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Westend Verlag

Ebook Edition

Bernd Hontschik

Erkranken schadet Ihrer Gesundheit

Westend Verlag

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-752-8

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: © Jasmin Zitter, ZitterCraft, Mannheim

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Alles oder nichts
Risiken und Nebenwirkungen
Etappensieg
Roboter im OP
Ärzte und Igel
Märchen im Gesundheitswesen
Kontrolle um jeden Preis
Wirtschaft oder Gesundheit
Angekettet
Arme Viren
Armutszeugnis
Der beste Arzt aller Zeiten
Moderne Seuchen
Weit entfernt und doch so nah
Goldman Sucks
Engpass
Sag es der App
Schwör 2.0
Nackt im Netz
Tricorder
Mietmäuler
Meniskusschaden
Mit Medizin hat das nichts zu tun
Zahnloser Tiger
Eiskalte Menschenverachtung
Die Kunst und der Tod
Edle Weltregenten
Gesundheitssprech
Patienten-Bashing
Kannibalische Weltordnung
Auf dem hohen Ross
Medizin nach Postleitzahl
Verschwörungstheorien
Totalschaden
Für eine Handvoll Euro
Kinderbibel
Drogenpolitik ist Gesundheitspolitik
Eine Krankenkasse ist genug
Externe Personen
Tot oder hirntot, das ist die Frage
Oslo, Aachen, Cochem an der Mosel
Hochdruckgebiete
Teuflisch
Rote Laterne
Ministerium gegen Einsamkeit
Comeback
Klassenfeinde
Das Wort zum Schluss
Vom Kopf aufs Papier
Wer mehr wissen will

Alles oder nichts

Um Weihnachten und Neujahr herum kann man sich vor den vielen guten Wünschen kaum retten: Gesundheit, Glück und Erfolg – die Formulierungen variieren, aber der Inhalt ist immer gleich. Die Gesundheit ist auf Rang eins bei den guten Wünschen fürs neue Jahr, gefolgt von Glück und Erfolg. Aber was ist das eigentlich, die Gesundheit?

Ist man gesund, wenn man nicht krank ist? Ist man gesund, wenn man nicht weiß, dass man krank ist? Es gibt Tausende von Krankheiten, aber gibt es nur eine Gesundheit? Bedeutet Gesundheit für jeden Menschen vielleicht etwas anderes? Gesundheit ist körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden, das ist zumindest die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO. Gesundheit sei uns verborgen, sie sei »das Schweigen der Organe«, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer. Karl Kraus dagegen nimmt’s leicht: »Gesund ist man erst, wenn man wieder tun darf, was einem schadet.« Für Aldous Huxley war schon vor knapp hundert Jahren »die Medizin so weit fortgeschritten, dass man kaum noch Gesunde findet« – was für eine Weitsicht! Ein ganz anderer Aspekt findet sich in den »Maximen und Reflexionen« von Johann Wolfgang von Goethe: »Ein gesunder Mensch ohne Geld ist halb krank.«

Am häufigsten wird aber Arthur Schopenhauer zitiert. Nicht der Ausspruch: »Der einzige Mann, der nicht ohne Frauen leben kann, ist der Frauenarzt« des notorischen Frauenhassers ist am bekanntesten geworden, sondern er hat angeblich auch das Wortspiel: »Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts« in die Welt gesetzt. Hat er aber gar nicht! Das hat Schopenhauer nie gesagt, nirgends in seinen Schriften ist dieser bescheuerte Satz zu finden. Dennoch wird er immer wieder und überall mit diesem unmöglichen Spruch zitiert.

Stellen Sie sich vor, Sie wären krank und es käme jemand daher und sagt zu Ihnen: »Ohne Gesundheit ist alles nichts.« Was jetzt, wo doch alles nichts ist? Ein dummer, hirnlos dahingesagter Spruch und eine Ohrfeige für jeden, der krank ist.

Nachdem Schopenhauer in Frankfurt am Main zehn Jahre lang zumeist zur Untermiete gewohnt hatte, bezog er im Jahr 1843 im Alter von 55 Jahren eine Wohnung an der Schönen Aussicht, wo selbst das nichtssagende Fischerplätzchen am Mainufer bis heute auf seine Umbenennung in Arthur-Schopenhauer-Platz wartet. Dort hat der Philosoph bis zu seinem Tod 1860 gewohnt, und dort hat er etwas ganz anderes gesagt, nämlich »dass wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist als ein kranker König«. Das leuchtet ein.

Womit wir wieder auf Goethe, auf Arm und Reich und somit auf das Geld zurückkommen müssen. Der verfälschte und vielfach missbrauchte Spruch von Schopenhauer, dass »ohne Gesundheit alles nichts« sei, muss stattdessen – mit Goethes Hilfe – lauten: »Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts.«

Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Moment, in dem Fürsorge dem Profit dient, ist die wahre Fürsorge verloren.

Bernard Lown, Boston 2016, persönliche Mitteilung

Risiken und Nebenwirkungen

Im Mai 2016 wurde im angesehenen British Medical Journal über eine US-amerikanische Untersuchung berichtet, die mich sofort elektrisierte. Ich war mir sicher, dass diese Untersuchungsergebnisse gewaltige Reaktionen in medizinischen Fachblättern, aber auch in der breiten Öffentlichkeit hervorrufen würden. Schon der Titel der Veröffentlichung verschlug mir die Sprache: »Fehler in der Medizin – die dritthäufigste Todesursache in den USA«. Ich wartete ab. Aber nichts folgte, nichts geschah, keine aufgeregten Sondersendungen, keine einzige Talkshow.

Was ist eigentlich eine Todesursache? Die Todesursachenstatistik entsteht durch die Auswertung der ärztlichen Eintragungen auf den Totenscheinen. Damit ist das erste Problem verbunden: Wenn man etwa durch eine Krebserkrankung so stark geschwächt ist, dass man stürzt, sich die Knochen bricht und operiert werden muss, kann man in Folge der Bettlägerigkeit an einer Lungenentzündung erkranken und sterben. Was ist in diesem Fall die Todesursache?

Das zweite Problem entsteht dadurch, dass die Definition von Todesursachen vom eigenen Standpunkt abhängt, also in keiner Weise objektiv ist. Wenn man Statistik aus Sicht der Ernährungswissenschaft betreibt, dann ist es die Fettsucht, die auf Platz eins der Todesursachen stehen müsste. Die Folgeerkrankungen der extremen Übergewichtigkeit sind Herz-Kreislauf-Schäden, Stoffwechselstörungen oder sogar auch Krebs, heißt es. Wenn man streng katholisch ausgerichtete Veröffentlichungen zur Hand nimmt, dann wird als häufigste Todesursache und mit großem Abstand die Abtreibung an erster Stelle genannt. Wenn man die Kriminalstatistik und Todesursachenstatistik zusammenführt, dann gehört – zumindest in den USA – der Mord zu den zehn häufigsten Todesursachen. Verkehrsunfälle sind jedes Jahr die Ursache für Tausende von Toten. Bei den Anschlägen auf die Twin Towers in New York im Jahr 2001 kamen fast 3 000 Menschen ums Leben. Danach mieden viele Menschen für eine gewisse Zeit das Flugzeug und reisten vermehrt mit dem Auto. Dadurch stieg in den USA die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle um ca. 1 600. Todesursache Autounfall oder Todesursache Terrorangst?

Es ist mit den Statistiken über Todesursachen also viel komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Wenn man die wirklichen Ursachen beiseitelässt, so sind es Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Leber- und Lungenkrankheiten, Infektionen und Unfälle, die in unserem Land für etwa achtzig Prozent aller Todesfälle verantwortlich gemacht werden können. Wenn man sich damit aber nicht zufriedengeben will und weiterforscht, dann tauchen plötzlich die medizinischen Fehler als Todesursachen an dritter Stelle auf, obwohl sie kein einziges Mal auf den ärztlichen Eintragungen der Totenscheine vermerkt worden sind. Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Menschen, die in Armut leben, eine mindestens zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als ökonomisch sorgenfreie Menschen, ist dann Armut die Todesursache?

Und da all diese erschütternden Ergebnisse wissenschaftlich erwiesen sind, kann es niemand ernsthaft von der Hand weisen, dass sich in der Medizin dringend etwas ändern muss.

Ärzte und Igel

Sie starten Ihr Auto, wie jeden Morgen. Sie wollen zur Arbeit fahren. Eine rote Warnlampe blinkt am Armaturenbrett. Sie rufen bei einer Autowerkstatt an. Eine freundliche Stimme am Telefon, man hört sich Ihre Mängelbeschreibung an. Dann sagt man Ihnen, dass man eigentlich keine Termine mehr frei habe. Aber wenn Sie auch noch eine neue Batterie und dazu neue Wischerblätter kaufen würden, dann könnten Sie morgen Nachmittag in die Werkstatt kommen. Wie nennt man das? Nötigung? Unverschämtheit? Erpressung? Würden Sie so eine Werkstatt aufsuchen? Würden Sie diese Werkstatt weiterempfehlen?

Sie stehen morgens auf und gehen in die Küche, wie jeden Tag. An der Kaffeemaschine fällt Ihnen auf, dass Sie ein Flimmern vor den Augen haben. Das Flimmern wird zwar nicht stärker, aber es geht auch nicht weg. Fast hätten Sie den Kaffee neben die Tasse geschüttet. Sie rufen in einer Augenarztpraxis an. Eine freundliche Stimme meldet sich am anderen Ende, man hört sich Ihre Beschwerden an. Dann stellt man Ihnen eine verblüffende Frage: Wie sind Sie versichert, privat oder gesetzlich? Gesetzlich natürlich, sagen Sie. Da bietet man Ihnen einen Termin in vier Wochen an. Ja, wenn Sie privat versichert wären, hätten Sie heute noch kommen können. Dann stellt man Ihnen aber noch eine weitere, genauso verblüffende Frage: Ob Sie mit einer Augeninnendruckmessung einverstanden wären? Ihre Krankenkasse würde das nicht bezahlen, die 45 Euro müssten Sie in bar mitbringen. Dann wäre doch noch ein zeitnaher Termin möglich. Wie nennt man das?

Nötigung? Unverschämtheit? Erpressung? Würden Sie eine solche Arztpraxis aufsuchen? Würden Sie eine solche Arztpraxis weiterempfehlen?

Die Augeninnendruckmessung soll die Früherkennung des Glaukoms ermöglichen, des Grünen Stars, der unbehandelt zu Schäden am Sehnerv und zu Erblindung führen kann. Die Augeninnendruckmessung ist aber ohne gleichzeitige genaue Untersuchung des Sehnervs nutzlos, wird von der Krankenkasse daher als Früherkennungsuntersuchung nicht bezahlt. Außerdem hat der Augeninnendruck erhebliche Schwankungen im Tagesverlauf, sodass ein einzelner Messwert keine Aussagekraft hat. Diesem Statement stimmt sogar der Bundesverband der Augenärzte zu. Dennoch bekommt man die Augeninnendruckmessung aber bei manchem Augenarztbesuch zwecks Abkassierens aufgeschwatzt, gelegentlich auch aufgenötigt. Man spricht in solchen Fällen von IGeLn, den Individuellen Gesundheitsleistungen. Das sind entweder überflüssige und nutzlose Leistungen wie eben die Augeninnendruckmessung, oder es sind ärztliche Konsultationen wegen Fernreisen oder speziellen sportlichen Anforderungen, für die die Krankenkassen nicht zuständig sind. Es gibt sogar IGeL-Seminare, die Ärztinnen und Ärzte tatsächlich im Verkaufen dieser Leistungen schulen.

Peinlich, wenn Arztpraxen wie Krämerläden funktionieren. Solchen Ärztinnen und Ärzten würde ich die Kassenzulassung entziehen. Aber Sie haben ja immer noch die freie Arztwahl. Sie müssen so eine Abzockerpraxis nicht aufsuchen. Rufen Sie bei anderen Augenarztpraxen an. Wenn sie dann eine gefunden haben, wo Ihnen zeitnah geholfen wird, lassen Sie das Ganze nicht auf sich beruhen, sondern teilen Sie den Vorfall unbedingt Ihrer Krankenkasse mit.

Roboter im OP

Als ich jüngst in einer Zeitung las, dass ein großes Frankfurter Krankenhaus in Zukunft Roboter bei Operationen einsetzen wird, bin ich zunächst zutiefst erschrocken. Die Erinnerung holte mich ein, die Erinnerung an den Robodoc. Technische Neuerungen haben in der Chirurgie schon immer unglaubliche Fortschritte möglich gemacht. So hat beispielsweise die Miniaturisierung in Verbindung mit hochauflösenden digitalen Videokameras und Bildschirmen zu den revolutionären Operationsmethoden der minimalinvasiven Eingriffe geführt. Mit dieser Methode konnten die Operationszeiten deutlich verkürzt, die postoperativen Schmerzen und Beschwerden erheblich verringert und die Zeit bis zur Gesundung zum Teil auf weniger als die Hälfte reduziert werden.

Trotzdem erschrecke ich. Ich erinnere mich sofort daran, dass der Roboter schon einmal einen triumphalen Einzug in den Operationssaal gehalten hat: Vor fünfunddreißig Jahren wurde der Robodoc, ein umgebauter Fließbandcomputer aus der amerikanischen Autoindustrie, bei der Implantation künstlicher Hüftgelenke eingesetzt. In Frankfurt war die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik an der Spitze dieser revolutionären Neuerung. Niedergelassene und Krankenhauschirurg*innen wurden zu Fortbildungen mit opulenten Buffets eingeladen, bei denen die Individualität und Passgenauigkeit der Hüftprothesen angepriesen wurden, die mit dem Robodoc gefräst und eingesetzt worden waren. Presse, Funk und Fernsehen trugen die große Begeisterung mit. Etwas neidisch und ungläubig beobachteten wir, wie die BG-Unfallklinik mit ihren drei Robodocs, von denen jeder mehr als eine halbe Million Euro gekostet hatte, eine geradezu magnetische Sogwirkung auf die Hüftgelenkskranken der Region und auch darüber hinaus ausübte. Den Patient*innen war der Rolls-Royce der Hüftgelenksprothesen versprochen worden.

Aber die langfristigen Ergebnisse waren katastrophal. Die Robodoc-Patient*innen hatten häufig ausgedehnte Muskel- und Nervenschäden, wodurch sie unwiderruflich zu Invaliden wurden, mit Dauerschmerzen, bei jedem Schritt auf Krücken angewiesen, völlig arbeitsunfähig, bald frühberentet. Auch in meiner Praxis hatte ich solche Patient*innen in Behandlung. Wochen und Monate versuchten wir mit allen Mitteln der konservativen Chirurgie, der Nervenstimulation, des Muskelaufbaus und der Physiotherapie eine Besserung zu erreichen. Vergeblich. Die Nerven und Muskeln im Operationsfeld des Oberschenkels waren zerstört.

Erst Jahre später konnte die ganze Katastrophe bilanziert werden. Die über ganz Deutschland verteilten mehr als sechzig Robodocs wurden stillgelegt. Einige der involvierten Chefärzte wurden entlassen, auch derjenige der BG-Unfallklinik in Frankfurt. Man munkelte auch von großzügigen Spenden und Schmiergeldzahlungen. Hunderte der schwer geschädigten Patient*innen verklagten die Krankenhäuser und die Herstellerfirma, die noch nicht einmal über eine korrekte Zulassung für den klinischen Einsatz des Robodoc verfügt hatte. Die meisten aber verloren über die vielen Jahre der Berufungen und Revisionen den Mut, oder es ging ihnen das Geld aus. Und mit der Zeit gerieten sie und ihre Schicksale langsam in Vergessenheit.

Die Schicksale dieser Patient*innen sollten uns aber immer wieder daran erinnern, welche großen Schäden die Chirurgie anrichten kann, besonders wenn Eitelkeit und Gewinnsucht den chirurgischen Verstand trüben. Fortschritt ist nichts Gutes an sich. Und deswegen erschrecke ich, wenn in der Zeitung vom erneuten Einzug von Robotern in den Operationssaal zu lesen ist. Und mein Erschrecken wird noch größer, wenn ich außerdem an die Enthüllungen denke, die 2018 unter dem Titel »The Implant Files« weltweites Aufsehen erregten. Schlampig erstellte Zulassungspapiere, korrupte oder unfähige Zulassungsbehörden für unzulängliche Medizinprodukte, brüchige Gelenkprothesen, zerrissene Brustimplantate mit Industriesilikon, defekte Herzschrittmacher mit Kurzschlussrisiko: Statt blindem Vertrauen ist gesunde Skepsis angebracht.

Etappensieg

Großzügigkeit, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe sind nicht die ersten drei Assoziationen, die mir einfallen, wenn ich an die Pharmaindustrie denke. Dennoch: Der US-amerikanische Konzern Pfizer stellte der Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« vor kurzem eine Million Impfdosen gegen die von Pneumokokken verursachte Lungenentzündung kostenlos zur Verfügung.

Die Pneumokokken-Pneumonie verursacht weltweit eine Million Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren, mehr als jede andere Infektionskrankheit. Aber nur 37 Prozent aller Kinder weltweit sind geimpft, denn der Impfstoff, den außer Pfizer auch Glaxo Smith Kline herstellt, ist sehr teuer. Nur ein Drittel aller Länder dieser Welt kann ihn sich leisten.

Nun ist der Konzern Pfizer bislang nicht gerade bekannt gewesen für selbstlose Gesten gegenüber Kindern in Entwicklungsländern. Pfizer musste sich 2007 wegen eines Medikamententests vor Gericht verantworten, der an 200 Kindern in der Provinz Kano in Nigeria durchgeführt worden war. Der Konzern hatte sein Zelt dort direkt neben dem von »Ärzte ohne Grenzen« aufgebaut. Die Eltern konnten den humanitären Einsatz nicht von dem Medikamententest mit dem bis dato unerprobten Antibiotikum Trovan unterscheiden. Elf Kinder seien daran gestorben, viele lebenslang behindert. Und Pfizer ist 2016 wegen Wettbewerbsverstößen zur Zahlung von knapp 100 Millionen Euro verurteilt worden, weil man in Großbritannien »überhöhte und ungerechte« Preise verlangt hatte.

Zurück zu dem Geschenk von einer Million Pneumokokken-Impfungen: Auf diese großartige Spende folgte eine ebenso großartige Reaktion von »Ärzte ohne Grenzen«, über die man überall zunächst sprachlos war. Die Hilfsorganisation wies die Spende nämlich zurück und erklärte, dass der Pneumokokken-Impfstoff Prevenar völlig überteuert verkauft würde, sodass eine Impfung bei Kindern in Entwicklungsländern unmöglich sei.

»Ärzte ohne Grenzen« forderte Pfizer auf, statt solch willkürlicher Barmherzigkeitsanfälle endlich den Preis des Impfstoffes auf höchstens fünf Euro für die vier erforderlichen Impfdosen zu senken. Der New Yorker Konzern war empört über diese Zurückweisung. Doch bei der Hilfsorganisation blieb man unbeirrt: Man werde keine noch so hohe, aber eben doch begrenzte Zahl von gespendeten Impfungen annehmen, um mit diesem kurzfristigen Nutzen die notwendige Verbesserung für alle zu verhindern. Pfizer hatte 2015 mit diesem Impfstoff immerhin einen Umsatz von über sechs Milliarden US-Dollar erwirtschaftet, was etwa einem Siebtel des Gesamtumsatzes des Konzerns entsprach. 2001 hatte die vollständige Impfung eines Kindes in den Entwicklungsländern laut »Ärzte ohne Grenzen« noch weniger als einen Dollar gekostet, 2014 dagegen über 45 Dollar, und die Hälfte davon wird allein für die Pneumokokken-Impfung verbraucht. Pfizer hat diesen Impfstoff mit einem Schutzwall von Patenten umgeben und damit alle Prozesse gegen preiswertere Nachahmerpräparate gewonnen.

Mit einer nur scheinbar guten Nachricht hat diese Kolumne begonnen, mit einer wirklich guten Nachricht endet sie jetzt: Nachdem 2015 in Genf bei der UN-Weltgesundheitsversammlung 193 Länder eine Resolution für transparente und bezahlbare Impfstoffpreise verabschiedet hatten, nachdem »Ärzte ohne Grenzen« bis April 2016 über 400 000 Unterschriften in der Kampagne »A Fair Shot – Bezahlbarer Impfstoff für jedes Kind« gesammelt und an Glaxo und Pfizer übergeben hatte, nachdem Glaxo Smith Kline dann eine deutliche Impfstoff-Preissenkung angekündigt hatte, zog Pfizer vor einem Monat endlich nach und nahm ebenfalls eine massive Preissenkung für humanitäre Organisationen vor. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, ein großer Schritt für Kinder in Entwicklungsländern!

Märchen im Gesundheitswesen

Unser Gesundheitswesen ist in Gefahr! Das hört man überall. Die größte Gefahr gehe davon aus, dass die Gesundheit bald nicht mehr bezahlbar sein werde. Der medizinische Fortschritt mache die Medizin immer teurer, deswegen könne er nicht mehr allen zugutekommen. Man werde rationieren, priorisieren und zuteilen müssen. Und dann ist da außerdem auch noch die immer weiter steigende Lebenserwartung, die immer größer werdende Zahl alter Menschen. Älter ist kränker ist teurer lautet das Schreckgespenst. Aber stimmt das eigentlich alles?

Der Begriff der Kostenexplosion ist 1974 vom damaligen Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz, Heiner Geißler, in die politische Diskussion eingeführt worden. Mit Hilfe einer irreführenden Visualisierung von eigentlich recht geringen statistischen Schwankungen der Gesundheitskosten entstand der Eindruck einer steil ansteigenden Kostenkurve. Der Spiegel setzte daraufhin mit der Serie: »Krankheitskosten: Die Bombe tickt« im Jahr 1975 das ganze Land unter Strom. Spätestens jetzt war klar: Es bestand dringender Handlungsbedarf. Es ist jetzt zwanzig Jahre her, dass ein Taschenbuch mit dem Titel »Das Märchen von der Kostenexplosion« erschienen ist und sich 1998 zu einem Bestseller entwickelte. Bis dahin hatte der Begriff der Kostenexplosion aber schon eine enorme Bedeutung in allen Diskussionen um die Zukunft des Gesundheitswesens erlangt. Alle Welt war der Meinung, dass das Gesundheitswesen bald nicht mehr bezahlbar sein würde und auf den totalen Zusammenbruch zusteuern würde.

Tatsächlich gibt es aber keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Es hat auch noch nie eine gegeben. Die Ausgaben für das Gesundheitssystem sind in unserem Land seit Jahrzehnten konstant. Sie betragen zehn bis zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit minimalen Ausschlägen nach oben oder unten, und zwar nicht wegen explodierender Kosten, sondern wegen konjunktureller Schwankungen dieses Bruttoinlandsprodukts. In dem nun schon zwanzig Jahre alten Büchlein wurde damals die These von der Kostenexplosion definitiv widerlegt, ja ad absurdum geführt. Man könnte nun meinen, dass das Thema der Kostenexplosion im Bereich des Gesundheitswesens eigentlich für immer erledigt sei. Weit gefehlt. Seitdem und bis heute wird in jeder Talkshow und bei jeder Erörterung über die Zukunft unseres Gesundheitswesens jedes Mal wieder auf die Kostenexplosion verwiesen.

Als einzelner Beitragszahler spürte man ja nichts von der Konstanz der Gesundheitskosten, im Gegenteil. Man spürte stattdessen eine kontinuierliche Erhöhung der Krankenkassenbeiträge. Diese beruhte aber nicht auf einer Kostenexplosion, sondern auf einem dramatischen Einnahmeeinbruch der Gesetzlichen Krankenversicherung durch die zunehmende Arbeitslosigkeit in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die teilweise bis zu zwölf Prozent betrug. Die dadurch fehlenden Beitragseinnahmen konnten nur durch Beitragserhöhungen aufgefangen werden. Und um diese Beitragserhöhungen möglichst gering ausfallen zu lassen, wurden Selbstbeteiligungen der Erkrankten eingeführt, auch wenn diese dem Konzept einer Solidarversicherung diametral widersprachen. Rezeptgebühr, Zuzahlungen, individuelle Zusatzbeiträge und selektive Beitragserhöhungen mit eingefrorenem Arbeitgeberanteil waren solche Veränderungen. Dies waren allesamt Veränderungen zu Lasten der einzelnen betroffenen Kranken, die damit nicht länger in der Solidargemeinschaft aufgefangen und aufgehoben sind. Diese Entwicklung wurde von ausnahmslos allen politischen Parteien betrieben und fand ihren Höhepunkt in der rot-grünen Agenda 2010. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder rief gleich zu Beginn seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 den paradigmatischen Satz ins Plenum: »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.«