Jan-Werner Müller

Furcht und Freiheit

Für einen anderen Liberalismus

Suhrkamp

Dem Andenken Tony Judts,
und für Hubertus, gelebte Liberalität

Wenn ich sagen soll, was mir neben Frieden wichtiger
sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und
der Meinung. Auch Freiheit von Not und Furcht.

Willy Brandt, 1987

I'll tell you what freedom is to me. No fear.
I mean really no fear. If I could have that half of my life. No fear. […] That's not all of it.
But it is something to really, really feel.

Nina Simone, 1968

Inhalt

Start: Zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstkasteiung

1. Einbahnstraße?

Liberalismus der Furcht, zum Ersten

Und der Neoliberalismus …?

2. Schleudertrauma

Der imaginäre Volksfeind

Liberale gegen Populisten, Heuchler gegen Hasser? Momente einer verfehlten Auseinandersetzung

Der nicht ganz so neue Geist des Antiliberalismus

3. Shklars Karte

Liberalismus als Denken des nachrevolutionären Übergangs – und als Bildungsideal

Erweiterter Liberalismus, verengter Liberalismus

Liberalismus der Furcht, zum Zweiten: Theorie aus Sicht der Geflüchteten

Furcht und Freiheit wessen?

Und wo bleibt das Materielle (und die Demokratie)?

4. Die Route wird neu berechnet

Falsche Ausgrenzung, falsches Verständnis: Noch einmal zur Debatte mit Rechtspopulisten

Falscher Gegensatz: »Kulturell« gegen »materiell«

Falsche Gleichsetzungen

Falsche Freunde

Unter falscher Flagge

Ein falsches Bild: »Die Balance von Freiheit und Sicherheit«

Falsche Verallgemeinerungen

Schluss, nicht am Ziel

Danksagung

Anmerkungen

Start: Zwischen Selbstgefälligkeit und Selbstkasteiung

Gegen Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts gab Wladimir Putin in einer britischen Tageszeitung zu Protokoll: »Die liberale Idee hat sich überholt.«1 Neu sind solche kategorischen Aussagen nicht. Aber dass ein weltpolitischer Akteur eine derartige ideenpolitische Diagnose mit ostentativer Genugtuung verkündete – das hatte es so nach dem Ende des Kalten Krieges noch nicht gegeben.2 Über die erwartbare Empörung in westlichen Hauptstädten machte sich die russische Botschaft in London dann mit einem Tweet lustig; in diesem wurde die Öffentlichkeit aufgefordert, über folgende Frage abzustimmen: »Wie kann man am besten beweisen, dass der Liberalismus noch am Leben ist?« Die möglichen Antworten lauteten: »Verlasse die EU« und »Bleibe in der EU«. Und dann gab es noch eine dritte Option: »Der Liberalismus ist tot.«3

Der Liberalismus steht bekanntlich weltweit unter Druck, und zwar scheinbar von oben und von unten. Wie das, was da Druck ausübt, genannt werden soll, ist umstritten. Populismus? Autoritarismus? Ein kultureller Gegenschlag (backlash) gegen sogenannte liberale Eliten? Und was ist eigentlich gemeint, wenn man liberale Eliten kritisiert? Dass es sich dabei um Heuchler mit einem, frei nach Max Weber, »pharisäisch gute[n] Gewissen« handelt? Um Leute, die sich als Gewinner der Globalisierung kosmopolitisch-tolerante Attitüden leisten können, ohne jegliches Bewusstsein für die materiellen Vorbedingungen ihrer verfeinerten Moralvorstellungen?

So oder so: Die Liberalen staunen, dass Trump, Brexit etc. im 21. Jahrhundert noch möglich sind. Dies Staunen ist aber kein theoretisches; es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellungen von Liberalismus und von Geschichte, aus denen es stammt, so nicht mehr zu halten sind.4 Die Reaktionen derjenigen, die sich als Liberale angesprochen fühlen, fallen je nach Zeitdiagnose ganz unterschiedlich aus. Die einen geben »dem Volk« die Schuld an den politischen Katastrophen Brexit und Trump und behaupten, Figuren wie der 45. Präsident der Vereinigten Staaten oder der Chef-Brexiteer Nigel Farage könnten nur deshalb reüssieren, weil sie unter leichtgläubigen Bürgern Lügen über liberale Eliten verbreiteten. Man bedient sich dann oft munter der Klischees der Massenpsychologie aus dem späten 19. Jahrhundert: Die einfachen Leute seien halt irrational und verführbar – und deswegen an den desaströsen Folgen des neuen Antiliberalismus selber schuld.

Andere hingegen üben sich in Selbstkritik (oder zumindest der Simulation von Selbstkritik), ja es ist sogar ein kleiner, aber doch sehr umkämpfter Markt für liberale meae culpae entstanden.5 Man gesteht, den Abgehängten wirklich kein Gehör geschenkt zu haben;6 man unternimmt, was in den USA als »Trump-Safaris« verspottet wird: Expeditionen ins Landesinnere (bevorzugt in die Appalachen), wo die exotischen Eingeborenen ein offenbar selbstzerstörerisches Leben führen, das man aber auch irgendwie verstehen und mit Empathie betrachten muss (Opiate, keine family values mehr etc.). Oft wird dann, wie vom britischen Economist, ein »liberalism for the people« gefordert – was auf den ersten Blick an Friedrich Naumanns »Liberalismus der Masse« vom Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert, eine Allianz aus Sozialdemokraten und Liberalen. Das meinen die britischen Journalisten aber offenbar nicht: Nur etwas weniger elitär will man sein, geduldiger erklären, warum Liberalismus (für den Economist vor allem: Marktliberalismus) am Ende doch gut für alle sei.

Diese Selbstermunterung – weiter so, nur halt mit mehr Volkspädagogik und vielleicht etwas inklusiver – wird manchen zeitgenössischen Kritikern des Liberalismus besonders übel aufstoßen. Denn sie gehen aufs Ganze. Neben der tagespolitischen Polemik gegen liberale Eliten, die häufig (aber nicht nur) von populistischen Politikern geäußert wird, hat sich ein Fundamental-Antiliberalismus herausgebildet, inklusive einer spezifisch christlich inspirierten Kritik an der »liberalen Moderne«. Hier wird der Liberalismus7 für eine endlose Reihe von Missständen verantwortlich gemacht: Er habe die Menschen isoliert, so dass sie heute zu wahrer Gemeinschaft und Loyalität unfähig seien. Und er homogenisiere im Namen von »Vielfalt«: Der Liberalismus verspreche Toleranz, sei aber intolerant gegenüber allen Lebensformen, die sich liberalen Leitvorstellungen nicht unterwerfen. Man ist für alles offen, nur nicht für das, was eigene Positionen infrage stellt (oder in durchgentrifizierten liberalen Großstadtquartieren irgendwie stört). Die liberalen Eliten moralisierten zwar gegenüber den Massen, würden aber ihrerseits ständig betrügen (sei es auf den Finanzmärkten oder um ihre verhätschelten Kinder ins College zu schmuggeln). Und zu guter Letzt: Der Liberalismus leide nicht nur an solchen Widersprüchen, sondern untergrabe sich letztlich stetig selbst, da er von Voraussetzungen lebe, die er nicht garantieren und schon gar nicht erneuern könne. Die vollends liberale Welt strahle also im Zeichen triumphalen Unheils – und sei trotz aller Triumphe dem Untergang geweiht.

Bei alldem kann es dann nicht mehr verwundern, dass Kritiker wie Thierry Baudet, der niederländische Rechtspopulist mit dezidiert philosophischem Anspruch, fordern, die Menschen müssten jetzt erst einmal gründlich »entliberalisiert« werden.8 Was damit gemeint ist, wird nicht gesagt, wie denn auch allgemein die Hoffnung auf eine »postliberale Zukunft« sich bisher kaum in konkreten politischen Vorstellungen artikuliert – außer der Forderung nach einer Rückkehr in vermeintlich unversehrte illiberale Gemeinschaften, wo man dann der Selbstzerstörung der liberalen Welt harrt.9

Liberalismus wird heute bekanntlich von rechts wie links kritisiert – aber nur weil vermeintliche Extreme sich berühren, heißt das nicht, dass all ihre Argumente falsch sind (es heißt im Übrigen auch nicht, dass man diese Formen von Kritik einfach gleichsetzen kann). Die rechten Antiliberalen offerieren viel, das, mit Verlaub, nicht gerade neu ist. Ob 1830, 1925, 1969, oder 2019 – die authentischen organischen Gemeinschaften und die richtigen Moralvorstellungen sind immer gerade unrettbar verloren gegangen. Und doch geht dann alles irgendwie weiter. Linke haben über unser Zeitalter immerhin etwas Spezifisches zu sagen: Der Liberalismus habe dem Kapitalismus zum globalen Sieg verholfen, jetzt stehe er, in den Worten des Dramaturgen Bernd Stegemann, wie der dumme Gehilfe da: Der Kapitalismus, der sich im Moment seines weltweiten Triumphs in aller Brutalität zeigen darf, brauche ihn nicht mehr (diese Beobachtung ist offensichtlich nicht so sehr ein Update als vielmehr eine Beschwörung des marxschen Arguments, »liberale Redensarten« bemäntelten nur die »realen Interessen der Bourgeoisie«). Theodor W. Adorno hatte noch gemeint, der Melting Pot sei eine Einrichtung des losgelassenen Industriekapitalismus (nur um hinzuzufügen: »Der Gedanke, in ihn hineinzugeraten, beschwört den Martertod, nicht die Demokratie)«; er mache ein (falsches) Versprechen von Gleichheit durch totale Anpassung. Der losgelassene postindustrielle Kapitalismus, so ließe sich schlussfolgern, hat es sich offenbar gut mit dem »liberalen Multikulturalismus« eingerichtet, wo vermeintlich alle divers und doch voll mit dabei sein (und ausgebeutet werden) können.

Eine Einschätzung all dieser Behauptungen hängt offensichtlich davon ab, was man mit »Liberalismus« überhaupt meint. Wie jeder politische Begriff ist auch Liberalismus umkämpft; nur was keine Geschichte hat, kann mal einfach so definiert werden. Der Begriff ist aber vielleicht insofern besonders unklar, als Liberalismus bekanntlich sowohl eine parteipolitische Formation als auch eine viel umfassendere Konstellation von politischen Ideen bezeichnet, eine Tradition von Traditionen (Judith Shklar). Zumindest bis vor wenigen Jahren konnte man sich recht entspannt zurücklehnen mit der Behauptung, viele dieser Traditionen hätten sich in der Moderne totgesiegt (und seien nicht mehr als eigenständige zu erkennen): Wirkliche Antiliberale, die beispielsweise rundheraus den Rechtsstaat oder individuelle Freiheitsrechte ablehnten, gebe es – zumindest im Westen – keine mehr.

Allerdings war vielleicht schon damals gar nicht so eindeutig, worin diese Traditionen früher, vor ihrem vermeintlichen Tod durch Triumph, eigentlich bestanden haben sollen – und was genau sie mit all dem, was heute so locker mit »Liberalismus« assoziiert wird, eigentlich zu tun hatten: zum Beispiel eine kosmopolitische Lebensform und ein ungezügelter Kapitalismus, die Allianz, die Nancy Fraser als »progressiven Neoliberalismus« bezeichnet hat.10 Oder auch Attitüden, die der Soziologe Andreas Reckwitz mit einer etwas überkuratierten Begriffsbildung als »apertistisch-differenziellen Liberalismus« etikettiert (also eine Einstellung, mit der man »Offenheit« und »Diversity« immer an sich für gut befindet).11 Eine beliebte und recht klare, aber möglicherweise doch unterkomplexe Antwort besteht in der Feststellung, zumindest Liberalismus und Neoliberalismus seien doch zwei verschiedene Dinge. Vielleicht, vielleicht auch nicht – aber das hängt offensichtlich davon ab, wie man die Begriffe versteht.

In diesem Essay soll erst einmal eine Ideengeschichte der Gegenwart skizziert werden. Das mag verwundern. Ist es nicht viel dringender, zu den Gründervätern des liberalen Denkens zurückzukehren, um die bisher aufgeworfenen Fragen zu beantworten? Nun ist die Historie, die gerade hinter einem liegt, oft am schwersten zu verstehen. Ohne ein solches Verständnis wissen wir aber gar nicht, warum wir bestimmte Fragen stellen. Man denke nur an das unvermeidliche Klischee, dem zufolge nach dem Ende des Kalten Krieges der Liberalismus global triumphiert habe. Seitdem sei die Geschichte zurückgekehrt (diese Feststellung selbst kehrt im Übrigen fast täglich wieder, in unzähligen Büchern, Meinungsartikeln und sorgenvollen Sonntagsreden); alle, die vielleicht sonst nicht viel zu sagen haben, erklären einem noch mal – mit mehr oder weniger Bedauern –, Francis Fukuyama habe mit der These falschgelegen, zu liberaler Demokratie und Kapitalismus gebe es keine weltweit attraktive Alternative mehr.

Diese Erzählung ist so stereotyp geworden, dass überhaupt nicht mehr gefragt wird, ob man in den langen neunziger Jahren wirklich so hochgestimmt war. Verschwendete wirklich niemand einen Gedanken an Nation und Gemeinschaft, als im Südosten Europas ein Bürgerkrieg einem multinationalen Experiment ein blutiges Ende setzte (und in den Seminarräumen allerorten Kommunitaristen gegen Liberale philosophische Landgewinne verzeichneten)?

Vielleicht war das Problem gar nicht ein stupider Triumphalismus, dem man heute mit ein paar simplen selbstkritischen Gesten abschwören kann? Und, noch näher an der Gegenwart: Bestand der Fehler der sogenannten liberalen Eliten wirklich darin, dass sie den vermeintlich kleinen Leuten mit »kultureller Arroganz« begegnet sind bzw. dass sie es, wie es häufig heißt, mit ihrer »liberalen Identitätspolitik« – gemeint ist: immer ausgefallenere Ansprüche allerlei dauerbeleidigter Minderheiten – irgendwie übertrieben haben? Dann kann recht schnell, allzu schnell, behauptet werden, man habe seine Lektionen aus der populistischen »Gegenrevolution« gelernt (die dann weniger aus einem positiven Programm als in einem Vermeidungsimperativ bestehen: nicht immer so viel Aufhebens um die Minderheiten machen und auch mal auf die Mehrheit mit ihrer legitimen Forderung nach »Konformität« hören). Eine Selbstkasteiung, welche die Zeitgeschichte systematisch missversteht, wird die Probleme des Liberalismus aber nur weiter potenzieren.

Nach der kurzen Geschichte der Gegenwart soll dann historisch – und theoretisch – weiter ausgeholt werden. Ich möchte zeigen, dass sich drei verschiedene Stränge liberalen Denkens unterscheiden lassen (und es ist der Kürze dieses Essays geschuldet, dass dies auf eher schematische Weise geschieht): Da ist, am offensichtlichsten, Liberalismus als Imperativ, Individuen maximale Selbstentfaltung zu ermöglichen; ein Ideal von Selbstvervollkommnung durch Bildung, mannigfaltige Erfahrungen und stetige Arbeit am eigenen Charakter. Ursprünglich konnten hier romantische Vorstellungen von Vielfalt als Wert an sich durchaus mit einer Agenda der »Befreiung durch Markt« (nämlich von feudalen Verhältnissen) zusammengehen. Es lässt sich, im Anschluss an die Kategorisierung der amerikanischen Theoretikerin Judith Shklar, von einem »Liberalismus der persönlichen Entwicklung« oder auch »Selbstvervollkommnungsliberalismus« sprechen.12 Verwandt mit diesem im 19. Jahrhundert besonders einflussreichen Liberalismus war zudem eine Denkfigur, die heute fast in Vergessenheit geraten ist: Liberalismus als Liberalität, als Großzügigkeit und Offenheit. Diese Verwendung von »liberal« passte zu einem Selbstvervollkommnungsliberalismus, weil die Einzelnen in ihrem Entwicklungsstreben und ihrer Experimentierfreude – John Stuart Mill forderte »experiments in living« – für Neues und Andersartiges offen sein bzw. ihre verschiedenen Experimente großzügig tolerieren sollten.

Solche subjektiven, vielleicht auch etwas egozentrischen Haltungen waren charakteristisch für eine ganz bestimmte Spielart von Liberalismus. Besonders in Kontinentaleuropa dominierte eine andere, die vor allem mit bestimmten bürgerlichen Institutionen assoziiert wurde: Rechtsstaat, Märkte und Parlamente, basierend auf einem durch Besitz- und Bildungsqualifikationen eingeschränkten Wahlrecht. Liberale wollten die (in welchem Sinne auch immer) weniger Bemittelten ausschließen; sie waren allerdings auch darauf bedacht, ihnen, oder zumindest ihren Kindern und Kindeskindern, volle Zugehörigkeit in Aussicht zu stellen – wenn diese erst einmal die notwendige Befähigung nachweisen konnten.13 Nicht zuletzt deswegen war es so wichtig, dass Liberale an einer Vorstellung kontinuierlichen Fortschritts festhielten – ohne dieses Fortschrittsversprechen hätten sie sofort als Ideologen dagestanden, die Ungleichheit nicht weniger vehement verteidigten als diejenigen, die Feudalismus als gott- oder naturgegeben rechtfertigten.

All dies führte nicht nur dazu, dass den Liberalen der gar nicht so feine Geruch des Elitären anhing. Es entstand auch der Eindruck, Liberalismus beruhe auf einer spezifischen Form von Entpolitisierung: Liberale schufen die institutionellen Rahmenbedingungen für wirtschaftlichen (und auch politischen) Wettbewerb – und sogar exzentrische Lebensexperimente –, aber der konstitutionelle Rahmen sollte von jeglicher politischen Auseinandersetzung isoliert bleiben. Diese Haltung hat immer wieder, bis heute, den Vorwurf der Heuchelei provoziert: Alles ist erlaubt, Pluralismus und Diversity werden gefeiert – solange eben der Liberalismus selbst mit seinen Grundinstitutionen nicht infrage gestellt wird.

Erst in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gewann Liberalismus dann auch in der englischsprachigen Welt eine Bedeutung, welche bis in die Gegenwart viele wissenschaftliche Debatten beherrscht (in der parteipolitischen Auseinandersetzung jedoch kaum noch eine große Rolle spielt): Nun wurde Liberalismus fast ausschließlich mit der Idee von individuellen Abwehrrechten gegenüber dem Staat identifiziert sowie mit Institutionen, die Macht einschränken.14 Auch wenn John Locke der offizielle ideengeschichtliche Heroe dieser Interpretation war, ging das Grundmotiv doch auf Thomas Hobbes zurück: Der Sinn der Politik ist die Sicherung des Einzelnen, der Versuch, ihm ein Leben ohne Furcht (außer der Furcht vor dem Leviathan) zu ermöglichen.

Diese verschiedenen Konzeptionen schließen sich nicht zwangsläufig aus. Ein dezidierter Selbstvervollkommnungsliberalismus und ein Liberalismus, der Freiheit durch Rechte sichern will, können aber auch in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Ersterer geht davon aus, dass nur ein Leben, in dem man ständig nach voller Entwicklung seiner individuellen Fähigkeiten strebt, ein wirklich gelungenes Leben ist; Letzterer legt nahe, dass jeder ganz frei über seine Lebenspläne entscheiden können soll. Und er besteht darauf, dass jeder mit seinem existenziellen Interesse an eigenen Vorstellungen eines gelungenen Lebens gleichermaßen berücksichtigt werden muss.

Die Realität sieht bekanntlich oft anders aus. Nicht nur werden viele Menschen nicht gleichermaßen berücksichtigt; viele werden überhaupt nicht berücksichtigt; und manche werden gezielt eingeschüchtert, getriezt, in Furcht versetzt: Missliebige Minderheiten gelten bestenfalls als Bürger zweiter Klasse; Gruppen mit ganz anderen Lebensvorstellungen werden misstrauisch beäugt; und Menschen werden bewusst grausam behandelt – beispielsweise mit dem Argument, wenn man asylsuchende Familien an der Grenze auseinanderreiße (oder sie gleich ertrinken lasse), schrecke das andere ab.

Solche Erfahrungen haben einige für Machtfragen besonders sensible Theoretiker noch einmal neu über Liberalismus nachdenken lassen. Die wichtigste unter ihnen war Judith Shklar, die 1989 einen Aufsatz mit dem Titel »Der Liberalismus der Furcht« veröffentlichte.15 Shklar schrieb vor dem Hintergrund der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sie plädierte leidenschaftlich dafür, sich politisch auf die Vermeidung des Schlimmsten zu konzentrieren – aus ihrer Sicht waren das alle Situationen, in denen Menschen andere Menschen grausam behandeln. Das Gefühl völligen Ausgeliefertseins, die Abhängigkeit, welche die Opfer von Willkürherrschaft am eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren – sie waren das unheilvolle totalitäre Signum des 20. Jahrhunderts.

Die Grundintuition dieses Liberalismus ist jedoch eine allgemeingültige und muss nicht immer gleich den Staat zum Public Enemy No. 1 des Individuums erklären (denn private Akteure können Menschen genauso in Abhängigkeit bringen und ihnen Furcht einflößen).16 Liberalismus, so Shklars Einsicht, sei keine Laisser-faire-Philosophie, sondern ziele auf existenzielle Sicherheit, welche ein freies Leben nach eigenen Vorstellungen erst ermögliche. Daraus ergab sich ein praktischer Imperativ der Gleichbehandlung. Damit dies nicht nur hehre Worte bleiben, ist für Shklar entscheidend, dass die soziale Distanz zwischen den Menschen nicht zu sehr wächst. Zudem müsse man ein offenes Ohr haben für Erzählungen von Furcht und Verletzungen. Und den Mächtigen dann klare Grenzen setzen. Dies war offensichtlich ein anderes Verständnis von »Offenheit«, als es heute häufig mit Liberalismus assoziiert wird.

Dieser Essay setzt sich zum Ziel, diesen »Liberalismus von unten« (so Axel Honneth einmal) zu aktualisieren. Wie zu zeigen sein wird, bleibt er Grundintentionen liberalen Denkens viel eher treu als der vermeintliche »kulturelle Elitenliberalismus« (wobei Letzterer zum Teil schlicht eine böse Karikatur ist – auch das wird zu zeigen sein). Zugleich gilt es jedoch, den Liberalismus der Furcht in Teilen zu revidieren. Dies ist nicht der erste Versuch, mit Shklar und mit Shklar gegen Shklar zu denken; und man muss sich darüber im Klaren sein, in welche Fallen man mit einem Liberalismus der Furcht laufen kann – und schon gelaufen ist, nämlich in den langen neunziger Jahren, als man meinte, in Form eines dezidiert antitotalitären Liberalismus exakt die richtigen Lehren aus dem 20. Jahrhundert gezogen zu haben.

Im letzten Kapitel soll dann skizziert werden, was ein so verstandener Liberalismus für aktuelle Debatten bedeutet. Hier werden keine detaillierten Lösungsvorschläge unterbreitet; ich möchte vielmehr eine Orientierungshilfe für die politischen Urteile anbieten, die wir fällen, und die politischen Möglichkeiten, die wir uns vorstellen können.17