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Nördliche Hemisphäre

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Südliche Hemisphäre

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kapitel

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kapitel

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Vorwort

Von Christoph Rehage

Bist du Urlauber? Pauschaltourist? Besitzer einer Ferienwohnung? Dann fühle dich umarmt, denn ich weiß, du hast es schwer. Ständig wirst du von allen Seiten aufgefordert, doch bitte schön damit aufzuhören, ein bloßer Tourist zu sein, und stattdessen zu einem Reisenden zu mutieren. Hinfort mit den bequemen Sandalen, hinfort mit den elektronischen Geräten – Wanderschuhe und Kompass müssen her! Auch deinen Koffer sollst du abschaffen – in deinen neuen 65-Liter-Rucksack passen nebst allen anderen nötigen Dingen auch noch ganze zwei Unterhosen! Das Wichtigste aber: Du sollst allein reisen und die Welt entdecken, sollst ohne Gesellschaft durch die Lande streifen und mit ihnen verschmelzen. Sollst dich in Natur und Kultur verlieben und dazu in aller Herren Länder Freunde finden. Und die Fotos, die du von deinen Reisen mitbringst, sollen dich vor Sonnenuntergängen und an malerischen Stränden zeigen, die allesamt dein sind, denn schließlich hast du sie dir ja allein erschlossen und brauchst sie deshalb mit niemandem zu teilen.

Lediglich die Einsamkeit sei ein Problem, tönt es zuweilen aus den Reihen der Reisenden. Sie müsse überwunden werden, diese Einsamkeit, dieses Gefühl, das das Alleinsein so oft mit sich bringe. Allein zu reisen, allein zu essen, allein zu schlafen und sich dabei nicht einsam zu fühlen, das sei die eigentliche Herausforderung, und nur diejenigen, die sie zu meistern in der Lage wären, könnten sich mit Recht zu den »Reisenden« zählen und hätten mit den »Touristen« dann nicht mehr viel gemein.

Das alles ist natürlich völliger Quatsch. Wir Menschen sind so unterschiedlich wie die Muscheln am Strand. Manche von uns sind gerne allein unterwegs, andere bevorzugen die Geselligkeit der Gruppe. Zudem hat das Gefühl der Einsamkeit auch nicht unbedingt etwas mit dem Alleinsein zu tun, sondern vielmehr mit Erwartungen, die enttäuscht wurden.

Ich beobachte an mir selbst, dass ich gern allein bin, wenn ich die Kabutze, meinen treuen Handwagen, über die Krümmung des Planeten ziehe. Wenn ich das sanfte Rollen der Räder hinter mir höre und der Horizont vor mir erglüht, wenn die Straße unter meinen Füßen kein Ende zu nehmen scheint und ich nicht weiß, wo ich abends schlafen werde. Dann fühle ich mich nicht einsam, sondern frei. Dann wandert mein Blick ungehindert in alle Richtungen, und wenn ich Glück habe, offenbart mir die Landschaft einen Teil ihres Wesens. Nehmen wir zum Beispiel die Wüste. Oft wird von ihr behauptet, sie sei ein einsamer Ort, doch ich finde, das wird ihr nicht gerecht. Sie mag auf den ersten Blick öde sein und leer, doch freut sie sich nicht gerade deshalb umso mehr über einen Besucher? So wandere ich in sie hinein und lasse mich von ihr umfangen, und sie wird mir zur flüsternden Gesprächspartnerin, die mir Sonnenuntergänge schenkt und kleine Käfer, die mich unterhalten und trösten. In solchen Momenten bin ich in der Natur allein, ohne mich verlassen zu fühlen.

Vergleiche ich diesen Ort mit einem leeren Vergnügungspark, der eigentlich voller Kinder sein sollte, wird der Unterschied deutlich: In dem Park weint die Stille, während sie in der Wüste heimisch ist. Oder mit einer Diskothek, in der alle tanzen, nur ich nicht. Dort verschließt sich mir die Welt, und die Einsamkeit, die ich verspüre, ist umso bitterer, weil ich umringt bin von Menschen.

Mein Fazit: Es hat noch nie gestimmt, dass Alleinsein Einsamkeit bedeutet, und wir können jederzeit allein auf Reisen gehen, solange wir nur wirklich Lust dazu haben. Was die Unterscheidung zwischen dem »Touristen« und dem »Reisenden« angeht, so ist auch dies Unsinn. Du kannst eine Pauschalreise buchen, kannst mit deinen Freunden oder deiner Familie in einem Reisebus sitzen und aus dem Fenster starren, kannst dir die Nase an der Scheibe plattdrücken und auch auf diese Weise die Welt da draußen in dich aufsaugen, kannst eine Fußgängerin an der Kreuzung beobachten und für einen Moment in deiner Fantasie mit ihr die Plätze tauschen: Wovon sie wohl gerade träumt? Wo sie wohl hinmöchte? Wie mag sich die kühle Luft auf ihrem Gesicht anfühlen, das Metall der Ampel unter ihrer Hand, genau jetzt, in diesem Moment?

Umgekehrt kannst du dich auf eine Abenteuerreise begeben, in fernen Ländern unterwegs sein, kannst in imposanten Gebirgen wandern und fremden Sprachen lauschen, kannst den Wind spüren und mit der Wüste flüstern, und vielleicht gibt es trotzdem Tage, an denen du dich für nichts und wieder nichts interessierst. Und das einfach nur, weil du schlechte Laune hast. Hübsche Wolken über einem Tal? Hoffentlich kommt jetzt kein Regen! Ein alter Mann, der dich zum Tee einlädt? Nein danke, kein Bedarf. Ein freundlicher Hund, der mit dem Schwanz wedelt? Bleib mir vom Hals, du Vieh!

Solche Tage gibt es, sie widerfahren dem Touristen und auch dem Reisenden. Wer aber einmal ein Kleinkind dabei beobachtet hat, wie es mit einem Laubblatt spielt, der weiß, dass wir wirklich nicht weit reisen müssen, um die Welt zu entdecken – einzig auf unser Interesse an ihr kommt es an.

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Vorwort

Von Johannes Klaus

Sich ohne Begleitung auf eine Reise in fremde Länder begeben? Für einen durch und durch schüchternen Menschen ist das ein großes Wagnis, das einzugehen sich für mich definitiv gelohnt hat. Es mag abgeschmackt klingen, aber alleine zu reisen hat mein Leben verändert – zum Guten. Und zwar insbesondere, weil es häufig wenig Spaß macht.

Ich sitze allein in dem nichtssagenden Restaurant eines Hotels, das für mich zu teuer ist, um dort zu übernachten. Meine Vorspeise kommt, und zur gleichen Zeit stürmt eine zwölfköpfige Gruppe zur Tür herein, die sich – natürlich – direkt am Nebentisch niederlassen will. Eilig schieben die Kellner ein paar Tische und Stühle zusammen, während drei Kinder einander schreiend durch die Halle jagen und ein viertes wie eine Sirene auf Speed brüllt, als es mich erblickt. Ich krame meine Kopfhörer aus der Seitentasche, lege die Rammstein-Best-of-Platte auf und löffle meine dünne Gemüsesuppe.

Nein, richtig schlecht gelaunt bin ich eigentlich nicht. Ich fühle mich im besten Sinne unsozial: Es ist mir komplett egal, was die Menschen um mich herum über mich denken. Ich kenne niemanden hier, mich wird kein Anwesender jemals wiedersehen, und es wäre auch egal, denn keiner wird sich an mich erinnern. Ich bin die seltsame Figur am Rand, bei deren Anblick man sich fragt, nur für einen Moment, wer das wohl ist. Kurz erscheinen Falten auf der Stirn, während man vergeblich versucht, eine Antwort darauf zu finden, ehe man sich wieder dem Hühnchen mit Reis zuwendet. Drei Sekunden später bin ich vergessen.

Ich blicke abwesend durch die Fenster auf die Straße. Es ist großartig. Jetzt, allein unter Fremden, die mich nicht interessieren, kann ich meine unsoziale Stimmung ausgiebig zelebrieren. Ich bin frei von den Erwartungen der Menschen, die mich kennen. Niemand weiß, welche Verhaltensweisen man daheim mit mir verbindet. Ich kann verschiedene Rollen ausprobieren, nach Lust und Laune. Und auch mal richtig schlecht drauf sein, ohne Rücksicht auf Mitreisende nehmen zu müssen.

Gleichzeitig merke ich, dass ich Menschen brauche, dass ich angewiesen bin auf Begegnungen. Allein unterwegs muss ich selbst den ersten Schritt gehen, Kontakt aufbauen, mich aus meiner Schüchternheit lösen, mich überwinden. Was das betrifft, sind meine Reisen eine Form der Selbsttherapie: Ich begebe mich in eine Situation, in der ich gezwungen bin, Dinge zu verändern, die mich einschränken oder die ich an mir nicht mag.

Ich treibe dahin. Lebe von einem Tag zum nächsten und lasse mich vom Moment inspirieren. Kein Korsett aus Plänen zwängt mich ein, ich kann im Fluss des Geschehens mitschwimmen. Ja, ich bin ein großer Fan des Alleinreisens – vor allem, wenn es eine lange Reise ist und ich Zeit habe, mich dem Reise-Flow hinzugeben. Dann wirken alle Erfahrungen intensiver auf mich, im Guten wie im Schlechten. Wenn ich etwa mit neuen Freunden eine tolle Zeit verlebe, ist das fantastisch; habe ich jedoch eine schlechte Phase, gibt es keinen Puffer, keinen Partner oder guten Freund, der mich auffängt. Aber: Ich reise ja insbesondere, um intensiv zu erleben, die Welt zu fühlen und mir selbst näherzukommen und meinen Platz zu finden – ich kleine Ameise im unendlichen Weltenlauf.

Allerdings merke ich auch, dass ein Erlebnis beglückender ist, wenn man es mit jemandem teilt. Das kann natürlich auch eine sympathische Reisebekanntschaft sein, doch je näher man dem Menschen steht, desto besonderer wird der Moment.

Jetzt, mit meiner Familie, hat sich meine Reisemotivation geändert. Ich möchte nicht allein reisen, viel zu sehr würde sie mir fehlen. Ist das ein Widerspruch? Nein.

Jede Lebensphase bringt unterschiedliche Bedürfnisse mit sich. Es gibt kein Besser oder Schlechter. Ob man bevorzugt allein, mit Freunden, Familie oder dem Partner unterwegs ist – diese Diskussion ist müßig. Es gibt nur die Form, die sich jetzt, in diesem Moment, richtig anfühlt.

Heute würde ich ein ganz anderes Leben führen, wäre ich nicht all die Jahre allein aufgebrochen, um die Welt und mich selbst kennenzulernen, mich kompromisslos treiben zu lassen, Ländergrenzen – und auch meine eigenen – zu überwinden. Dieses Buch gäbe es definitiv nicht.

Wenn du es auch spürst, das Gefühl, dass es an der Zeit ist, auf dich allein gestellt hinauszugehen, dann lass dich von diesen Berichten ermutigen. Es wird dir nicht immer gut gehen. Aber du wirst gestärkt zurückkehren, mit der Erfahrung, dass du allein klarkommst. Du wirst neue Seiten an dir entdeckt haben. Und womöglich Geschichten mitbringen, die es wert sind, aufgeschrieben zu werden.

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Naher Osten

ONLY THE LONELY

Reisen ist lästig – das wusste schon Stefan Zweig. Und alleine reisen kann erschüttern, denn in der Fremde liegt stets auch eine Verneinung. Sie reduziert, macht ärmer und zuweilen hoffnungsloser. Und dennoch: Wer alleine reist, sieht mehr von der Welt.

Von Nadine Pungs

Draußen ruft der Muezzin, die Klimaanlage rauscht. Zwischen gestern und heute liegt ein ganzer Kosmos, so scheint es. Aus meinen Haaren rieseln Sandkörner auf das weiße Laken. Irgendetwas hat sich verändert in mir. Eine Schwingung, ein Gefühl.

Seit ich aus der Wüste zurückgekehrt bin, brüllt die Welt. Und obwohl mein Fenster geschlossen ist, höre ich das Hupen und das Rattern und denke an das Schweigen in Wadi Rum. An die Sonne und wie sie die Wildnis in Goldpapier wickelte, denke an die Kamele mit ihren langen Wimpern und an ihre Fußspuren im Sand.

Rostrote Berge standen wie Schachfiguren um uns herum, unbeweglich seit Ewigkeiten, und wir schaukelten langsam vorbei.

Wadi Rum überstieg meine Vorstellungskraft. Weitläufig, einsam und gottähnlich sei sie, schrieb T. E. Lawrence über jene Landschaft, die mich berührte, ja, die aufrührte. Ich glaube nicht an Gott, und gleichwohl hat der Mann recht.

Zwei Tage ritt ich mit einem Beduinen durch die Wüste. 48 Stunden. 2880 Minuten. Das ist nicht viel, und doch schien die Zeit an jenem Ort bedeutungslos. Niemand war in Eile, niemand lebte schnell, bevor er alt wurde. Klar, auch bei den Beduinen hatte die Moderne Einzug gehalten. Sie benutzten Smartphones und bewarben ihre Touren im Internet. Sie schauten YouTube-Videos und posteten Selfies auf Instagram. Trotz alledem war ihre Lebensweise seltsam archaisch geblieben, war weiterhin an Tradition und Religion gebunden, im Guten wie im Schlechten.

Omar sammelte Zweige, machte Feuer, und wir kochten gezuckerten Tee in einer verrußten Kanne aus Gusseisen, während die Kamele uns dabei zuschauten. Bei Sonnenuntergang kehrten wir ins Camp zurück und aßen zusammen mit anderen Beduinen Fladenbrot und Reis, sangen arabische Lieder und trommelten dazu. Nur Ramiz sprach Englisch. Um seinen Kopf war ein weiß-roter Shemagh geschlungen, der im Schein der Flammen leuchtete, und wir scherzten, und Ramiz lachte, als ich erzählte, wie unbequem ein Kamelrücken doch sei. Der Beduine war cool und leise und frei und übermütig, als wäre er erfüllt von Naturgewalten. Und schön war er. Irgendwann verließen wir das Zelt, gingen ein paar Schritte in die dunkle Wüste hinein und starrten in den Sternenhimmel. Die Nacht war kalt, und wir froren ein wenig, als wir uns küssten.

Aqaba ist nicht schön. Die Stadt lärmt und stinkt nach Abgasen. Am nächsten Morgen erwische ich den Bus zurück nach Amman, und noch immer hängt Wadi Rum unter meinen Nägeln und zwischen meinen Schnürsenkeln.

»Gestern war ein wunderbarer Tag, da ich die Wüste entdeckte«, schrieb die große Orientreisende Freya Stark. Jetzt habe ich den Satz verstanden.

Der Busfahrer gibt Gas, am Fenster wehen Berge vorbei, Ödnis, eine Tankstelle, Gemüseverkäufer am Straßenrand. Zigarettenpause.

Jordanien bewegt. Die Menschen sind würdevoll und bescheiden, die Landschaft erdet.

Im wahrsten Sinne. Ich bleibe sitzen, betrachte meine Fingernägel und spüre den Sonnenbrand auf meinen Wangen. Und dann ist da dieser Wachstumsschmerz, weil sich das Herz weitet.

Bald einen Monat bin ich schon unterwegs, am Ende werden es zehn Wochen und vier Tage sein. Jordanien, Kuwait, Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate, Oman, Katar. Allein. Wie immer. Es geht nur so. Und stets ernte ich verdatterte Blicke, und die Gesellschaft bescheinigt mir Verwegenheit, weil ich, eine Frau, alleine losziehe. Als wäre ich ein Unikum, ein seltenes Exemplar, obwohl das Bullshit ist.

Wenn eine Frau ohne Begleitung reist, wird sie als mutig bezeichnet, als tapfer. Ein Etikett, das an ihr klebt wie nasse Kleidung. Ich verstehe die Aufregung darum nicht. Männer gelten nicht als mutig, wenn sie sich alleine auf den Weg machen, eher als abenteuerlustig. Oder selbstbestimmt. Sie sind die einsamen Wölfe, nicht die schrulligen Tanten. Kein Mensch wundert sich über männlichen Pioniergeist.

Macht es denn einen Unterschied, ob ich mit oder ohne Penis verreise?

Warum braucht eine Frau Mut und ein Mann nicht?

»Alleine? Als Frau? Du hast Eier!«, sagte ein palästinensischer Taxifahrer letzte Woche zu mir. Dass eine Frau unbemannt, also ohne Vater, Bruder oder Ehemann durch die Welt stromert, ist in dieser Welt noch immer wunderlich. Und doch bin ich davon überzeugt, dass es allein reisende Frauen oft leichter haben als allein reisende Männer, insbesondere im Orient, denn wir werden eingeladen, beschenkt, und uns wird die Tasche getragen.

Eier wachsen mir deswegen noch lange nicht, und sowieso: Meine Reisen haben weniger mit Mut zu tun als vielmehr mit Getriebenheit. Ich muss raus. Weil ich sonst eingehe. Ich muss dem grimmgrauen Alltag entkommen: Das Reisen ist meine Flucht aus der Welt in die Welt hinein. Das Reisen rettet mich, ist der Tropf, an dem ich hänge. Es gibt mir die Illusion, am Leben zu sein. That’s it.

Ja, ich weiß, das ist nicht besonders spektakulär. Originell ebenso wenig. Ich bin auch nicht an Selbstfindung interessiert. Oder an Erleuchtung. Ich versuche nur zu überleben.

Blogs und Zeitschriften titeln gerne mit ausgelutschten Schlagzeilen wie Ich gehe los, um bei mir anzukommen oder Aufbruch zu mir selbst. Wie fad. Das klingt, als hätte man sein Ich irgendwo verlegt und müsse es jetzt suchen gehen. »Bei den besten Reisen habe ich stattdessen das Gefühl, ich bastle an mir selbst.« Und zwar »ohne mitgebrachten Vertrautheitspuffer«, sprich, der Reisende schlägt sich alleine durch, wächst daran und verzichtet auf diesen Selbstfindungsfirlefanz. So sagt es die Autorin Anja Rützel und bringt es damit auf den Punkt.

Trotzdem sind die meisten Wannabe-Weltenbummler am liebsten in Gruppen unterwegs, schleppen ihren Vertrautheitspuffer mit, tragen alle die gleiche Kleidung, essen alle das gleiche Essen, erleben alle den gleichen Thrill auf dem Weg zum Ich. Ob nun eine Ayurveda-Kur auf Bali, das Yoga-Retreat in Indien, in dem mir der Yogalehrer sagt, wann ich einatmen soll, oder die Besteigung des Kilimandscharo, um auf dem Gipfel gemeinsam mit tausend anderen Wannabe-Weltenbummlern irgendwelche Erkenntnisse zu ersehnen, die sich dann doch nicht einstellen. Die Einwohner der konsumierten Länder sind oft nur Staffage, exotisches Beiwerk, als wären sie einfach dazugebucht. Die Teilzeit-Marco Polos auf Selbstsuche fühlen sich in ihren Schöffel-Jacken mega independent, fotografieren die Einheimischen ungefragt, obwohl diese sich wegdrehen, entdecken bereits Entdecktes, filmen mit ihrer GoPro aus dem klimatisierten Reisebus heraus den Dreck auf den Straßen und frühstücken schließlich interkontinental.

Individualität steht an erster Stelle – aber bitte nicht allein. In der Gruppe fühlt sich der Nonkonformist am wohlsten.

Mag sein, dass der Satz garstig klingt, aber es regnet draußen, und ich trinke Rotwein. Jordanischen Rotwein. Den mir einer der beiden einzigen Winzer im Land geschenkt hat. Ich würde ihn nicht trinken, wäre ich in einer Pauschalkompanie unterwegs gewesen. Denn dann hätte ich den Weinmacher nicht kennengelernt, er hätte mich nicht in sein Geschäft eingeladen, wir hätten nicht über Islam, Christentum und Korruption diskutiert und dabei verschiedene Weine verkostet, ich hätte nichts gelernt und wäre jetzt nicht beschwipst.

Vermutlich meinte Stefan Zweig ja genau das mit seinem Appell: »Reisen soll Verschwendung sein, Hingabe der Ordnung an den Zufall, des Täglichen an das Außerordentliche.«

Also lass dich ein! Gib die Kontrolle ab, bewege dich raus aus der Komfortzone, mach’s im Alleingang. Scheitere. Dann erlebst du Intensität.

Natürlich schwindele ich, wenn ich behaupte, mir würde das mit der Hingabe immer gelingen. Mitnichten. In den ersten beiden Wochen meiner Reisen bin ich grundsätzlich exorbitant uncool, meine Gedanken kreisen um die letzte Handyrechnung, ich checke das Wetter in Düsseldorf, oder ich rätsele über Annegret Kramp-Karrenbauers mottenkistiges Weltbild. Weil ich mich unsicher fühle, klammere ich mich an die Heimat. Doch irgendwann gewinne ich meine Lockerheit zurück und komme da an, wo ich bin. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Wirklich ankommen kann ich vielleicht nur dort, wo mein Zuhause ist. In der Fremde bleibe ich fremd. Aber dafür werde ich wacher, bin gezwungen, mich zu öffnen. Und dann wird Soloreisen intensiv.

Das ist oft lästig, weil da niemand ist, der mich tröstet oder das Busticket kauft. Und ja, womöglich braucht es dafür zuweilen ein Quäntchen Mut. Weil ich mich über meine eigenen Grenzen erheben muss. Zu einer kühnen Abenteurerin macht mich das allerdings noch lange nicht. Blödsinn. Bin ich doch weder als Reinhold Messner noch als Gertrude Bell unterwegs. Aber Reisen kann trotz alledem Ängste auslösen. Gefährden. Nerven. Ekeln. Langweilen. Glücklich machen. Nur so kann ich mich weiterentwickeln. Das ist etwas anderes als Selbstfindung. Entwickeln ist besser als Finden.

In Wadi Rum fand ich mich nicht. Zum Glück. Wer weiß, wer mir da begegnet wäre. Nein, ich staunte bloß. Hatte Schmerzen. Ich tanzte, und ich küsste. Erkannte erneut, dass die Erdbewohner liebenswürdiger sind, als das Fernsehen oder das Internet uns glauben machen wollen. Ich lernte neue Worte. Trank süßen Tee. Und ich kann jetzt ein Kamel reiten.

Umso weiter ich reise, umso größer wird die Welt, denn ich begreife, wie wenig ich weiß, und nur allein kann ich eintauchen in ein Land. Höre anderen Menschen zu. Stelle mich meinen Vorurteilen. Meinen Ängsten. Nicht ohne Grund lautet der Titel eines berühmten Märchens: »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Einer zieht los. Nicht drei oder vier.

Den letzten Satz schrieb ich am Flughafen. In drei Stunden werde ich in Kuwait landen. Noch habe ich keinerlei Vorstellung von dem Emirat, und mir ist bang. Das Muffensausen reist mit. Aber ja. Immer. Fragen donnern mir durch das Hirn. Sorgen. Lassen sie mich rein? Wie soll ich vor Ort zurechtkommen? Reicht die Kohle? Meine Lockerheit ist dahin. Und schließlich ist da noch die Einsamkeit, die jedem Alleinreisenden nachläuft wie ein räudiger Hund. Großes Thema. Tausende Lieder, Gedichte und Romane besingen sie, verfluchen sie.

Kafka meinte, seine Kreativität entstünde nur durch die Vereinzelung. Und für den Schlagersänger Christian Anders hat die Einsamkeit gleich viele Namen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber zuweilen wünsche auch ich mir einen Gefährten. Jemand, der meine Unruhe glattstreichelt und verspricht, dass alles gut wird. Doch da ist niemand. Weil ich es so wollte. Und wenn sie mich dann packt, die Einsamkeit, dann höre ich ganz laut Musik oder lese ein Buch. Habe ich Glück, hilft das. Habe ich kein Glück, heule ich wie ein kleines Kind. Das ist nicht sexy und schon gar nicht verwegen. Aber was soll ich machen? Das ist der Preis, den ich für die Freiheit zahle. That’s it.

Die letzten Worte schrieb ich schon in Kuwait. Jetzt ist es dunkel, und der Muezzin ruft. Ich sitze auf einer Bank im Park und beobachte die Menschen. Väter schieben Kinderwagen, Mütter flanieren nebendran, Jogger laufen ihre Runden. Im Hintergrund blinken die Wolkenkratzer, und ein Mädchen mit pinken Bommeln im Haar lächelt mich an.

Morgen reise ich weiter nach Bahrain, und heute fühle ich mich stark genug fürs Unterwegssein. Noch ahne ich nicht, wie besoffen vor Glück ich einen Monat später sein werde, weil ich ganz alleine, ohne einen Komplizen, auf eine haushohe Düne im Oman klettern darf. Im Leeren Viertel. Um den Sonnenuntergang zu bestaunen, die Farben des Himmels, und um darüber nachzudenken, wie vor siebzig Jahren der berühmte Forscher Wilfred Thesiger hier mit seinen Beduinen vorbeiritt. All das kann ich machen, ohne dass mich jemand zulabert und mir den magischen Moment versaut. Diese Vollkommenheit des Augenblicks gehört nur mir. Wie wunderherrlich! Deshalb reise ich allein. Erinnert mich ein Begleiter doch stets an die Heimat. Ich aber will fremd werden, will mich versenken. In einen Duft, in das Singen der Sanddünen, in eine Umarmung. Und dann ziehe ich weiter. Nur alleine bin ich frei.

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Indien

GRENZPFAD

Vor einigen Wochen war ich nach Ladakh in den äußersten Norden Indiens zurückgekehrt, diesmal, um einige Monate zu bleiben. Ich wollte abseits der ausgetretenen Pfade wandern, meine Grenzen ausloten, mich einmal mehr meinen Dämonen stellen, die in der Einsamkeit unweigerlich aus ihren Löchern kriechen würden.

Von Oleander Auffarth

Meine erste Reise hatte mich drei Jahre zuvor zum ersten Mal über den Manali-Leh-Highway nach Ladakh geführt. Damals war gerade der Winter hereingebrochen, und nach einer spektakulären Fahrt voller Hindernisse war ich Ende Oktober dort angekommen. Ich hatte die Klöster der Region erkundet und war zwei Wochen später schweren Herzens wieder in wärmere Gefilde abgereist, nachdem die Wasserleitungen meines Hotels wegen tiefen Frosts abgestellt wurden. Ich wusste, dass ich wiederkommen musste.

Es war Sommer, und ich hatte mich bereits einige Wochen in und um Manali und in Leh, der Hauptstadt Ladakhs, akklimatisiert, war zwischendurch acht Tage lang durch das Markhatal gewandert und hatte einige Tage in Turtuk verbracht, nahe der Grenze zu Pakistan, am gefühlten Ende der Welt. Nun dürstete es mich nach einem existenziellen Abenteuer. Schon seit einiger Zeit hatte ich mich auf eine Wanderung versteift, die mich von Lamayuru nach Rangdum führen sollte. Obwohl ich bereits einige Wochen in Leh verbracht hatte, war mir auf meinen Streifzügen durch die Stadt in keinem der Schaufenster der zahllosen Trekkingagenturen Werbung für diese Tour aufgefallen. Das gefiel mir.

Neben der gerade absolvierten Wanderung beschränkten sich meine bisherigen Erfahrungen auf eine dreiwöchige Tour von der Stadt Jiri zum Fuß des Everest in Nepal. Diesmal wollte ich einen Schritt weiter gehen.

Niemand konnte mich von meinem Plan abhalten. Ein Teil von mir wollte alles riskieren, den Tanz auf der Rasierklinge, auf dem schmalen Grat zwischen Heldenmut, Wahnsinn und Verderben. Ein Gefühl zwischen Panik, Übermut und Ekstase befiel mich. Es war dasselbe manische Gefühl, das ich in den Wellen verspürte, wenn mir die Urgewalt des Ozeans die Kostbarkeit meiner Existenz enthüllte, weil sie mit jedem Fehler enden konnte.

Ich fuhr zunächst nach Lamayuru und verbrachte mehrere Nächte in einem Gasthaus, um mich innerlich auf die Tour vorzubereiten und um das buddhistische Kloster zu besuchen, das eines der ältesten in Ladakh ist. Am Tag darauf lief ich mit dreißig Kilogramm auf dem Rücken los. Ich hatte Ausrüstung, Gaskocher und Vorräte für eine Woche dabei. Unterwegs würde ich am Wegesrand weder eine Teestube finden noch ein Restaurant, Gasthäuser oder Läden. Neben Suppen trug ich Pasta, Thunfisch, Haferbrei, Müsli, Gewürze und Snacks bei mir. Wasser schöpfte ich unterwegs aus den Flüssen. An den ersten beiden Tagen desinfizierte ich es noch, danach setzte ich auf meinen Indien-erfahrenen Magen. Jeden Tag füllte ich am frühen Nachmittag zwei Flaschen ab, bevor der Fluss so viel Sediment mitführte, dass das Wasser zum Kochen unbrauchbar wurde.

Der erste Tag führte von Lamayuru nach Shila – angeblich keine besonders schwierige Etappe. Doch schon der erste kleinere Pass verlangte mir alles ab.

Schnell wurde mir klar, wie schwierig das Unternehmen werden würde. Ich übernachtete am Eingang einer Schlucht, die von der Hauptroute nach Padum abzweigte – das erste große Hindernis. Wie gebannt blickte ich auf das imposante Nadelöhr, das meine Route nach Zanskar markierte.

Am nächsten Morgen passierte ich den schmalen Eingang der Schlucht. Ein verwaistes Badehäuschen, das aus heißen Quellen gespeist wurde, war das letzte Zeichen der Zivilisation, danach schien es mir, als würde ich unmittelbar in die Wildnis eintauchen.

Staunend blickte ich die zerklüfteten Steilwände hinauf, die sich mehrere Hundert Meter über mir auftürmten. Bald verbreiterte sich die Schlucht wieder, und die Felsformationen wirkten noch beeindruckender. Ich lief durch eine Steinwüste, in der nur hier und da ein paar Büsche oder vereinzelte Silberbirken aufragten. Der tiefblaue Himmel war durchsetzt von Kumuluswolken. Die Sonne erreichte nur selten den Grund, dennoch leuchteten die Wände in betörenden Variationen aus Gelb-, Orange-, Grau- und Brauntönen.

Es fiel mir schwer, in der engen Schlucht mit den unzähligen Biegungen die Route zu erahnen. Ohne Kompass verlor ich schnell jedes Gefühl für die Himmelsrichtung. Nicht nur einmal fragte ich mich nach einer Weggabelung, ob ich noch in die richtige Richtung lief.

Laut Beschreibung sollte ich die fünfzehn Kilometer durch die Schlucht an einem Tag bewältigen können, doch schon die Flussquerungen verlangten mir alles ab. Ich hatte vor der Wanderung alle verfügbaren Routenbeschreibungen studiert. In allen hieß es, dass der Fluss im Juni und Juli gefährlich anschwellen könne, Ende August sollte die Querung jedoch unkompliziert sein.

Das deckte sich in keiner Weise mit der Realität: Die Strömung wurde durch abschmelzendes Gletscherwasser im Laufe des Tages immer stärker, sodass es schon am Nachmittag ein Wagnis war, den Fluss zu überqueren. In den frühen Abendstunden geriet meine Wanderung dann zu einer gefährlichen Grenzerfahrung. Ich sehnte das Ende der Schlucht herbei, denn es kostete mich Zeit und Kraft, den Fluss ständig nach einer geeigneten Stelle zur Überquerung abzusuchen, immer getrieben von der Hoffnung, es möge endlich die letzte sein, nur um wenige Minuten später wieder vor einer Biegung des Shila zu stehen, der sich mal am linken, mal am rechten Rand der Schlucht entlangschlängelte. Ich sank bis zu den Hüften in den Fluss und hatte große Schwierigkeiten, mit dem Gewicht auf dem Rücken ans andere Ufer zu gelangen. Immer wieder wurde ich fast von der Strömung mitgerissen, die Sandalen knickten unter dem Druck des Wassers um, und immer öfter konnte ich mich nur mit einem letzten, beherzten Schritt retten. Der anschwellenden Panik begegnete ich mit Todesverachtung und nutzte zuletzt einen großen Ast, um mich völlig entkräftet ans andere Ufer zu ziehen. Dort hatte ich einen kleinen Lagerplatz unterhalb einer majestätischen, zerklüfteten Felswand erspäht. Weiter würde ich an diesem Tag beim besten Willen nicht kommen.

Mithilfe von Yakdung und einigen Zweigen entzündete ich ein Feuer und kochte Pasta, die ich mit Thunfisch und Chili verfeinerte. Im schwindenden Abendlicht leuchteten die Felsen goldbraun in der Abendsonne.

Mein Zelt hatte ich mir in Leh geliehen. Das Gute: Es wog weniger als ein Kilo. Das Schlechte: Es war denkbar ungeeignet für Übernachtungen in großer Höhe. Das klamme Tunnelzelt weckte in mir Assoziationen an ein nasses Grab, und in der Einsamkeit produzierte mein Hirn wirre Gedanken und bedrohliche Albträume – Menschen, Erinnerungen und Orte aus der Vergangenheit verwischten.

Hatte ich am Abend noch gedacht, es bis kurz vor das Ende der Schlucht geschafft zu haben, so wurde ich am nächsten Tag eines Besseren belehrt.

Ich brauchte einen ganzen Tag für die vollständige Durchquerung. Rund vierzigmal hatte ich den Fluss am Ende überquert. Was um alles in der Welt hatte ich mir dabei gedacht, ganz allein und mit viel zu viel Gepäck ins Unbekannte vorzustoßen?

Völlig durchnässt erreichte ich nach dem zweiten Tag in der Schlucht den Lagerplatz. Dort hatte ein Mann sein Zelt errichtet, der mir bereits auf den letzten Kilometern begegnet war. Er war mit einigen Pferden unterwegs, und ich sollte ihm in den nächsten Wochen immer wieder über den Weg laufen. Er lud mich auf einen Schwarztee ein und zog sich danach zurück.

Es folgte eine regnerische, ungemütliche Nacht. Im Mondschein konnte ich ein Phänomen beobachten, das ich noch öfter sehen sollte: die Mineralien in den Bergen leuchteten. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, ich hätte schwören können, es schneite.

Am Morgen stand mir ein strammer Aufstieg durch niedriges Buschwerk bevor. Glücklicherweise konnte ich noch sehen, welche Route der Mann mit den Pferden gewählt hatte, sonst hätte ich den Weg wohl nicht gefunden. Das Wetter war mies, und während ich mich nach oben quälte, tauchte ein Adler mit gewaltigen Schwingen direkt über mir auf und segelte mit den Aufwinden hinauf in sein Revier, das für mich unerreichbar bleiben würde.

Auf der Passhöhe wurde ich mit Hagel begrüßt, der mich umgehend weitertrieb. Es folgte ein langer Abstieg hinunter in eine neblige Talsohle. Vereinzelte Steinhäuser tauchten verschwommen aus dem gespenstischen Nebel auf, umgeben von Feldern in Grün- und Gelbtönen. Die Landschaft wirkte wildromantisch, aber auch ein wenig bedrohlich. Die wenigen Einheimischen erwiderten mein Grüßen nicht – eine seltene Erfahrung in Ladakh. Ich kam mir vor wie ein Eindringling.

Schließlich fragte ich einen alten Mann nach dem Weg. Über seinem wettergegerbten Gesicht thronte ein grüner traditioneller tibetischer Hut. Aus irgendeinem Grund assoziierte ich ihn mit einem Schamanen. Auch er grüßte nicht, lächelte nicht einmal und wies mürrisch in die Richtung, in die ich ohnehin schon unterwegs war. Ich überholte ihn, und fortan rief er mir lautstark Korrekturen zu, sobald ich minimal vom Weg abwich. Ich fühlte mich unwohl, verfolgt von einem Schatten. Später forderte er Geld für seine Dienste, doch ich gab ihm nichts. Hoffentlich belegte er mich in der Nacht nicht mit einem Fluch.

Ich hatte das dumpfe Gefühl, durch ein verwunschenes Tal zu wandern. Dabei war mir eigentlich klar, dass diese Eindrücke von meiner Stimmung herrührten – von inneren Widerständen, die meine Wahrnehmung prägten. Wir erschaffen uns die Welt selbst.

Obwohl ich um meinen Gemütszustand wusste, fiel es mir schwer, mich nicht von diesen Emotionen leiten zu lassen. Sie verhinderten eine tiefe Verbindung mit der Natur und den Menschen um mich herum, bis ich an einen Punkt tiefer Erschöpfung gelangte, meine Schmerzgrenze so weit überschritten hatte, dass meine Gedanken ungehindert in Kreisen umherwanderten. Innen- und Außenwelt verschmolzen miteinander.

Das war meine Form der Meditation. In diesen Phasen fand ich zu tiefer innerer Ruhe, ließ los und war eins mit der Natur. Die Stille wurde zu einem Tosen. Meine Wanderung war Geschenk und Prüfung zugleich.

Ich übernachtete an einem kleinen Wasserkanal, der ein höhergelegenes Feld bewässerte. Eine ältere Frau machte kurz an meinem Lagerplatz halt. Es dauerte eine Weile, bis ich ihr pantomimisch begreiflich gemacht hatte, dass ich ohne Führer und Lasttiere unterwegs war, dass ein verrückter Esel mehr als genug sei. Sie konnte sich kaum halten vor Lachen.

Am nächsten Tag erreichte ich Kanji, das einzige dauerhaft bewohnte Dorf auf der Route – eine Ansammlung von etwa fünfzig Häusern. Das weite Tal bot Raum für großzügige Felder, die mithilfe ausgeklügelter Kanäle bewässert wurden. Es war Erntezeit, und wie so oft war ich fasziniert davon, wie es den Menschen im Himalaja gelang, die unwirtliche Umgebung urbar und fruchtbar zu machen. Nach dem Gefühlschaos, das mich im letzten Weiler befallen hatte, fühlte ich mich in Kanji willkommen. Ich wurde gegrüßt und in kurze Unterhaltungen verwickelt, hielt mich an der Flusskreuzung links und traf bald nur noch auf vereinzelte Schäfer und Viehzüchter, die im Sommer mit ihren Tieren im Tal lebten.

Nach einigen Stunden begegnete ich einem Hirten, der mich in seine einfache Steinbehausung zu Schwarztee und Chang, einem tibetischen Hirsebier, einlud. Der Weg zu einem Reinheitsgebot wird wohl noch lang sein, was meine Dankbarkeit keineswegs schmälerte. Seine Frau fiel aus allen Wolken, als er einen Fremden mitbrachte. Einsame Wanderer sahen sie hier nur selten. Nach einer brüchigen Unterhaltung machte ich mich wieder auf den Weg und erreichte zwei Stunden später einen Lagerplatz an einer Flusskreuzung. Dort fand ich den schönsten Zeltplatz auf der Wanderung. Allerdings war es schon spät, und mir blieb nur wenig Zeit, bevor die Sonne unterging.

In der Nacht leuchteten die Berge, und Sternschnuppen zogen über den klaren Himmel. Ich sehnte ein Ende meiner inneren Einsamkeit herbei.

Am sechsten Tag meiner Wanderung wurde ich bei Sonnenaufgang von einer Herde neugieriger Ziegen geweckt, die mein Zelt beschnupperten. Nach einer großen Portion Haferbrei und einer Kanne Schwarztee zum Frühstück lief ich anderthalb Stunden, bis ich das Basislager am Kanji La erreichte. Eine Trekkingagentur hatte einige Felsen bemalt, sodass kein Zweifel über den weiteren Verlauf der Route bestand, und auch die Reisebeschreibung war erfreulich eindeutig: Ascend the side valley. Da das Tal aus einer steil ansteigenden Geröllhalde bestand, beschloss ich, über einen Seitenhang aufzusteigen. Die Hinterlassenschaften von Eseln und Pferden deuteten an, dass dieser Weg bereits begangen wurde. Überdimensionierte Erdmännchen tauchten vor mir auf, stießen schrille Schreie aus und brachten sich in Sicherheit.

Nachdem ich eine Gruppe von Felsen erreicht hatte – Continue to a prominent ridge top –, verfluchte ich die Wahl meiner Route. Der sogenannte Weg wurde immer schmaler, bis er schließlich verschwand. Meine Beine zitterten. Steine stürzten in die Tiefe. Auf dem steilen Grat aus Geröll suchte mich die Höhenpanik in immer neuen Wellen heim. Ein falscher Schritt, und ich würde ein paar Hundert Meter in die Tiefe stürzen. Nur mit äußerster Mühe kämpfte ich mich auf einen halbwegs vernünftigen Pfad zurück.

Die letzten 300 Meter Steigung brachten mich an den Rand meiner Kräfte. In weiten Bögen schleppte ich mich über die Geröllfelder nach oben und brachte die letzten Meter nur unter Qualen hinter mich. Erleichterung überkam mich. Ich hatte das Schlimmste geschafft! Dachte ich.

Dann der Schock: Nirgends waren die typischen Gebetsfahnen zu sehen, die jeden prominenten Pass markierten. Hinter dem Grat führte kein Weg nach unten. Für einen Moment dachte ich darüber nach, weiter aufzusteigen, doch mir wurde schnell klar, dass das Harakiri wäre. Der Hang über mir war viel zu steil, ein Weg war nicht klar auszumachen. Ich fror im schneidenden Wind, hatte mich in der Einöde verirrt, wusste nicht, wo ich falsch abgebogen war und wo sich der richtige Weg verbergen mochte.

Auf der anderen Seite des Tals erspähte ich zwar einen Pfad, der im wilden Zickzack nach oben führte, doch allzu halsbrecherisch aussah, und mit der Routenbeschreibung schien er auch nicht übereinzustimmen. Ich dachte nach: Am Morgen hatte ich mein letztes Gas verbraucht. Mir blieb nur, nach Kanji zurückzukehren.

Für einen Moment fühlte ich mich von der Natur bezwungen, doch schon bald wurde mir klar, wie töricht dieser Gedanke war. Niemand konnte die Natur übertrumpfen, höchstens über sich selbst hinauswachsen. Ich war ein großes Risiko eingegangen, allein aufzubrechen. Diesmal würde es eben nicht nach meinem sturen Kopf gehen. Vielleicht wäre das sogar eine hilfreiche Erfahrung, und ich würde daraus lernen, eine Grenze zu akzeptieren. Doch da war auch ein Teil von mir, der das Ruder herumreißen wollte, sich nicht geschlagen geben und alles auf eine Karte setzen wollte. Der Draufgänger in mir wollte auf Teufel komm raus weitergehen – was es auch kostete. Dem Draufgänger gefiel der Gedanke, dass es vielleicht keine Rückkehr geben würde.

Doch verquerer Stolz war in jenem Moment unangebracht. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, weiter stur in die Wildnis vorzudringen. Ein Blick auf die Satellitenkarte bestätigte später: Ich wäre ins Nichts vorgestoßen.