Schnoy, Sebastian Das bisschen Frieden

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Europa war nie das Problem, sondern immer die Lösung

Geschichte wiederholt sich nicht,
aber manchmal reimt sie sich.

Mark Twain

 

Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an einen unterschätzten Kontinent. Denn Europas Geschichte ist eine große Erfolgsstory. Hier wurde die Freiheit erfunden, die Formel, wie man aus Feinden beste Freunde macht, die Aufklärung, die Gewaltenteilung und das WC-Knie. Kurz, es gab einmal eine Zeit, in der Europa das Glück erfunden hat.

Dabei war jeder Fortschritt, der die Menschen weiterbrachte, eine Befreiung. Und ich meine nicht nur den Zugewinn an persönlichen Freiheiten, sondern auch jeden technischen Fortschritt. Auch er bedeutet meist Befreiung von Mühsal. So, zum Beispiel, als der Engländer John Tizack 1691 unter Patentnummer 271 seinen Geistesblitz der Waschmaschine anmeldete und damit das Waschen am Fluss und das anstrengende Reiben der Wäsche auf einem Waschbrett nach und nach für alle entfiel. Den ersten ernst zu nehmenden Kühlschrank, mit dem man ganzjährig Eis herstellen konnte, erfand 1876 mit Carl von Linde ein Deutscher. Auch hier dauerte es eine Weile, bis Geistesblitz, Fortschritt und Befreiung die Runde machten, aber irgendwann konnten alle Europäer ihre Speisen kühlen. Carl von Lindes Erfindung surrt noch heute, wenn auch mit anderen Kühlflüssigkeiten, in jedem Haushalt. Seit dreihundert Jahren steigt die Lebenserwartung in Europa rapide, da das Leben sauberer, gesünder und vor allem weniger anstrengend und damit komfortabler geworden ist – wären da nicht die anscheinend unausrottbaren Kriege.

Einige Konflikte lodern bis heute, andere wirken wie erloschen, gleichen aber nur einem schlafenden Vulkan, der jederzeit wieder ausbrechen kann. Wieder andere füllen täglich die Zeitungen. Angesichts von nicht enden wollenden militärischen Konflikten in der Welt, frage ich mich: Wieso können die Menschen nicht einfach in Frieden miteinander leben? Das kann doch nicht so schwer sein. Und tatsächlich, auch hier können wir wieder etwas in und von Europa lernen, denn hier hat es geklappt mit dem Frieden zwischen Staaten und Religionen. Okay, man hat nicht gerade den kürzesten Weg zum Frieden gewählt – im Gegenteil, vielleicht sogar den kompliziertesten –, aber heute ist für uns das Entscheidende, was am Ende dabei herausgekommen ist: ein vereinter Kontinent, bei dem es nicht mehr denkbar ist, dass ein Land die anderen überfallen könnte.

Europa verhielt sich auf dem Weg dahin wie die USA in der schönen Äußerung von Winston Churchill, der einmal gesagt haben soll: »Man kann sich immer darauf verlassen, dass die Amerikaner das Richtige tun, nachdem sie alles andere ausprobiert haben.« Genauso haben es die Europäer gemacht. Sie haben jeden Irrtum ausprobiert, jeden Holzweg beschritten, sind hohe Risiken eingegangen und haben sie teuer bezahlt. Unser kleiner Kontinent lag schon mehrmals geschwächt am Boden, geschunden, geplündert und zerschossen – und erst am Ende, als alle Schlachten vergeblich geschlagen waren, fand man zueinander.

Aber im Ergebnis wurden – vielleicht auch gerade wegen all des Leids, das es früher gab – Waffen und Gewalt in Schränke geräumt und aus schlimmen Feinden beste Freunde. Aber wieso? Welche Formel, welcher Trick wurde angewendet? Und wie können wir diese Tricks auf die letzten Krisenherde übertragen, die weiter vor sich hin glimmen, lodern oder immer wieder Feuer fangen? Damit endlich alle Menschen auf der Welt Frieden genießen können? Dafür enthält dieses Buch großartige Glücksmomente der europäischen Geschichte aus Belfast, Berlin, Rom und vielen anderen Orten. Es sind Geschichten, die uns Kraft geben und die zeigen: Es kann auch gut gehen.

Nicht nur viele Regierungen haben irgendwann begriffen, dass Krieg keine Lösung sein kann, oft haben auch einzelne Menschen ganz allein versucht den Weltfrieden zu retten, wie Georg Elser 1939. Er hätte es fast geschafft Hitler zu stoppen, kurz nachdem dieser Polen angegriffen und besetzt hatte, aber noch bevor er ganz Europa in Brand stecken und den millionenfachen Mord an Juden organisieren konnte. Es fehlte nur dreizehn Minuten und Elser hätte das Wunder vollbracht und den Diktator in München pulverisiert. Der Russe Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow hat 1983 vielleicht wirklich verhindert, dass in Europa ein Nuklearkrieg ausbrechen konnte. Er überwachte in den Achtzigerjahren den Luftraum über der Sowjetunion. Als mitten in der Nacht seine Monitore einen massiven Angriff westlicher Raketen anzeigten, kam er zu dem Schluss, es könne sich nur um einen Fehlalarm handeln, und machte sich einfach einen Kaffee. So einfach kann Widerstand gehen den Krieg manchmal sein: einfach Kaffee trinken. Vor allem, wenn andere erwarten, dass man stattdessen in den Kampf zieht. Schon einmal hat ein einzelner Russe den atomaren Krieg verhindert und damit Europa ganz allein gerettet, wenn auch von einem Ort an einem ganz anderen Ende der Welt. Wassili Alexandrowitsch Archipow weigerte sich 1962 auf einem russischen U-Boot vor Kuba atomare Raketen zur Verteidigung abzufeuern, obwohl das U-Boot von amerikanischen Kriegsschiffen entdeckt und mit Seeminen attackiert wurde. Er und seine Besatzung waren in Lebensgefahr. Trotzdem verweigerte er als nur einer von drei Offizieren an Bord, die Freigabe für die Atomraketen. Die Kubakrise war schon so sehr gefährlich, mit russischen Atomraketen am kubanischen Himmel wäre sie höchstwahrscheinlich eskaliert, ein Dritter Weltkrieg war nur noch einen Knopfdruck entfernt. Nun waren die Herren Archipow und Petrow Russen, aber wir sollten uns daran gewöhnen, Europa mit Russland zu denken, denn das Herz Russlands schlägt im Westen, seit Jahrhunderten will es zu Europa gehören, und wenn wir es schaffen, die Russen dauerhaft in das europäische Projekt mit einzubeziehen, wäre das für alle ein großer Gewinn.

Einige haben schon als junge Menschen versucht, den Frieden zu retten, wie Hans und Sophie Scholl 1943. Oberst Stauffenberg und seine Mitverschworenen wurden später posthum gefeiert, viele vergessen, doch fast alle bezahlten ihren Mut mit dem Leben. Da wir heute wissen, dass das Leben das Heiligste ist und wir es schützen müssen, auch und besonders unser eigenes, widme ich mich auch der Frage, wie wir uns für das Gute einsetzen können, ohne selbst Schaden zu nehmen. Oft haben sich Menschen mit den Richtigen verbündet und waren im richtigen Moment mutig. Alles eine Frage von Auswahl und Timing, könnte man sagen.

Hinter allen Errungenschaften, die wir heute genießen, vom Frieden bis zur Demokratie, stehen die Geschichten der Menschen, die sie für uns errungen haben. Und wir sind bis heute mit ihnen verbunden. Gerade wer Geschichte verstaubt findet und lieber den Blick in die Zukunft richtet, sich für Digitalisierung und Vernetzung interessiert, wird staunen, dass Geschichte genau das ist. Der große Datenhaufen von allem, was schon passiert ist, und unsere Vernetzung mit allen diesen Ereignissen. Die Evolution, nicht nur von Waschmaschinen und Kühlschränken, sondern auch von Menschen und ihrem Leben, die Wiederholung von Kausalitäten und Chaos, gerade dies macht Geschichte so spannend.

Schon der Umstand, dass sich die meisten nicht für Geschichte interessieren, sondern sagen, dass sie lieber in die Zukunft schauen, verbindet sie mit allen Menschen, die jemals vor ihnen gelebt haben. Ob Senatoren im Alten Rom, Bauern im Mittelalter oder Matrosen in der Revolution von 1918, alle interessierten sich immer nur brennend für die Zukunft. Ob Thomas Müntzer, Maria Stuart, Lenin oder Maggy Thatcher, jede einzelne historische Figur arbeitete an der Zukunft. Die Vorstellung, wie die Zukunft aussehen wird oder aussehen sollte gibt es schon so lange, wie es Menschen gibt, deshalb ist die »Geschichte der Zukunft« für sich ein spannendes Thema. Ganz abgesehen davon, dass es meistens anders kam, als man dachte.

Die Erwartung, alles würde so bleiben, wie es ist, stellte sich in der deutschen Ständegesellschaft um 1500 als ebensolcher Irrtum heraus wie die Vorstellung Erich Honeckers, es würde in der DDR noch hundert Jahre alles so weiterlaufen. Prognosen, was die Zukunft betrifft, liegen immer daneben. 1913 konnte sich niemand in Europa vorstellen, dass ein Weltkrieg vor der Tür stand. 1917 konnte sich kein Deutscher vorstellen, dass man den Krieg verlieren könnte. 1920 konnte sich niemand vorstellen, dass die wirtschaftliche Party einmal zu Ende geht. Aber schon 1923 konnte man sich nicht vorstellen, dass die Krise jemals wieder aufhört. 1972 prognostizierte der Club of Rome das Ende des Wachstums. Seitdem ist die Weltwirtschaft um mehr als 3000 Prozent gewachsen. 2007 konnte sich in den USA niemand vorstellen, dass es keine gute Idee ist, ein Haus zu kaufen, denn sein Wert würde sich ständig, rasant und bis in alle Ewigkeit steigern. Kurz darauf stürzte das Platzen der Immobilienblase die Welt in die größte Finanzkatastrophe seit einhundert Jahren. Heute kann man sich in Deutschland nicht vorstellen, dass es keine gute Idee sein könnte, ein Haus zu kaufen, denn die Immobilienpreise steigen stetig, kräftig und – bis in alle Ewigkeit?

Die meisten Dinge, die unser Leben heute bestimmen, waren nicht vorhersehbar. Leute, die Prognosen abgeben, schreiben meist einen Trend linear weiter, zum Beispiel den Bevölkerungszuwachs. Doch alle Segnungen des modernen Lebens von der Elektrizität, der Eisenbahn bis hin zu Handys und Internet, medizinische Fortschritte oder auch Frauen, die selbst entscheiden, wie sie leben und welchen Beruf sie ergreifen möchten, konnte man sich, bevor diese auftauchten, nicht vorstellen. Nur in den Köpfen der Erfinder und Erfinderinnen, die die Welt anders dachten, als sie vorhanden war, mit Waschmaschinen, als noch alle zum Fluss gingen, mit Flugzeugen, als alle noch am Boden blieben. Die Welt anders sahen auch Feministinnen, die das Leben mit freien Frauen schon dachten, als diese noch unfrei waren, oder Männer, die sich fragten, was daran falsch sein kann, wenn man einen anderen Mann liebt. Nur in den Köpfen ist, wenn wir unseren Gedanken freien Lauf lassen, die Welt von morgen, wie sie sein sollte, schon heute klar zu sehen. Und diese Vision von einem friedlichen und glücklichen Miteinander ist wie der Bauplan für ein Haus, das jederzeit gebaut werden kann. Es lohnt sich, wenn man sich darüber Gedanken macht, wie die Welt aussehen könnte, damit sie so wird, wie wir sie uns wünschen, denn diese Gedanken sind der Anfang jeder Veränderung. Wie gefährlich sie jenen werden können, deren Macht durch Unrecht gesichert wird, zeigt eine Äußerung, die Stalin zugeschrieben wird: »Gedanken sind mächtiger als Waffen. Wir erlauben es unseren Bürgern nicht, Waffen zu führen – warum sollten wir es ihnen erlauben, selbstständig zu denken?« Aber, wo ich schon Stalin zitiere. Gibt es nicht auch viele Gründe, warum es besser ist, ein Diktator zu sein und alle Macht in den eigenen Händen zu bündeln? Und ist es nicht auch ein Naturgesetz und damit ein Naturrecht, dass man, wenn man auf eine Mine mit Schokoküssen trifft, diese alle für sich allein behalten will, anstatt sie zu teilen oder die Kontrolle über die Schokoküsse gar irgendwelchen demokratischen Gremien anzuvertrauen? Sind Haben-wollen und Alles-haben-wollen nicht zutiefst menschliche Züge? Hatte dieses Naturrecht nicht schon der Frühaufklärer Thomas Hobbes formuliert? Dass das Recht auf die eigene Existenz, auf das Leben eben nicht nur die Erschließung des Lebensnotwendigen rechtfertigt, sondern auch all dessen, was vielleicht mal lebensnotwendig werden könnte? Eine Leibgarde, ein Hubschrauber oder Hunderte von Schuhen, die aufgebrachte Rumänen in den Privatgemächern von Elena Ceaușescu fanden, Frau des kommunistischen Diktators Nicolae Ceaușescu? Spätestens, wenn 500 Paare unbrauchbar sein sollten, bedarf es eben eines 501. Paars Schuhe. Und wenn es die Turnschuhe für die Flucht vor den revoltierenden Menschen sind, die gerade den Palast gestürmt haben. Insofern ist es ganz frei nach Hobbes auch gerechtfertigt, dass die gesamten Steuereinnahmen des Staates als persönliches Einkommen des autokratischen Herrschers betrachtet werden. Geld kann man schließlich immer gebrauchen.

Der soziale Fortschritt macht einem den ganzen Führungsjob madig. Bei freien Wahlen ist es möglich, dass man erst gar nicht gewählt wird oder gar eine Koalition mit einer Partei eingehen muss, die man hasst. Freie Gerichte, die einem mit der Amtsenthebung drohen, sind ebenso gefährlich wie eine freie Presse, die an der Übertragung des Außenministeramts an einen engen Verwandten rumnörgelt. Dabei weiß doch jeder, dass Bruder Klaus die beste Wahl für den Job ist! Im Übrigen lassen sich die Regierungsmitglieder besser motivieren, wenn man einen ihrer Kollegen direkt am Kabinettstisch erschießt, so wie es einmal der irakische Diktator Saddam Hussein gemacht haben soll.

Doch weil selbst Diktatoren ganz genau wissen, dass sie böse sind und am Ende immer das Gute gewinnen wird, spüren sie die Gefahr, in der sie sich permanent befinden. Deshalb können sie einfach nicht entspannen. Diktatoren wissen, dass sich viele ihrer Untertanen nichts sehnlicher wünschen als ihren Tod. Darum benötigen sie Leibwächter, Vorkoster, Privatjets und gepanzerte Limousinen. Saddam Hussein ließ sich einen Luxusbunker mit Whirlpool errichten, doch am Ende lebte er wochenlang in einem Erdloch, bevor er entdeckt und gehängt wurde. Und selbst die Diktatoren, die es schafften, bis zu ihrem Tod im Amt zu bleiben, wie zum Beispiel Stalin, wurden noch posthum von ihrem Thron gestoßen. Stalins Leichnam wurde schon bald nach seinem Tod aus dem großen Lenin-Mausoleum entfernt. Fünfhundert Schaulustige waren bei seiner Beerdigung todgetrampelt worden, gestorben bei der letzten Ehre für den Gestorbenen, seither liegt er in einem bescheideneren Grab an der Kremlmauer. Auch der spanische Diktator Franco wurde von fast einer halben Million Menschen geehrt, als er starb. Sie schritten an seinem Sarg vorbei, vielleicht wollten einige auch nur sichergehen, dass der Despot wirklich tot war. Endlich wird in Spanien darüber diskutiert, ob man den Diktator nicht aus seinem protzigen Mausoleum entfernen sollte, denn es ist inzwischen zum beliebten Treffpunkt von Rechtsradikalen geworden. Diktatoren haben die Macht, sämtliche große Plätze und Straßen nach sich benennen zu lassen. Doch am Ende hat das Böse keine Chance. So sind alle Stalinalleen, Hitlerplätze und Franco-Schulen inzwischen umbenannt worden. Sogar der Vorname Adolf ist in Deutschland verpönt.

Doch mit dem Sturz oder dem Tod eines Diktators und der Umbenennung von Alleen und Plätzen ist es leider nicht getan, denn hinter ihnen steht ein großer noch lebender Teil der Bevölkerung, die ihnen bis zum Schluss die Treue hielten und vom Unrecht lebten. Die Frage ist also: Können Feinde, die sich Jahre oder Jahrzehnte umgebracht und verraten haben, irgendwann Freunde oder zumindest Partner werden?

Die Antwort lautet: Ja! Die Europäische Gemeinschaft hat es im Zuge ihrer Einigung geschafft, gleich zwei Militärdiktaturen, nämlich Spanien und Griechenland, zu Demokratien zu machen. Großbritannien und Frankreich verband eine viele Jahrhunderte dauernde Feindschaft. Noch vor wenigen Jahrzehnten verdienten beide Länder in ihren Kolonien ihr Geld mit Menschenhandel und Raub. Heute haben sie keine Kolonien mehr, schafften sogar den Sklavenhandel zusammen mit anderen Europäern offiziell ab und haben heute sogar einen Tunnel, der beide Länder miteinander verbindet. Von den Erbfeinden Deutschland und Frankreich ganz zu schweigen. Mein Großvater kannte noch den Spruch: »Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos.«

Dass ich in diesem Buch heiter-sarkastische Parallelen zwischen Diktaturen, Revolutionen und Geistesblitzen ziehen darf, zeigt schon, dass die Menschheit besser ist als ihr Ruf. Ich darf heute Scherze machen, für die mein Großvater noch ermordet worden wäre. Doch es gab sie immer, die Propheten des Fortschritts, selbst im Faschismus in Deutschland, Italien oder Ungarn, auch in Polen und der Tschechoslowakei zu Zeiten der kommunistischen Unterdrückung und auch in den späten Militärdiktaturen in Spanien und Griechenland. Wenn man die Tür kannte, an der man klopfen konnte, zogen sie einen hinein in ihr Versteck der Vernünftigen. Halfen einem und sprachen Mut zu. Doch ich möchte mich mit den Despoten der Weltgeschichte nicht zu lange beschäftigen. Denn dies ist kein normales Geschichtsbuch, hier fehlen die vielen Kriege, von denen immer berichtet wird. Wenn wir in normale Geschichtsbücher schauen, reiht sich eine Katastrophe an die nächste. Kriege, Epidemien, Untergänge. Wer sich nachts vor einen History Channel im Fernsehen setzt, wird den Eindruck gewinnen, dass eigentlich immer geschossen wurde und sich vorher, mangels Gewehren, mit anderen Mitteln der Schädel eingeschlagen wurde. Krieg war anscheinend ein Dauerzustand und wurde stets mit bedrohlicher Musik untermalt.

Dieses Buch entspricht eher einem privaten Fotoalbum. Denn keiner würde doch Fotos von Grabsteinen, Beerdigungen, Scheidungen und vom Gerichtsvollzieher in sein Familienalbum kleben. Privat überlegen wir genau, mit wem wir Zeit verbringen wollen. Wenn man ein Buch liest, ist es, als ginge man mit den Personen, die darin vorkommen, in ein Restaurant. Man hört von ihren Gedanken und allem, was sie gemacht haben. Ganz ehrlich: Wollen Sie lieber einen Abend mit Hitler und Stalin verbringen oder lieber einen mit Rousseau, Montesquieu, Jeanne d’Arc und Sophie Scholl? Ist es nicht anregender, beim Essen über die Aufklärung, Vernunft und Freiheit zu sprechen, als darüber, wer am meisten Menschen ermordet hat? Diese Geschichte des Guten, Wahren und Schönen geht meist unter im Lärm der Katastrophen. Doch so wichtig es ist, Unrecht anzuprangern, sich zu empören über das Elend in der Welt, so wichtig ist es mindestens auch, nicht den Mut zu verlieren, dass wir die Dinge zum Guten wenden können. Das hat – anders als man beim Zappen zwischen History Channel und Nachrichtenkanälen denken könnte – schon so oft geklappt, dass wir uns diese Geschichten merken müssen. Denn nur sie geben uns Kraft.

Die Bösen haben viele Fans, aber von einem bin ich hundertprozentig überzeugt: Die Welt retten werden die Netten. Allerdings nur, wenn sie endlich auf den Tisch hauen! Für sie ist dieses Buch geschrieben. Für jene, die bei Partys und Familientreffen lieber die Klappe halten, wenn sich die Vollpfosten mal wieder trauen, ihren Stumpfsinn zu verbreiten. Dieses Buch liefert neue Munition für müde Aufklärer. Drücken wir den Scharfmachern die Wahrheit ins Gesicht wie eine Handvoll Schnee im Januar. Auf dass sie endlich wieder aufwachen und zur Vernunft kommen.

Was der wichtigste Punkt für dieses Buch sein soll: Wir ähneln unseren Vorfahren vor allem mit unserem Bestreben, einen guten Tag zu haben, wenn wir aufgewacht sind, einen Tag ohne Mühsal, ohne Schmerz, dafür mit Genuss und Freude. Gleich ist Mittagspause, nachher ist Feierabend, und ich werde etwas Gutes essen, was ich mag, mit Menschen, die ich gerne um mich habe. Das ist der Regieplan der meisten Menschen, eine gute Zeit zu haben, und wenn die Umstände widrig sind, man zu viel arbeiten muss oder aus anderen Gründen unter Strom steht, werden diese Wohlfühlinseln zwar kürzer, aber dafür umso wichtiger. Die Minuten, die Kellner am Hintereingang eine Zigarette rauchen und lachen, während drinnen Gäste den Hauptgang auf dem Tisch haben. Die wunderbaren Minuten allein unter der Dusche, die für junge Mütter oder Väter oft ein wichtiger Moment des Für-sich-Seins sind, wenn die eigenen Kinder noch klein sind und einem keine freie Minute lassen. Dieses Streben, es sich möglichst angenehm zu machen, wirkte selbst in dunkelsten Zeiten. Zum Beispiel im Krieg. Was sind für einen Soldaten die wichtigsten Momente an einem Tag? Der Kampf? Der Sieg?

Weit gefehlt. Die wichtigsten Momente für einen Soldaten im Krieg sind die Pausen nach endlosen Märschen, die Gespräche mit den anderen, denen man ebenso die Freiheit genommen hat, den Tag so zu verbringen, wie sie es wollen. Es sind die Witze, die so gut sind, dass man auch dann noch lachen muss, wenn man leidet. Ein Lied, das das Herz öffnet. Und natürlich, was es zu essen gibt, und die Freude darüber, dass das Nachtlager weicher ist als am Tag zuvor. Dieses Streben nach Glück – nach ein bisschen persönlichem Frieden – ist der eigentliche rote Faden der Geschichte, seit es Menschen gibt.

Grenzenloses Glück

Grenzen sind Narben der Geschichte.

 

Bevor die Menschen begannen, die Erde zu besiedeln, gab es auf der Welt keine Grenzen. Die ursprünglichen Bewohner unseres Planeten, die schon lange vor uns da waren, sind auch heute noch unsere Nachbarn, und wir können viel von ihnen lernen, zum Beispiel von den Störchen. Sie reisen in jedem Jahr, ganz ohne Papiere, von Nordeuropa nach Afrika und machen das, was wir eigentlich alle tun sollten: dem schönen Wetter folgen. Wieso verbringen wir nicht auch den Winter in Afrika, den Frühling am Mittelmeer, den Sommer an der Ostsee und den Herbst wieder in Andalusien? Jetzt mal ernsthaft, weil wir eine Wohnung in Hannover haben? Wer hat sich denn so was ausgedacht?

Sicher gibt es auch viele Tiere mit fester Adresse, etwa den Eisfrosch, der nicht so weit hüpfen wie der Storch fliegen kann und nur deshalb in seinem Teich mitsamt dem Wasser im Winter einfriert. Zum Glück friert sein Gehirn mit ein, sodass er in den endlosen Eis gewordenen Wochen nicht denken kann: »Was, zur Hölle, mache ich hier eigentlich?«

Doch seine wunderbare Anpassung an die Natur zeigt, dass wir auch von ihm nichts gelernt haben. Durch den Umstand, dass er mit gefrorenem Gehirn nicht denken kann, ist der Winter für ihn gefühlt ein kurzer Augenblick. Vier Monate Eis und Schnee fühlen sich für ihn so an: »Huch, es wird ja kalt. Oh, schön, es wird wieder warm.« Nur wir Menschen verbringen den monatelangen Winter in vollem Bewusstsein. Wie blöd kann man sein?

In der Natur gibt es keine Grenzen, man kann in ihr nur an seine eigenen stoßen. Der Übergang vom Land zum Meer ist für viele so eine Grenze, doch was würden Seehunde und Pinguine dazu sagen? Sie kennen diese Grenze nicht. Seemöwen machen nicht nur an Land und im Wasser, sondern auch in der Luft eine gute Figur, hocken auf den Felsen, fliegen tagelang aufs Meer hinaus und lassen sich, wenn es unter der Wasseroberfläche etwas zu essen gibt, einfach hineinfallen. Zur Verdauung machen sie ein Schläfchen auf dem Ozean. Ich glaube, Seemöwen könnte man am schlechtesten erklären, was eine Grenze ist. Sie würden es einfach nicht begreifen.

Warum gibt es überhaupt Grenzen? Es gibt sie erst, seit Menschen sich streiten. Auch deshalb sind Grenzen die Narben der Geschichte. Und von ihnen gab und gibt es viel zu viele. Sie markierten immer den Machtbereich eines Herrschers: In seinem Tal bis hinauf zu den Bergen konnte er Steuern erheben und sich den Bauch mit dem von seinen Untertanen abgepressten Gütern vollschlagen. Auf der anderen Seite der Berge im nächsten Tal unterdrückte ein anderer Despot die Menschen, deshalb war der Bergkamm die Grenze. Wir haben uns schon so an Grenzen gewöhnt, dass sie uns natürlich erscheinen, dabei sind sie immer Menschenwerk.

Flüsse scheinen uns stimmige Grenzen zu sein, dabei wurden sie erst in der jüngeren Geschichte zu Grenzen, einst war ihr natürlicher Charakter viel prägender. Flüsse trennten nicht, sie verbanden als Wasserstraßen Menschen über Hunderte von Kilometern. Es gab nicht die Menschen diesseits und jenseits des Flusses, es gab nur die Menschen am Fluss, die dieselben Geschichten erzählten, ob als Schiffer, Fährmann, Fischer und Angler mit ihren Familien, die im Rhythmus von Hoch- und Niedrigwasser lebten und die sowohl die Liebe zum als auch der Respekt vor der Gewalt des Flusses verband. Wie absurd Flüsse als Grenzen sind, zeigt die Geschichte der DDR-Grenze an der Elbe zwischen Schnackenburg und Lauenburg. Vierzig Jahre stritten sich die DDR und die Bundesrepublik darum, ob die Grenze nun in der Flussmitte oder an der Nordseite verlaufen würde, derweil immer wieder Kühe und Schafe – die einzigen DDR-Einwohner, die sich vor dem Zaun auf den Elbwiesen aufhalten durften – kurzerhand durch die Elbe schwammen und in Hitzacker Asyl beantragten. Die Störche haben diese vierzig Jahre Grenz-Irrsinn auf ihren Flügen von Norden nach Süden und umgekehrt nicht mal registriert.

Aber sind Grenzen nicht auch ein Schutz gegen Fremde? Wir haben ja schließlich auch einen Gartenzaun gegen Strolche, die auf unser Grundstück wollen, ist es da nicht nur natürlich, dass auch die Nation ihr Grundstück einfriedet mit Zäunen und Mauern gegen Einbrecher und anderes Gesindel? Gegen Feinde? Zum Beispiel gegen die Barbaren auf der anderen Seite der Berge, die uns überfallen wollen? Natürlich haben Herrscher immer probiert und probieren noch heute, ihren Machtbereich auszudehnen und andere Länder zu überfallen. Deshalb können den dortigen Bewohnern Grenzen auch als Schutz erscheinen gegen Eindringlinge. Doch primär markieren sie einen Machtbereich. Zunächst den eines adligen Herrschers, eines Grafen, Herzogs, Großherzogs, Königs oder anderen Verbrechers, die den Menschen Schutz vor Gewalt boten, wenn diese bereit waren, ihre Herrschaft anzuerkennen. Taten sie es nicht, waren sie es selbst, die diesen aufmüpfigen Untertanen den Kopf abschlugen, damit allen klar war, von welcher Gewalt hier eigentlich die Rede war.

Der Herrscher konnte auf seinem begrenzten Territorium nicht nur die eigenen Untertanen ausnehmen, sondern auch die, die sein Machtgebiet durchqueren wollten, zum Beispiel mit Salz im Gepäck. Die Warenströme waren vor tausend Jahren noch gering, man fraß, was vor der Haustür wuchs, wie die Schafe von Schnackenburg. Salz jedoch musste gekauft werden. Im deutschen Mittelalter war der Handel mit Salz so prägend, dass zahlreiche Straßen als Salzstraßen bezeichnet wurden. In manchen Regionen wurde es abgebaut, an Händler verkauft, die es über weite Strecken transportierten. Ein Teil des Preises wurde aber nicht durch die aufgerufen, die das Salz herstellten oder es transportierten und verkauften, sondern durch die ehemaligen Raubritter, die sich inzwischen eigene Zöllner zugelegt hatten. Deren einzige Leistung bei dieser Wertschöpfungskette bestand darin, sich den Händlern in den Weg zu stellen und zu sagen: »Passt auf, wenn ihr hier rein wollt mit eurem Salz und ihr das Zeug an unsere Leute verkaufen wollt, müsst ihr uns Geld geben.« Da half auch ein »Nee, sorry, ich will euer Land nur durchqueren und das Salz in Dänemark verkaufen« nichts, denn neben dem Einfuhrzoll und dem Ausfuhrzoll, war auch der Transit-Zoll schnell erfunden.

Das Geld bekamen und bekommen bis heute Leute, die nichts tun, außer einen Schlagbaum zu bauen und ihn vor Kutschen oder Lkws abzusenken. Warum können sie das? Weil sie die Gewalt dazu haben. So wie ein junger Schläger, der Samstagnacht auf uns zukommt und sagt: »Gib mir eine Zigarette, dein Handy und deine Jacke, sonst hau ich dir auf die Fresse.« Was unterscheidet heutige Zöllner von diesem Schläger, von den Raubrittern des frühen Mittelalters und von Piraten im heutigen Somalia? Nichts. Man muss nur das Wort Salz durch Stahl oder Automobile ersetzen, um in der Gegenwart zu landen. Hier drei seit mehr als tausend Jahren bekannte Zollregeln, die bis heute durch nichts zu rechtfertigen sind:

  1. Ihr wollt eure Waren bei uns verkaufen? Das kostet extra.
  2. Ihr habt hier Waren hergestellt und wollt sie woanders verkaufen? Das kostet extra.
  3. Ihr wollt hier mit euren Waren einfach nur durchfahren? Das kostet extra.

Die Vorstellung von Grenzen als Narben der Geschichte ist deshalb so treffend, weil die meisten aufgrund von gewaltsamen Auseinandersetzungen entstanden sind, also als Ergebnis eines Krieges. Aber dieses Bild lässt auch eine Hoffnung zu. Narben könnten auch wieder verheilen und fast unsichtbar werden. Doch im Moment sind die Schlagzeilen voller Forderungen nach neuen Grenzen. Donald Trump hat die US-Wahl nicht zuletzt mit der Forderung nach einer Mauer als Grenze zu Mexiko gewonnen. Sogleich brachte sich der deutsche Baukonzern Hochtief als Partner ins Gespräch. Gerade waren sie mit der Elbphilharmonie fertig geworden. Da kommt einem sofort der alte Spruch in den Sinn: »Beton, es kommt drauf an, was man draus macht.« Nach öffentlicher Empörung zog Hochtief die »Erwägung zur Bewerbung« schnell wieder zurück. Dabei wäre es für die Mexikaner ein Grund zum Durchatmen gewesen. Wenn eine Firma, die ewig braucht, um ein einziges Gebäude zu errichten, den Job für die Errichtung einer viele Tausend Meilen langen Grenze bekommt, dann können sie der Schließung der Grenze gelassen entgegensehen.

Seit es Grenzen gibt und solange Grenzen bestehen, werden Menschen versuchen, diese zu überwinden, versuchen hineinzukommen oder herauszukommen. Leute, die anderen einen illegalen Grenzübertritt ermöglichen, nennt man bei uns Schlepper. Und Schlepper sind böse und kriminell, das haben wir beim Zeitungslesen gelernt, denn sie verdienen Geld mit der Not der Menschen. Ich wusste gar nicht, dass es verboten ist, mit der Not der Menschen Geld zu verdienen. Mein Nachbar ist Apotheker, der macht das jeden Tag.

Und Profis seien die Schlepper, heißt es. Na so was! Es ist ein irrer logistischer Aufwand, Schlauchboote aus China an die lybische Küste zu bekommen. Dann Flüchtlinge in Minibussen nachts durch kontrollierte Grenzgebiete zu schmuggeln, in denen man jederzeit der Polizei oder den Grenztruppen begegnen kann. Da ist es doch recht erfreulich, wenn das Profis machen. Stellen wir uns mal die Schlepper als Familienbetrieb vor, der das schon seit vier Generationen macht, dann sehen wir, dass das Wort Schlepper noch nicht sehr alt ist. Gestern noch Fluchthelfer, heute Schlepper.

Sie würden die Menschen in Schlauchboote zwingen, wird ihnen vorgeworfen. Dabei ist das Gegenteil der Fall, niemand darf in die Schlauchboote steigen, wenn er nicht viel dafür bezahlt hat. Da drängt sich doch die Frage auf, ob es vielleicht nicht der Schlepper ist, der die Menschen ins Schlauchboot zwingt, sondern die EU-Gesetze?

Selbst Familien aus Syrien, denen in Aleppo die eigene Wohnung weggebombt wurde, durften nicht in der Türkei einen Flug nach Deutschland buchen, nein, auch sie mussten sich an der türkischen Küste zu den Schlauchbooten vorkämpfen. Als in unserem fiktiven Familienunternehmen noch der Vater aktiv war, war der Renner der Grenzübertritt von der DDR in den Westen. Dafür gab es noch das Bundesverdienstkreuz. Der Opa war sogar noch in den Pyrenäen aktiv. Gerade Künstler wie Heinrich Mann, völlig unsportlich, musste man erst mal über die Pässe bekommen, ein schweißtreibender Job, der natürlich bezahlt werden muss. Was wäre gewesen, wenn es in Amsterdam 1943 schon so gut organisierte Schlepper gegeben hätte wie heute in Libyen oder der Türkei? Hätte dann Anne Frank mit ihrer Familie in ein Schlauchboot steigen und nachts auf eine britische Kanalinsel übersetzen können?

Was oft untergeht, heute, wo wir wieder so viel über Grenzen reden: Selbst den Überlebenden des Holocaust war es in Europa nicht gestattet, Grenzen zu überschreiten. Viele Juden, die dieses Grauen überlebt hatten, wollten nach Palästina, wo gerade der Staat Israel gegründet wurde. Doch jeder Grenzübertritt war illegal. Trotzdem schafften es 4515 jüdische Flüchtlinge, darunter mindestens 655 Kinder bis nach Marseille und dort an Bord eines Schiffes namens Exodus. Nach gelungener Fahrt bis Haifa setzte die dortige britische Verwaltung durch, dass die Menschen gegen ihren Willen auf anderen Schiffen nach Hamburg gebracht wurden. Dort kamen die jüdischen Flüchtlinge am 8. September 1947 an und wurden bei Lübeck in einem Lager hinter Stacheldraht interniert – über zwei Jahre nach Ende des Faschismus in Deutschland.

Die internationale Empörung war so groß, dass das Lager kurz darauf aufgelöst wurde. Viele der Gefangenen machten sich nochmals auf den Weg nach Palästina. Die Grenzbeamten in Österreich zeigten bei dieser traurigen Geschichte mehr Herz. Als sie immer größere Gruppen von Juden dabei beobachteten, wie sie auf ihrem Weg zur Mittelmeerküste nachts illegal die Grenze von Österreich nach Italien überquerten, riefen sie ihren Innenminister an: »Was sollen wir tun, bei all den Leuten, die hier ohne Papiere nachts durch die Wälder gehen?«

Die Antwort des Innenministers: »Schaut’s net aus dem Fenster!«

Nachdem es in Europa in den letzten 70 Jahren gelungen ist eine nationale Grenze nach der anderen abzubauen, gibt es heute wieder Forderungen nach neuen Grenzen oder die Befestigung der bestehenden. Es erscheint geradezu absurd, dass das Europa ohne Grenzen nur funktionieren soll, wenn seine Außengrenzen umso hermetischer abgeriegelt werden. Bill Clinton hat einmal gesagt: »Schau dir nicht die Schlagzeilen an, schau dir die Trends an.« Und der langfristige Trend, der uns ermutigen sollte, ist: Es gibt immer weniger Grenzen.

Natürlich kann man nicht jeden Trend linear weiterschreiben, immer wieder finden sich jähe Brüche in der Geschichte. So hat es, wie erwähnt, 1913 niemand in Europa für möglich gehalten, dass die Völker nach über vierzig Jahren Frieden in einem totalen kriegerischen Zusammenbruch enden würden. Aber die Trends, die selbst Kriege überstehen, sind unumkehrbar. Die Abschaffung von immer mehr Grenzen ist so ein Trend. 1790 gab es in Deutschland noch 1800 Zollgrenzen. Wer 1819 von Berlin nach Zürich fuhr, musste noch an zehn Grenzen warten. Der Nationalökonom Friedrich List schimpfte damals über den zehnfachen Zoll, dazu die Mautgebühren, die wahrlich keine neuzeitliche Erfindung sind. List träumte von einem zollfreien, deutschen Binnenmarkt, forderte aber zugleich starke Zollgrenzen um diesen Binnenmarkt herum, da man sich von der modernen Exportindustrie der Briten fürchtete. Mit der Entstehung des Deutschen Bundes wurden viele dieser Grenzen durchlässiger und später überflüssig. Dieser Megatrend fand in der europäischen Einigung seine Fortsetzung und ist so stark, dass selbst vierzig Jahre Mauer und Stacheldraht der innerdeutschen Grenze und die gleichzeitige europäische Teilung in West und Ost bald als Episode der Geschichte erscheinen werden. Schaffen Staaten die Grenze zwischen sich ab, so ist dies stets eine politische und zivilisatorische Glanzleistung. Die Lebensverhältnisse passen sich nach und nach an und werden zur neuen Normalität.

Wir reden hier natürlich nur von der friedlichen Überwindung von Grenzen. Dass das Gegenteil früher eher die Regel als die Ausnahme war, merke ich immer, wenn ich mit meiner französischen Partnerin in Paris auf einer Party bin und sie mich mit den Worten vorstellt: »Bon soir. C’est mon ami Sebastian, il est allemand.« Sofort stellt der DJ die Musik aus, es ist totenstill, und ich werde gefragt: »Aha, wo war dein Opa damals im Krieg?« Ich wurde das so oft gefragt, bis ich schließlich antwortete: »Mein Opa? Der war schon damals für ein Europa ohne Grenzen im Einsatz.«