und die Farbe tropfte an ihrer Hand herunter.

Sie gluckste und lachte und schob den Kugelschreiber wieder in den Mund.

Wisting ließ die Papiere fallen, stürzte zu ihr und riss ihr den Schreiber aus der Hand.

Lippen, Zähne, Zunge und der gesamte untere Teil ihres Gesichts waren blau verfärbt. Er hob die Kleine hoch und eilte mit ihr ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und hielt sie über das Waschbecken. Dann gab er Wasser in die hohle Hand, fuhr damit über ihr Gesicht und wiederholte das Ganze. Amalie fing an zu schreien. Wisting goss ihr noch mehr Wasser ins Gesicht, auch in den geöffneten Mund. Amalie hustete und keuchte. Blau gefärbtes Wasser tropfte ins Becken. Trotz ihrer lautstarken Proteste fuhr Wisting fort, seiner Enkelin den Mund auszuspülen, bis er sicher sein konnte, dass keine Tinte zurückgeblieben war. Schließlich setzte er sich mit Amalie auf den Toilettendeckel und versuchte, sie zu trösten.

»Alles wird gut«, sagte er und versuchte, seiner Stimme einen möglichst fröhlichen Klang zu verleihen.

Amalie beruhigte sich etwas. Wisting fischte sein Handy aus der Tasche und rief die Notaufnahme des Krankenhauses an. In wenigen Worten erklärte er, was passiert war.

Die Krankenschwester fragte nach dem Namen.

»Ingrid Amalie Wisting«, antwortete er und nannte ihr Geburtsdatum.

Er hörte das Geräusch einer Tastatur am anderen Ende der Leitung.

»Wie viel Tinte hat sie denn verschluckt?«, wollte die Krankenschwester wissen.

»Ich weiß nicht«, sagte Wisting und ging mit der Kleinen auf dem Arm ins Wohnzimmer. Der Kugelschreiber lag auf dem Boden und hatte einen blauen Fleck auf dem Teppich hinterlassen.

»Mehr als die Hälfte der Tinte ist noch übrig«, sagte er. »Das meiste klebt vermutlich an ihren Händen und der Kleidung.«

»Geringe Mengen Tinte sind normalerweise völlig ungefährlich«, beruhigte ihn die Krankenschwester. »Schlimmer wäre es, wenn sie ein Stückchen Plastik verschluckt hätte.«

Wisting untersuchte den Kugelschreiber. Das Ende war zerfranst.

»Und was kann dann passieren?«, fragte er.

»Es könnte im Hals stecken bleiben«, erklärte die Krankenschwester. »Aber anscheinend ist ja noch mal alles gut gegangen. Kann sein, dass sie etwas Bauchschmerzen bekommt, aber das regelt sich dann auf ganz natürliche Weise.«

Wisting bedankte sich, legte auf und brachte Amalie wieder ins Bad. Er befeuchtete einen Waschlappen und versuchte, der Kleinen das Gesicht und die Finger zu waschen. Die Farbe wurde zwar etwas schwächer, war aber immer noch zu sehen. Er nahm seine Zahnbürste, gab etwas Zahncreme darauf und machte sich daran, ihre kleinen, verfärbten Zähne zu putzen. Amalie protestierte und fing wieder an zu weinen. Er gab auf, trug sie zurück ins Wohnzimmer und sank mit seiner Enkelin auf dem Schoß in einen Sessel. Die plötzliche Angst, die er verspürt hatte, verwandelte sich in Gereiztheit. Er ärgerte sich über sich selbst.

Amalie weinte immer noch. Bestimmt war sie müde, und seine Unruhe hatte sich auf sie übertragen. Er stand auf, nahm Amalie auf den Arm und begann alles aufzusammeln und wieder in den Karton zu legen, was mit dem Fall Katharina Haugen zu tun hatte. Einer der Aktenordner war nicht richtig geschlossen, lose Blätter verteilten sich über Tisch und Fußboden. Er sammelte alles auf und stopfte es in den großen Karton, ohne sich darum zu kümmern, ob die Unterlagen zerknitterten oder in Unordnung gerieten. Er wollte nur alles aus dem Weg haben.

Dann nahm er Amalie auf den anderen Arm, drückte die Deckelklappen des großen Kartons wieder zusammen und schob ihn mit dem Fuß zur Wand hin. Schließlich setzte er sich mit der Kleinen auf den Boden und sah sie an. Ihre Kleider waren jetzt unbrauchbar. Wahrscheinlich wäre sie in Kürze ohnehin herausgewachsen, aber Wisting würde Line anbieten, den Schaden zu ersetzen.

Das Weinen hatte nachgelassen. Großvater und Enkelin waren eifrig damit beschäftigt, Holzklötze aufeinanderzustapeln, als Line zurückkam.

Sie lächelte beim Anblick der beiden, erstarrte aber, als sie die blaue Farbe am Mund und auf der Kleidung ihrer Tochter entdeckte.

»Was ist passiert?«, fragte sie und nahm Amalie auf den Arm.

»Sie hat einen Kugelschreiber erwischt«, sagte Wisting.

»Hast du nicht aufgepasst?«

»Sie war ziemlich schnell«, erklärte er.

»Aber du warst doch wohl bei ihr?«

»Selbstverständlich«, sagte er. »Aber plötzlich saß sie da und hatte das Gesicht voller Farbe. Ich glaube, es war dein Kugelschreiber. Der muss dir aus der Tasche gefallen sein, als du mir das Strafmandat gezeigt hast.«

Line feuchtete einen Daumen an und rieb damit über Amalies Kinn.

»Ich habe schon mit der Notaufnahme gesprochen«, fuhr Wisting fort. »In so geringen Mengen ist Tinte nicht gefährlich. Schwer wegzukriegen, aber nicht gefährlich.«

Line seufzte. »Ich bring sie nach Hause und steck sie in die Badewanne.«

Sie setzte sich auf einen Stuhl und zog ihre Tochter an.

Wisting suchte die Spielsachen auf dem Fußboden zusammen.

»Ich kann ihr gern neue Sachen kaufen«, sagte er. »Oder sie wenigstens bezahlen.«

Line schüttelte den Kopf.

»Denk nicht weiter daran«, sagte sie und stand auf. »Danke, dass du auf sie aufgepasst hast.«

»Tut mir leid«, sagte Wisting. »Ich bin vermutlich ein elender Babysitter.«

Line lächelte.

»Ist schon gut«, sagte sie und warf einen Blick auf den Karton mit den Falldokumenten.

»Vergiss nicht, dass Thomas am Wochenende nach Hause kommt«, sagte sie.

Thomas war ihr Zwillingsbruder. Er arbeitete als Helikopterpilot bei der Armee und kam nur zweimal im Jahr zu Besuch.

»Ich werde Pizza machen«, sagte Wisting mit einem Lächeln.

Das war etwas, das er schon getan hatte, als Line und Thomas noch Teenager waren. Jeden Freitag, wenn er nach Hause kam, hatte er einen Pizzateig zubereitet. Line und Thomas hatten ihm beim Belegen geholfen. Diese Tradition hatten sie fortgeführt, bis Thomas zum Militär gegangen war.

»Wir kommen«, sagte Line und drückte ihre Tochter an sich. »Möchtest du nicht Tschüss zu Opa sagen?«

Wisting nahm beide in den Arm und begleitete sie dann zur Tür. Er sah ihnen nach, als sie durch den Regen zu Lines Haus hinüberliefen, das etwas weiter unten an der Straße lag.

Ich habe gelogen, dachte er und wunderte sich darüber, wie leicht es ihm gefallen war zu sagen, er sei die ganze Zeit bei Amalie gewesen, anstatt zuzugeben, dass er sich in den Fall Katharina vertieft und seine Enkelin für einen Moment vergessen hatte. Aber nicht nur das. Er hatte außerdem seiner Tochter einen Teil der Verantwortung zugeschoben, indem er sie darauf hinwies, dass der Kugelschreiber ihretwegen dort gelegen hatte.

Wisting schloss die Tür, trat ins Wohnzimmer und betrachtete den Pappkarton, den er zur Seite geschoben hatte.

Lügen waren Bestandteil von jeder Ermittlung. Alle logen. Nur selten ging es dabei um direkte Unwahrheiten, aber die meisten Menschen umgingen die Wahrheit auf irgendeine Weise. Sie äußerten sich zweideutig, verschwiegen Einzelheiten, übertrieben, schmückten Dinge aus, um sich interessant zu machen, oder hielten Informationen zurück, die sie in ein schlechtes Licht rücken könnten. Dazu kam, dass sich die Menschen häufig falsch erinnerten. Oft hatten sie Ereignisse anders im Gedächtnis, als sie tatsächlich geschehen waren. Doch anstatt zuzugeben, dass sie sich an etwas nicht erinnerten, füllten sie die Erinnerungslücken, indem sie die Ereignisse so ausschmückten, wie sie glaubten, dass sie sich abgespielt haben mussten. Um diese Unwahrheiten aufzudecken, war die Polizei von weiteren Informationen abhängig, mit denen die Aussagen überprüft werden konnten.

Wisting bückte sich und hob den Kugelschreiber auf, auf dem Amalie herumgekaut hatte. Unter den Zahnabdrücken war das Logo der Polizeigewerkschaft gerade noch zu sehen. Es war sein Kugelschreiber. Er überlegte, ob er es Line erzählen oder die Sache auf sich beruhen lassen sollte. Aufheben würde er den Kugelschreiber jedenfalls nicht. Er nahm ihn mit in die Küche und warf ihn in den Mülleimer. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer, klappte den Kartondeckel wieder auseinander und nahm die Ordner heraus.

2

Feine, durchsichtige Wasserstrahlen fielen im Licht der Scheinwerfer schräg zu Boden, als Wisting rückwärts aus der Garage fuhr. Der Regen hatte im Laufe der Nacht zugenommen. Wisting war bis Mitternacht aufgeblieben und hatte versucht, den Faden wiederzufinden, den er einige Stunden zuvor beinahe schon gepackt hatte, doch der war nicht mehr da.

Er warf einen Blick über die Schulter und sah zum Haus hinüber, in dem seine Tochter wohnte. In der Küche brannte Licht. Amalie wachte immer gegen sechs Uhr auf. Einen Augenblick blieb er regungslos hinter dem Lenkrad sitzen und fragte sich, ob er bei Line anhalten und fragen sollte, wie es den beiden ging. Er hatte es nicht eilig. Sein Arbeitstag begann erst in einer Stunde. Aber anscheinend versuchte Line gerade, die Kleine wieder zum Einschlafen zu bringen. Dabei würde sein Besuch nur stören.

Der 10. Oktober vor vierundzwanzig Jahren war ein wolkenloser Tag mit schwachem Wind aus Südost gewesen, wie Wisting aus dem Bericht wusste. Im Laufe des Abends waren ein paar Wolken aufgezogen. Der Wind hatte sich zu einer leichten Brise entwickelt, und die Temperatur war auf etwa acht Grad abgefallen.

Wisting fuhr durch das Wohnviertel und bog nach links in den Larviksvei ab. Der Arbeitstag würde nicht sehr produktiv werden. Er würde sich kaum auf etwas anderes konzentrieren können, weder vor noch nach dem Treffen mit Martin Haugen.

Katharina war in der Vergangenheit schon einmal verschwunden. Damals hatte sie Katharina Bauer geheißen. Im Alter von einundzwanzig Jahren hatte sie sich auf ihr Motorrad gesetzt, hatte ihrer österreichischen Heimatstadt Perg den Rücken zugekehrt und war nie wieder zurückgekommen.

Sie war vor ihrer dysfunktionalen Familie geflohen, einem gewalttätigen und alkoholabhängigen Stiefvater und einer instabilen Mutter mit psychischen Problemen. Lange hatten Katharina und ihre Schwester zusammengehalten und sich um den jüngeren Bruder gekümmert, doch als der alt genug war, um auf sich selbst aufzupassen, hatte Katharina ihren Rucksack gepackt und sich auf den Weg gemacht.

Die Reise hatte sie nach Norwegen geführt. Irgendwo in dem Land lebte ihr Vater. Jedenfalls hatte ihre Mutter einmal erzählt, dass der Vater Norweger sei. Sie hatte nicht viel Hoffnung, ihn zu finden. Sie wusste nur, dass er Richardt hieß und eine Zeit lang Stammgast in dem Restaurant war, wo ihre Mutter im Sommer 1958 gearbeitet hatte. Irgendwann war er dann weitergefahren, und es war unklar, ob er überhaupt je erfahren hatte, dass er Vater geworden war.

Der unbekannte Vater war allerdings nicht der eigentliche Grund für ihre Reise nach Norwegen. Es ging in erster Linie darum, von zu Hause wegzukommen. Aber sie war auch neugierig auf dieses Land gewesen. Bevor sie aufbrach, hatte sie sich mit Geschichte und Geografie vertraut gemacht und die Sprache ein wenig gelernt.

Nach ihrer Ankunft in Norwegen hatte sie offenbar auch versucht, ihren Vater ausfindig zu machen. Unter den von ihr zurückgelassenen Dingen befand sich eine Adressenliste mit verschiedenen Männern, die Richardt hießen, auch in anderer Schreibweise, aber das Ganze wirkte wie ein Projekt, das sie schon lange vor ihrem Verschwinden aufgegeben hatte. Ein paar der Namen auf der Liste waren durchgestrichen, etwa drei Viertel waren noch übrig. Die Polizei hatte sich mit all diesen Männern in Verbindung gesetzt. Die, deren Namen durchgestrichen waren, bestätigten, dass man sie kontaktiert hatte, dass sie aber offensichtlich nicht diejenigen waren, nach denen sie gesucht hatte.

Wisting stellte die Scheibenwischer auf eine höhere Geschwindigkeit ein. Als er sich dem Zentrum näherte, verdichtete sich der Verkehr. Das Regenwasser der letzten Tage hatte sich neue Wege gesucht, an mehreren Stellen war der Untergrund weggespült worden, und Teile der Straße waren abgerutscht, sodass der Verkehr umgeleitet werden musste.

In Österreich hatte Katharina eine Ausbildung zur Landschaftsplanerin und Feldvermesserin absolviert und war dann nach ihrem Umzug nach Norwegen für die lokale Straßenbaubehörde tätig geworden. Sie hatte ein Gefühl für Fremdsprachen, lernte schnell Norwegisch und machte eine Weiterbildung an der Technischen Fachhochschule. Nach einer Weile bekam sie dann eine feste Anstellung bei der staatlichen Straßenbaubehörde, wo sie an der Planung und am Bau von neuen Fernstraßen durch den südlichen Teil von Telemark arbeitete. Dabei war sie auch Martin Haugen begegnet. Er war dort Vorarbeiter und gehörte zu den Kollegen, die sich häufig im Planungsbüro aufhielten.

Der Verkehr rollte langsam weiter. Ein Fahrradfahrer in Regenmontur schlängelte sich an den Fahrzeugen vorbei.

Wisting wollte gegen zwölf zu Martin Haugen fahren. Sie hatten keine feste Verabredung, doch nach dem Verschwinden von Katharina war er jedes Jahr zur gleichen Zeit zu ihm gefahren und wusste, dass Martin Haugen ihn auch in diesem Jahr erwartete. Der Kaffee würde gekocht sein und der Fertigkuchen bereitstehen. Vermutlich ein Zitronenkuchen mit Glasur oder eine Himbeerbiskuitrolle. Erst würden sie ein wenig Small Talk machen, dann würden sie über Katharina sprechen.

Wisting war ihr einmal begegnet. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, erst fünf oder sechs Jahre nach ihrem Verschwinden hatte Martin Haugen ihn darauf aufmerksam gemacht. Es sei am Nationalfeiertag gewesen, hatte er erklärt und Wisting einen Zeitungsausschnitt gezeigt. Katharina und ihre Freundinnen aus dem Chor hatten während der Feiern im Wald Bøkeskogen gesungen. Es gab ein Bild von ihnen in der Zeitung, und im Hintergrund war Wisting zu sehen, der damals im Einsatz gewesen war.

Katharina hatte ihrem Mann das Foto gezeigt und erzählt, dass sie kurz vor dem Chorauftritt ein Schlüsselbund gefunden und dem Polizisten auf dem Bild übergeben habe.

Wisting hatte sich an das Vorkommnis nicht erinnern können und vermutete, dass Katharina ihn mit einem anderen Polizisten verwechselt hatte. Er hatte das Fundsachenprotokoll hervorgeholt, zurückgeblättert und zu seiner Überraschung einen von ihm notierten Vermerk gefunden, der besagte, dass ein Schlüsselbund von einer gewissen Katharina Haugen gefunden und abgegeben worden sei. Immer wenn er sich das Geschehene ins Gedächtnis zurückrufen wollte, konnte er sich vage daran erinnern, die eigentliche Begegnung mit Katharina war hingegen ausgelöscht. Auch Martin Haugen hatte es vergessen, bis er den Zeitungsausschnitt eines Tages beim Aufräumen in einer Schublade gefunden und Wisting darauf wiedererkannt hatte.

Hinter ihm hupte ein Wagen. Wisting wurde aus seinen Gedanken gerissen und füllte sogleich die Lücke zum Auto vor ihm, die entstanden war, als er nicht auf die Straße geachtet hatte.

In der Innenstadt war der Verkehr nicht ganz so schlimm, und Wisting erreichte das Präsidium frühzeitig genug, um Kaffee zu kochen, damit der schon bereitstand, wenn die anderen aus der Abteilung zur Arbeit kämen.

In der vergangenen Nacht und am Abend zuvor waren keine größeren Polizeieinsätze nötig gewesen, wie das Einsatzprotokoll zeigte. Wisting verteilte die wichtigsten Fälle und legte alles andere vorerst beiseite. Um zehn Uhr würde eine Haushaltssitzung stattfinden, und mit einem der Polizeijuristen musste er die Rückstände überprüfen. Außerdem sollte er sich zu einer Konsequenzanalyse äußern, die sich damit beschäftigte, was mit der Fahndungsabteilung passieren würde, wenn der Polizeidistrikt mit dem des benachbarten Regierungsbezirks zusammengelegt würde. Das allerdings konnte er auch nach dem Treffen mit Martin Haugen erledigen.

Er lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Dann beugte er sich vor und öffnete die unterste Schublade. Er zog eine Kopie des Zeitungsfotos vom Nationalfeiertag heraus, die er gemacht hatte, und betrachtete sie.

Das Foto war schwarz-weiß. Katharina Haugen trug ein helles Sommerkleid und stand mit ihren festlich gekleideten Freundinnen zwischen den Bäumen. Ihre Haare waren lang und, wie Wisting wusste, rotblond. Sie hatte blaue Augen, doch auf dem Foto lag etwas Düsteres in ihrem Blick, das trotz ihres breiten Lächelns nicht zu übersehen war. Die Lippen wirken weich, dachte Wisting beim Betrachten des Fotos. Weicher als die Augen.

Er glaubte nicht, dass sie noch lebte, fragte sich aber dennoch, wie sie wohl heute aussehen würde. Er selbst hatte sich merklich verändert. Auf dem Foto war er Ende zwanzig und schlank. Seine Haare, die unter der Uniformmütze hervorlugten, waren schwarz, und er hielt den Rücken kerzengerade durchgedrückt.

Für Wisting hatte der Fall Katharina Haugen erst am Mittwoch, dem 11. Oktober, angefangen, als ihr Mann sie als vermisst meldete. Zu zweit waren die Ermittler in den Kleivervei gefahren und hatten die ersten Untersuchungen vorgenommen. Wisting und Eivind Larsen. Wisting hatte sich mit Martin Haugen ins Wohnzimmer gesetzt, während Eivind Larsen durch das Haus gegangen war und nach einem Hinweis auf Katharinas Verbleib gesucht hatte. Doch nichts im Haus und auch nichts in dem Gespräch hatte die beiden einer Lösung näher gebracht.

Wisting stand auf, trat ans Fenster und spürte plötzlich ein eigenartiges und dennoch vertrautes Gefühl im Körper. Eine Rastlosigkeit, die Folge von etwas Unerledigtem war.

Der Verdacht, dass Martin Haugen etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun haben könnte, war schnell fallen gelassen worden. Zu jenem Zeitpunkt arbeitete er auf einer Baustelle in Trøndelag und wohnte in einer Barackensiedlung in Malvik. Das lag mehr als acht Autostunden von zu Hause entfernt.

Wenn jemand verschwand, wurde immer zuerst der Ehepartner verdächtigt. Die zeitliche Abfolge der Geschehnisse lieferte den Ermittlern allerdings keinen Anhaltspunkt dafür, dass Martin Haugen dahintersteckte. Am Abend des 9. Oktober hatte er gegen zehn Uhr abends mit Katharina telefoniert. Die Telefongesellschaft hatte bestätigt, dass um 22:06 Uhr vom öffentlichen Fernsprecher in der Küchenbaracke ein Anruf zum Anschluss von Katharina und Martin Haugen im Kleivervei in Larvik erfolgt war. Das Gespräch hatte acht Minuten und siebzehn Sekunden gedauert. Am nächsten Morgen um 7:00 Uhr saß Martin Haugen wieder an den Hebeln seines Baggers. Es gab ein offenes Zeitfenster von neun Stunden, für die Fahrt nach Larvik und wieder zurück hätte er allerdings sechzehn Stunden benötigt.

Nach seiner Schicht hatte er versucht zu Hause anzurufen, aber ohne Erfolg. Mehrere Arbeitskollegen hatten ihn beobachtet, wie er im Laufe des Abends versuchte, Katharina zu erreichen, und sie hatten ausgesagt, dass er besorgt gewirkt habe. Er hatte Freunde und Bekannte angerufen, aber niemand hatte sie gesehen. Spät am Abend hatte er den nächsten Nachbarn überreden können, zu Hause vorbeizufahren und nachzusehen. Doch nichts deutete darauf hin, dass sie sich im Haus aufhielt. Der Nachbar war einmal um das ganze Haus herumgegangen und hatte in alle Fenster geschaut. Abgesehen von etwas, das wie ein handgeschriebener Zettel auf dem Küchentisch aussah, hatte er weiter nichts entdeckt.

Kurz vor Mitternacht hatte sich Martin Haugen in seinen Wagen gesetzt und war nach Hause gefahren. Um 8:47 Uhr am 11. Oktober rief er die Polizei und meldete seine Frau als vermisst.

Tatsächlich wussten die Ermittler heute nicht viel mehr als damals. Ziemlich genau wussten sie, was nicht geschehen war, was Katharina Haugen nicht getan hatte und wo sie sich nicht aufhielt, aber sie konnten nichts darüber sagen, weshalb, wie oder wohin sie verschwunden war.

3

Um Viertel vor zwölf verließ Wisting das Büro. Er setzte sich in den Wagen und fuhr in Richtung Kleivervei. Der Regen hatte fast aufgehört, und der Himmel klarte auf.

Das Verhältnis zwischen ihm und Martin Haugen hatte sich im Laufe der vergangenen Jahre verändert. War ihr Kontakt zu Beginn rein professioneller Natur gewesen, hatte ihre Beziehung mittlerweile einen fast privaten Charakter. Sie konnten zusammen Scherze machen und lachen und auch über ganz andere Dinge als das Verschwinden von Katharina reden. Vor einigen Jahren hatte Martin Haugen einen kleinen Bagger gemietet und Wisting dabei geholfen, ein paar Baumstümpfe im Garten loszuwerden. Regelmäßig kaufte Wisting ihm im Herbst einige Säcke Feuerholz ab, und kurz vor Weihnachten brachte Haugen ihm stets einen Weihnachtsbaum aus dem Wald hinter dem Haus. Sie waren gemeinsam auf Angel- und Wandertour gegangen, und Haugen war auch zu Ingrids Begräbnis gekommen. Dennoch war es keine echte Freundschaft. Das konnte es auch niemals sein. Die Beziehung zwischen ihnen war aus tragischen Umständen erwachsen, und noch immer gab es etwas, das Wisting zu einer gewissen Distanz veranlasste. Sie waren gleich alt, und manchmal dachte Wisting, dass Martin Haugen unter anderen Umständen einer seiner wenigen, aber guten Freunde hätte werden können.

Zwei Jahre nach Ingrids Tod hatte Wisting eine neue Beziehung begonnen. Die war inzwischen vorbei, doch solange sie angedauert hatte, war sie echt und liebevoll gewesen, und Wisting hätte sie gern weitergeführt. Martin Haugen hatte nie eine neue Beziehung angefangen. Allerdings war er vor der Beziehung mit Katharina schon einmal verheiratet gewesen. Es war eine kurze Ehe mit einer acht Jahre älteren Frau gewesen. Eine der Mappen in der Ermittlungsakte trug ihren Namen: Inger Lise Ness. In den Wochen nach Katharinas Verschwinden war diese Mappe schnell dicker geworden, aber auch darin befand sich nichts, was der Polizei irgendwelche Hinweise hätte liefern können.

Die Scheibenwischer schabten über die Frontscheibe. Wisting schaltete sie ab.

Die Bebauung wurde spärlicher, je mehr er sich Kleiver näherte. Die Straße wurde schmaler und war weniger gut in Schuss. Er kam an einer Gärtnerei und an einem kleinen Bauernhof vorbei. Auf der linken Seite lag die ehemalige Autowerkstatt. Einige der Wracks vor dem Gebäude hatten vor einem Jahr auch schon dort gestanden.

Wisting drosselte das Tempo, als er sich der Kreuzung mit dem Abzweig näherte, wo sich der Briefkasten befand. Jemand hatte seit seinem letzten Besuch ein Schild am Straßenrand aufgestellt. Einfahrt verboten, Durchfahrt nur für Anlieger.

Wisting fuhr daran vorbei und warf im Spiegel einen Blick auf das rote Haus auf der anderen Straßenseite. Dort wohnte Steinar Vassvik. Wisting sprach den Namen laut aus: »Steinar Vassvik«. Der Mann hatte in gewisser Weise als verdächtig gegolten. Es gab zwar keinen konkreten Verdacht, aber er war der nächste Nachbar, hatte Katharina Haugen als Letzter gesehen und besaß kein Alibi. Außerdem war er früher einmal wegen Körperverletzung verurteilt worden.

Der Schotterweg führte in den Wald hinein. Nach etwa hundert Metern tauchte Martin Haugens Haus auf, das seit Wistings letztem Besuch offenbar einen neuen Anstrich bekommen hatte. Die Bäume in unmittelbarer Nähe des Hauses waren entfernt worden, wodurch das Grundstück offener und heller wirkte.

Der Regen hatte eine große Pfütze auf dem Hofplatz gebildet. Wisting fuhr den Wagen etwas an die Seite, damit er beim Aussteigen keine nassen Füße bekam.

Die Katze erhob sich von der Türmatte, streckte den Rücken durch und kam zu ihm.

Für gewöhnlich musste Wisting gar nicht erst klingeln. Sobald Martin Haugen einen Wagen vorfahren hörte, trat er ans Fenster. Wisting sah zum Haus hinüber, ließ die Katze um seine Beine streichen und wartete darauf, dass Martin in der Tür erscheinen würde.

Nichts passierte.

Wisting ging die Vortreppe hinauf und klingelte. Die Katze folgte ihm. Der Klingelton aus dem Inneren des Hauses war zu hören, sonst nichts.

In dem winzigen Spalt zwischen Rahmen und Tür konnte er sehen, dass die Tür abgeschlossen war. Er klingelte abermals, beugte sich hinunter und streichelte die Katze. Ihr Fell war nass.

Wisting drehte sich um. Haugens Wagen stand nicht auf dem Hofplatz. Das musste nichts bedeuten. Er stellte den Wagen oft in die Garage, die direkt an das Haus angebaut war. Das Tor war geschlossen, die Garage hatte keine Fenster.

Wisting ging weiter zum Küchenfenster und stellte sich auf die Zehenspitzen. Drinnen war es aufgeräumt, abgesehen von einem Schreibblock und einem Kugelschreiber auf dem Tisch.

»Hallo!«, rief er und klopfte ans Fenster.

Auf dem Notizblock stand etwas, doch von seinem Standort aus konnte Wisting nicht sehen, was es war.

Der Block lag ungefähr da, wo vor vierundzwanzig Jahren der eigenartige Code gelegen hatte. Sehr wahrscheinlich hatte Katharina Haugen die Zahlen aufgeschrieben, denn auf dem Papier waren ihre Fingerabdrücke gefunden worden.

Das Blatt war auch von Schriftsachverständigen untersucht worden. Dass es sich um Katharinas Handschrift handelte, konnte allerdings nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Die Sachverständigen hatten Schriftproben von Briefen und anderen Schreiben, die mit Sicherheit von ihr stammten, mit dem Zettel verglichen. Die Zahlen auf dem Papier waren geringfügig eckiger als auf den Vergleichsproben. Die Schlussfolgerung lautete, dass man nicht mit letzter Sicherheit sagen konnte, ob sie den Zettel geschrieben hatte.

Die chemischen Analysen hatten gezeigt, dass die Tintenmasse in einem der Kugelschreiber auf der Arbeitsplatte dieselben Bestandteile aufwies wie die Tinte auf dem Papierbogen. Der Kugelschreiber war ein Werbegeschenk der staatlichen Straßenbaubehörde gewesen, vermutlich hatte Katharina ihn von der Arbeit mit nach Hause genommen. Er stammte aus einer Fabrik in Deutschland, die jährlich neunzehn Millionen Kugelschreiber herstellte. Rein theoretisch konnte also auch ein anderer Kugelschreiber als der gefundene verwendet worden sein.

Irgendwo im Wald hinter ihm schrie eine einsame Elster. Ansonsten war es still.

Wisting lief über den feuchten Rasen, ging um das Haus herum und betrat die Veranda auf der Rückseite. Die Katze folgte ihm.

Die Gartenmöbel standen noch draußen. Verwelkte Blätter hatten sich zu feuchten Haufen verklebt. Ein Spaten mit etwas Erde lehnte an der Hauswand. Daneben stand ein Paar Gummistiefel mit getrockneten Lehmklumpen daran.

Wisting trat ans Fenster und spähte hinein. Das Wohnzimmer hatte sich anscheinend nicht verändert. Spärlich, aber dennoch ausreichend eingerichtet. Das Inventar stammte zu großen Teilen noch aus der Zeit, in der Katharina hier gewohnt hatte. Möbel aus Kiefernholz und bunte Öldrucke an den Wänden. Das dunkle Ledersofa war neu. Auf dem Tisch davor stand ein halb fertiger Modellbausatz, aus dem offenbar ein Lastwagen werden sollte. Modellbau war Martin Haugens Hobby. In den Regalen, in denen sich früher die Bücher seiner Frau befunden hatten, standen mehrere fertige Modelle.

Die Katze maunzte und kratzte an der Verandatür. Auf der Innenseite konnte Wisting die Decke sehen, auf der sie für gewöhnlich lag.

Sie muss schon ziemlich alt sein, dachte Wisting. Martin Haugen hatte einmal erzählt, wie die Katze an einem Sommerabend aus dem Wald gekommen und auf die Veranda gesprungen war. Das war fünf oder sechs Jahre her, und schon damals war sie kein Jungtier mehr gewesen.

Wisting drehte sich zum Wald, der jetzt noch dichter war als vor vierundzwanzig Jahren. Er konnte den See gerade noch zwischen den Fichten in der Ferne ausmachen.