Obioma, Chigozie Das Weinen der Vögel

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Übersetzung aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner

 

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e. V. – Literaturen der Welt

 

© 2019 by Chigozie Obioma
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Orchestra of Minorities« bei Little, Brown and Company New York, 2019
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: ero-media.net, München nach einem Entwurf von Little, Brown Book Group
Covermotiv: Nico Taylor – LBBG; Illustration: Aistė Stancikaitė; Little, Brown Book Group

 

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Widmung

Für J. K.

Wir haben nicht vergessen

Zitate

Solange die Beute nicht ihre eigene Version der Geschichte erzählt, werden in den Geschichten von der Jagd immer die Raubtiere die Helden sein.

Igbo-Sprichwort

Generell kann man sich den Chi eines Menschen als seine andere Identität im Land der Geister vorstellen – wobei der Geist den Erdenmenschen vervollständigt, denn nichts kann allein bestehen, es muss immer etwas an seiner Seite sein.

Chinua Achebe, »Chi in der Igbo-Kosmologie«

Uwa mu asaa, uwa mu asato! Das ist der wichtigste Faktor, um den Zustand der wahren Identität eines Neugeborenen zu bestimmen. Auch wenn die Menschen auf der Erde in materieller Form existieren, wohnt in ihnen ein Chi und ein Onyeuwa, weil einem universellen Gesetz zufolge dort, wo etwas steht, etwas anderes an seiner Seite stehen muss, damit wird die Dualität aller Dinge bewahrt. Auf diesem Grundprinzip beruht außerdem das Igbo-Konzept der Reinkarnation. Haben Sie sich je gefragt, wie es sein kann, dass ein neugeborenes Kind jemanden zum ersten Mal sieht und vom ersten Moment an ohne erkennbaren Grund Abneigung gegenüber diesem Menschen empfindet? … Oft liegt es daran, dass das Kind in dem anderen einen Feind aus einem früheren Leben erkennt, und womöglich ist es in seiner sechsten, siebten oder sogar achten Reinkarnation auf die Welt zurückgekommen, um eine alte Rechnung zu begleichen! Manchmal kann auch ein Gegenstand oder ein Ereignis in einem Leben wiedergeboren werden. Zum Beispiel, wenn man etwas besitzt, es verliert und Jahre später etwas Ähnliches wiederfindet.

Dibia Njokwuji aus Nkpa, Sprachaufzeichnung

EINS

Erste Anrufung

OBASIDINELU – Ich stehe hier vor Euch vor dem prachtvollen Gericht von Bechukwu in Eluigwe, dem Land des ewig leuchtenden Lichts, in dem die Flöte ihr ewiges Lied spielt –

Wie auch andere Schutzgeister bin ich im Kreislauf der Reinkarnationen in immer wieder neuen Körpern nach Uwa gegangen –

Unaufhaltsam wie ein Speer kam ich durch die unendlichen Weiten des Universums hierher, denn meine Botschaft ist dringend, es geht um Leben und Tod –

Soweit ich weiß, soll ein Chi vor Euch aussagen, wenn sein Schützling tot und dessen Seele nach Benmuo aufgestiegen ist, jener Schwelle zwischen den Welten, an dem sich Geister und körperlose Wesen jeder Art und Größe tummeln. Erst dann lasst Ihr uns Schutzgeister zu Euch kommen vor dieses himmlische Gericht, damit wir Euch bitten, die Seelen unserer Schützlinge sicher nach Alandiichie zu geleiten, in das Land unserer Vorfahren –

Wir tun dies, weil wir wissen, dass die Seele eines Menschen nur dann in Gestalt eines Onyeuwa auf die Welt zurückkehren kann, dass sie nur dann wiedergeboren werden kann, wenn diese Seele im Reich der Ahnen empfangen wurde –

Chukwu, Schöpfer aller Dinge, ich gestehe, etwas Außergewöhnliches getan zu haben, indem ich herkam, obwohl mein Schützling noch lebt –

Aber ich bin hier, weil die alten Väter sagen, dass die Klinge, mit der wir in den Wald gehen, gerade scharf genug ist, um Feuerholz zu schlagen. Erfordert eine Situation dringliche Maßnahmen, so muss man diese auch treffen –

Sie sagen, Staub liegt auf dem Boden, und Sterne liegen im Himmel. Sie vermischen sich nicht –

Sie sagen, ein Schatten kann von einem Menschen stammen, aber ein Mensch stirbt nicht, weil ein Schatten aus ihm entsprungen ist –

Ich komme, um für meinen Schützling zu sprechen, denn für das, was er getan hat, muss Ala, die Hüterin der Erde, Vergeltung fordern –

Denn Ala sagt, niemand darf einer schwangeren Frau Leid antun, ob Mensch oder Tier –

Denn die Erde gehört ihr, der großen Mutter der Menschheit, dem größten aller Geschöpfe, übertroffen nur von Euch, dessen Geschlecht und Art weder Mensch noch Geist kennt –

Ich bin gekommen, weil ich fürchte, dass sie die Hand erheben wird gegen meinen Schützling, der in diesem Lebenszyklus unter dem Namen Chinonso Solomon Olisa bekannt ist –

Und so bin ich hierhergeeilt, um zu erzählen, was ich gesehen habe, und um Euch und die große Göttin zu überzeugen, dass, wenn wahr ist, was ich befürchte, er dieses Verbrechen aus Versehen begangen hat, unwissentlich –

Obwohl ich das meiste in meinen eigenen Worten berichten werde, ist alles wahr, denn er und ich sind eins. Seine Stimme ist meine Stimme. Von seinen Worten zu sagen, sie seien nicht meine, ist, als würde man meine Worte als die eines anderen bezeichnen –

Ihr seid der Schöpfer des Universums, Herr über die vier Tage der Igbo-Woche – Eke, Orie, Afor und Nkwo –

Euch gaben die alten Väter so viele Namen und Titel, dass sie sich kaum zählen lassen: Chukwu, Egbunu, Oseburuwa, Ezeuwa, Ebubedike, Gaganaogwu, Agujiegbe, Obasidinelu, Agbatta-Alumalu, Ijango-ijango, Okaaome, Akwaakwuru und viele andere mehr –

Ich stehe hier vor Euch, mit kühner Zunge, um meinen Schützling zu vertreten, und ich weiß, dass Ihr mich anhören werdet –

1

Die Frau auf der Brücke

CHUKWU, wenn man als Schutzgeist den Körper eines Menschen bewohnen soll, der in Umuahia auf die Welt kommt, einer Stadt im Land der großen Väter, ist man zuerst einmal beeindruckt von der endlosen Weite dieses Landes. Während man im wiedergeborenen Körper seines neuen Schützlings auf die Erde hinabsteigt, bietet sich einem ein erstaunlicher Anblick. Als lichte sich ein Urschleier, sieht man sich plötzlich einer unendlich weiten grünen Vegetation gegenüber. Je näher man Umuahia kommt, desto mehr verzaubert einen das Land der Väter: die Hügel, der riesige dichte Ogbuti-ukwu-Wald, ein Wald so alt wie der erste Mensch, der darin jagte. Den frühen Vätern hatte man erklärt, dort fänden sich Spuren der kosmischen Explosion, aus der die Erde hervorging, und dass der Ogbuti-Wald seit Anbeginn der Zeit, als die Erde in Himmel, Wasser, Wald und Land unterteilt wurde, ein eigenes Land war, größer als jedes Gedicht, das über ihn geschrieben wurde. Die Blätter seiner Bäume tragen die Geschichte des Universums in sich. Noch faszinierender sind nur die vielen Gewässer, allen voran das größte von ihnen, der Imo, samt seiner zahlreichen Nebenflüsse.

Der Imo schlängelt sich auf gewundenen Wegen durch den Wald, vergleichbar mit denen menschlicher Adern. In der Stadt strömt er an einer Stelle wie aus einer klaffenden Wunde hervor. Fährt man ein Stück weiter, taucht er wie aus dem Nichts hinter einem Hügel oder aus einer Schlucht auf. Dann fließt er zwischen den Schenkeln des Tals wieder friedlich dahin. Selbst wenn man ihn anfangs nicht sieht, begegnet einem schon kurz hinter Bende in Richtung Umuahia, wenn man durch die Ngwa-Dörfer kommt, das verführerische Antlitz eines ruhigen kleinen Seitenarms. Der Fluss hat seinen festen Platz in den Mythen der Menschen, da Wasser in ihrer Welt das wichtigste Element ist. Flüsse haben für sie etwas Mütterliches, sie können Dinge gebären. Dieser gebar die Stadt Imo. Durch die Nachbarstadt fließt der seinerseits von Legenden umwobene Niger. Vor langer Zeit trat der Niger über seine Grenzen und stieß auf einen anderen Fluss, den Benue, eine Begegnung, die die Geschichte der Menschen und Kulturen an beiden Flüssen für immer veränderte.

Egbunu, die Ereignisse, derentwegen ich heute Abend vor Eurem erleuchtenden Gericht aussage, nahmen vor etwa sieben Jahren am Imo ihren Anfang. Mein Schützling war an jenem Morgen wieder einmal nach Enugu gereist, um auf dem Markt seinen Geflügelbestand aufzustocken. Am Abend zuvor hatte es geregnet, das Wasser war überall – es rann von den Dächern, stand in Schlaglöchern auf der Straße, es tropfte von den Blättern der Bäume und den Spinnweben –, und auf den Gesichtern und Kleidern lag ein leichter Nieselregen. Beschwingt lief er von Stand zu Stand, die Hosenbeine über die Knöchel gekrempelt, damit sie sich nicht mit schmutzigem Wasser vollsogen. Es wimmelte von Menschen, so wie damals zur Zeit der großen Väter, als der Markt noch das Zentrum von allem war. Hier wurden Waren getauscht, Feste gefeiert und Verhandlungen zwischen den Dörfern geführt. Im ganzen Land stand der Schrein Alas, der großen Mutter, normalerweise in der Nähe des Marktes. In der Vorstellung der Väter war es außerdem der Ort, der die Irrgeister anlockte – Akaliogolis, Amosu, Trickster und diverse andere körperlose Wesen. Denn ein Geist ohne Schützling ist auf Erden nichts. Er muss einen Körper bewohnen, um etwas ausrichten zu können. Also sind diese Geister ständig auf der Suche nach einem Gefäß und unersättlich in ihrem Streben nach Leibhaftigkeit. Man sollte ihnen tunlichst aus dem Weg gehen. Einmal sah ich ein solches Wesen aus lauter Verzweiflung in den Körper eines toten Hundes fahren, um das Aas mithilfe alchemistischer Tricks zum Leben zu erwecken. Der Geist ließ das Tier ein paar Schritte vor sich hin trotten und dann tot im Gras liegen. Es war ein schrecklicher Anblick. Deswegen gilt es als unklug, wenn ein Chi den Körper seines Schützlings an einem solchen Ort verlässt oder sich zu weit von ihm entfernt, sobald er schläft oder nicht bei Bewusstsein ist. Einige dieser körperlosen Wesen, vor allem die bösen Geister, versuchen sogar hin und wieder, einen Chi zu überwältigen, sei es im Körper seines Schützlings oder wenn er in dessen Namen unterwegs ist. Genau deshalb warnt Ihr, Chukwu, uns vor solchen Reisen, vor allem nachts! Denn steckt ein fremder Geist erst einmal in einem Menschen, bekommt man ihn nur schwer wieder heraus! Aus diesem Grund gibt es Geisteskranke, Epileptiker, Menschen mit abscheulichen Vorlieben, Menschen, die ihre eigenen Eltern ermorden! Viele von ihnen sind von fremden Geistern besessen, und ihre Chis haben auf einmal kein Zuhause mehr, sie müssen ihrem Schützling hinterherlaufen und – oftmals vergeblich – den Eindringling zur Aufgabe drängen. Ich habe das selbst oft miterlebt.

Als mein Schützling zu seinem Lieferwagen zurückkehrte, trug er in sein großes Notizbuch den Kauf von acht ausgewachsenen Vögeln ein – zwei Hähne und sechs Hennen –, außerdem einen Beutel Hirse, einen halben Beutel Futter und einen Strumpf voll frittierter Termiten. Für einen wollweißen Hahn mit langem, spitz zulaufendem Kamm und plüschigem Federkleid hatte er den doppelten Preis gezahlt. Als der Verkäufer ihm das Tier übergab, schossen ihm Tränen in die Augen. Für einen Moment erschienen ihm der Mann und auch der Vogel in seinen Händen wie eine schillernde Illusion. Der Verkäufer sah ihn sichtlich erstaunt an, wahrscheinlich konnte er sich nicht erklären, warum der Anblick eines Hahnes meinen Schützling so sehr bewegte. Er wusste nicht, dass er es mit einem von Instinkt und Leidenschaft getriebenen Menschen zu tun hatte. Und dass er diesen einen Vogel zum Preis von zweien kaufen wollte, weil er einer jungen Gans ähnelte, die ihm vor vielen Jahren als Kind gehört und die er sehr geliebt hatte, ein Vogel, der sein Leben veränderte.

Ebubedike, nachdem er den kostbaren Hahn erworben hatte, machte sich mein Schützling gut gelaunt auf den Rückweg nach Umuahia. Selbst als er merkte, dass er länger als beabsichtigt in Enugu geblieben war und die Hühner zu Hause auf ihr Futter warteten, trübte das nicht seine Stimmung. Nicht einmal der Gedanke an ihr wütendes Gegacker und Gekrähe, über das sich selbst entfernte Nachbarn beschwerten, beunruhigte ihn. Anders als an anderen Tagen zahlte er bereitwillig seinen Wegzoll, wenn er an einem Polizeiposten vorbeikam. Normalerweise wandte er ein, er habe kein Geld, diesmal jedoch hielt er schon im Voraus ein Bündel Scheine aus dem Fenster, sobald er einen Kontrollpunkt sah, vor dem mit Nägeln bespickte Holzscheite lagen, um den Verkehr zu stoppen.

 

GAGANAOGWU, mein Schützling fuhr lange über die Dörfer, vorbei an den Hügelgräbern der alten Väter, an fruchtbarem Ackerland und dichtem Busch, während der Himmel sich langsam verdunkelte. Insekten flogen gegen die Windschutzscheibe und zerplatzten wie kleine Trauben, bis die ganze Scheibe verdreckt war. Zweimal musste er anhalten und die matschigen Reste mit dem Lappen wegwischen. Kaum war er wieder unterwegs, prasselten sie erneut auf das Glas. Als er die Stadtgrenze von Umuahia erreichte, war der Tag bereits zur Neige gegangen, und der Schriftzug auf dem verrosteten Schild mit der Aufschrift WILLKOMMEN IN ABIA, DEM LAND GOTTES war kaum noch zu lesen. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, da er den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Ein Stück vor der Brücke über den Amatu – ein Nebenfluss des großen Imo – hielt er an und blieb hinter einem Laster stehen, dessen Pritsche mit einer Plane abgedeckt war.

Als er den Motor abstellte, hörte er Getrampel auf der Ladefläche. Er kletterte aus dem Wagen und stieg über den Abflussgraben, der die Stadt umgab. Ein paar Straßenverkäufer saßen auf Hockern unter Stoffdächern, Laternen und Kerzen beleuchteten ihre Tische. Er ging von Stand zu Stand und kehrte am Ende mit ein paar Bananen, einer Papaya und einer Tüte Mandarinen zum Wagen zurück.

Die Sonne war inzwischen untergegangen und die Straße in Dunkelheit gehüllt. Er schaltete das Licht an und fuhr weiter. Im Laderaum gackerten die gerade erworbenen Hühner. Während er seine Bananen aß, kam er an die Brücke. Erst vor einer Woche hatte er gehört, dass der Fluss – mitten in der fruchtbaren Regenzeit – über die Ufer getreten war, dabei seien eine Frau und ihr Kind ertrunken. Normalerweise gab er nicht viel auf solche Geschichten, aber diese hier war ihm aus irgendeinem Grund nicht aus dem Kopf gegangen, warum, verstand selbst ich, sein Chi, nicht recht. Während er noch an die Mutter und ihr Kind dachte, entdeckte er in der Mitte der Brücke einen Wagen, der neben dem Geländer parkte, eine der Türen war weit aufgerissen. Zuerst sah er nur das Auto, den dunklen Innenraum und ein Licht, das sich in der Scheibe der Fahrertür spiegelte. Doch als er sich umschaute, erblickte er zu seinem Entsetzen eine Frau, die kurz davor war, sich von der Brücke zu stürzen.

Agujiegbe, wie konnte es sein, dass mein Schützling seit Tagen an eine ertrunkene Frau denken musste, und jetzt begegnete er einer anderen, die über das Geländer gebeugt stand, als wollte sie jeden Moment springen? Zutiefst aufgewühlt brachte er seinen Wagen zum Stehen, sprang hinaus und lief ihr entgegen. »Nein, nein«, rief er. »Bitte nicht! Tu das nicht. Biko, eme na!«

Die Frau erschrak, sie wirbelte herum, geriet ins Schwanken und fiel rückwärts zu Boden. Er eilte auf sie zu und wollte ihr aufhelfen. »Nein, Mommy, bitte nicht!«, wiederholte er.

»Lass mich!«, rief die Frau. »Lass mich in Ruhe. Geh weg.«

Egbunu, er wich mit erhobenen Händen zurück, so wie die Kinder der alten Väter, wenn sie zeigen wollen, dass sie sich ergeben. »Ich hör ja schon auf«, sagte er und wandte ihr den Rücken zu, brachte es aber doch nicht fertig zu gehen. Er fürchtete, dass sie sich etwas antun würde, zumal er – selbst ein leidgeprüfter Mann – wusste, dass Verzweiflung eine Krankheit der Seele ist und sie ein halbwegs kaputtes Leben vollends zerstören kann. Also drehte er sich wieder um, streckte die Arme aus und sagte: »Nicht, Mommy. Nichts ist so schlimm, dass man dafür so sterben muss. Nichts, Mommy.«

Die Frau kam langsam hoch, erst auf die Knie, dann richtete sie sich ganz auf. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Lass mich. Geh einfach.«

Erst jetzt bekam er im Licht der Scheinwerfer ihr Gesicht zu sehen. Sie schien große Angst zu haben. Ihre Augen wirkten verschwollen, wahrscheinlich von stundenlangem Weinen. Diese Frau hatte schwer gelitten, das spürte er sofort. Jeder, der selbst schwere Zeiten durchgemacht oder bei anderen miterlebt hat, erkennt ihre Spuren schon von Weitem. Wie sie so zitternd vor ihm im Licht stand, fragte er sich, wen sie wohl verloren hatte. Vielleicht einen Elternteil? Ihren Mann? Ihr Kind?

»Ich lass dich jetzt in Ruhe«, sagte er und hob wieder die Hände. »Ich gehe. Ich schwör bei Gott.«

Er drehte sich in Richtung Wagen, doch der Schmerz, den er in ihr gesehen hatte, war so groß, dass es ihm schon wie ein fürchterlicher Frevel vorkam, als er von ihr wegschlurfte. Das flaue Gefühl in der Magengrube und sein klopfendes Herz zwangen ihn, sich noch mal umzudrehen.

»Aber, Mommy«, sagte er. »Nicht springen, okay?«

Eilig öffnete er die Hecktür und entriegelte einen der Käfige, und während er durchs Fenster sah und sich zuflüsterte, dass er nicht gehen durfte, packte er zwei der Hühner bei den Flügeln, jedes in einer Hand, und lief zurück.

Die Frau stand noch da, wo er sie hatte stehen lassen, sie blickte in seine Richtung und wirkte wie gelähmt. Auch wenn ein Schutzgeist nicht in die Zukunft sehen und somit nicht sicher wissen kann, was sein Schützling unternehmen wird – Chukwu, nur Ihr und die großen Götter habt diese Gabe –, so spürte ich es doch. Da Ihr uns dazu ermahnt, uns nicht zu sehr in die Angelegenheiten eines Schützlings einzumischen, sondern ihm zu erlauben, nach eigenem Willen zu handeln, und ihn Mensch sein zu lassen, beschloss ich, ihn nicht aufzuhalten. Stattdessen erinnerte ich ihn daran, dass er Vögel liebte, dass sein Leben sich durch die Beziehung zu diesen geflügelten Wesen verändert hatte. Ich erweckte in ihm das Bild des jungen Gänsleins, das er als Kind besessen hatte. Leider zeigte es kaum Wirkung, denn in solchen Momenten, in denen ein Mann von seinen Gefühlen überwältigt wird, wird er zu Egbenchi, dem sturen Milan, der nicht hören will oder gar nicht erst versteht, was man ihm sagt. Er fliegt, wohin er will, und tut, was ihm beliebt.

»Nichts, aber auch gar nichts sollte ein Grund dafür sein, sich in den Fluss zu stürzen und zu sterben. Nichts.« Er hob die Hühner über den Kopf. »Das hier passiert, wenn man dort hineinfällt. Man ist tot, und niemand wird einen je wiedersehen.«

Er stürmte zum Geländer, in den Händen die gackernden, zappelnden Vögel. »Diesen Hühnern geht es nicht anders«, rief er und warf sie von der Brücke in die Dunkelheit.

Kurz sah er sie noch mit den Flügeln im Wind schlagen und vergeblich um ihr Leben kämpfen. Als eine Feder auf seiner Hand landete, schlug er sie so vehement weg, dass es ihm einen kurzen Schmerz versetzte. Er hörte die Vögel aufs Wasser klatschen, gefolgt von ein paar Spritzern. Es kam ihm vor, als würde die Frau neben ihm dasselbe hören, und während er dem Geräusch nachspürte, fühlte er sich auf unbeschreibliche Weise mit ihr verbunden – als wären sie beide einsame Zeugen eines geheimen Verbrechens. So stand er da, bis er sie nach Luft schnappen hörte. Er sah zu ihr rüber, dann auf den dunklen Fluss und wieder zu ihr.

»Siehst du«, sagte er und zeigte nach unten, während der Wind ächzte wie ein Husten, gefangen in der trockenen Kehle der Nacht. »Das passiert, wenn man dort hineinfällt.«

Das erste Auto seit seiner Ankunft fuhr vorsichtig auf die Brücke, blieb ein paar Meter hinter ihnen stehen und hupte. Der Fahrer sagte etwas, das er nicht verstand, allerdings in der Sprache des Weißen Mannes. Ich, sein Chi, konnte es hören: »Ich hoffe, ihr führt nichts im Schilde!« Dann gab er Gas und fuhr weiter.

»Siehst du?«, wiederholte er.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, erfüllte ihn eine plötzliche Ruhe, wie so oft, wenn ein Mann, der gerade Außergewöhnliches getan hat, sich in sich selbst zurückzieht. Er hatte nur noch den einen Gedanken: diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Und ich, sein Chi, unterstützte ihn darin, denn er hatte getan, was er konnte. Also kletterte er in seinen Lieferwagen und startete den Motor. Im Seitenspiegel erschien das Bild der Frau auf der Brücke wie ein heraufbeschworener Geist, aber er hielt weder an, noch sah er sich um.

2

Einsam und verlassen

AGUJIEGBE, die großen Väter sagen, um einen Hügel zu besteigen, muss man an seinem Fuße losgehen. Ich habe inzwischen begriffen, dass das Leben eines Menschen ein Rennen von einem Ende zum anderen ist. Was gewesen ist, bedingt das, was noch kommt. Deshalb stellen sich die Menschen die Frage nach dem Warum, wenn etwas passiert, das sie verwirrt. Meist lassen sich selbst die verborgensten Geheimnisse und Beweggründe der Menschen ans Licht bringen, solange man tief genug bohrt. Um also ein gutes Wort für meinen Schützling einzulegen, Chukwu, schlage ich vor, einen Blick auf die schwierigen Jahre zu werfen, die jenem Abend auf der Brücke vorausgingen.

Sein Vater war erst neun Monate zuvor verstorben, und der Schmerz darüber war schlimmer als alles, was er bis dahin erlebt hatte. Wahrscheinlich hätte es ihm nicht ganz so sehr zugesetzt, wäre jemand bei ihm gewesen, so wie die anderen Male, als er seine Mutter verlor oder die kleine Gans oder als seine Schwester von zu Hause wegging. Als der Vater starb, war niemand da. Seine Schwester Nkiru, die mit einem älteren Mann durchgebrannt war und seit dem Tod des Vaters an schweren Gewissensbissen litt, ging deswegen nur noch weiter auf Abstand. Vielleicht aus Angst, ihr Bruder könne sie für sein Ableben verantwortlich machen. Die Tage danach waren die finstersten in seinem Leben. Der Agwu des Schmerzes plagte ihn Tag und Nacht, er fühlte sich wie ein leeres Haus, in dem die traumatischen Erinnerungen an seine Familie wie Ratten umherschlichen. Wenn er morgens aufwachte, roch er das Essen seiner Mutter in der Küche. Tagsüber erschien ihm manchmal seine Schwester in den lebendigsten Farben, als wäre sie die ganze Zeit lediglich hinter einem Vorhang versteckt gewesen. Nachts spürte er die Anwesenheit seines Vaters, einige Male war er sogar überzeugt, er sei bei ihm. »Papa! Papa!«, rief er dann in die Dunkelheit und lief verzweifelt im Kreis. Aber da war nur Stille, eine Stille so tief, dass sie ihn zurück in die Wirklichkeit holte.

Er taumelte durch die Welt, als balancierte er auf einem Seil. Sein Blickfeld verengte sich, er nahm kaum noch wahr, was er sah. Nichts spendete ihm Trost, nicht einmal die Musik von Oliver De Coque, die er abends, oder wenn er draußen vor dem Haus arbeitete, auf einem Kassettenrekorder abspielte. Selbst die Hühner litten unter seiner Trauer. Er kümmerte sich nicht mehr richtig um sie, fütterte sie nur einmal am Tag und vergaß es manchmal ganz, bis ihr wütendes Krähen ihn daran erinnerte. Derart abgelenkt war er, dass sich Habichte und Milane über die Tiere hermachten.

Wovon er sich in diesen Tagen ernährte? Von dem, was seine kleine Farm hergab, ein Stück Land, das sich von der Haustür bis zur Landstraße erstreckte und auf dem Tomaten, Okra und Paprika wuchsen. Den Mais, den sein Vater angebaut hatte, ließ er verwelken, und die Insekten, die den Verfall noch beschleunigten, ließ er gewähren, solange sie sich von den anderen Pflanzen fernhielten. Als die Erträge nicht mehr ausreichten, kaufte er auf dem Markt ein, dabei redete er nur das Nötigste. Mit der Zeit wurde er ein schweigsamer Mann, der tagelang kein Wort sprach – nicht einmal zu seinen Hühnern, die er zuvor wie Kameraden behandelt hatte. Er kaufte Zwiebeln und Milch in einem kleinen Lebensmittelladen in der Nähe und aß von Zeit zu Zeit gegenüber in Madam Comfort’s Imbiss. Auch dort verlor er kaum ein Wort, sondern beobachtete scheu und gleichzeitig angespannt seine Mitmenschen, als wären diese scheinbar friedlichen Gestalten in Wirklichkeit abtrünnige Geister, die sich durch eine Hintertür in seine Welt geschlichen hatten.

Bald schon, Oseburuwa, ging er so vollständig in seinem Leid auf, dass er keinerlei Hilfe annehmen wollte. Nicht einmal Elochukwu, der einzige Freund, der ihm nach der Schule geblieben war, konnte ihn trösten. Er hielt sich von ihm fern, und als Elochukwu einmal mit dem Motorrad kam, an die Tür klopfte und nach ihm rief, tat mein Schützling, als wäre er nicht da. Elochukwu gab sich jedoch nicht damit zufrieden und rief ihn auf dem Handy an. Er ließ es klingeln, bis Elochukwu schließlich wieder ging, offenbar überzeugt, dass er tatsächlich nicht da war. Die Bitten seines Onkels, das einzige verbliebene Geschwister seines Vaters, er möge zu ihm nach Aba kommen, lehnte er ab. Als der nicht lockerließ, schaltete er das Telefon aus und die nächsten zwei Monate auch nicht wieder an, bis er eines Tages aufwachte, weil sein Onkel aufs Grundstück gefahren kam.

Der Onkel war wütend, aber als er sah, wie niedergeschlagen, dünn und kraftlos sein Neffe war, verflog sein Ärger, und er fing an zu weinen. Der Anblick des alten Mannes, den er seit Jahren nicht gesehen hatte und der jetzt um ihn weinte, bewirkte etwas in meinem Schützling. Er stellte fest, dass sein Leben ein Loch bekommen hatte. Und an jenem Abend, als sein Onkel ausgestreckt auf einem der Sofas im Wohnzimmer lag und schnarchte, fiel ihm auf, dass er das Loch das erste Mal nach dem Tod seiner Mutter gespürt hatte. Es stimmte, Gaganaogwu. Ich, sein Chi, war dabei, als er mitansah, wie seine Mutter tot aus dem Krankenhaus getragen wurde, kurz nachdem sie seine Schwester zur Welt gebracht hatte. Das war vor zweiundzwanzig Jahren, in dem Jahr, das der Weiße Mann 1991 nennt. Er war damals gerade erst neun, zu jung, um hinzunehmen, was das Universum ihm vorsetzte. Die ganze Welt, die er bis zu diesem Tag kennengelernt hatte, war plötzlich löchrig geworden und würde nie mehr sein wie vorher. Was sein Vater auch mit ihm unternahm, Fahrten nach Lagos, Ausflüge in den Zoo nach Ibadan oder in die Freizeitparks von Port Harcourt, selbst gemeinsame Videospiele – es half alles nichts. Nichts konnte den Riss in seiner Seele kitten.

Gegen Ende jenen Jahres, zu der Zeit, da die kosmische Spinne von Eluigwe zum dreizehnten Mal ihr üppiges Netz um den Mond spinnt, nahm ihn sein Vater, der zunehmend besorgt über den Zustand des Sohnes war, mit in sein Dorf. Er erinnerte sich, dass mein Schützling begeistert war von den Geschichten, wie er als kleiner Junge während des Krieges im Ogbuti-Wald Wildgänse gejagt hatte. Also nahm er seinen Sohn mit zur Gänsejagd in den Wald, wovon ich Euch zu gegebener Zeit berichten werde, Chukwu. Bei dieser Gelegenheit fing er auch die kleine junge Gans, den Vogel, der sein Leben verändern sollte.

Als sein Onkel erkannte, wie es um ihn bestellt war, blieb er vier Tage anstatt wie geplant nur einen. Er brachte das Haus auf Vordermann, kümmerte sich um die Hühner und fuhr mit ihm nach Enugu, um Futter und Vorräte zu kaufen. Während dieser Tage füllte Onkel Bonny, obwohl er stotterte, den Kopf meines Schützlings mit Worten. Größtenteils ging es um die Gefahren der Einsamkeit und dass er eine Frau an seiner Seite brauchte. Damit hatte er durchaus recht, zumal ich lange genug unter den Menschen gelebt habe, um zu wissen, dass die Einsamkeit ein bissiger Hund ist, der die lange Nacht des Kummers hindurch bellt. Ich habe das selbst oft miterlebt.

»Nonso, wehenn d-du dir nicht bald ei-eine Frau su-su-suchst«, sagte Onkel Bonny an dem Morgen, an dem er wieder nach Hause fuhr, »d-da-dann müssen deine Tante und i-ich das ma-ma-machen.« Der Onkel schüttelte den Kopf. »So-so kannst du jedenfalls nicht wa-weiterleben.«

So stark waren die Worte seines Onkels, dass, nachdem er gegangen war, in meinem Schützling neue Gedanken erwachten. Als wären an einem geheimen Ort die Eier seiner Heilung ausgebrütet worden, sehnte er sich plötzlich nach etwas, das er seit Langem nicht erlebt hatte: der Wärme einer Frau. Dieses Verlangen lenkte seine Aufmerksamkeit weg von den Gedanken an den Verlust. Er ging wieder aus und trieb sich in der Nähe des staatlichen Mädchencolleges herum. Anfangs beobachtete er die Mädchen neugierig aus den anliegenden Straßenlokalen. Er betrachtete ihr geflochtenes Haar, ihre Brüste, ihre gesamte Erscheinung. Schließlich sprach er eine an, bekam aber einen Korb. Mein Schützling, den die Umstände zu einem Mann mit geringem Selbstvertrauen gemacht hatten, beschloss, es kein zweites Mal zu versuchen. Ich flüsterte ihm ein, dass es praktisch unmöglich war, eine Frau gleich beim ersten Mal für sich zu gewinnen. Er schenkte meiner Stimme jedoch keine Beachtung. Ein paar Tage nachdem er abgeblitzt war, ging er in ein Bordell.

Chukwu, die Frau, in deren Bett er landete, war doppelt so alt wie er. Sie trug das Haar offen, wie es einst bei den großen Müttern Brauch war. Ihr Gesicht war mit einer pudrigen Substanz geschminkt, so wie es Männer wohl als einladend empfanden. Es ähnelte dem von Uloma Nezeanya, einer Frau, die zweihundertsechsundvierzig Jahre zuvor mit einem ehemaligen Schützling verlobt war (Arinze Iheme), jedoch noch vor der Wein-Zeremonie von den Sklavenräubern der Aro entführt wurde.

Die Frau zog sich vor ihm aus, ihr Körper war drall und durchaus attraktiv. Doch als sie ihn aufforderte, sie zu besteigen, konnte er nicht. Dies, Egbunu, war eine merkwürdige Erfahrung, ich hatte so etwas noch nie erlebt. Die starke Erregung, die seit Tagen andauerte, verschwand im selben Moment, als er seine Lust hätte stillen können. Er fühlte sich auf einmal wie ein kompletter Anfänger, völlig unerfahren in der Kunst der Liebe. Hinzu kam eine Reihe von Bildern, die vor seinem inneren Auge auftauchten – seine Mutter im Krankenhausbett, das Gänseküken, das wackelig auf einem Zaun hockte, und sein Vater, von der Totenstarre ergriffen. Zitternd kroch er aus dem Bett und bat darum, gehen zu dürfen.

»Was? Das ganze Geld für nichts?«, fragte die Frau.

Er bejahte, stand auf und griff nach seinen Sachen.

»Versteh ich nicht, dein Schwanz steht doch noch.«

»Biko, ka’m laa«, sagte er.

»Kannst du kein Englisch? Rede Pidgin mit mir, ich bin keine Igbo«, erwiderte die Frau.

»Okay, ich hab gesagt, ich will gehen.«

»Eh, na wa oh. Das hab ich noch nie erlebt. Aber ich will dein Geld auch nicht einfach so.«

Die Frau kletterte aus dem Bett und schaltete das Licht an. Erdrückt von ihrer prallen Weiblichkeit wich er zurück. »Keine Angst, keine Angst, entspann dich, ja?«

Er blieb stehen. Verängstigt gab er nach, als sie ihm die Kleider abnahm und zurück auf den Stuhl legte. Sie kniete sich hin, nahm seinen Penis in die Hand und umfasste mit der anderen seinen Hintern. Er erschauderte und wand sich unter ihrer Berührung. Die Frau lachte.

»Wie alt bist du?«

»Dreißig, ah-gh, dreißig.«

»Na, komm schon, wie alt bist du wirklich?« Sie drückte die Spitze seines Penis. Als er nach Luft schnappte und etwas sagen wollte, stülpte sie den Mund bis zur Hälfte über seinen Schaft. Mein Schützling murmelte noch schnell das Wort vierundzwanzig. Er versuchte, ihrem Mund zu entkommen, aber sie schlang den anderen Arm um seine Hüfte und hielt ihn fest. Während sie schmatzend seinen Schwanz lutschte, schrie er auf, knirschte mit den Zähnen und gab sinnloses Zeug von sich. Er sah bunt schillerndes Licht, dann Dunkel und spürte, wie ihm kalt wurde. Dieses komplizierte Durcheinander wütete in seinem Körper, bis er schließlich mit einem Schrei ausstieß: »Ich komme, ich glaub, ich komme!« Als sie sich wegdrehte, verfehlte sein Samen nur knapp ihr Gesicht. Er ließ sich auf den Stuhl fallen und hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Bestürzt und ausgelaugt verließ er das Bordell nach diesem Erlebnis, das schwer wie ein Sack Mais auf ihm lastete. Vier Tage später begegnete er der Frau auf der Brücke.

 

EZEUWA, als er an jenem Abend seinen Wagen von der Brücke steuerte, war ihm nicht klar, was er soeben erlebt hatte, nur dass es etwas Außergewöhnliches war. Er fuhr erfüllt nach Hause, ein Gefühl, das er lange nicht verspürt hatte. Zufrieden lud er die Hühner ab, sechs statt acht, und trug die Käfige in den Hof. Die Taschenlampe seines Handys leuchtete ihm den Weg. Nachdem er den Sack Hirse und die anderen Einkäufe aus dem Wagen geholt hatte, kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Chukwu!«, rief er und eilte ins Wohnzimmer. Er griff nach der Akkuleuchte, drückte den Schalter und sah das weiße Licht der drei Röhren schwach aufleuchten. Er drehte am Helligkeitsregler, aber es passierte nichts. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass eine der Birnen kaputt war und am oberen Ende einen Rußfleck hatte. Nichtsdestotrotz lief er hinaus, und als das schwache Licht auf den Käfig fiel, schrie er erneut auf. »Chukwu, oh! Chukwu!« Denn ihm wurde klar, dass eines der Hühner, die er von der Brücke geworfen hatte, der wollweiße Hahn war.

Akataka, es ist ein verbreitetes Phänomen unter den Menschen, Dinge ungeschehen machen zu wollen, zurückholen zu wollen, was bereits vergangen ist. Aber das funktioniert nie. Ich habe es selbst oft miterlebt. Und so rannte mein Schützling zu seinem Wagen, auf den inzwischen eine schwarze Katze geklettert war, die dort wie ein Wachmann ihren Blick schweifen ließ. Als er sie wegscheuchte, jaulte sie laut und stürzte ins nahe liegende Gebüsch. Er stieg in den Wagen und fuhr wieder hinaus in die Nacht. Es herrschte kaum Verkehr, nur einmal wurde die Straße von einem großen Sattelzug blockiert, der versuchte, auf eine Tankstelle zu fahren. Als er die Brücke erreichte, war die Frau von vorhin weg – und mit ihr ihr Wagen. Sie war also nicht von der Brücke gesprungen, sonst wäre das Auto noch da gewesen. Aber in diesem Moment war es nicht die Frau, um die er sich sorgte. Er lief hinunter ans Ufer, die nächtlichen Geräusche drangen an sein Ohr, während das Licht der Taschenlampe die Dunkelheit verschluckte wie eine Riesenschlange. Insekten schwärmten rund um den Strahl und bedeckten sein Gesicht. Hektisch wedelte er mit den Armen. Der Lichtschein folgte den Bewegungen seiner Hand und flackerte mal übers Wasser, mal ein paar Meter weit über das Flussufer. Hier und da lagen Lumpen und Müll herum, sonst war nichts zu sehen. Direkt unter der Brücke hörte er ein Geräusch. Mit pochendem Herzen fuhr er herum und entdeckte im Licht der Taschenlampe einen Korb. An manchen Stellen hatte sich der geflochtene Bast in lange verdrehte Fasern aufgelöst. Voller Erwartung eilte er auf ihn zu, um zu sehen, ob sich eines der Hühner in den Korb gerettet hatte.

Aber der Korb war leer, also richtete er die Taschenlampe auf das Wasser unter der Brücke, so weit der Schein reichte, doch auch dort nirgends eine Spur von den Hühnern. Er erinnerte sich an den Augenblick, als er sie heruntergeworfen hatte, wie sie mit den Flügeln geschlagen und vergeblich versucht hatten, sich am Geländer festzukrallen. Schon als er mit der Geflügelhaltung anfing, hatte er gelernt, dass Haushühner die schwächsten Tiere von allen sind. Sie konnten sich kaum verteidigen und aus keiner noch so geringen Gefahr retten. Genau diese Schwäche war es, die ihn so für sie einnahm. Anfangs liebte er alle Vögel, aber als er erlebte, mit welcher Brutalität ein Habicht eine Henne angriff, galt seine Zuneigung vor allem den schwachen Haushühnern.

Nachdem er das nächtliche Dickicht durchkämmt hatte, wie man im Fell eines Tieres nach Läusen sucht, kehrte er niedergeschlagen nach Hause zurück. Was er getan hatte, erschien ihm jetzt immer weniger nachvollziehbar und irrational. Vor allem dieser Gedanke machte ihm zu schaffen. Finsternis schleicht sich oft dann in das Herz eines Menschen, wenn er entdeckt, dass er jemandem unwissentlich Leid zugefügt hat. Die Seele kniet nieder und ergibt sich dem Alusi der Reue und der Schande und verletzt sich dabei selbst. In seinem Schmerz sucht der Mensch Heilung durch Wiedergutmachung. Hat er die Kleidung eines anderen beschmutzt, geht er vielleicht mit einem neuen Kleidungsstück hin und sagt, hier, mein Bruder, nimm dies im Tausch gegen das, das ich ruiniert habe. Hat er etwas kaputt gemacht, wird er versuchen, es zu reparieren oder zu ersetzen. Aber hat er etwas getan, das nicht rückgängig gemacht, oder etwas beschädigt, das nicht repariert werden kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich dem beruhigenden Zauber der Reue zu ergeben. Es ist ein rätselhaftes Spiel!

Ezeuwa, wenn mein Schützling eine Antwort auf etwas suchte, das er nicht verstand, erlaubte ich mir oftmals, ihm zu helfen. Bevor er also an jenem Abend zu Bett ging, schärfte ich ihm ein, am nächsten Morgen zum Fluss zurückzukehren. Vielleicht würde er die Hühner doch noch finden. Aber er hörte nicht auf meinen Rat. Er glaubte, die Idee sei ihm selbst gekommen, denn ein Mensch kann nicht zwischen dem unterscheiden, was ihm ein Geist eingeflüstert hat – selbst wenn es der eigene Chi ist –, und dem, was seine innere Stimme ihm sagt.

An jenem Tag versuchte ich noch mehrfach, ihn davon zu überzeugen, doch die Stimme in seinem Kopf widersprach jedes Mal, es sei zu spät, die Hühner seien bestimmt längst ertrunken. Worauf ich erwiderte, das könne er nicht wissen. Als es also Abend wurde und ich merkte, dass er nicht gehen würde, tat ich, was Ihr, Oseburuwa, uns Schutzgeistern nur im äußersten Notfall erlaubt. Ich trat aus dem Körper meines Schützlings heraus, während er bei Bewusstsein war. Ich tat dies, weil ich wusste, dass ich als sein Schutzgeist nicht nur Ratgeber war, sondern auch Helfer und Zeuge von Dingen, die er nicht wahrnehmen konnte. Schließlich betrachte ich mich als sein Vertreter im Reich der Geister. Ich stehe innerhalb meines Schützlings und verfolge jede Bewegung seiner Hände, jeden Schritt, jede Regung seines Körpers. Sein Körper ist für mich eine Leinwand, auf dem sich sein gesamtes Leben abspielt. Innerhalb eines Schützlings bin ich nichts als ein leeres Gefäß, gefüllt mit dem Leben eines Menschen, und erst das verleiht mir Wirklichkeit. Aus der Rolle des Zeugen verfolge ich seinen Weg, sein Leben ist mein Zeugnis. Trotzdem ist ein Chi im Körper seines Schützlings eingeschränkt. Er kann praktisch weder sehen noch hören, was im Reich des Übernatürlichen geschieht oder besprochen wird. Aber sobald er den Körper verlässt, erfährt er Dinge, die außerhalb des Menschenreichs liegen.

Kaum hatte ich meinen Schützling verlassen, brach um mich herum das gellende Getöse der Geisterwelt los, eine ohrenbetäubende Symphonie, die noch dem mutigsten Mann Angst eingejagt hätte. Die unterschiedlichsten Stimmen prasselten auf mich ein, Schreie, Heulen, Rufe, Gezischel, alle erdenklichen Geräusche. Es ist tatsächlich erstaunlich, dass, obwohl die Grenze zwischen der Welt der Menschen und der der Geister nur hauchdünn ist, man doch nicht das leiseste Flüstern hört, solange man den Körper nicht verlässt. Ein neu erschaffener Chi ist bei seinem ersten Aufenthalt auf der Erde sofort überwältigt von diesem Lärm und womöglich so verängstigt, dass er gleich wieder in seinen Schützling, die Festung der Stille, zurückeilt. So erging es mir und auch vielen anderen Schutzgeistern, denen ich in den Höhlen von Ogbunike, Ngodo und Ezi-ofi und bei den Pyramidenhügeln von Abaja begegnet bin. Besonders schlimm ist es in der Nacht, der Zeit der Geister.

Wann immer ich meinen Schützling verlasse, während er bei Bewusstsein ist, halte ich meine Ausflüge möglichst kurz, damit ihm in meiner Abwesenheit nichts passiert und er nichts unternimmt, wofür ich später nicht einstehen kann. Da aber die Strecke, wohin auch immer man geht, so ganz ohne Körper nicht dieselbe ist wie in einem Menschen, musste ich mir langsam den Weg durch das Gedränge von Benmuo bahnen, wo sich alle Arten von Geistern tummeln wie in einer Büchse unsichtbarer Würmer. Ich beeilte mich und erreichte den Fluss in einem Zeitraum von sieben Wimpernschlägen, konnte dort aber nichts finden. Tags darauf kehrte ich zurück, und bei meinem dritten Besuch schließlich entdeckte ich den braunen Hahn, den er von der Brücke geworfen hatte. Er war aufgedunsen und trieb jetzt steif und tot mit den Füßen nach oben im Wasser. Das Gefieder hatte einen kaum wahrnehmbaren Grauton angenommen, und der Bauch war nackt, als hätte etwas im Wasser die Federn abgefressen. Der Hals wirkte lang gezogen, die Falten tiefer. Ein Geier saß auf einem der Flügel, die flach ausgebreitet auf der Wasseroberfläche lagen, und musterte das tote Tier. Von dem wollweißen Hahn keine Spur.

Ebubedike, im Laufe meiner vielen Reinkarnationen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass alles, was einem Menschen widerfährt, schon lange zuvor in einem unterirdischen Reich stattgefunden hat und dass es im Universum nichts gibt, das nicht schon mal da gewesen ist. Die Welt dreht sich auf dem lautlosen Rad einer uralten Geduld, die alles warten lässt und in diesem Warten zum Leben erweckt. Das Unglück, das einen Menschen befällt, hat lange auf ihn gewartet – auf einer Straße, auf einem Schlachtfeld, bis seine Zeit gekommen ist. Ist dieser Punkt erreicht, reagiert der Mensch womöglich mit wütendem Unverständnis, genau wie alle anderen, die mit ihm fühlen, auch sein Chi. In Wirklichkeit ist dieser Mensch schon lange tot, und die Tatsache seines Todes lag nur verdeckt hinter dem seidenen Schleier der Zeit, der schließlich gelüftet wurde. Ich habe das selbst oft miterlebt.

Als er in jener Nacht schlief, trat ich wie so oft aus ihm heraus, um über ihn wachen zu können, da die Bewohner von Benmuo auf der Erde meist erst nachts aktiv werden, wenn die Menschen schlafen. Von dort aus schickte ich ihm das Bild von dem Hahn und dem Geier in sein Unterbewusstsein, denn am einfachsten übermittelt man seinem Schützling eine so rätselhafte Angelegenheit im Reich der Träume – ein empfindliches Reich, das ein Chi nur mit Vorsicht betreten darf, da es ein offen stehendes Theater ist und für jeden Geist zugänglich. Ein Chi muss sich zuerst von seinem Schützling lösen, bevor er dessen Traumwelt betreten kann. Das bewahrt den Chi außerdem davor, von fremden Geistern als ein Chi, der in unbewohntem Raum schwebt, erkannt zu werden.

Als ich die Bilder vor seinem Auge erscheinen ließ, zuckte er im Schlaf, hob eine Hand und krümmte sie zu einer schwachen Faust. Erleichtert seufzte ich auf, denn immerhin wusste er jetzt, was mit seinen Tieren passiert war.

 

GAGANAOGWU, die Trauer über die ertrunkenen Hühner hatte jeden Gedanken an die Frau auf der Brücke unterdrückt. Als sie jedoch allmählich verebbte, drängten erste Erinnerungen an sie in sein Bewusstsein. Er versuchte, sich ein Bild von ihr zu machen. Wie er im Dunkeln gerade mal hatte erkennen können, war sie mittelgroß und weniger fleischig als Miss J, die Prostituierte. Sie hatte eine helle Bluse und einen Rock angehabt. Und sie fuhr einen blauen Toyota Camry, ähnlich wie der seines Onkels. Wie Grashüpfer sprangen seine Gedanken von ihrem Aussehen zu der Frage, wie es ihr wohl danach ergangen war. Er machte sich Vorwürfe, dass er so schnell weitergefahren war.

Während er sich in den Tagen darauf um die Hühner und den Garten kümmerte, kreisten seine Gedanken weiter um sie. Fuhr er in die Stadt, hielt er Ausschau nach ihrem blauen Wagen. Nach einiger Zeit verspürte er Sehnsucht nach der Prostituierten. Wie ein Unwetter schwoll sein Verlangen an und ergoss sich über seine ausgedörrte Seele. Als es ihn eines Abends in das Bordell trieb, hatte Miss J keine Zeit für ihn. Die anderen Damen bedrängten ihn, bis ihn eine in ihr Zimmer zog. Sie hatte schmale Hüften und eine Narbe auf dem Bauch. Bei ihr fühlte er sich sicher, als wären ihm bei seiner letzten Begegnung sämtliche Naivität und Bedenken aus dem Leib geprügelt worden. Er gab sich ihr hemmungslos hin, und obwohl ich es meist vermeide, einem Schützling beim Sex beizuwohnen, weil es dem Tod so beängstigend nahekommt, blieb ich, denn es sollte sein erstes Mal sein. Als er fertig war, klopfte sie ihm auf die Schulter und lobte ihn.

Trotz dieser neuen Erfahrung fühlte er sich nach wie vor zu Miss J hingezogen, zu ihrem Körper, ihrem vertrauten Seufzen. Es wunderte ihn, dass er bei der einen zwar mehr erlebt, in Miss Js Händen jedoch größere Lust empfunden hatte. Als er drei Tage später ins Bordell zurückkam, ging er der anderen, die ihn gleich herzlich begrüßte, aus dem Weg. Miss J war diesmal frei. Sie schien sich nur flüchtig an ihn zu erinnern und zog ihn schweigend aus. Bevor sie loslegten, ging sie an ihr Handy und erklärte dem Anrufer, er solle in zwei Stunden kommen. Als die männliche Stimme offenbar protestierte, einigten sie sich auf anderthalb.

Sie hatten gerade begonnen, da fiel ihr sein letzter Besuch ein, und sie fing an zu lachen. »Seit ich dir neulich einen geblasen hab, kannst du nicht mehr klar denken, was?«

Er liebte sie mit einer Inbrunst, die seine Seele fiebern und ihn vollständig in diesem Moment aufgehen ließ. Aber kaum sank er neben ihr aufs Bett, schob sie seinen Arm beiseite und stand auf.

»Miss J«, rief er, den Tränen nahe.

»Ja, was ist?«, fragte sie und zog sich den Büstenhalter über die Brüste.

»Ich liebe dich.«

Egbunu, die Frau hielt inne, klatschte in die Hände und lachte. Sie machte das Licht an und kroch zurück ins Bett. Dann legte sie die Hand unter sein Kinn, äffte seinen ernsten Blick nach und lachte noch lauter.

»O mein Junge, du weißt nicht, was du da sagst.« Sie klatschte noch mal in die Hände. »Jetzt seht euch den Kerl an. Erzählt mir, dass er mich liebt. Ich fass es nicht. Nur weil er meinen hübschen Arsch haben durfte. Du liebst mich nicht, du liebst deine Mama.«

Sie schnippte mit den Fingern und brach erneut in Gelächter aus. Noch tagelang hallte es in ihm wider, als hätte die Welt selbst ihn ausgelacht, ihn, den kleinen, einsamen Mann, dessen einzige Sünde die Sehnsucht nach einer Frau war. Zum ersten Mal verspürte er das berauschende Gefühl einer Liebe, die anders war als das, was er für seine Vögel und seine Familie empfand. Es war ein schmerzhaftes Gefühl, denn mit ihm kam die Eifersucht, dieser Geist, der auf der Schwelle zwischen Liebe und Wahnsinn steht. Er wollte, dass sie ihm gehörte, und war jetzt schon eifersüchtig auf jeden Mann, der sie nach ihm haben würde. Er wusste nicht, dass einem nichts wirklich gehört. Nackt war er geboren, nackt würde er zurückkehren. Ein Mensch kann etwas so lange besitzen, wie es bei ihm bleibt. Lässt er es allein, verliert er es womöglich. Zu dem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass ein Mann für die Frau, die er liebt, vielleicht alles aufgibt, und wenn er zurückkommt, sie ihn vielleicht nicht mehr will. Ich hatte das selbst oft miterlebt.

 

Und so ging er, zerbrochen an etwas, das er noch nicht kannte, und beschloss, nie mehr wiederzukommen.

3

Erwachen

IJANGO-IJANGO, während meiner vielen Aufenthalte in der Welt der Menschen hörte ich die ehrwürdigen Väter in ihrer kaleidoskopischen Weisheit sagen, dass, wie groß auch immer der Schmerz ist, die Augen doch niemals blutige Tränen vergießen. Wie lange ein Mensch auch weint, am Ende sind es nur Tränen. Der Kummer mag noch so lange andauern, irgendwann geht er vorbei. Mit der Zeit wird der Verstand an Kraft gewinnen und die Mauer niederreißen. Dann ist er erlöst. Wie dunkel die Nacht auch sein mag, sie wird vergehen, und am Tag darauf errichtet Kamanu, der Sonnengott, sein prachtvolles Wappen. Ich habe es selbst oft miterlebt.

Vier Monate nach der Begegnung mit der Frau auf der Brücke hatte mein Schützling seinen Schmerz beinahe überwunden. Nicht dass er glücklich gewesen wäre, selbst die hellsten Tage durchzog am Rande ein düsteres Band. Aber immerhin war er zurück im Leben und offen für das Glück. Er nahm Kontakt zu seinem Freund Elochukwu auf, der ihn von da an regelmäßig besuchte und überredete, sich der MASSOB anzuschließen, einer Bewegung, die junge Igbos mit einem alten Besen zu einem Haufen Staub zusammenkehrte. Elochukwu, der immer eher schmächtig gewesen war, hatte inzwischen kräftige Oberarme, die er bei jeder Gelegenheit zur Schau stellte, indem er ärmellose T-Shirts oder Tanktops trug. »Nigeria ist gescheitert«, erklärte er meinem Schützling mit den Worten des Weißen Mannes, um dann wie so oft in der Sprache der Väter fortzufahren. »Ihe eme bi go. Anyi choro nzoputa!« Auf Elochukwus Drängen schloss er sich der Gruppe an. Abends trafen sie sich mit ihren schwarzen Baskenmützen und roten Hemden im Laden eines Autohändlers, inmitten von Fahnen mit einer halben Sonne, Landkarten und Bildern von Soldaten, die für Biafra gekämpft hatten. Sie stampften mit den Füßen auf den Zementboden und brüllten aus voller Lunge Parolen wie »Lang lebe Biafra« oder »MASSOB! MASSOB!«. Sie saßen zusammen und lauschten den Worten des Autohändlers Ralph Uwazuruike, dem Kopf der Gruppe. Mein Schützling begann endlich wieder zu reden und fiel durch sein breites Lächeln und spontanes Lachen auf. Ohne zu wissen, woher er kam und was er durchgemacht hatte, wurden diese Männer Zeugen der ersten Anzeichen seiner Heilung.