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Uwe M. Schneede

VINCENT VAN GOGH

C.H.Beck


Zum Buch

Vincent van Gogh entschied sich erst im Alter von 27 Jahren, nachdem er in mehreren Berufen gescheitert war, Künstler zu werden. Lange tat er sich schwer mit dem Malen und dem Zeichnen. Zwei Jahre in Paris, der damaligen Metropole der Kunst, ließen ihn unter den Augen der Neuerer – Signac, Toulouse-Lautrec, Gauguin – seinen eigenen Weg beginnen.

Im südfranzösischen Arles malte er vor der Natur, der er sich bei stärkstem Licht und strapaziöser Hitze aussetzte, um eine nie dagewesene, leuchtende Farbigkeit zu gewinnen. Innerhalb kürzester Zeit schuf er ein grandios eigenständiges Werk. Die bewusst subjektive Prägung der Motive und die nun gewonnene Freiheit im Einsatz der Farbe waren wegbereitend für die gesamte Moderne. Als van Gogh sich 1890 in Auvers-sur-Oise das Leben nahm, hatte er ein Werk geschaffen, das die Welt der Kunst grundlegend verändern sollte: Auf bestürzende Weise hatte er die Malerei neu erfunden.

Diese Biographie zeichnet den dramatischen Lebensweg und die künstlerische Entwicklung des Malers in den entscheidenden Stationen nach. Sie bietet zugleich eine Einführung in die Kunst der Moderne und darüber hinaus einen exemplarischen Einblick in die schwierige Situation des modernen, noch von der Gesellschaft und vom Markt ausgeschlossenen Künstlers.

Über den Autor

Uwe M. Schneede, 1991 bis 2006 Direktor der Hamburger Kunsthalle, zuvor Professor für Kunstgeschichte in München, hat sich intensiv mit der Kunst des 20. Jahrhunderts befasst. Bei C.H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: ‹Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert› (22010), ‹Max Beckmann› (2011), ‹Die Kunst der Klassischen Moderne› (22014) und ‹Otto Dix› (2019).

Inhalt

Die frühe niederländische Zeit

Der Missionar unter Arbeitern

«Die Heimat der Bilder»

Frühe Abweichungen

«Tätige Melancholie»

Den Haag «Mit dem Malen fängt meine Karriere an»

Wider die konformistische Moral

«Die Farbe einer guten, staubigen Kartoffel»

Wahrer als die Wirklichkeit

Paris 1886–​1888

Die Welt der Kunst …

… und die Welt der Künstler

Die Stadt und die Komplementärkontraste

Selbstbildnisse

Der Süden als Utopie

Arles 1888/89

An der Peripherie

Symbolische Perspektive

Sonnenkult

Der «hohe gelbe Ton»

Das «rauhe Bild»

Das Atelier des Südens

Vorbereitung einer Künstlerfreundschaft

«Décoration»: der «schmerzerfüllte Ausdruck unserer Zeit»

Gauguin in Arles: Sternstunde und Krise

Nach dem Bruch

Eine künftige Kunst

Internierung

Saint-Rémy 1889/90

Konflikte mit der Gesellschaft

Die «modernen Empfindungen»

Naturgleichnis und Autobiographie

Psychogramme

Auvers-sur-Oise 1890

Ein Bildnis der Melancholie

Der mutmaßliche Auvers-Zyklus

Die Kunst als Gegengift

Die allmähliche Anerkennung 1900–​1914

Biographische Daten

Zeittafel

Literatur

Werkverzeichnisse und Briefausgaben

Zu einzelnen Aspekten

Zitatnachweise

Fotonachweis

Register

I  Die Kartoffelesser, Nuenen, April 1885, Van Gogh Museum Amsterdam

II  La Roubine du Roi mit Waschfrauen, Arles, Juli 1888, Privatbesitz USA

III  Der Maler auf dem Weg nach Tarascon, Arles, Juli 1888, zerstört, früher Kaiser Friedrich Museum, Magdeburg

IV  Das Nachtcafé, Arles, August/September 1888, Yale University Art Gallery, New Haven, Conn

V  Das Gelbe Haus, Arles, September 1888, Van Gogh Museum Amsterdam

VI  Grünes Weizenfeld bei Sonnenaufgang, Saint-Rémy, Juni 1889 (?), Kröller-Müller Museum, Otterlo

VII  Blumengarten, Arles, Juli 1888, The Metropolitan Museum of Art, New York

VIII  Pinien vor einem Abendhimmel, Saint-Rémy, November 1889, Kröller-Müller Museum, Otterlo

IX  Strohgedeckte Häuser vor einem Hügel, Auvers-sur-Oise, Juli 1890, Tate Gallery, London

X  Wurzeln und Baumstämme, Auvers-sur-Oise, Juli 1890, Van Gogh Museum Amsterdam

XI  Selbstbildnis, Arles, September 1888, Fogg Art Museum, Harvard University, Cambridge, Mass.

Die frühe niederländische Zeit

Der Missionar unter Arbeitern

In die Wiege gelegt war ihm die Kunst nicht. Erst in einem Alter, in dem andere bereits ihr Kunststudium beenden, entstanden die ersten bekannten, noch ganz und gar kindlichen Zeichnungen. Vincent van Goghs frühe Arbeiten widersprechen all jenen Topoi von frühester Begabung und aufsehenerregendem Genie, die wir aus Kunstgeschichte und Künstlerlegenden seit jeher kennen. Innerhalb von vierzehn Jahren machte er eine zunächst sehr langsame und mühevolle, schließlich überaus rasche Entwicklung durch – von den ersten ungeschickten Versuchen bis zur bestürzenden Erneuerung der Bildsprache. Das Hauptwerk entstand in drei kurzen Jahren von 1888 bis 1890.

Kunsthändler hatte er werden sollen, nach dem Vorbild dreier Onkel. Auf Wunsch der Familie ging der sechzehnjährige Vincent van Gogh, der 1853 auf dem Land, im niederländischen Zundert, südlich von Breda und nahe der Grenze zu Belgien, als Sohn eines Pfarrers der reformierten Kirche geboren worden war, in den Kunsthandel: zunächst vier Jahre nach Den Haag, dann ein Jahr nach London, schließlich nach Paris, jeweils in die Niederlassungen des Kunsthandels Goupil & Sohn. Auch der um vier Jahre jüngere Bruder Theo trat in das Haus Goupil ein, das, auf die Produktion und die Verbreitung von Stichen nach alten Meistern sowie auf zeitgenössische Salonmalerei spezialisiert, seit den 1860er Jahren erfolgreich war und international expandierte: Neben der Zentrale in Paris gab es Filialen nicht nur in Den Haag und London, sondern auch in Brüssel, Berlin und New York.

Nach sechsjähriger Tätigkeit war van Gogh der Bedienung des monoton konventionellen Geschmacks überdrüssig; indes sollten ihm die Erfahrungen im Kunsthandel später, als er den Kunstbetrieb in der Moderne zu reflektieren begann, von Nutzen sein. Auf eine Anzeige hin ging er dreiundzwanzigjährig als Hilfslehrer ohne Gehalt nach Ramsgate ins englische Kent. In befristeter Stellung unterrichtete er Französisch, Rechnen, Diktat. Was ihn antrieb, war ein tiefer religiöser Eifer. Im Juni 1876 schrieb er aus England: «Sollte ich etwas finden, so wäre es wahrscheinlich eine Stellung so zwischen Prediger und Missionar unter Arbeitern in den Vorstädten von London.» (69) Vorübergehend wurde er tatsächlich Hilfsprediger in Isleworth, nahe London. Seine Briefe aus dieser Phase an den Bruder Theo – die Korrespondenz hatte 1872 in der ersten Haager Zeit eingesetzt – lesen sich wie Predigten mit Bibelzitaten und Exegesen.

Jedoch beschloss die Familie, Vincent solle nunmehr im niederländischen Dordrecht in den Buchhandel gehen. Der Sohn des Buchhändlers berichtete später, van Gogh sei ständig mit der Bibel beschäftigt und im Übrigen «kein anziehender junger Mensch» gewesen, «mit diesen dicht zusammengekniffenen kleinen Augen, und immer eigentlich ein bißchen menschenscheu» (Briefe, 6, 192).

Als er nicht aufhörte, von einer Tätigkeit als Evangelist zu träumen, entwickelte die Familie den Plan, ihn in Amsterdam das Studium der Theologie aufnehmen zu lassen. Neben dem systematischen Lernen für die Aufnahmeprüfung, das ihm schwerfiel, machte er «ganz unwillkürlich ab und zu eine kleine Zeichnung», etwa von biblischen Motiven oder um dem Bruder eine erlebte Situation vor Augen zu führen; es sei «weiter nichts Besonderes, aber ich sehe es manchmal alles so deutlich vor Augen» (101). Als die Studienvorbereitungen ihm lästig wurden, gab er sie wieder auf und ging an eine Missionarschule in Brüssel, wo praktische Begabung mehr gefragt war als Gelehrsamkeit. «Es macht mir große Sorgen», schrieb die Mutter, «daß Vincent, wohin er auch geht oder was er auch unternimmt, stets und überall aufgeben wird, weil er so seltsam ist und derart sonderbare Vorstellungen und Ansichten vom Leben hat» (Hammacher, 38).

Es scheint, dass er, der unfähig war, im bürgerlichen Sinn Karriere zu machen, sich durch allzu konsequentes Überlegen und Handeln der Familie entfremdete. Wenn man zuviel wolle, ermahnte ihn der Vater, falle man tief. Vincent aber wollte das Höchste. «Nichts Geringeres tut uns not als das Unendliche und das Wunderbare», schrieb er bereits, als er noch nicht daran dachte, Künstler zu werden, «und der Mensch tut gut daran, sich mit nichts Geringerem zufriedenzugeben und sich nicht geborgen zu fühlen, solange er das nicht erlangt hat» (121). Der kommende Konflikt, ein gefährlicher Konflikt, wird sichtbar. Wo der Sohn mit Unbedingtheit alles wollte, repetierte der Vater die kleinbürgerliche Angst vor der Höhe, die danach verlangt, im Kleinen sich einzurichten.

In Brüssel fasste van Gogh den Entschluss, in die Borinage, das Kohlenrevier im südlichen Belgien, zu gehen. Ihn zog die Armut der unter Tage Arbeitenden an; er dachte an die Bibelweisheit, wonach man zum Licht nur durch die Finsternis komme. Ein Geographiebuch hatte ihm die Borinage als Idylle vorgeführt. Heute ist die Kohlegewinnung eingestellt, die Fördertürme sind abgebaut, die Natur hat sich die landschaftsprägenden Abraumhalden zurückgeholt, aber immer noch herrscht der Eindruck trostlosester Armut. In Wasmes und in Cuesmes, kleinen Bergarbeiterorten bei Mons, hielt van Gogh Bibelstunden in Arbeiterwohnungen ab, besuchte Kranke, sprach in Versammlungsräumen.

«Die Heimat der Bilder»

In einem Brief vom Oktober 1879 – er war nunmehr sechsundzwanzig Jahre alt und immer noch ein im Beruf Gescheiterter – gibt er zum ersten Mal seinem Gefühl Ausdruck, ausgestoßen zu sein: «Wenn ich im Ernst spüren muß, daß ich Dir oder denen zu Hause hinderlich oder zur Last bin, zu nichts zu gebrauchen, wenn ich dauernd genötigt wäre, mich Euch gegenüber als ein Eindringling oder Überflüssiger zu fühlen, so daß es besser wäre, ich existierte überhaupt nicht …, dann überwältigt mich ein Gefühl von Traurigkeit, dann muß ich gegen Verzweiflung ankämpfen.» (132)

Ein weiterer Brief aus der Borinage nimmt den Gedanken erneut auf. Er ist für den späteren van Gogh von großer Bedeutung, und zwar sowohl für das Selbstverständnis in seinem unmittelbaren Umfeld als auch für sein Verhältnis zur Welt der Bilder. Zunächst charakterisiert er sich in diesem Schreiben vom Juli 1880 selbst, wobei er seinen Eigensinn hervorkehrt: «Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch, dazu imstande und geneigt, mehr oder weniger unsinnige Dinge zu tun, die ich zuweilen mehr oder weniger bereue. Es passiert mir oft, daß ich ein wenig zu schnell spreche und handle, wenn es besser wäre, mit mehr Geduld zu warten.» Dann fragt er sich: «Soll man sich für einen gefährlichen Menschen halten, der zu nichts taugt? Ich glaube nicht. Vielmehr geht es darum, mit allen Mitteln zu versuchen, gerade aus diesen Leidenschaften Nutzen zu ziehen», und dann folgt der entscheidende Satz: «Als ich in einer anderen Umgebung war, in einer Umgebung von Bildern und Kunstwerken, hat mich […] für diese Umgebung eine heftige Leidenschaft erfaßt, die bis zum Überschwang ging. Und ich bereue das nicht, und jetzt, fern der Heimat, habe ich oft Heimweh nach der Heimat der Bilder.» (133)

Hier ist zum ersten Mal von der Kunst als Lebensmöglichkeit die Rede. Die Heimat, die ihm die Familie nicht mehr bot, fand er nun in den Bildern. Die «Heimat der Bilder» war für van Gogh die Welt der Kunst, wie er sie bei Goupil erlebt hatte: die Kunstwerke, die Künstler, die Ausstellungen. In der Borinage war das alles fern, auch die Museen, und so sagte er sich jetzt, die Heimat der Bilder sei dank der Reproduktionstechniken überall. Diese Welt war bevölkert von Künstlern, die er schätzte, deren Werke er aber noch nicht im Original gesehen hatte: Rembrandt, Delacroix oder Millet. Mit Reproduktionen von Gemälden aller Zeiten und Stile machte Goupil das große Geschäft. Van Gogh selbst legte sich eine umfangreiche Sammlung zu, die für ihn den Wert der Originale repräsentierten, obwohl das Schwarzweiß und der gleichförmige graphische Duktus die malerischen Eigenarten und die unterschiedlichen Ranghöhen einebneten.

Dieses «imaginäre Museum» prägte sein Bild von der Welt. Frappierend oft verwies van Gogh vor einer Erscheinung in der Realität auf ein Kunstwerk. Er sah die Realität durch die Bilder, ja er nahm die Wirklichkeit als Niederschlag der Kunst wahr. Ein Hohlweg war wie bei Dürer, eine holländische Landschaft glich «Corot oder van Goyen», der Selbstmordversuch einer Freundin schien ihm aus Flauberts Roman ‹Madame Bovary› vertraut. Alle Erfahrungen sowohl mit der Kunst als auch mit der Realität gewann er aus der «Heimat der Bilder». Daraus holte er sich für alle alltäglichen Probleme seine Zuversicht und seine Kraft, und noch konkreter: Daraus bezog er, als er vermehrt zu zeichnen begann, seine Motive und Themen. Vorerst, in der Borinage, versetzte er sich selbst in dieses Universum der Bilder: Das Studium von Büchern und Reproduktionen war jene Lehrzeit, die ihm schließlich den Entschluss erlaubte, Künstler zu werden.

Frühe Abweichungen

In jenem zitierten Brief vom Juli 1880 aus der Borinage fährt van Gogh fort: «Nun ist ein Mensch, der sich in all das vertieft, zuweilen anstößig, shocking für die anderen, und ohne es zu wollen, sündigt er mehr oder weniger gegen gewisse Formen und Sitten und gesellschaftliche Konventionen.» Und er berichtet an anderer Stelle, wenn die Eltern ihn mit einem Buch von Victor Hugo in der Hand sähen, dann dächten sie gleich an «Brandstifter und Mörder und ‹Unsittlichkeit› […] Doch dann kommen sie mit einer Geschichte von einem Großonkel, der in französischen Ideen befangen war und sich dem Trunke ergeben hat, und deuten an, daß es mir ähnlich ergehen wird.» (159)

Diese Stelle scheint besonders wichtig, weil sie den in der beginnenden Moderne prinzipiellen Konflikt zwischen Künstlerindividuum und Umfeld an seiner Wurzel fasst. Die Welt der neuen Bilder und der neuen Ideen enthält ein Potential, das den Sitten und den Konventionen grundsätzlich zu widersprechen scheint.

Das gilt selbst noch für die Kleiderfrage, die van Gogh immer wieder beschäftigte. Daran, dass er sein Äußeres vernachlässige, sei die Geldnot schuld, auch eine «tiefe Mutlosigkeit», und er fügte hinzu: «Zuweilen ist es ein gutes Mittel, um sich die nötige Einsamkeit zu sichern, damit man sich in irgendeine Sache, die einen beschäftigt, noch mehr vertiefen kann.» (133) Einerseits drückte ihn das Bürgertum an seinen Rand, weil er sich nicht kleidete, wie man sich zu kleiden hatte – er trug abgelegte Garderobe aus der Verwandtschaft, die oft nicht recht saß, aber mit einer Bohème, die sich durch bewusste Lässigkeit vom Bürgertum absetzt, hatte das nichts zu tun –, andererseits sah er darin eine Möglichkeit, nach außen zu signalisieren, dass er sich absondere, wegen der Vertiefung der Gedanken, die nur in der Einsamkeit und jenseits der Konventionen stattfinden könne.

Die Außenstehenden jedoch entdeckten darin Anzeichen von Absonderlichkeit, Gefährdungen von Sitte und Anstand, innere Instabilität. In dem schon mehrfach zitierten Brief aus Brüssel 1880 heißt es: «Nun ist einer der Gründe, warum ich jetzt ohne Stellung bin, warum ich jahrelang ohne Stellung gewesen bin, ganz einfach die Tatsache, daß ich andere Ansichten habe als die Herren, welche die Stellungen an Subjekte vergeben, die wie sie denken. Hier geht es nicht bloß um mein Äußeres, wie man mir heuchlerischerweise vorgeworfen hat, hier geht es um ernstere Dinge, das versichere ich Dir.» (133)

Die Erfahrungen, die der siebenundzwanzigjährige van Gogh hier aus seiner Familie, aus seiner Zeit als Armenprediger und aus der Welt der Bilder heraus mitteilte, die Erfahrungen von der Unvereinbarkeit der bürgerlichen Anpassungszwänge und des individuellen Eigensinns sind die Ursachen für sein späteres Schicksal, sie sind auch die Voraussetzung für sein um so radikaleres künstlerisches Schaffen: «Wir gehören nicht zur Generation von Pa und Ma und Onkel S., wir müssen uns mehr an das Moderne halten als an das Alte. Nach dem Alten zurückzuschauen, ist verhängnisvoll […] Wir müssen unseren Weg weitergehen auch gegen ihren Willen.» (160)

Solche Erfahrungen wurden in den 1880er und 1890er Jahren nicht von van Gogh allein gemacht, sie wurden von Künstlern wie James Ensor in Belgien oder Edvard Munch in Norwegen oder Paul Gauguin und Paul Cézanne in Frankreich geteilt. Das Bewusstsein vom Bruch wurde zur Konstituenten der Moderne. Die Kluft zwischen Gesellschaft und neuer Kunst tat sich auf, weil das Bürgertum sich an moralische Normen klammerte, um seine Identität zu sichern, das Künstlerindividuum aber gerade das Recht auf Sprengung dieser Normen beanspruchte. Je stärker die Künstler schließlich auf diesem Recht beharrten und je konsequenter sie dabei das existentielle Risiko eingingen, desto weiter entfernten sie sich vom Wunsch des Bürgertums nach Bestandserhaltung.

«Tätige Melancholie»

Van Gogh stand während der Phase, in der er selbständig und unabhängig wurde, allein, ausgeliefert in der Provinz, ohne Gleichgesinnte, nicht aufgehoben in einer großstädtischen Bohème. Ebenfalls im Juli 1880 notierte er einen Satz, dessen Inhalt in den zehn Jahren bis zu seinem Selbstmord Bestand behalten sollte: «Statt mich in Verzweiflung gehen zu lassen, habe ich mich für die tätige Melancholie entschieden, […] oder, mit anderen Worten, ich habe die Melancholie, die hofft und strebt und sucht, einer Melancholie vorgezogen, die trübsinnig und tatenlos verzweifelt.» (133)

Der Begriff der «tätigen Melancholie» erscheint paradox. Doch werden später weder die Sonnenblumenbilder noch die Darstellungen strahlender Landschaften zu verstehen sein, wenn man diesen Grundgedanken außer acht lässt. Nicht aus einer heiteren und gelassenen Haltung zur Welt kommen solche Bilder, sondern aus der Sehnsucht nach dem Strahlen und der Heiterkeit, sie kommen aus der Melancholie, die auf die Suche geht und in die Tätigkeit führt, aus einer Melancholie, die das Resultat eines Bruchs mit der Welt ist.

Die künstlerische Tätigkeit wird der Versuch sein, diesen Bruch einerseits sichtbar zu machen, andererseits aus der Welt der Bilder heraus zu überwinden. Van Gogh formulierte in dieser Zeit daher sein eigentliches Ziel als das der Suche: «Wenn ich nichts tue, wenn ich nicht arbeite, wenn ich nicht mehr suche, dann bin ich verloren. Dann wehe mir.» (133) Damit ist exemplarisch der Grund für den ständigen Erneuerungsdruck in der Moderne formuliert.

Mit der Besinnung auf die tätige Melancholie ging die Entscheidung einher, Künstler zu werden. Nach vielfachem beruflichen Scheitern war Vincent van Gogh siebenundzwanzig Jahre alt, als er über die Vergewisserung der Welt der Bilder definitiv zur Kunst kam. Der karitative Antrieb ist nicht zu übersehen: Wie bislang als Prediger wollte er sich nun als Künstler den verachteten Gliedern der Gesellschaft zuwenden, mit deren Schicksal er sich als Abgewiesener identifizierte. Da ihm jegliches Handwerkszeug fehlte, begann er systematisch vor der Natur und nach Reproduktionen zu zeichnen. Im Oktober 1880 ging er schließlich nach Brüssel, wo er Perspektiv- und Anatomiebücher studierte.

Hier entstanden die ersten eigenständigen Zeichnungen. Sie erzählen von der Schwere der Arbeit. Die Zeichenweise imitiert den graphischen Duktus jener populären Reproduktionen, die zu dieser Zeit van Goghs «Heimat der Bilder» ausmachten. Vor allem die Illustrationen in der englischen Zeitschrift ‹Graphic› schätzte er «wegen ihrer montagmorgenhaften Nüchternheit und gewollten Sachlichkeit und Prosa und Analyse – das ist etwas Solides, Tüchtiges, etwas, woran man sich halten kann in Tagen, da man sich schlapp fühlt». Er fügte, weil er mit Hingabe Bücher las, hinzu: «Ebenso unter den französischen Schriftstellern die Gestalten Balzacs und Zolas.» (237)