Tom Limes

Voll verkackt ist halb gewonnen

Das ist für all die, die nicht von dieser Welt sind.

Die schlecht in Anpassen, Ellbogen und Geld sind.

Die nach den ganzen harten Jahren noch sie selbst sind.

Egal, was alle anderen sagen, ihr seid Helden.

– Swiss + Die Andern, Nicht von dieser Welt

Lust auf Musik beim Lesen? Die Playlist zum Buch findest

du auf www.tom-limes.de.

Julian

1 In ihrem Hoody, den engen Jeans und Boots, allesamt im Farbton Tiefschwarz, sah sie aus wie frisch aus dem schwarzen Block gefräst.

Sie saß schräg vor mir im Klassenraum und ich musste sie schon die ganze Zeit immer wieder anstarren – nicht nur wegen ihres hübschen Gesichts hinter dem schwarzen Fransenpony, sondern auch weil sie ständig zuckte, als wäre sie mit einer Steckdose verkabelt worden. Zudem schlug sie sich immer wieder zu einem Rhythmus, den keiner außer ihr hörte, gegen die Schulter, schnalzte mit der Zunge und ruckte mit dem Kopf.

»Ey, hast du Krämpfe, oder was?«, giftete ein kahl geschorener Möchtegernskinhead neben ihr.

»Nix Krämpfe!«, mischte sich ein dunkelhaariger, sportlicher Typ in meinem Alter mit Basecap und glitzernden Ohrklunkern ein. »That’s Beatboxing … Hey, check it out.« Er legte die Hände trichterförmig vor den Mund und erweckte damit unfassbar peinlich eine Basedrum zum Leben.

Der Glatzkopf sah aus, als würde er jeden Moment platzen, das eben noch blasse Mädchen lief knallrot an und ich – ich lehnte mich kinomäßig zurück und wünschte mir Popcorn herbei.

Die ganze Sache hier schien noch um einiges verrückter zu werden, als ich erwartet hatte.

Da klopfte der Schlipsträger vorn auf das Rednerpult und funkelte in unsere Richtung. »Bitte konzentrieren Sie sich noch fünf Minuten«, meldete er sich mit lauter Stimme zu Wort und setzte seine lähmende Eröffnungsrede zu dieser sogenannten Bildungsmaßnahme fort – eine Pflichtveranstaltung für jemanden wie mich, der schon vor der zehnten Klasse alles hingeschmissen hatte, aber noch keine achtzehn war.

»Euch erwartet in den kommenden zwölf Monaten ein Mix aus Unterricht, speziellem Förderunterricht und Werkstatteinheiten von unseren Pädagogen hier im Maßnahmengebäude, dazu Unterricht im Kolleg nebenan und ein paar Praktika«, erklärte der Maßnahmenchef mit übertriebener Begeisterung. »Hier bekommt ihr die Chance, doch noch euren Hauptschulabschluss zu machen.«

Bla, bla, bla.

Ich konnte das ganze Geschwafel echt nicht mehr hören. Dies hier war immerhin meine siebte »Einschulung«. Oder hatte ich mich verzählt? Das wäre zugegebenermaßen keine megagroße Überraschung, denn Zahlen und Rechnen waren noch nie so mein Ding gewesen.

In Mathematik befand ich mich nämlich auf dem Niveau eines Drittklässlers. So die Meinung der Durchblickerfraktion, bestehend aus Therapeuten, Ärzten und Psychiatern. Nicht so der Burner für einen mittlerweile Siebzehnjährigen, oder? Die Auswirkung: Ab der Siebten buchte ich in Mathe ein stabiles Sechserabo und bei einem dermaßen niedrigen mathematischen Tiefflug konnte mein so oft gelobtes »sprachliches Talent« auf Dauer eben auch nichts mehr wettmachen. Am Ende half mir das eigentlich nur noch dabei, ab und zu ganz anständige Songtexte zu schreiben – zumindest solange Jule noch, ach, egal …

Dieses schulische Desaster katapultierte mich dann aus dem Gymnasium heraus schrittweise ins schulische Nichts, bis ich heute einen weiteren Tiefpunkt meiner Schullaufbahn erreichte, denn ich war nun offizieller Teilnehmer dieser Bildungsmaßnahme für Flachpfeifen. Einer von sechzehn Deppen – allesamt »Schulversager«, die bildungsmäßig gar nichts gerissen bekommen hatten und deshalb ohne jeglichen Abschluss in Maßnahmen wie dieser in Richtung Hoffnungslosigkeit dümpelten.

Denn das war nun mal die Realität, auch wenn der Typ am Pult gerade betonte, dass wir bei regelmäßiger und erfolgreicher Teilnahme hier eine »gute und reale« Chance auf den Schulabschluss und damit eine anständige Ausbildung bekamen.

Oh, Mann. Während meine alten Schulfreunde also langsam begannen, nach der coolsten Uni zu suchen, saß ich wieder einmal in einem weiteren miefigen Klassenzimmer, um meinen … tadaaaa … Hauptschulabschluss nachzuholen.

Meine Freude war, wie erwartet, grenzenlos.

Nachdem der Einführungsvortrag endlich beendet war, schnappte sich der Redner seinen Aktenkoffer und ließ uns mit einer sehr jungen, zierlichen Pädagogin mit roten Locken zurück, damit diese uns die Details der nächsten Tage mitteilen konnte. Sie hieß Marlen Knöpfle, war Sozialpädagogin und Lehrerin – und anscheinend einer unserer Folterknechte im Bereich Holz.

Für diesen Bereich Holz hatte ich mich allerdings nicht entschieden, weil ich ihn so spannend fand, sondern bloß, weil mich alle alternativen Schwerpunkte noch weniger interessierten.

Trotzdem: Ich hatte keinen Schimmer, was Sägen und Hobeln mit einem Schulabschluss zu tun haben sollten.

Es verknüpft Arbeiten und Lernen, Julian. Es weckt die Kreativität, macht Spaß und hilft dir vor allem, dich nach all den Fehlschlägen wieder zu motivieren.

Ohne Scherz jetzt, das hatte mir die Berufsberatungstante beim Infogespräch auf meine Frage ernsthaft geantwortet.

»Hallo? Können Sie bitte mal still sein?«, fragte diese Knöpfle nun viel zu freundlich und piepste danach noch mal irgendwas von wegen »Chance fürs Leben«, »Tolle Praktika« und »Wir sind ein Team!«, doch eigentlich hörte ihr längst keiner mehr zu.

Ein großer, dürrer Typ im Punklook hatte seinen Kopf lieber in einen fetten Wälzer über Kapitalismus gesteckt, der Glatzkopf schickte die gerade erst verteilten Stundenpläne als Papierflieger auf Reisen, eine überstylte Blonde feilte an ihren Fingernägeln … doch die meisten glotzten einfach nur blöd in der Gegend rum oder beschäftigten sich mit ihrem Smartphone.

Auf jeden Fall ignorierten sie die Rothaarige. Mit einer Ausnahme: das Mädchen mit dem schwarzen Hoody, das vorhin vom Glatzkopf so angemacht worden war. Sie saß da mit blitzenden Augen, saugte jedes Wort in sich auf und machte sich Notizen, als würde sie diese Sache hier wirklich ernst nehmen.

Zwei geschlagene Stunden später war der ganze Spuk endlich vorbei. Wir hatten unsere Unterlagen bekommen, alles war gesagt, also nickte ich meinen neuen Schulversagerklassenkameraden zum Abschied zu und fuhr nach Hause.

In meiner Wohnung angekommen, schmiss ich mich sofort aufs schwarze Ledersofa und zog einen Schuhkarton aus seinem Versteck hervor.

Keine zwei Minuten später brannte sie: meine ganz persönliche, selbst gebastelte Schultüte. Aus Papier, etwas Pappe, einem Daumen breit Tabak und einer ordentlichen Portion Gras. Knisternd kroch die Glut in Richtung meiner Lippen und ich hielt den bittersüßlichen Qualm so lange wie möglich in der Lunge. Sanfte Wellen trugen mich davon. Whohoo!

Endlich ein bisschen Entspannung nach dem ganzen Mist! Denn mal ernsthaft – ausgerechnet ich sollte an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen? Das machte doch einfach null Sinn: Egal, was in diesem Jahr passierte, ich würde keine Karriere mehr hinlegen – maximal als Flaschensammler.

Früher träumte ich davon, später mal als Journalist oder Autor zu arbeiten. Ich wollte ja schreiben, denn ich habe schon immer total gern Leute beobachtet und dann Geschichten über sie erfunden oder Comics gezeichnet. Mittlerweile war ich diesem Später alterstechnisch ziemlich nahe gekommen, hatte aber noch nicht mal einen Hauptschulabschluss in der Tasche. Tja, und ohne Abschluss keine Party, so einfach war das. Da halfen mir eben auch nicht die zig gewonnenen Schreibwettbewerbe aus alten Tagen, denn niemand interessiert sich für dich, wenn du die Schulzeit so derbe versemmelt hast wie ich.

»Also einen Abschluss, den brauchen Sie schon«, hatte die Berufsberatungstussi vor ein paar Wochen noch gesagt.

Vielen Dank auch für so eine bahnbrechende Information! Und dann hat sie mich in diese überflüssige Qualimaßnahme hineingezwungen – als ob mir die Teilnahme dort automatisch einen Schulabschluss einbringen könnte. Wegen der Schulpflicht würden meine Eltern, wenn ich nicht hinging, kein Kindergeld mehr für mich bekommen. Sauer verdientes Schmerzensgeld, wie mein Vater es allen Ernstes bezeichnete. Darauf zu verzichten, das kam für ihn, diesen alten Pfennigfuchser, so gar nicht infrage, dabei würde er das bei den ganzen Millionen auf seinen Konten doch überhaupt nicht merken.

Mein Vater und ich, das war ohnehin so eine Sache für sich. Wir hatten noch nie den besten Draht zueinander gehabt, sondern brüllten uns eher nach kürzester Zeit an.

Als Time-is-Money-Karrierist war er nicht sonderlich amused vom dauerchillenden, nichtsnutzigen Sohn, der die letzte Schule nach zweimaligem Sitzenbleiben in Klasse acht verlassen hatte und von seiner lieben Mutti trotz allem viel zu sehr verwöhnt wurde. So seine Meinung. Zum Glück war er ständig irgendwo unterwegs. Außerdem finanzierte er mir nach wie vor den Luxus meiner Einliegerwohnung mit separatem Eingang an der Seite von ihrem Haus und deshalb versuchte ich, einem Streit mit ihm, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen.

Ich schloss die Augen und ließ mich tief in die Couch sinken. Schon seit Wochen hatte ich den Beginn der Maßnahme mit dunklen Wolken auf mich zudriften sehen. Dabei hatte ich meine Zeit gerade so entspannt mit ein bisschen Musik, Gezeichne und Büchern ausgefüllt. Und selbstverständlich weiter hart an meinem Ruf als erfolgreicher Weedgärtner gearbeitet.

Ich brauchte diesen Schulkram nicht! Egal, was meine Eltern und all diese ach-so-korrekten Pädagogen sagten. Bei mir lief es … okay.

Zumindest bis heute.

Der letzte Zug des Joints verbrannte mir fast die Lippen.

Ich hatte völlig verdrängt, wie unsexy es ist, morgens zu einer bestimmten Uhrzeit aufzustehen. Nachdem die Einführungsveranstaltung gestern noch ganz entspannt gestartet war, hieß es ab heute: Pünktlich um 7:50 – um sieben Uhr fünfzig! – mussten wir, die Holzprofis, zur Einführung in der Werkstatt antreten. Und so entriss mich mein Handy um sechs Uhr mit dem heftigsten Klingelton meinen süßen Träumen.

Boah, das waren schmale vier Stunden Schlaf gewesen. Mein Spiegelbild sah aus wie die Druckplatte des roten Kraftklubcovers: blass mit roten Augen.

Ein paar Minuten nachdem die kalte Dusche mein Hirn etwas massiert hatte, trat ich mit verwaschenem Shirt, ausgebeulter Jeans und abgewetzten Vans aus dem Haus. Meinen Augen gönnte ich eine dunkle Sonnenbrille, denn dieser Septembermorgen war definitiv zu hell für meinen Geschmack. Über die Ohren schob ich mir den sauteuren Kopfhörer, den ich mir vor Kurzem von meinem Vater geborgt hatte.

Der einsetzende Bass überlagerte die Außenwelt. Ich setzte mich in die nächste U-Bahn und ließ die App über meine Reiseroute entscheiden. Hoch leben die Programmierer, die dieses himmlische Tool gebastelt haben. Früher war ich völlig aufgeschmissen, wenn ich herausfinden wollte, welche Bahn mich pünktlich ans Ziel kutschieren durfte. Ich war nämlich bereits beim Ablesen einer Zeigeruhr raus. Jetzt musste ich nur noch das digitale Ankunftszeiträdchen richtig wischen und schon reichte ein Blick aufs Handy, um meinen neuen Lehrern mitteilen zu können, wann sie mich mit dampfendem Kaffee und Croissant am Schultor empfangen durften.

Shit! Ankunft: 8:03 stand da auf dem Display.

Letztendlich traf ich sogar mit rund dreißig Minuten Verspätung vor dem Eingang des Maßnahmengebäudes ein. Die Bahn war ausgefallen. War halt Köln.

Maßnahme … das klang ähnlich verlockend wie Brechdurchfall und das Maßnahmengebäude hatte passenderweise den Charme eines abgefuckten Lagerschuppens. Manege der Idioten und Verstoßenen hatte jemand über die Eingangstür gesprayt. Es sah ziemlich frisch aus – stand das schon gestern dort?

Durch ein Lkw-taugliches Tor ging es in eine Halle mit diversen Werkbänken, an denen man bestimmt unglaublich beeindruckende Sachen aus Holz bauen konnte. Die Skizzen für meine perfekte Bong kamen mir in den Sinn, aber aus Holz? Hm … vielleicht in Kombi mit einem Glaszylinder. Ich musste grinsen, während ich den Blick umherschweifen ließ.

Das war also das Reich der sechzehn Holzis, wie ein mittellustiges Schild schon am Hallentor verkündete, damit sich bloß keiner der Metals, Schrauber oder Nähis zu uns verirrte, die ihr klägliches Dasein in angrenzenden Gebäuden fristeten. Am Ende der Halle waren ein paar Räume abgeteilt worden, unter anderem Unterrichtsräume und Büros. Zögernd öffnete ich die Tür zu dem Raum, in dem wir gestern begrüßt worden waren, und erblickte gerade mal fünf Leute. Fünf! Von fünfzehn Holzexperten!

Ich Depp war scheinbar zu früh aufgestanden. Schweigend ließ ich mich auf einen Stuhl in der hintersten Reihe fallen und platzierte meinen Rucksack aus alter Gewohnheit als Kopfkissen auf dem Tisch.

Rechts von mir saß ein korpulenter Typ mit Pottschnitt und kariertem Pullunder. Vor ihm lag ein riesiges belegtes Baguette, das er sich nun freudig in den Schlund gleiten ließ.

Dabei schaute er mich an: »Knöpfle kmmt gleiff. Ftau«, sagte er und wischte sich einen Mayoklecks aus dem Mundwinkel. Ich übersetzte innerlich, dass Frau Knöpfle erhöhtes Verkehrsaufkommen zu bewältigen hatte, und nickte ihm pflichtbewusst lächelnd zu.

Auch das zuckende Mädchen mit den schwarzen Klamotten war schon da und schlug sich wieder in unregelmäßigen Abständen mit der flachen Hand gegen das Schlüsselbein. Was war bloß los mit der? War das normal? Und sie zuckte nicht nur, sie schnalzte und räusperte sich auch ständig! Echt strange. So in Action zu sein, musste ja Kalorien verbrennen wie bei einem Profisportler.

Auf der linken Seite saß außerdem ein total schmaler Typ. Der hatte Klamotten an, als wäre er auf dem Weg hierher erst mal nackig bei der Heilsarmee aufgeschlagen. Und seine Brille war original die von Harry Potter. Sogar mit Klebeband geflickt. Den Blick hatte er so konzentriert auf seine fein säuberlich mit Kadir beschriftet Kladde geheftet, als müsse er gerade seinen eigenen Namen auswendig lernen. Seine reichlich aufgetakelte Banknachbarin – es war dieses Mädchen, das sich schon während der Einführung so exzessiv die Nägel gefeilt hatte – fragte ihn etwas, doch er reagierte nicht einmal.

Da wurde die Tür aufgerissen und dieser dunkelhaarige Beatboxer, heute mit fetter Panzerkette um den Hals und triefend gegelten Haaren, stand grinsend im Türrahmen, als warte er auf Applaus.

»Hey, Bros … was geht?«, rief er. »Ich bin’s, euer Tariq!«

Ah ja.

Kaugummi kauend betrat er den Raum. Seine Augen hefteten sich sofort an das zuckende Mädchen. Klar, sie war ja auch wirklich kaum zu übersehen.

Tariq blieb direkt vor ihr stehen, was ganz offensichtlich die Voltzahl in ihren Adern steigerte, denn das Zucken wurde stetig krasser.

»Hi, Chica, so früh am Morgen schon wieder am Abrocken?«

Das Mädchen zog sich die schwarze Kapuze über den Kopf, ihre Hände waren geballt, die Knöchel weiß vor Anspannung. Und sie zuckte. Immer heftiger. Als ich dachte, sie würde im nächsten Moment explodieren, sprang sie plötzlich auf und bellte.

Sie bellte. Wie ein Hund.

»N-n-nur Tics!«, rief sie. Dann rannte sie mit hochrotem Kopf raus.

Wow.

Stille senkte sich über den Raum.

Ich sah zu Tariq und vielleicht war es unklug oder gar gefährlich, schließlich sah der Typ, das wandelnde Gangsterklischee, groß und durchtrainiert aus, aber ich konnte einfach nicht sitzen bleiben.

Meine Vernunft zog schon immer den Kürzeren, wenn es darum ging, mich zwischen sinnvoll und gefährlich zu entscheiden.

Deshalb stand ich auch jetzt auf und marschierte geradewegs auf Tariq zu. »Hast du irgendwelche Probleme, du Vollidiot? Was für ein Wichser muss man sein, um ein Mädchen, das offensichtlich … äh … krank ist, so blöd anzulabern. Musst du dich so scheiße verhalten?«

Der Typ schaute verblüfft und lächelte dann irritiert. »Was war daran scheiße? Das …«, seine Augenbrauen verwandelten sich in zwei tanzende Raupen, »… war Mister-Tariq-Style! Komm schon, Alter, das war nicht beleidigend. Gestern hab ich sie doch total verteidigt vor dem da.« Er deutete zu dem Bomberjackenglatzkopf.

Ich konnte es echt nicht fassen. Wo war ich hier nur gelandet?

»Kleiner Tipp.« Ich fixierte ihn mit schmalen Augen. »Dein Tariq-Style … also, da ist noch Luft nach oben. Viel Luft.«

»Ach, wieder so ’n langweiliger Deutscher«, brummte Tariq genervt. »Ihr geht doch alle zum Lachen auf die Toilette.«

»Wenn schon, dann in den Keller«, antwortete ich automatisch, aber der Vollpfosten hatte seine Ohren bereits mit einem Kopfhörer verdeckt.

Als ich mich umdrehte und zu meinem Platz zurückgehen wollte, entdeckte ich das Mädchen wieder. Sie stand in der Tür zum Klassenzimmer und wenn ich das bisschen Gesicht, das die kleine, ovale Öffnung der Kapuze freigab, richtig deutete, lächelte sie mich fast dankbar an. Doch dann zuckte sie wieder und räusperte sich, als hätte sie ’nen Baumstamm in der Kehle.

Ich wendete den Blick ab und glitt, schon jetzt völlig im Eimer, auf meinen Stuhl.

Allmählich beschlich mich so eine Ahnung, warum es immer hieß, in Maßnahmen wie diesen fände man nur die absoluten Nieten.

Liza

2 Ich hasste mich dafür, dass Idioten wie dieser Tariq immer wieder solche heftigen Reaktionen bei mir auslösen konnten. Eigentlich schaffte ich es mittlerweile ganz gut, nichts auf dumme Sprüche zu geben – warum musste ich ausgerechnet heute so neben der Spur sein?

Obwohl … vielleicht lag es auch daran, dass es im Grunde schon vorher echt blöd losgegangen war: gestern diese Einführungsveranstaltung, bei der keiner zugehört hatte. Und heute? Da saß ich schon kurz vor Schulbeginn voller Tatendrang im Klassenraum. Allein. Auch zum offiziellen Stundenbeginn war ich immer noch die Einzige. Ein paar Minuten später kam dann so ein Typ mit geflickter Brille und setzte sich an einen Einzeltisch. Ich hatte es mit etwas Small Talk probiert, doch er reagierte einfach nicht. Er saß da nur so rum und stierte auf das ramponierte Notizbuch, das er mittlerweile aus einer Plastiktüte gezogen hatte.

Nach und nach kamen weitere Leute rein und ich spürte, dass mit jedem von ihnen eine neue Portion Unlust den Raum erfüllte, bis ich irgendwann dachte, ich kriege keine Luft mehr. Wie sollte ich denn hier irgendwas lernen, wenn ich als Einzige freiwillig in dieser Quali hockte? Natürlich hätte auch ich mir etwas Besseres gewünscht, als mit sechzehn Jahren so für meinen Hauptschulabschluss zu kämpfen, aber nach meinem Zusammenbruch in der Achten schien das hier die einzige sinnvolle Option zu sein.

Jedenfalls hatte mich das gestern schon ziemlich runtergezogen. Nicht gut für meine Tics, denn jeder Hauch von Stress steigerte sie heftig. Dabei war es ja auch schon an normalen Tagen schwer genug, sie im Zaum zu halten. Stellt euch vor, ihr müsstet einen hyperaktiven, tonnenschweren Ackergaul am Strick umherführen, dann wisst ihr so ungefähr, wie viel Kraft es mich kostete. Eine Weile lang funktionierte das meist und auch jetzt gelang es mir, zumindest nicht ganz so wild herumzuzucken, doch als dieser Tariq mich ansprach, da ging irgendwie gar nichts mehr und es riss mich samt Ackergaul davon. Ich versuchte, es noch mit einer kleinen Erklärung zu retten, aber dann musste ich erst mal raus, um wieder ein bisschen runterzukommen.

Luzifer – so habe ich dieses unnütze Etwas genannt, das mich kurz vor dem zehnten Geburtstag entdeckt und sich an mir festgekrallt hat. Erst war Luzifer noch damit zufrieden, mal meine Augen oder meinen Kopf zum Zucken zu bringen, aber irgendwann wollte er mehr. Er wollte aus mir kichern, schnalzen und bellen und je aufgeregter ich war, desto wilder trieb er es mit mir. In den siebentausend Gesprächsgruppen, die ich bereits besucht hatte, hieß es zwar immer: Du hast Tourette und nicht das Tourette dich, aber … ich empfinde das durchaus ein bisschen anders. Hilflos sah ich mit an, wie Luzifer alles verschlucken wollte, was ich mal war. Am Ende sah dann wirklich jeder nur noch Luzifer statt mich. Das war so grausam, dass ich vor über einem Jahr endgültig beschloss, die Einsamkeit meiner vier Wände dem permanenten Spießrutenlaufen in der Schule und draußen vorzuziehen. Fortan hockte ich meist auf dem Bett und ließ den Laptop auf dem Schoß zunehmend die Lücke füllen, die entstanden war, als selbst Mia, meine letzte und treueste Freundin aus Grundschulzeiten, ständig neue Ausreden fand, um sich nicht mehr mit mir treffen zu müssen. Vielleicht habe ich sie aber auch nur mit meiner immer öfter gruseligen Laune vergrault. Der Frust über Luzifer hatte mich zu einer meist angenervten, dummen Ziege werden lassen.

Jetzt wieder meine Höhle zu verlassen, war deshalb Stress pur und damit ich mich nicht sofort aufs Neue blamierte, hatte ich die letzten Wochen hart trainiert, Luzifer zu bändigen. Ich hatte ihn um Ruhephasen angefleht, Entspannungskram gemacht, Wunderzeug geschluckt. Ich wollte nicht wegen der Blicke und Sprüche meiner Mitschüler eine weitere Schule verlassen. Und da Luzifers Bändigung zu Hause so gut funktionierte, hatte ich am Ende echt geglaubt, es könnte auch in der Maßnahme klappen. Wie naiv von mir.

Nachdem Luzifer, der Herr meiner Tics, sich also dank Tariq direkt am ersten richtigen Tag unserer Qualifizierungsmaßnahme schon ausgetobt hatte, marschierte ich jetzt wieder zurück in den Klassenraum.

So ein Schlabberklamottentyp stauchte gerade Tariq zusammen. Ob es da um mich ging? Das wäre ja eigentlich echt nett, andererseits brauchte ich keinen Beschützer. Das kriegte ich auch allein hin. So wie sonst auch.

Als mein Möchtegernbeschützer zu mir schaute, musste ich dennoch das erste Mal lächeln. Er hatte wirre dunkle Locken, die sich aus seiner Wollmütze herauswanden. Aber diese knallroten Augen … der hatte wahrscheinlich schon heute Morgen eine komplette Hanfplantage inhaliert. Dass er wenig später mit dem Kopf auf seinem Rucksack einpennte, bestätigte diesen Verdacht. Schade eigentlich, aber solche Typen waren echt nicht mein Ding.

Als dann Frau Knöpfle, tausend Entschuldigungen murmelnd, durch die Tür rauschte, waren endlich fast alle Plätze besetzt.

Wie sie so dastand, in einem grünen Filzkleidchen, orangeschwarz gemusterter Strumpfhose und knöchelhohen Mary-Poppins-Schuhen, wirkte sie ein bisschen wie ein verlorenes Kind. Vielleicht lag das auch daran, dass sie so klein und zierlich war oder weil sie gerade sehr unsicher mit dem Amulett spielte, das an einem Lederband um ihren Hals baumelte. Ihre Lippen bewegten sich, doch der Lärm, den die anderen veranstalteten, überlagerte ihre dünne Stimme.

Oje, Frau Knöpfle war die mit Abstand schüchternste Lehrerin, die mir je begegnet war. Das war für all die Klassenclowns hier bestimmt ein gefundenes Fressen. Ich hatte sofort Mitleid mit ihr.

Doch auf einmal zog sie einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche und ließ ihn mehrmals geräuschvoll auf ihr Pult krachen.

»Wir werden jetzt direkt mit ein paar … kleinen, äh … Tests beginnen«, nutzte sie die überraschte Stille. »Die Resultate sind dann die Grundlage für die Aufteilung in Lernniveaustufen. Alles ganz entspannt natürlich!« Sie kicherte und fügte fast entschuldigend hinzu: »… und es gibt auch keine Noten.«

Die Tests – Mathe, Deutsch, Englisch – waren wirklich okay. Ich war ja auch gar nicht so schlecht in der Schule, zumindest solange ich noch regelmäßig hingegangen war.

Während es um mich herum ächzte und stöhnte, löste ich den Matheteil in weniger als der Hälfte der vorgeschriebenen Zeit und konnte unauffällig die Leute beobachten, denn sie waren größtenteils so sehr im Stressmodus, dass sie um sich herum nichts mehr mitbekamen. Der Schweiger war recht eifrig, Tariq balancierte pseudocool seinen Bleistift auf einer Fingerkuppe, wirkte jedoch ziemlich nervös.

Ich ertappte den Kiffer immer wieder dabei, wie er seinerseits mich beobachtete. Er grinste charmant, leider auch verdammt breit. Sein Blatt war komplett bemalt. Die Kritzeleien sahen sogar recht kunstvoll aus, doch es sollten ja eigentlich die Lösungen der Aufgaben draufstehen und so wie der wirkte, würde er heute nichts Vernünftiges mehr zu Papier bringen. Links von mir schnieften ein paar Mädchen. Besonders theatralisch wimmerte Elvira, ein Mädchen mit blonden Ringellöckchen und Glitzerminirock. Sie schluchzte, als nahe gerade der Weltuntergang, doch da sie dabei auf ihren abgesplitterten Gelnagel blickte, vermutete ich mal, dass es ihr weniger um den Test ging.

Nachdem Luzifer sich in den letzten Minuten ziemlich still verhalten hatte, spürte ich nun jenes untrügerische Ziehen in meiner Brust, das jedem Tic vorausging. Ich versuchte, es wegzudrängen, doch es hatte keinen Zweck, denn das Tourette-Syndrom kämpft immer um sein Recht und irgendwann kracht es dann so aus dir heraus, als hätten sich alle unterbundenen Tics zusammengetan. Und egal wann das passierte, dieser Moment war in meinen Augen niemals passend.

Jetzt war einer dieser unpassenden Momente: Für jeden anderen im Raum völlig unvermittelt erwachte Luzifer zum Leben. Ein Kläffen entwich meiner Kehle, gefolgt von einem zweiten und dritten, und prompt saß die Hälfte der Klasse senkrecht und kurz vorm Herzinfarkt auf den Stühlen.

Alle starrten mich an, als hätte ich völlig den Verstand verloren.

»Boah, Alte«, zischte dieser beschränkte Skinheadtyp, der in der Einführungsveranstaltung neben mir gesessen hatte. »Du gehörst echt in die Klapse, ey!« Zustimmendes Gemurmel brandete auf. »Ab in die Psychiatrie!«

Ein paar Reihen vor mir näherte sich ein blasses Mädchen zögernd ihrem Banknachbarn und versuchte doch tatsächlich, ihr Gesicht hinter einem Taschentuch zu verstecken. »Ist das ansteckend?«, flüsterte sie etwas zu laut. Die alten Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse klopften an und ich presste die Augenlider aufeinander, um nicht auch noch vor allen in Tränen auszubrechen.

»Genauso wenig wie deine Dummheit«, antwortete jemand genervt. Die Neugier öffnete mir gegen meinen Willen einen Spaltbreit die Augen. Anscheinend kam der Kommentar von dem Typ neben dem Mädchen, denn sie schaute ihn irritiert an. Er sah ziemlich krass aus. Stoppelhaare, etliche Ohrringe, Löcherpulli, abgeschnittene, zerrissene Hose und Springerstiefel. Vielleicht so eine Art Kurzhaarpunk? Zumindest deuteten die ganzen gekritzelten Anarcho- und Antinazisprüche auf seinem Rucksack darauf hin.

»Schon mal was von Tourette gehört?«, fragte er und ahmte ihren dumpf glotzenden Blick originalgetreu nach. »Tourette-Syndrom? Neuropsychiatrische Erkrankung? Tics?«, konkretisierte er ungeduldig mit schief gelegtem Kopf. »Na …? Klingelt da was?« Sein Zeigefinger umkreiste seine Schläfe, als könne er auf diese Weise ihre Hirnströme ankurbeln, doch seine nervöse Banknachbarin wandte sich nur ruckartig von ihm ab und stierte, die Lippen zum Schmollmund gespitzt, in eine andere Richtung.

»Ruhe bitte …«, schaltete sich nun Frau Knöpfle wieder zaghaft ein.

»Rede einfach nicht mehr so einen Scheiß daher«, schnaubte der Punk, ohne den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Frau Knöpfle ignorierte er. »Ich kann es nämlich gar nicht leiden, wenn Leute null Ahnung haben, aber einfach mal das Maul aufreißen. Kapiert?«

Auf das Lehrerpult krachte wieder mal der Schlüsselbund. »Max? Möchtest du gerne eine Frage stellen?«

Punk Max hob die Hände minimal zu einer Entschuldigungsgeste, die eigentlich keine war, blickte dann auf seine bereits fertig ausgefüllten Testblätter und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch.

Ich seufzte leise. Es war, als wollte Luzifer meinen neuen Klassenkameraden direkt zum Start klarmachen, was für ein Freak ich war.

Und ja, ich weiß, dass ich so nicht denken sollte. Meine Mutter würde ausflippen. Für sie war ich ein ganz normales Mädchen.

Aber was hieß bei uns zu Hause schon normal? Meine Ma war Performancekünstlerin mit Schwerpunkt auf tänzerisch interpretierten Lautgedichten! Und ihr Langzeitfreund, der sich selbst ernsthaft Digga nannte, davon abgesehen aber mehr als okay war, na ja, der war ein langsam alternder Rockgitarrist mit reichlich Träumen, wenigen Gigs und jeder Menge allmählich verblassender Tattoos. Die beiden waren also echt alles andere als normal. Und wenn in unserer kleinen Hinterhofwohnung links nebenan Digga seine Gitarre johlen ließ und auf der anderen Seite Ma ihre Lautgedichte stammelte, dann fiel Luzifer eben wirklich kaum noch auf.

Und ja, ich weiß, dass ich so nicht denken sollte. Hier allerdings … ich sah mich unauffällig im Klassenraum um. Hier fiel er auf.

Andererseits – es gab auch was Gutes. Ich blickte kurz zum Schlabberklamottenkiffer. Dann zu diesem Max. Beide hatten sich … für mich eingesetzt.

Julian

3 Nach den gestrigen Erfahrungen gönnte ich meinem Wecker und damit mir erst mal dreißig Minuten Zeitzugabe. Prompt platzte ich dieses Mal in einen vollen, aber mucksmäuschenstillen Unterrichtsraum und rauschte fast in einen riesigen Kerl hinein, der an der Tafel stand und anscheinend einen Vortrag hielt.

Ich bremste mitten in der Bewegung ab und glotzte den Typen an, der locker zwei Meter groß war, Unterarme hatte, die meinen Oberschenkeln Konkurrenz machten, und ein Kreuz, hinter dem ich mich zweimal hätte verstecken können. Mit seinen Tattoos, den Ohrringen und dem Kopftuch wirkte er wie ein Schwerverbrecher auf Hafturlaub. Hatte ich da gestern irgendwas verpasst? Was hatte der mit Knöpfle gemacht?

»Willst du ’ne Rede halten oder warum setzt du dich nicht?«, wandte sich der Riese mit tiefer Stimme an mich.

»Äh … ich …«, setzte ich an, brach jedoch sofort wieder ab, als er schweigend eine Augenbraue hob und mit dem Kinn zu einem freien Stuhl deutete.

Automatisch schlüpfte ich in so eine dämliche unterwürfige Buckelfigur, schob mich hin zu meinem Platz und kassierte neben einigen gehässigen Grinsern auch noch einen Tadelblick von meiner speziellen, auch heute schwarz gekleideten Freundin … Liza. So hieß sie laut dem Namensschild, das heute alle vor sich auf den Tisch gelegt hatten, wie ich nun registrierte. Flott beschriftete ich ebenfalls ein Blatt aus meiner Kladde.

»Also, ich denke, ihr habt mich verstanden«, setzte Mr Easy Rider seinen Vortrag fort. »Für die ganze Zeit hier gilt: Wenn ihr was braucht, kommt zu Marlen, Hugo oder mir, wir sind für euch da. Wofür wir jedoch nicht da sind, ist, euch den Arsch nachzutragen.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass einen halben Meter unter dem Rockerschädel Knöpfles Rotschopf hervorlugte. Ich hatte sie bloß nicht gesehen. Und neben dem Riesen selbst stand ein Name an die Tafel geschrieben: Til Pfeiffer.

»Ob ihr das Ganze total lächerlich findet, Bock auf die Nummer hier habt oder nicht, ist euer Ding«, fuhr der Riese namens Pfeiffer fort. »Wir haben ein ziemlich cooles Angebot für euch, also nutzt die Chancen, die ihr jetzt bekommt. Aber letztendlich liegt es in eurer Hand. Wenn wir nachmittags nach Hause düsen, haben wir unsere Kohle auf jeden Fall eingefahren, egal, ob ihr was mitgenommen habt oder nicht.«

Moment, das hörte sich aber jetzt irgendwie nicht so prickelnd an und auch Gangster Tariq schaute irritiert zu Pfeiffer. Da vorn standen schließlich unsere Betreuer! Die mussten sich doch um uns kümmern, oder nicht? Andererseits … das klang auch ein bisschen nach In-Ruhe-gelassen-Werden und Abhängen-ohne-Stress und die einzige Voraussetzung, dass meine Eltern diese Familienkassenkohle kassierten, war ja nur, nicht zu fliegen.

»Wie ihr bestimmt auf dem Stundenplan gesehen habt, werdet ihr jetzt gleich in der Halle eure Einweisung für den ersten Holztag bekommen. Viel Spaß!« Damit verabschiedete sich Pfeiffer und lächelte Knöpfle zum Abschied überraschend sanftmütig an. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um. »Ach … und neben dem Unterricht werdet ihr auch noch an einem Projekt arbeiten, für das ihr in Vierergruppen eingeteilt werdet. Genauere Infos dazu bekommt ihr später noch. Die Ergebnisse werden dann beim Tag der offenen Tür der Kölner Medienschule Mediasos vorgestellt. «

Kaum, dass das Wort im Raum verhallt war, begann das Mädchen mit den schwarzen Klamotten wieder zu zucken. Doch dieses Mal wirkte es sogar total euphorisch. Anscheinend gefiel ihr das mit der Medienschule.

Der Typ in der Holzwerkstatt, zu dem Knöpfle uns dann brachte, war irgendwie schräg: um die sechzig. Flusige, schulterlange graue Haare, die er – als wäre das nicht übel genug – auch noch zu einem rattenschwanzähnlichen, dürren Zopf gebunden hatte. Dazu: drahtiger Bizeps in einem verblichenen, schlackernden Muskelshirt und fliederfarbene Latzhose.

»Hallo, die Bande, mein Name ist Hugo!«, rief er fröhlich und hob grüßend seine nicht mehr ganz vollständigen Hände in die Höhe.

»Wie ihr seht, gebe ich alles fürs Holz«, kicherte er und wackelte mit den ihm noch verbliebenen Fingergliedern.

Dann bekamen wir von ihm und Knöpfle eine Grundeinweisung in das Arbeiten an der Werkbank. Ziemlich sinnlos, wie ich fand.

Das reichlich aufgedonnerte Mädchen neben mir sah es anscheinend ähnlich. »Hey, ich bin Elvira«, flüsterte sie mir lächelnd zu.

»Glückwunsch«, gab ich wortkarg zurück.

Sie schnaubte beleidigt. Dann schob sie sich mit einer Arschbacke auf den Kreissägentisch, checkte ihr Dekolleté und startete den Selfiemodus ihres Smartphones.

Katzengleich schlich Hugo sich heran, setzte mit einem geschmeidigen Drehen eines Schalters die Kreissäge in Gang – und löste damit ein Kreischduett von Beautyqueen und Säge aus.

»Regel Nummer eins«, sagte Hugo gelassen, nachdem Maschine und Sirene allmählich wieder zur Ruhe gekommen waren. »Nie auf Werkbänke und elektrische Geräte setzen. Ich kannte mal eine, die …«

Knöpfle atmete tief durch und schaute Hugo warnend an.

»Okay, das gehört nicht hierhin …« Er riss sich zusammen, grinste jedoch so sehr vor sich hin, dass ich gerne mehr gewusst hätte.

Nach Hugos Werkstatteinweisung starteten bei der Knöpfle unsere so genannten »Förderkurse«.

»Also«, begann sie, »ich habe die Tests kontrolliert. Die Auswertung bekommt ihr jetzt und außerdem das hier …« Sie gab jedem von uns einen Stapel Übungsmaterial. »… individuell zusammengestellt«, erläuterte sie mit einem fast entschuldigenden Blick in meine Richtung.

In Mathe war ich auf 7 von 120 Punkten gekommen. Okay, das war nicht wirklich überraschend. Aber dass ich im Aufsatz eine ähnliche Nullnummer fabriziert hatte, kratzte mich schon sehr. Vielleicht lag es daran, dass ich gestern mal wieder keinen einzigen klaren Gedanken hatte fassen können?

Ernüchtert schnappte ich mir die für mich persönlich zusammengestellten Matheübungsblätter – und zuckte angewidert zurück: Auf dem Deckblatt schritten ein Minus- und ein Pluszeichen Arm in Arm lächelnd in meine Richtung. Es war, als wollten sie mich fragen: »Naaa? Hast du eine Idee, warum wir so drollig illustriert auf dich zumarschieren? Das liegt daran, dass diese Arbeitsblätter eigentlich für Siebenjährige sind, und die stehen auf solche wie uns!«

Scheiß Kobolde, dachte ich wütend und tötete sie mit gezielten Bleistiftstichen.

»Hey, Alter … es reicht. Eine Irre genügt«, grunzte der Skinhead vor mir. Auch andere glotzten irritiert in meine Richtung und ausgerechnet Liza schüttelte nur schweigend den Kopf. Dabei sollte die doch nun wirklich Verständnis für solche … Ausbrüche haben.

Oder vielleicht auch nicht. Irgendwie schien sie eher so der Typ nerviger Überflieger zu sein – auch jetzt löste sie schon eifrig erste Aufgaben.

Als sich alle endlich wieder Interessanterem als meinem Zahlenmord zuwandten, blickte ich mich verstohlen um. Lagen auf den übrigen Tischen eigentlich auch solche peinlichen Zweitklässlerblätter? Ich konnte nirgendwo welche entdecken und platzierte meinen Rucksack reflexartig so, dass keiner die Übungsaufgaben vor mir erkennen konnte.

Juliandu bist so ein Versager!

Wie aus dem Nichts hörte ich plötzlich die Stimmen von früheren Klassenkollegen, manchen Lehrern und allen voran: meinem lieben Vater.

… ein Idiotselbst zu dumm für diese Qualider Dümmste der Dummen ging es weiter.

Und dann passierte es. Ich schrumpfte, schrumpfte, schrumpfte und schien meinem Körper zu entweichen.

»Sorry … ich muss mal aufs Klo«, stammelte ich Richtung Knöpfle und schob mich an den anderen vorbei. Leicht wankend lief ich aus dem Klassenraum zu den Toiletten. Dort angekommen spritzte ich mir erst mal am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht und lehnte mich an die geflieste Wand.

Ganz langsam atmete ich tief ein und aus.

Ich hatte echt gedacht, diese Zeiten wären vorbei. Die Zeiten von Panikattacken. Die Zeiten, in denen die Meinung anderer mich so fertigmachte.

Ausgeschlossen, dass ich jetzt wieder in den Klassenraum reinging.

Wenigstens auf meine Beine war in solchen Momenten Verlass, sie wussten von ganz allein, was zu tun war, und lenkten mich einfach aus der Halle heraus und runter vom Qualigelände in Richtung Heimat.

Doch mein Flashback hatte mich immer noch so heftig in seinen Klauen, dass ich mich hoffnungslos verlief und am Ende auch noch die falsche Bahn nahm.

Erst satte zwei Stunden später schloss ich die Tür zu meiner Wohnung auf. Ich zog den Tabak samt seinen feinen Zutaten aus dem Versteck und baute mir eine stattliche Tüte des Vergessens. Dann drehte ich Jimi Hendrix auf, ließ mich aufs Sofa fallen und sehnte den lila Nebel herbei.