Kibler, Michael Zornesglut

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Für Charly

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: semper smile, München
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Mutter I

Mein Gott, wie schön du bist! Auch wenn du mir kaum ähnlich siehst. Vielmehr deinem Vater. Seine Gene haben sich auf ganzer Linie durchgesetzt. Die weichen Züge hast du von ihm.

Nun liegst du da, in diesem Krankenhausbett. Ich ertrage es kaum, die ganzen Schläuche zu sehen. Man sagt mir, sie wären lebensnotwendig. Überlebensnotwendig. Ohne sie würdest du verhungern, ohne sie würdest du nicht atmen, ohne sie würdest du verdursten.

Unter der Bettdecke lugt eine Hand hervor. Als ob sie nicht zu dir gehört.

Ich umfasse sie. Deine schmalen Hände, die nicht passen wollten zu dir. Der Rest deines Körpers ist eher stämmig – da haben meine Gene gewonnen. Die Hand ist warm. Kalte Hände waren nie dein Problem. Ich streichle sie, und es fühlt sich fürchterlich an. Auch wenn ich das nicht sagen darf, wenn ich es nicht einmal denken darf: Genauso würden sich die Hände eines Roboters anfühlen, bei dem es den Entwicklern gelungen ist, Haut und Konsistenz exakt denen des Menschen anzugleichen. Aber nichts reagiert, wenn ich über die Haut deiner Hand streichle.

Ich tue es dennoch.

Wieder und wieder.

Ich erinnere mich, wie du als kleines Kind immer zusammengezuckt bist, dann aufgelacht hast. Du warst kitzelig ohne Ende. Hast du auch von deinem Vater. Definitiv nicht von mir. Wie sehr ich das damals gehasst habe. Hat mir gezeigt, dass du sein Kind warst. Und jetzt? Jetzt würde ich alles dafür geben, dass du plötzlich kicherst, lachst, meine Hand wegstößt, die Augenbrauen zusammenziehst und mich mit bösem Unterton anfährst: »Lass das!« So wie damals, als Fünfjährige.

Die Ärzte sagen, es gibt eine Chance. Du kannst morgen aufwachen, übermorgen, vielleicht auch erst in einer Woche, und alles, alles wird dann sein wie vorher.

Chance.

Ein fürchterliches Wort.

Chance heißt, dass es nicht sicher ist.

Und Chance heißt außerdem, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht so kommt, viel größer ist als die, dass du morgen wieder murmelst: »Mama, lass das!«

Mein Gott, hätte ich doch nur die Chance gehabt, dich zu retten.

Ich lasse deine Hand nicht los.

Immer noch nicht.

Obwohl ich schon fast zwei Stunden hier sitze.

Ich habe noch eine zweite Hand.

Mit der kann ich meine Tränen wegwischen.

Montag, 20. Mai

Kopfschuss. Kein Zweifel. Über die Todesursache würde sich Dr. Martin Hinrich, der Rechtsmediziner aus Frankfurt, später keine Gedanken machen müssen. Das schoss Hauptkommissar Steffen Horndeich durch den Kopf, als er die Leiche sah, die auf dem Asphalt lag. Ein Kollege der Streife, der vor einer Viertelstunde als Erster am Tatort eingetroffen war, hatte die Plane über dem toten Körper für ihn angehoben.

Horndeichs Uhr zeigte ihm, dass es nur noch eine knappe Stunde bis Mitternacht war. Er blickte sich um. Die Kollegen hatten den Bereich der Heinrich-Delp-Straße komplett gesperrt. Und das war gut so, denn trotz der späten Stunde füllte sich der Asphalt bereits mit Schaulustigen. »Wissen Sie schon, wer der Tote ist?«

Der Kollege in Uniform nickte. »Markus Böhmer. Wohnt hier.« Er deutete mit dem Kinn auf das Zweifamilienhaus hinter der Einfahrt, vor der Böhmers Körper lag.

»Hat er Familie?«

»Ja, seine Frau ist im Haus. Kollege Süllmeier ist bei ihr. Sie hat ihren Gatten schon identifiziert. Also, sie saß neben ihm, als wir eingetroffen sind.«

»Vielleicht können Sie schon mal die Personalien der Gaffer aufnehmen, ich denke, dann haben wir bereits einen Großteil der Nachbarschaft abgedeckt.«

Horndeich betrat das Haus. Die Haustür stand offen. Er hörte leises Schluchzen und folgte der akustischen Spur. Auf dem Sofa saß eine Frau. Die Erscheinung trotz der rot geweinten Augen elegant, als ob sie eben gerade der Titelseite der Gala entstiegen wäre. Die blonden, schulterlangen Haare stammten von Seite 58, die Frisur von Seite 63. Perfekt gestylt, abends um elf. Einzig die Blutflecken auf dem roten Kleid störten den makellosen Gesamteindruck. Auf dem Sessel neben dem Sofa hatte Bernd Süllmeier Platz genommen, der sie selbst im Sitzen um einen Kopf überragte.

Horndeich räusperte sich. »Ich bin Hauptkommissar Steffen Horndeich, Kripo.«

Ihr Blick hob sich in seine Richtung. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab, dann sagte sie: »Oksana Böhmer. Ich bin seine Frau.«

»Mein Beileid«, murmelte Horndeich, jene Floskel, jenes Ritual, das gesagt werden musste, auch wenn es für ihn in diesem Moment völlig inhaltsleer war. Dann stellte er die Frage, die ihm jedes Mal ebenso blöd vorkam, insbesondere, da die Frau vor ihm von einem Moment auf den anderen ihre Fassung offenbar wieder zurückerlangt hatte. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Oksana Böhmer deutete mit dem Kinn auf einen der Sessel.

Horndeich setzte sich, dann fragte er: »Frau Böhmer, was hat Ihr Mann auf der Straße gemacht? Wollte er gerade irgendwo hingehen?«

Oksana Böhmer schüttelte den Kopf, nur der Hauch einer Bewegung, die Horndeich mehr spürte als sah. Ihr Blick fiel auf den Boden. »Nein. Er wollte gerade zu uns kommen. Fünf Minuten vorher habe ich noch mit ihm telefoniert, da hat er gesagt, dass er gerade auf dem Weg nach Hause ist.«

»Zu uns? Ist noch jemand im Haus?«

Das Nicken fiel ähnlich spärlich aus. »Unser Sohn, Luc, er liegt oben. Er hat einen tiefen Schlaf. Vielleicht können wir ihn einfach bis morgen in Ruhe lassen.«

»Haben Sie eine Idee, was vorgefallen sein könnte?«

Nun traf Oksana Böhmers Blick Horndeich wie ein spitzer Pfeil: »Fragen Sie mich das im Ernst? Mein Mann ist erschossen worden. Direkt neben seinem Wagen. Und direkt vor meinen Augen. Ich bin schon raus, weil ich ihn begrüßen wollte. Er hat den Wagen abgeschlossen, und dann habe ich nur noch gesehen, wie die Hälfte seines Gesichts weggeflogen und er zusammengesackt ist. Genügt Ihnen das als Antwort?«

»Haben Sie die Schüsse gehört?«

»Nein. Gar nichts. Doch. Ich habe gehört, wie der Schädel meines Mannes explodiert ist.« Sie hielt kurz inne, dann sagte sie ganz leise: »Nein, ich habe keinen Schuss gehört.«

Horndeich hatte nicht gewusst, wer die Polizei gerufen hatte. Aber diese Frage war nun auch beantwortet, wenn die Schüsse nicht zu hören gewesen waren und sie die einzige Augenzeugin war. Für einen kurzen Moment malte sich Horndeich aus, wie er am Gartentor seines Hauses stand, seine Frau das Auto abschloss, er sah, wie sie sich zu ihm drehte, und dann … Nein, er konnte sich nicht vorstellen, was diese Frau gerade durchmachte. Dennoch musste er noch eine Frage loswerden. »Haben Sie eine Idee, wer Ihren Mann ermordet haben könnte. Und warum?«

Oksana Böhmer sank wieder in sich zusammen. Wieder das kaum wahrnehmbare Kopfschütteln, aber diesmal ohne begleitende Worte.

Horndeich erhob sich. »Bleib bitte noch bei ihr«, sagte er zu Bernd Süllmeier. Dann verließ er das Haus wieder.

Silvia Rauch, die Leiterin der Spurensicherung trat im weißen Schutzanzug auf ihn zu: »Ich wusste gar nicht, dass du schon da bist. Wir haben gerade erst richtig angefangen, aber schon was gefunden.«

Horndeich hob eine Augenbraue: »Das ging ja schnell.«

»Ja. Wir haben den Ort, von dem aus er erschossen worden ist. Wer immer das getan hat, er hat sich nicht die Mühe gemacht, die Patronenhülsen wieder einzusammeln.«

»Oder sie«, ergänzte Horndeich.

»Oder sie, selbstverständlich.« Silvia Rauch führte Horndeich auf die andere Straßenseite. »Hier«, sagte sie und deutete auf den Boden, der in diesem Moment von zwei anderen Weißanzügen untersucht wurde. Ein Flutlichtmast tauchte den Asphalt in gleißendes Licht und ließ jede Unebenheit im Boden sichtbar werden.

Horndeich blickte in Richtung Leiche. Der Rechtsmediziner war inzwischen eingetroffen und untersuchte sie vor Ort. »Wie weit ist das entfernt?«

»Knapp dreißig Meter.«

»Schon irgendwas zur Waffe?«

»9 mm. Nichts Besonderes. Das Labor wird uns Genaueres sagen können.«

»Auf diese Distanz trifft auf jeden Fall kein Laie. Muss jemand gewesen sein, der genau gewusst hat, was er da tut.«

»Das zu beurteilen fällt in euer Ressort«, sagte Silvia Rauch.

»Sonst noch was hier am Tatort?«

Ein Blick sagt mehr als tausend Worte, dachte Horndeich. Klar, sie waren alle gut in ihrem Job. Aber hexen konnte niemand. Horndeich hob leicht die Hände, er hatte verstanden. Und ging in Richtung des Rechtsmediziners.

Dr. Martin Hinrich hockte neben dem Leichnam. Er hatte ihn auf den Rücken gedreht. Zuvor hatte Horndeich nur Einschusslöcher im Hinterkopf wahrgenommen. Nun sah er, ebenfalls im Schein eines gnadenlosen Flutlichts, das Gesicht des Opfers. Zumindest die linke Hälfte. Die rechte … Nein, das war wieder einer der Momente, in dem es ihm schwerfiel, sowohl Emotionen als auch Würgereiz unter Kontrolle zu bekommen. Fiel ihm ohnehin zunehmend schwerer, wie er in diesem Moment feststellte.

Den Rest des Körpers nahm Horndeich nur am Rande wahr. Er schätzte den Mann auf ein Meter fünfundsiebzig. Schlank, aber mit athletischem Körperbau. Der Anzug gewiss nicht von der Stange, die schwarzen Halbschuhe ebenfalls edel und teuer.

»Erschossen«, sagte Hinrich, fügte aber keine blöde Bemerkung hinzu. War sonst gar nicht seine Art. Hinrich sah Horndeich nicht einmal an. »Ist die Todesursache. Welche der drei Schüsse zum Tod führten, das weiß ich nicht. Aber wenn ich diese Sauerei sehe, glaube ich, dass jedes Projektil für sich den Job erledigt hätte.«

Er zog die Plastikplane wieder über den Leichnam, dann erhob er sich. »Alles Weitere, wenn ich ihn in Frankfurt auf dem Tisch hatte. Ich schaue ihn mir morgen früh gleich an.« Er nickte Horndeich zu, wandte sich ab und verließ den Tatort. Horndeich sah gerade noch, wie er in einen knallroten Mazda MX 5 RF mit Leipziger Kennzeichen stieg. Im vergangenen Jahr war er immer wieder mit diesem Sportcabrio vorgefahren. Es gehörte seiner Leipziger Berufskollegin Emilia Schubert. Und die schien sich in letzter Zeit ziemlich häufig in der Nähe von Hinrich aufzuhalten. So nah, dass er sogar ihren Wagen benutzte. Hinrich mochte die Leipziger Kollegin. Die beiden hatten ein Techtelmechtel. Oder ein Techtelmechtel gehabt. Da war sich Horndeich nicht ganz sicher. Zumindest fuhr der Arzt in ihrem Wagen vor. Und der sonst so wortgewaltige Dr. Hinrich hüllte sich diesbezüglich in Schweigen. Emilia Schubert war die Einzige, die Dr. Martin Hinrich in seiner manchmal – nun, zuweilen etwas überheblichen Art bändigen konnte. Doch diese Überheblichkeit hatte der Anblick des ganz offensichtlich hingerichteten Menschen fortgewischt.

»Halt, Sie bleiben hier!«

Horndeich hörte den Ruf vom anderen Ende der Straße. Er drehte sich um. Zwei Kollegen in Uniform versuchten einen Mann daran zu hindern, das Absperrband zu durchbrechen. Sie hielten ihn fest.

Horndeich ging auf die Kollegen zu.

»Das ist mein Bruder!«, rief der Mann. »Mein Bruder!«

Horndeich trat auf den Mann zu und stellte sich vor. »Und Sie sind?«, wollte er wissen.

»Ich bin sein Bruder! Ich will zu ihm! Ich will ihn sehen!«

»Herr …«, versuchte Horndeich den Mann zu beruhigen. Er war durchtrainiert. Die dünne Jacke spannte über dem mächtigen Brustkorb. Wenn Böhmers Frau Oksana der Gala entsprungen schien, kam der Bruder des Toten, wenn er es denn war, direkt von einem Shooting für das Blatt Men’s Health. Oder vielleicht auch für eine Militärzeitschrift: Die Haare waren raspelkurz geschnitten. Nur der goldene Ohrstecker passte nicht ganz ins Bild.

Die beiden Kollegen konnten den Mann nicht halten, der sich losriss und in Richtung seines Ziels stürmte, das gut markiert war: Die Plane, unter der der tote Körper lag, war von Flutlicht erhellt. Die uniformierten Kollegen setzten hinterher. Als sie das Kraftpaket erreichten, hatte dieser das Plastik bereits zur Seite gerissen und heulte auf.

Die beiden Kollegen packten den Mann nun am Arm. Er ließ sich ohne Widerstand von der Leiche fortführen.

Oksana Böhmer musste seinen Schrei gehört haben, denn sie stob aus der Haustür, direkt auf den Mann zu. »Uli«, rief sie aus. Der Angesprochene rannte auf sie zu, und die beiden fielen einander in die Arme. Aus Horndeichs Perspektive verdeckte der Muskelberg die Frau vollkommen, nur deren rot bekleidete Arme und Hände wirkten wie ein surrealer Aufdruck auf der Jacke des Hünen.

Zwei Minuten später saß Horndeich wieder im Wohnzimmer. Auf der Couch hatten Böhmers Frau und der Bruder Platz genommen. Uli Böhmer hatte den Arm um seine Schwägerin gelegt und schaute Horndeich an. Selbst sein Blick wirkte muskelbepackt. »Sie finden den? Sie müssen den finden! Den, der das getan hat! Und Sie finden ihn besser vor mir!«

»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen«, sagte Horndeich. Bereits während er die Worte aussprach, war ihm klar, dass er hier und heute keine Antworten mehr bekommen würde. Oksana Böhmers mühsam aufgebaute Contenance floss gerade in Ulis Jacke, und auch er schien im Moment nicht fähig oder bereit, ein ruhiges Gespräch zu führen.

Horndeich ließ sich von Uli Böhmer Adresse und Handynummer geben, dann erhob er sich und verabschiedete sich.

Er ging zu seinem Wagen, schloss ihn auf, musste schmunzeln. Fünfundzwanzig Jahre hatte der Mazda Xedos 9 jetzt schon auf dem Buckel, und nach wie vor kutschierte er Horndeich und auch seine Familie anstandslos durch die Weltgeschichte. Horndeich mochte Dinge, die beständig waren. Und so versuchte er, auch das Bild des zerstörten Gesichts auszublenden und daran zu denken, dass er sich in wenigen Minuten neben seine Frau Sandra legen und an sie schmiegen würde. Dieser Gedanke hatte es bislang immer geschafft, die aufgewühlten Synapsen im Gehirn wieder zur Ruhe zu bringen. Doch als er gewendet hatte und Richtung Heimat fuhr, spürte er, dass auch das heute nicht funktionierte.

Dienstag, 21. Mai

Die Mordkommission war kaffeelos. Die semiprofessionelle Kaffeemaschine, der sich Leah Gabriely, ebenfalls Hauptkommissarin der Darmstädter Mordkommission, stets mit unendlicher Geduld widmete, hatte sich am Vortag mal wieder eine Auszeit genommen. Und der Service-Techniker war erst für morgen angekündigt. Umso mehr wunderte sich Leah, dass auf dem Flur in Richtung Besprechungsraum Kaffeeduft waberte.

Sie war bereits ein paar Minuten zu spät dran. Noch in der Nacht hatte Kollege Horndeich ihr eine Nachricht aufs Handy geschickt, dass man sich früh um acht treffen wolle, da in der Nacht in der Heinrich-Delp-Straße ein Mann erschossen worden war. Leah hatte das Handy auf lautlos gestellt, mit dem Display nach unten abgelegt, sodass sie die Benachrichtigung erst wahrgenommen hatte, als sie um halb acht, noch mit Handtuch-Turban und Bademantel bekleidet, das Smartphone zum ersten Mal an diesem Tag eines Blickes würdigte.

In Rekordgeschwindigkeit hatte sie sich zurechtgemacht, die Haare mehr gegrillt als geföhnt, den obligatorischen Dutt gesteckt, war in Wäsche, Rock und Bluse geschlüpft und um zehn vor acht bereit, um mit dem Wagen Richtung Präsidium zu fahren. Von ihrer Wohnung in der Heinrich-Fuhr-Straße aus war es egal, welchen Weg sie wählte – um diese Uhrzeit war die Strecke von knapp vier Kilometern kaum in unter zwanzig Minuten zu bewältigen.

Als sie nun die Tür zum Besprechungsraum öffnete, waren noch zwei Plätze frei. Mit einem Blick erfasste sie die Besetzung des Raumes: Steffen Horndeich, ihr Partner, neben ihm Richard Feller, der Computerexperte, Silvia Rauch von der Spurensicherung und Bernd Süllmeier, der Kollege von den Uniformierten. Und vor jedem stand ein Pappbecher mit Kaffee. Ein Schüsselchen mit Kondensmilchtöpfchen und verpackten Zuckerwürfeln stand ebenfalls auf dem Tisch. Sie setzte sich neben Richard Feller.

»Sorry, verschlafen«, murmelte Leah.

»Wir haben gerade erst angefangen«, erklärte Horndeich und sah Leah fragend an. Der Begriff verschlafen gehörte eigentlich nicht zu ihrem aktiven Wortschatz. »Also, ich fasse noch mal zusammen«, sagte Horndeich dann. »Heute Nacht um 22:40 Uhr wurde Markus Böhmer, neununddreißig Jahre alt, erschossen, als er gerade sein Grundstück betreten wollte. Seine Frau, Oksana Böhmer, rief die Polizei, die Aufzeichnung datiert das Gespräch mit der Einsatzzentrale auf 22:41 Uhr. Zwei Kollegen im Streifenwagen waren zwei Minuten später vor Ort, Bernd, der ebenfalls in der Nähe war, weitere zwei Minuten später. Ich selbst war um 22:55 Uhr am Tatort. Markus Böhmer hat drei Einschusswunden im Hinterkopf, die Austrittswunden im rechten Teil des Gesichts lassen sich nicht voneinander unterscheiden. Hinrich untersucht den Leichnam heute Vormittag in Frankfurt, am frühen Nachmittag sollten wir seinen Bericht haben.«

Leah hörte aufmerksam zu, für sie waren dies alles neue Informationen.

»Silvia, hast du schon irgendwas Neues für uns?«

Silvia Rauch klappte den Deckel ihres Tablet-Computers zurück und wischte wenige Male über das Glas. »Wir haben drei Patronenhülsen gefunden, alle 9 mm Luger. Und die Projektile. Und einen Blutstropfen.«

Leah sah, wie sich Horndeichs Augenbraue hob. Diese Botschaft war offensichtlich auch für ihn neu.

»Ein Blutstropfen?«, wiederholte er.

»Ja. Wir können natürlich nicht auf den Zentimeter genau sagen, wo der Schütze gestanden hat. Höchstwahrscheinlich, wenn man betrachtet, an welcher Stelle die Hülsen gelegen haben, auf dem Bürgersteig, unmittelbar in der Nähe der großen Eiche. Aber der Boden ist aus Asphalt, wir haben da keine Schuhabdrücke oder Ähnliches finden können. Der Blutstropfen könnte vom Täter stammen. Muss nicht, aber kann.«

»Und wie verliert man beim Schießen Blut?«, dachte Horndeich laut nach.

»Nasenbluten«, sagte Leah.

»Habt ihr schon die DNA des Blutes?«, wollte Horndeich wissen.

»Ist schon im Labor, die Ergebnisse sollten wir ebenfalls heute Nachmittag bekommen.«

»Richard, hast du schon was für uns?«

Richard Feller war der Älteste in der Runde, der sechzig inzwischen näher als der fünfzig. Wie auch Leah war er meistens der Erste, der durch die Bürotür ins Präsidium trat. Und oft auch der Letzte, der es verließ. Kollege Feller war der König der Recherche, jonglierte mit fünf Computermäusen gleichzeitig und war definitiv der Champion, wenn es darum ging, Informationen aus Bits und Bytes zu Erkenntnissen zu verknüpfen.

»Na ja, ich habe ja erst eine halbe Stunde recherchiert. Wie du schon sagtest, Markus Böhmer ist neununddreißig Jahre alt, seit vier Jahren verheiratet mit Oksana Böhmer, fünfundzwanzig. Er ist Unternehmer, hat eine Kette von Fitnessstudios hier im Raum Südhessen und Baden-Württemberg, insgesamt rund zwanzig Filialen, Tendenz steigend. Die beiden haben einen Sohn, Luc, drei Jahre alt. Böhmer ist bei uns kein Unbekannter. Immer wieder Anklagen wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz – also Drogen, und er hat auch schon wegen Körperverletzung gesessen, aber das ist schon ein paar Jahre her. Sein Bruder, Ulrich Böhmer, siebenunddreißig, hat auch schon dreimal eingesessen, Drogen, Hausfriedensbruch, Körperverletzung. Aber die letzte Verurteilung liegt ein paar Jahre zurück. Offensichtlich haben die beiden jungen Männer inzwischen auf den Pfad der Tugend gefunden. Das war das, was ich auf die Schnelle rausgefunden habe.«

Für eine halbe Stunde nicht schlecht, dachte Leah. Sie und Richard Feller waren vor zwei Jahren etwas enger befreundet gewesen. Man sagte Feller nach, dass er mit Menschen bei Weitem nicht so gut umgehen konnte wie mit seinen Rechnern – doch ihr war es nicht schwergefallen, einen Draht zu ihm zu finden. Was vielleicht auch daran lag, dass beide nicht zur Gruppe der Menschen gehörten, die ihr Innerstes nach außen kehrten. Sie waren nie ein Paar geworden, was sich Leah zugegebenermaßen selbst zuschreiben musste. Doch sie hatten sich immer mal wieder beim Italiener um die Ecke getroffen, denn Feller wohnte nur drei Häuser von Leah entfernt. Dann war sie mit Bruno zusammengekommen, den sie schon sehr lange zuvor gekannt hatte. Und auch Feller hatte offensichtlich sein Glück gefunden, bei einem Fall, den sie vor einem Jahr gemeinsam bearbeitet hatten. Nathalie Ankenbrand, so der Name der Glücklichen, arbeitete in einer Seniorenresidenz im Osten der Stadt. Seitdem beschränkte sich der Kontakt zwischen ihrem Kollegen und ihr nur noch aufs Dienstliche.

Horndeichs Stimme riss Leah aus ihren Gedanken. »Okay, Bernd, ihr habt euch noch ein wenig die Nacht um die Ohren geschlagen und die Nachbarn auf der Straße befragt. Ist dabei was rausgekommen?«

Bernd Süllmeier schlug ein Notizbuch auf, blätterte darin. »Die Aussagen der Nachbarn gleichen sich: Markus Böhmer ist kurz vor der Heirat mit seiner Frau in das Haus gezogen. Vor drei Jahren haben sie drinnen wohl einiges umgebaut. Aber wie genau es im Haus aussieht, das wusste keiner von ihnen. Sowohl Herr als auch Frau Böhmer waren freundlich, man hat sich gegrüßt, aber niemand hatte engeren Kontakt zu ihnen. Es kann sich auch keiner daran erinnern, dass sie im Sommer mal im Garten gefeiert hätten oder dass es an einem Wochenende etwas lauter gewesen war. Viel mehr haben wir nicht rausgefunden, aber wir werden die Nachbarn jetzt alle einzeln noch mal befragen.«

»Gut«, sagte Horndeich. »Dann werden wir mal die Aufgaben verteilen. Richard, du kümmerst dich darum, was das Netz so hergibt. Leah, ich würde dich bitten, noch mal mit Frau Böhmer zu sprechen, da war gestern Nacht nicht viel an Informationen zu bekommen.«

Während Horndeich sprach, hörten sie an der Tür ein lautes Klopfen. Ohne dass irgendjemand »Herein« gesagt hätte, öffnete sich die Tür, und ein Kollege trat ein, den Leah schon mehrfach gesehen, dessen Namen sie aber nicht parat hatte.

Horndeich warf ebenfalls einen kurzen Blick in die Richtung des Mannes und nickte ihm zu. Dann fuhr er fort: »Und ich werde mir diesen Bruder Ulrich Böhmer mal zur Brust nehmen.«

»Nein, das wirst du nicht«, sagte Mr Unbekannt.

»Marc, was machst du denn hier?«

»Ich bring euch jetzt mal auf den neuesten Stand. Und ihr werdet staunen.«

Der ungebetene Gast schaute sich im Raum um, entdeckte den einzigen freien Stuhl und setzte sich neben Süllmeier, Leah und Feller gegenüber. Der Kollege erinnerte Leah ein wenig an Kris Kristofferson – zu der Zeit, als der noch richtig sexy ausgesehen hatte und im Film Convoy einen Truck fuhr – zur guten alten Zeit, so vor vierzig Jahren, also kurz, nachdem sie selbst das Licht der Welt erblickt hatte. Auch er trug eine schwarze Mähne und Vollbart, der am Kinn bereits graue Strähnen zeigte. Im offensichtlichen Bemühen, cool zu wirken, hätte es Leah nicht gewundert, wenn er den Stuhl umgedreht und sich rittlings daraufgesetzt hätte.

»Für die, die mich nicht kennen: Mein Name ist Marc Herzog, und ich bin bei der SOKO Hollandkäse«, stellte sich der Unbekannte allen vor.

Sämtliche Blicke waren nun auf Herzog gerichtet. Der warf daraufhin die Tolle über der Stirn wieder in die richtige Position. Spätestens jetzt wirkte er auf Leah nicht mehr sexy, sondern nur noch affektiert.

»Ich kann euch die ganze Lebensgeschichte eures Mordopfers runterbeten«, setzte er zur Erklärung an. »Ebenso die seines Bruders, die der Schwester, der beiden Eltern, seiner Frau und ich glaube, ich habe auch irgendwo die Blutgruppe des Sohnes Luc notiert. Seit vier Jahren beschäftige ich mich mit kaum etwas anderem.«

»Deswegen sind die beiden in den vergangenen Jahren auch nicht mehr polizeilich aufgetaucht«, murmelte Feller.

Marc Herzog schnippte mit den Fingern der rechten Hand in Fellers Richtung: »Gut beobachtet, junger Freund.«

Auweia, dachte Leah, da hat sich der gute Marc gerade alles andere als einen Freund gemacht. Wenn Leah etwas wusste, dann, dass Feller absolut allergisch war auf derartig geistlose Sprüche. Und so entging ihr auch nicht, dass Feller kaum merklich zusammenzuckte.

»Die SOKO Hollandkäse wurde vor vier Jahren gegründet. Denn Markus und Uli Böhmer sind ganz fett drin im Drogengeschäft. Und endlich, endlich, nach vier Jahren, werden wir die beiden heute Abend hochnehmen. Und mit ein bisschen Glück auch die Hintermänner in Holland. Also, nur noch Uli und die Hintermänner. Markus ist ja tot.« Wieder das Fingerschnippen, diesmal allerdings in Horndeichs Richtung, gefolgt von Marcs Blick: »Und daher werdet ihr Uli Böhmer heute ganz gewiss nicht auf den Zahn fühlen. Denn dann geht alles, wofür sich ich und fünf weitere Kollegen die vergangenen vier Jahre den Arsch aufgerissen haben, den Bach runter.«

»Was passiert heute Nacht?«

Marc Herzog zeigte sich nun wahrlich als wandelndes Klischee. Er zwinkerte Horndeich zu. »Wenn ich dir das jetzt verraten würde, müsste ich dich töten«, sagte er allen Ernstes. Und so einer arbeitet in einer SOKO?, fragte sich Leah wortlos. Wenn er es verraten würde, müsste er alle im Raum töten, wenn die sich nicht die Ohren zuhielten, dachte Leah. Nur die schlechte Metapher toppte noch den flachen Witz. »Aber einer von euch kann mitkommen heute Abend. Wenn wir Uli festgesetzt haben, könnt ihr ihn gerne auch noch in der Nacht zu dem Mord an seinem Bruder befragen.«

»Dann erzähl uns wenigstens, mit wem wir es zu tun haben«, sagte Horndeich.

»Klärchen«, antwortete Herzog und blinzelte nun auch Leah zu.

Diese musste sich beherrschen, dem Kollegen nicht spontan den Stinkefinger zu zeigen. Offenbar bemerkte Herzog die mangelnde Begeisterung auf Leahs Seite und konzentrierte sich wieder auf Horndeich.

»Markus ist der Älteste im Stall der Böhmers. War ein Aprilscherz im Jahr 1980.«

Eines wusste Leah ganz sicher: Sie würde nicht diejenige sein, die am Abend an der Seite von Herzog Uli Böhmer einlochen würde. Spätestens nach zwanzig Minuten mit ihm in einem gemeinsamen Wagen wäre sie im besten Falle ausgestiegen. Und wenn die innere Balance nicht ganz im Gleichgewicht war, könnte es durchaus sein, dass sie ihn ihre Kampfkünste spüren ließ.

Herzog fuhr nichts ahnend fort: »Zwei Jahre später kam Uli auf die Welt, ein Jahr später Jennifer. Die Eltern haben damals in Eberstadt Süd gelebt, Hochhaus, aber wenigstens mit netter Aussicht. Der Papa war Hausmeister, die Mama Zahnarzthelferin. Bevor Markus auf die Welt gekommen ist, hat sie gearbeitet, und auch wieder, als Jennifer dann drei war. Markus’ Papa ist irgendwann eine schwere Rohrzange auf den Fuß gefallen, er hat keine Sicherheitsschuhe getragen, danach war’s nicht mehr so weit her mit Laufen. Mama stockt auf ganztags auf – und er entdeckt seine Liebe zu Schnaps. Als Markus sieben ist, geht sie. Und Papa und die drei Kinder bleiben zurück. Von da an ist das Jugendamt ein oft, wenn auch nicht gern gesehener Gast. Und wenn die Geschwister etwas gelernt haben, dann das: Sie können sich nur auf sich selbst verlassen.«

Mein Gott, dachte Leah, komm auf den Punkt. Sie sah Horndeich an, der ihren Blick aufnahm und kaum merklich mit dem Kopf schüttelte. Lass ihn reden, es gibt keine Information, die überflüssig ist, sagte er ihr damit. Und Leah wusste ja, dass er recht hatte. Ihr Blick fiel in die Runde: Auch die anderen ließen sich gern von Marc Herzogs Geschichten unterhalten. Wobei sie einem unrecht tat: Feller hörte nicht nur zu, sondern speicherte alle Informationen sofort an den richtigen Stellen in seinem Gehirn ab und verschlagwortete sie gleichzeitig.

»Als Markus zehn wird, fällt er der Polizei zum ersten Mal auf. Er ist groß für sein Alter, trainiert auch bereits in der Muckibude, und als die Kollegen ein Jahr später drei Jungs im Alter von zwölf und dreizehn mitnehmen, weil sie auf dem Schulhof andere Kinder abgerippt haben und einer der Väter Anzeige erstattet hat, da sagen alle drei übereinstimmend aus, dass sie für Markus Böhmer arbeiten. Vor Markus Böhmer und seinem Bruder Uli haben alle Respekt. Nein, falsches Wort. Angst trifft es wohl eher. Mit neunzehn kauft sich Markus den ersten Porsche. Gebraucht, aber immerhin. Uli schafft die Führerscheinprüfung erst mit dreiundzwanzig. Er war nie das Gehirn, immer mehr Muskeln. Und die Buchhaltung? Um die kümmert sich Jennifer.«

»Womit haben sie ihr Geld verdient?« Leah musste den Redefluss dieses anstrengenden Kollegen irgendwie unterbrechen, sonst wäre sie wahrscheinlich geplatzt.

Marc wandte sich der Fragestellerin zu, unterließ aber das Blinzeln und hielt auch seinen Zeigefinger im Zaum. Offensichtlich lernte er wenigstens schnell. »Das lässt sich mit einem Begriff zusammenfassen: Organisierte Kriminalität, in mehreren Bereichen. Wenn jemand in dem Viertel, in dem die drei gewohnt haben, jemanden beklaut hat, dann tat er gut daran, seine zwanzig Prozent freiwillig den Geschwistern Böhmer zukommen zu lassen. Eben den Triple-X, wie sie auch genannt wurden. Und wenn jemand den Geschwistern steckte, dass irgendjemand sein Fünftel nicht abgab, dann hatte der ein Problem. Das er dann meistens im Krankenhaus auskurieren durfte. Beim ersten Mal. Wenn man noch freundlich warnte. Zu Beginn ihrer Karriere haben sie auch Schülerinnen akquiriert, die anderen Schülern sexuell zu Diensten waren. Dinge, die die Kollegen wussten, aber ebenfalls Dinge, die niemand im Gericht bezeugen wollte. Außerdem war da nicht das große Geld zu holen, denn ein Neuntklässler im Viertel tut sich schon schwer, zwanzig Euro lockerzumachen, trotzdem mussten die Mädels die Hälfte abgeben, und das taten sie auch. Tja, und dann entdeckten sie das große Business: Drogen.«

»Habe ich das gerade richtig verstanden? Schülerinnen, die sich auf dem Schulhof für andere Schüler prostituieren?« Fellers Mimik war nicht bekannt dafür, seine Emotionen lautstark in die Welt hinauszuposaunen. Aber sein Entsetzen war wohl allen in der Runde aufgefallen.

»Jepp. Genau das. Aber das Geschäftsmodell lief nicht rund. Wenn die Papas der Mädels Wind davon bekamen, war die Hölle los. Ihr habt Ulis schiefe Nase gesehen? Papa eins und Papa zwei. Danach haben sie damit aufgehört. Und eben, wie bereits gesagt, vor neunzehn Jahren beschlossen, das mit den Drogen aufzuziehen.«

Leah musste noch mal eingreifen: »Kollege Feller hat uns gesagt, dass Markus Böhmer Inhaber einer Fitnessstudio-Kette war. Hat er damit nichts verdient?«

Wieder sah Marc Herzog sie direkt an: »Das war die bürgerliche Fassade. Er hat auch noch Beteiligungen an einer Kette von Shisha-Bars. Das ist die Geldwaschanlage. Das gutbürgerliche Aushängeschild.«

»Hat sich denn niemand gegen das Geschwister-Trio gewehrt?«, wollte Leah jetzt wissen. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass irgendjemand in einem Darmstädter Viertel so viel Macht hatte.

Marc zuckte nur mit den Schultern. »Die drei haben kassiert, klar, aber die drei regeln die Dinge auch. Wenn man ein Problem hat, dann geht man nicht zum Polizeiposten Eberstadt, sondern dann geht man zu Markus oder Uli. Und als Frau zu Jennifer. Vor zehn Jahren gab es da diesen Typen, der hat in der falschen Disco in Frankfurt sein Gras vertickt. Darauf haben die Frankfurter zehn Typen nach Eberstadt geschickt. Doch der Kerl ist vorher bei den Böhmers zu Kreuze gekrochen. Und so trafen die zehn Frankfurter auf dreißig Eberstädter. Ging nicht gut aus für die Frankfurter. Übrigens auch nicht für den Typ. Der wurde von Böhmers Leuten vertrimmt – aber das war eben nur ein Denkzettel und kein Mordkommando. Und auch, wenn du ein finanzielles Problem hast, dann helfen dir die Böhmers aus der Klemme. Die Zinsen sind entsprechend, aber man braucht halt keine Anfrage bei der Schufa.«

»Aber Markus Böhmer hat doch seit vier Jahren in der Heinrich-Delp-Straße gewohnt«, hakte Horndeich nach. »Ist ja nun nicht wirklich Eberstadt Süd.«

Herzog versuchte sich in einem Kris-Kristofferson-Grinsen und versagte kläglich. »Sozialer Aufstieg. Ich nehme mal an, seine Frau hat ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Die hatte keine Lust, in Eberstädter Hochhäusern zu wohnen. Meine Theorie: Sie hat ihm gesagt: a) Ich bin schwanger von dir und b) ich werde das Kind ganz gewiss nicht hier großziehen. Und Markus hatte schon damals genug Kohle. Das war auch der Zeitpunkt, als wir beschlossen haben, dass wir die drei hochnehmen werden.« Wieder schnippte er in Horndeichs Richtung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie die drei uns verarscht haben. Wir wussten schon eine ganze Menge über sie. Aber keiner hat sich bereit erklärt, offiziell gegen sie auszusagen. Wir hatten die Gespräche mit den Schulhofprostituierten, wir wussten auch schon sehr viel über den Drogenhandel, mein Gott, was uns nicht alles erzählt worden ist, wie das System Böhmer funktioniert. Aber keiner hat sich getraut zu reden. Keiner. Und vor vier Jahren war es dann genug. Endlich wurde die SOKO eingerichtet, und wir hatten genug Manpower, Kohle und Geduld, um den dreien das Handwerk zu legen. Jetzt fehlt nur noch der Zugriff heute Nacht, dann haben wir sie im Sack. Uli. Jennifer. Nun ja, Markus nicht mehr.«

»Und habt ihr da niemanden auf dem Schirm, der Markus Böhmer auf der Abschussliste hatte?« Horndeich stellte die naheliegende Frage.

Marcs Gesichtszüge wurden so ernst, wie sie Leah bislang noch nicht gesehen hatte. »Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Die erste: Markus und Uli haben das Geschäft in den vergangenen zwei Jahren deutlich ausgebaut. Sie haben sich mehrmals mit Größen aus dem Rotlichtmilieu in Frankfurt getroffen. Also Größen bedeutet, Leute aus der zweiten Garde. Aber immerhin. Diese Gespräche sollen ziemlich friedlich abgelaufen sein, irgendwie hat man sich offenbar geeinigt. Was aber nicht heißt, dass es da keine Spannungen gegeben hat und dass man den Aufstieg von Markus Böhmer nicht kritisch verfolgt hat. Die zweite Möglichkeit: Wir haben gerade im vergangenen halben Jahr immer wieder Gespräche mitgeschnitten, bei denen sich Markus und Uli gestritten haben, aber auch Markus mit seiner Schwester Jennifer. Immer wieder ging es um die Aufteilung der Kohle. Markus wollte vierzig Prozent, die andern beiden sollten jeweils dreißig bekommen. Klar, dass Jennifer und Uli für eine gleichberechtigte Aufteilung waren. Die haben sich zwar oft gestritten, doch dann auch immer wieder zusammengerauft. Ich halte also, wenn Markus’ Ableben wirklich mit seinen Geschäften zu tun hat, die erste Variante für die wahrscheinlichere.«

Er hielt kurz inne. Dann fügte er noch hinzu: »Es gibt natürlich auch noch die Möglichkeit, dass die holländischen Hintermänner Wind bekommen haben von unseren Ermittlungen. Und dann kann es sein, dass sie alle Brücken hinter sich niederreißen wollten. Halte ich eher für unwahrscheinlich, aber man darf ja nichts, was möglich ist, ausschließen.«

Feller nickte, wie Leah wahrnahm.

»Ich würde euch also bitten, den Ball heute noch absolut flach zu halten. Uli wird den Drogendeal in der Nacht durchziehen. Da wird ihn schon seine Schwester hinprügeln. Also lasst ihn in Ruhe. Die Schwester sowieso. Kommt auf den Tag nicht an.«

»Okay«, sagte Horndeich, »machen wir.« Er sah Leah an: »Du unterhältst dich mit Oksana Böhmer, aber fass sie nicht zu hart an.« Sein Blick fiel auf Feller: »An deinem Job ändert sich nix: Finde raus, was immer das Netz hergibt.« An Silvia gewandt, sagte er: »Danke für deine Unterstützung. Falls das Labor sich bei dir zuerst meldet, lass mich die Ergebnisse wissen.« Und zu Bernd: »Danke für eure Unterstützung, vielleicht legst du mir die Ergebnisse noch auf den Server.«

»Ist schon erledigt«, sagte Bernd Süllmeier.

Marc Herzog stand auf, wandte sich an Horndeich: »Und du fährst heut Nacht mit mir mit?«

»Aber ganz sicher«, sagte Horndeich.

»Aufbruch halb sechs.«

Horndeich nickte und sagte in die Runde: »Wir treffen uns wieder um sechzehn Uhr und tauschen die ersten Erkenntnisse aus.«

Nun standen alle auf. Beim Hinausgehen fragte Leah Horndeich: »Wer hat eigentlich für den Kaffee gesorgt?«

Horndeich nickte nur in Fellers Richtung. Dann hatte Feller für seine Erkenntnisse nicht dreißig Minuten gebraucht, sondern zehn. Und zwanzig Minuten fürs Kaffeeholen. Der Mann ist ein Genie, dachte Leah.

 

»Wohin fahren wir?«, wollte Horndeich wissen. Er saß auf dem Beifahrersitz im Wagen von Marc Herzog. Ein Audi A7. Schöner konnte man knapp zwei Tonnen kaum durch die Weltgeschichte bewegen. Außerdem definitiv ein Fahrzeug, das in den Kreisen, in denen Uli Böhmer seine Geschäfte machte, nicht auffiel. Und zur Not auch eines, mit dem man Uli Böhmers Geschäftskollegen auf der Autobahn verfolgen konnte, ohne abgehängt zu werden.

»Hünxe, der Rastplatz an der A3 auf der Ostseite. Da wollen sie tauschen. Geld gegen Drogen. Und wir reden hier von viel Geld. Und viel Drogen.« Herzog prügelte den Wagen über die Autobahn. Horndeich hatte den Eindruck, er wolle den ICEs auf der stellenweise parallel verlaufenden Hochgeschwindigkeitstrasse Konkurrenz machen. Horndeich wusste, dass kurz vor Bonn die ersten Baustellen auftauchen würden und Marc den Schnitt versauen würden. Aber er hatte keine Lust zu diskutieren.

»Wann soll die Übergabe stattfinden?«

»Um ein Uhr. Also ein Uhr nachts. Auf dem Rastplatz gibt es noch einen kleinen Parkplatz am Nordende. Da ist Platz für Wohnmobile und so was.«

»Und was wird dort passieren?«, wollte Horndeich wissen.

Obwohl er gerade mit gut hundertneunzig auf der linken Spur bretterte, schaute Herzog kurz zu Horndeich rüber. »Auf dem Parkplatz werden zwei Wohnmobile und ein Pritschenwagen einer Spedition stehen. Außerdem noch fünf Pkws. Alle von uns. In den Wohnmobilen und dem Wagen von der Spedition sitzen die Jungs vom SEK. Wir fahren an den Rand des Parkplatzes und schauen uns von dort die Show an.«

»Über wie viele Drogen reden wir hier?«

»Zwanzig Kilo Marihuana, fünf Kilo Kokain. Beste Qualität. Das Ganze kriegen die Böhmers zum Schnäppchenpreis von zweihundertsiebzigtausend Euro.«

Horndeich pfiff durch die Zähne.

»Das ist auch der Grund, warum sie die Übergabe persönlich machen. Weder der Lieferant noch die Böhmers trauen bei dieser Summe von Geld oder Drogen irgendwelchen Strohmännern. Mit gut einer Viertelmillion im Kofferraum ist die Versuchung für jeden wohl zu groß, kurz vor der Übergabe rechts abzubiegen und einem sorgenfreien Leben entgegenzufahren. Mal ganz abgesehen davon, dass eine Viertelmillion Euro auch echt was wiegt! Hast du eine Ahnung, was hunderttausend Euro in Hundertern wiegen?«

Hatte Horndeich nicht. Konnte nicht zu viel sein. Ein Schein war leicht. »Keine Ahnung, zwei Kilo?«

»Das kannst du locker mal mit fünf multiplizieren. Allein in Hundertern kommen wir da auf zehn Kilo. Fünfundzwanzig Kilo für die Viertelmillion. Aber natürlich möchte der Händler doch gerne eine etwas kleinere Stückelung. In Zwanzigern wiegt die Viertelmillion rund 100 Kilo. Da brauchst du schon ein paar Koffer. Ich geh mal davon aus, dass Uli Böhmer vier Koffer à fünfzehn Kilo im Kofferraum hat. Das Geld wiegt mehr als die Rauschmittel. Und das ist unsere Chance.«

»Übergeben sie sonst Geld und Drogen nicht persönlich?« Horndeich musste feststellen, dass er sich im Metier nicht wirklich auskannte.

Herzog lachte auf, und es war ein bitteres Lachen. »Wenn im Drogengeschäft eine Erfindung ein absoluter Segen war, dann die der Packstation. Du fährst hin, stellst das Päckchen mit den Drogen rein, am nächsten Tag kommt jemand und tauscht das Päckchen gegen ein Päckchen mit Geld. Und damit die Spur nicht auf dich verweist, hast du vorher im Darknet ein Accountkärtchen für die Packstation gekauft, inklusive Fakeadresse und vierstelliger Pin. Die Karte kriegst du, gegen einen kleinen Aufpreis, auch inklusive Partnerkarte, also einer Eins-zu-Eins-Kopie, die schickst du dann an den Lieferanten – und schon habt ihr ein absolut perfektes Austauschsystem, ohne dass irgendjemand die Verbindung zwischen euch herstellen kann.«

Schweigend fuhren sie eine weitere Viertelstunde Richtung Norden. Dann tauchten die ersten Baustellen auf. Horndeich spürte, wie Herzog nervös wurde, wenn er die Geschwindigkeit des Wagens auf achtzig Stundenkilometer drosseln musste. Also versuchte Horndeich es mit Ablenkung: »Und nach der Festnahme auf dem Parkplatz, was passiert dann?«

»Dann? Dann gibt es Verhöre. Und zwar viele. Denn wir schlagen ja heute Nacht nicht nur auf dem Parkplatz zu. In dem Moment, in dem es hier losgeht, gibt der Einsatzleiter das Zeichen, dass parallel dazu auch die Häuser von Uli Böhmer, Markus Böhmer und auch von der Schwester Jennifer Böhmer durchsucht werden.«

»Markus Böhmer? Aber der ist doch tot.«

Wieder sah Herzog zu Horndeich. »Aber all die Unterlagen über seine Geschäfte, die sind in seinem Haus.«

»Wo wohnen eigentlich Uli Böhmer und Jennifer Böhmer?«

»Die beiden sind der Heimat treu geblieben. Wohnen in Eberstadt, in zwei Häusern direkt nebeneinander, im Fritz-Dächert-Weg. Wenn du der König in deinem Revier sein willst, dann musst du auch in deinem Revier bleiben. Gab ganz schön Knies zwischen den Geschwistern, als Markus quasi ins Exil gezogen ist. Hat aber unterm Strich doch geklappt, denn Markus war immer das Gehirn aller Aktionen, während Uli der war, der vor Ort Präsenz gezeigt hat. Und daran hat sich auch nichts geändert.«

Herzog hangelte sich von Baustelle zu Baustelle, fluchte ständig über alle anderen Autofahrer. Außer ihm selbst schien sich kein fähiger Lenker auf der Straße zu befinden. Horndeich fand so ein Verhalten immer etwas befremdlich. Die Zeit, die sie beim Rasen über die Autobahn einsparten, würden sie nachher auf dem Parkplatz mit Warten verbringen. Worin sollte dabei der Gewinn liegen?

Eine Stunde bevor Herzog und er losgefahren waren, hatte Horndeich sich noch einmal mit den Kollegen besprochen. Er ließ die Ergebnisse Revue passieren. Viel war es nicht gewesen. Die 9-mm-Munition hatte keiner Waffe zugeordnet werden können, die in der Datenbank des BKA gespeichert worden war. Auch die DNA des Blutstropfens hatte keinen Treffer in der Datenbank ergeben. Wobei natürlich nicht einmal sicher war, ob der Tropfen wirklich zum Täter gehörte. Jeder konnte an dieser Stelle ein Blutströpfchen verloren haben. Feller hatte noch einiges zutage befördert, was Uli und seine Schwester anging, aber das hatte er auch schon aus dem Mund von Herzog gehört. Und Leah hatte sich mit der Frau von Markus Böhmer unterhalten. Aber entweder wusste Oksana Böhmer überhaupt nichts über die Geschäfte ihres Mannes, oder sie wusste einiges und sagte deshalb nichts. Unterm Strich: nada. Sie würden sich gedulden müssen. Morgen könnten Horndeich und seine Kolleginnen und Kollegen mit Uli Böhmer sprechen. Und auch mit Jennifer Böhmer.

Es war halb neun, als sie den Rastplatz erreichten. Herzog fuhr den Wagen auf den kleinen Parkplatz, von dem er bereits gesprochen hatte. »Die Kollegen vom SEK werden wohl so in einer halben Stunde hier eintreffen.«

Herzog und Horndeich gingen in das Restaurant der Raststätte. Horndeich hatte richtig Lust auf Currywurst und Pommes, nicht gesund, aber ab und zu gönnte er sich das. Herzog machte sich über ein Steak her.

Um halb zehn begaben sie sich zurück zum Audi. Der hatte natürlich getönte Seitenscheiben. Und nun hieß es Warten. Die beiden Wohnmobile trafen gegen zehn Uhr ein, zwanzig Minuten danach der Lieferwagen der Spedition.

Horndeich verfolgte den Funkverkehr, den Herzog über die Anlage des Autos laufen ließ, aber nicht zu laut, damit niemand, der zufällig am Wagen vorbeiging, mithören konnte.

Horndeich ertappte sich, wie er immer wieder eindöste. Er war auch nicht in Plauderlaune, obwohl Herzog versuchte, ihn über sein Privatleben auszufragen.

»Auf was für Wagen warten wir?«, wollte Horndeich gegen Mitternacht wissen.

»Uli kommt wahrscheinlich mit seinem eigenen, er steht auf BMW. Ich meine, die Münchner bauen echt schöne Autos. Da gibt es wirklich keinen Grund, sich da einen Sound reinbasteln zu lassen, der lauter ist als der Trecker von meinem Großvater. Und um deine Frage konkret zu beantworten: Er fährt einen X7 xDrive50i. Gibt’s in Europa offiziell gar nicht, hat aber den fetten 4,4-Liter-V8-Motor drin. Locker zwölf Liter auf hundert Kilometer. Aber nach dem Deal heute kann er damit viele Kilometer fahren. Womit die Holländer kommen, weiß ich nicht. Kann mir aber nicht vorstellen, dass der Wagen wesentlich kleiner ist.«

Um 0:30 Uhr fuhr der X7 auf den Parkplatz auf.

»Rutsch runter«, sagte Herzog völlig überflüssigerweise zu Horndeich, der als Erster auf Tauchstation war.

Uli Böhmer hatte seinen Wagen am nördlichen Zipfel des Parkplatzes abgestellt. Schlau. Nach Süden waren noch zehn weitere Plätze frei, nach Norden nur noch ein einziger. Dort konnte sich dann der Holländer Kollege hinstellen. Kein anderer würde auf diesen Platz fahren, und schon gar nicht um diese Uhrzeit.

Uli Böhmer stieg aus seinem Wagen, steckte sich eine Zigarette an. Taxierte die Umgebung. Er begann einen kleinen Spaziergang über den Parkplatz, versuchte, durch die Fenster der Wohnmobile ins Innere zu schauen, aber da waren alle Vorhänge zugezogen. Hier schliefen Familien. So wirkte es zumindest.

Dann stapfte er auf den A7 von Herzog und Horndeich zu.

»Scheiße«, murmelte Herzog. Die Seitenscheiben waren getönt, aber die Frontscheibe natürlich nicht. Derartige Observationen waren für Horndeich keine Selbstverständlichkeit. Wenn Uli Böhmer jetzt durch die Frontscheibe auf die beiden Männer schaute, die versuchten, im Fußraum zu verschwinden, was ihnen natürlich nicht gelingen konnte, wären sie aufgeflogen.

»Beug dich über mich!«, blaffte Herzog.

Horndeich verstand nicht.

»Mein Gott, tu so, als ob du mir einen bläst!«, rief Herzog, und Horndeich verstand immer noch nicht. Erst als Herzog sich in seine Richtung zur Seite fallen ließ, mit dem Kopf in seinen Schritt, machte es Klick. Zum Glück. Sonst hätte er wohl einen kurzen Schrei losgelassen. Ein Typ, der sich auf einem Parkplatz von einem anderen Typ einen blasen ließ, das würde wohl auch Uli Böhmer unverdächtig vorkommen. Zumindest unverdächtiger als zwei Männer in einem A7, die einfach nur nebeneinandersaßen.

Uli Böhmer erreichte den Wagen von Herzog und Horndeich nicht, denn plötzlich drang ein Röhren durch die Luft.

Herzog setzte sich wieder aufrecht und beobachtete den Bentley Bentayga, der auf den Parkplatz kurvte. »Okay, der Händler ist da«, sagte er. Der Holländer Lieferant wusste offenbar auch autotechnisch noch einen draufzusetzen. Viel wusste Horndeich nicht über den Edel-Pseudo-Geländewagen von Bentley. Nur, dass er in der aufgemotzten Version wahrscheinlich genauso viel wert war wie der Inhalt der Koffer voller Geldscheine, die heute Nacht den Besitzer wechseln würden.

Der Bentley parkte wie erwartet auf der Außenposition neben Böhmers BMW.

Horndeich hörte den Funk mit. »Beide Zielpersonen eingetroffen. Bereit machen zum Zugriff.«

Aus dem Bentley stieg ein Mann, auf den ersten Blick in ähnlichem Alter wie Uli, Mitte dreißig. Er hatte einen südländischen Teint, soweit sich das in dem gedämpften Licht der Parkplatzleuchten ausmachen ließ.

Die beiden begrüßten sich mit Handschlag, um danach noch eine angedeutete Umarmung folgen zu lassen. Sie zogen ihre Autoschlüssel hervor und drückten gleichzeitig auf eine Taste. Sowohl beim Bentley als auch beim BMW hoben sich die Hecktüren. Die Männer beugten sich jeweils in die Kofferraumöffnung ihres Wagens. Wahrscheinlich öffneten sie die darin verstauten Gepäckstücke. Wie erwartet tauschten sie die Positionen. Sie beugten sich unter den Heckklappen hervor, grinsten beide breit und ließen abermals die Hände gegeneinander klatschen.

Uli griff danach in den Stauraum seines Wagens, zog zwei Koffer hervor. Auch der andere griff zu einem Koffer. Beide tauschten die Gepäckstücke, dann folgte eine Wiederholung des Rituals, mit den beiden weiteren Geldkoffern und dem einen Drogenkoffer.

»Zugriff!«, hörte Horndeich aus den hochwertigen Lautsprechern des Audis.

Herzog öffnete die Fahrertür, stieg aus, und Horndeich folgte ihm. Später sollte er sich oft fragen, warum er das getan hatte.

Ein Grund, weshalb Horndeich in der letzten Zeit kaum mehr Fernsehkrimis ansah, war die an vielen Stellen so offensichtliche Diskrepanz zwischen der Realität und dem Geschehen im Fernsehen. Immer wieder gab es Einsätze mit einem Sondereinsatzkommando, eben dem SEK, und da stürmten sie ins Bild, zwanzig schwarz gekleidete und vermummte Polizisten, alle mit kugelsicheren Westen geschützt – und der ermittelnde Kommissar rannte im T-Shirt und mit gezückter Pistole vor allen anderen in den Raum. Horndeich fand es unerträglich.

Auch er wäre niemals auf die Idee gekommen, mit Herzog in Zivil auf die beiden Kriminellen zuzupreschen. Das war nun wirklich der Job für die dafür ausgebildeten Profis.

Und sie machten ihren Job gut. »Polizei, Hände hoch!«, das hörte Horndeich. Und dann nahm er wie in Zeitlupe wahr, wie der Holländer, von woher auch immer, eine vollautomatische Waffe zückte. Er eröffnete das Feuer und konnte eine Salve Schüsse absetzen, bevor das SEK reagierte und ebenfalls feuerte.

In dem Moment, als Horndeich den Holländer auf den Boden fallen sah und Uli die Hände in die Höhe riss, spürte er einen heißen, brennenden Schmerz am Arm.

Mittwoch, 22. Mai

Der Arm tat weh, aber es war auszuhalten. Sie hatten ihn sogar in ein Dreieckstuch gebettet, sodass Horndeich ihn überhaupt nicht benutzen konnte.