Odd Arne Westad

Der Kalte Krieg

Eine Weltgeschichte

Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Helmut Dierlamm und Hans Freundl

KLETT-COTTA

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Cold War. A World History«

im Verlag Allen Lane (Penguin Books), London

© Odd Arne Westad, 2017

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © akg-images / Gert Schütz

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98148-3

E-Book: ISBN 978-3-608-19191-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Zum Andenken an Oddbjørg Westad (1924–2013)
und Arne Westad (1920–2015)

Die Formierung der Welt

In den sechziger Jahren, als ich in Norwegen(1) aufwuchs, war die Welt durch den Kalten Krieg gespalten. Er spaltete Familien, Städte, Regionen und Länder. Er verursachte Angst und einige Verwirrung: War es sicher, dass nicht schon morgen eine Atomkatastrophe passieren würde? Wie könnte sie ausbrechen? Die Kommunisten bildeten eine kleine Gruppe in meiner Heimatstadt, sie waren verdächtig, weil sie andere Ansichten hatten und vielleicht auch weil ihre Loyalität, wie oft genug gesagt wurde, nicht unserem Land, sondern der Sowjetunion(1) galt. In einem Staat, den Nazideutschland(1) im Zweiten Weltkrieg besetzt hatte, war die Loyalität zum falschen Land eine ernste Angelegenheit: Sie implizierte Verrat in einer Region, in der man vor dem Hochverrat auf der Hut war. Norwegen grenzte im Norden an die Sowjetunion(2), und wenn sich die Temperatur der internationalen Beziehungen nur ein bisschen erhöhte, stieg sie auch entlang des meist zugefrorenen Flusses, der die Grenze markierte. Selbst im stillen Norwegen war die Welt geteilt, und man kann sich manchmal kaum noch daran erinnern, wie schwerwiegend die Konflikte waren.

Der Kalte Krieg war eine Konfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die in den Jahren von 1945 bis 1989 ihren Höhepunkt hatte, obwohl ihre Ursprünge viel weiter in der Vergangenheit lagen und ihre Folgen heute noch zu spüren sind. Auf seinem Zenit stellte der Kalte Krieg ein internationales System in dem Sinne dar, als dass die führenden Mächte der Welt ihre gesamte Außenpolitik an irgendeiner Beziehung zum Kalten Krieg ausrichteten. Die mit dem Kalten Krieg einhergehenden konkurrierenden Gedanken und Ideen beherrschten die meisten innenpolitischen Diskurse. Dennoch war der Kalte Krieg selbst auf dem Höhepunkt der Konfrontation zwar das beherrschende, aber längst nicht das einzige Thema. Im späten 20. Jahrhundert gab es viele wichtige historische Entwicklungen, die weder durch den Kalten Krieg hervorgerufen noch von ihm bestimmt waren. Er war nicht für alle Phänomene entscheidend, aber er beeinflusste die meisten, und zwar oft zum Schlechteren: Die Konfrontation trug dazu bei, eine von den Supermächten dominierte Welt zu zementieren, eine Welt, in der Macht und Gewalt oder die Androhung von Gewalt zum Maßstab internationaler Beziehungen wurden und in der Überzeugungen zum Absoluten tendierten: Nur das eigene System war gut, das andere war von Grund auf böse.

Das Erbe des Kalten Krieges beruht zu einem Großteil auf dieser Art von Absolutheit. In ihrer schlimmsten Ausprägung wird man mit ihr in den amerikanischen(1) Kriegen im Irak(1) und in Afghanistan(1) konfrontiert: die moralischen Gewissheiten, der Verzicht auf Dialog, das Vertrauen in rein militärische Lösungen. Doch sie ist auch im dogmatischen Glauben an die freie Marktwirtschaft oder an von oben diktierte Lösungen sozialer Probleme oder in Bezug auf Generationsprobleme zu finden. Manche Regime beanspruchen heute noch autoritäre Formen der Legitimität, die auf den Kalten Krieg zurückgehen: China(1) ist seiner Größe wegen das beste Beispiel und Nordkorea(1) das schlimmste, aber Dutzende von Ländern, von Vietnam(1) und Kuba(1) bis Marokko(1) und Malaysia(1), haben in einem erheblichen Ausmaß Kennzeichen des Kalten Krieges in ihre Regierungssysteme integriert. Viele Weltregionen haben immer noch mit Umweltproblemen, mit sozialer Ungleichheit oder mit ethnischen Konflikten zu kämpfen, die durch das letzte große internationale System forciert wurden. Manche Kritiker behaupten, das Konzept des unaufhörlichen Wirtschaftswachstums, das langfristig zu einer Bedrohung für den menschlichen Wohlstand oder gar für das Überleben der Menschheit werden könnte, sei in seiner modernen Form aus der Konkurrenz innerhalb des Kalten Krieges erwachsen.

Um dem System (dieses eine Mal) Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Es gab auch weniger negative Aspekte des Kalten Krieges, wenigstens was das Ende des Konflikts betrifft. Nur sehr wenige Westeuropäer(1) oder Südostasiaten(1) hätten lieber in den kommunistischen Staaten gelebt, die im Ostteil ihrer Kontinente entstanden waren. Und wenngleich das Erbe der amerikanischen(2) Interventionen in Asien(1) heute gewöhnlich rundweg verurteilt wird, ist eine Mehrheit der Europäer(1) damals wie heute überzeugt davon, dass die US-amerikanische(4) Militärpräsenz in ihren Ländern der Aufrechterhaltung des Friedens und der Entwicklung demokratischer Staaten diente. Die bloße Tatsache, dass die Konfrontation im Kalten Krieg friedlich endete, war natürlich von überragender Bedeutung: Da es genug Atomwaffen gab, um die Welt mehrfach zu vernichten, waren wir alle auf Mäßigung und Weisheit angewiesen, um eine nukleare Apokalypse zu verhindern. Der Kalte Krieg war vielleicht nicht der lange Frieden, den manche Historiker in ihm sehen.[1] Doch auf den höheren Ebenen des internationalen Systems, in den USA und der Sowjetunion(3), wurde der Krieg so lange vermieden, dass ein Wandel stattfinden konnte. Von diesem langen Aufschub war unser aller Überleben abhängig.

Was war dann das Besondere am Kalten Krieg als internationalem System im Vergleich zu anderen solchen Systemen in der Geschichte? Wenngleich die meisten Weltordnungen multipolar waren, also von vielen rivalisierenden Mächten geprägt, sind doch einige Vergleiche möglich. Die europäische(2) Politik zwischen den 1550er Jahren und dem frühen 17. Jahrhundert war zum Beispiel stark beeinflusst durch eine bipolare Rivalität zwischen Spanien(1) und England(1), die mit dem Kalten Krieg einige Merkmale gemeinsam hatte. Die Ursprünge jener Rivalität waren zutiefst ideologisch, wobei die spanischen Monarchen sich als Vertreter des Katholizismus und die englischen(2) als Vertreter des Protestantismus verstanden. Beide Staaten schlossen Bündnisse mit ideologisch gleichgesinnten Staaten, und Kriege wurden weit entfernt von den imperialen Zentren ausgetragen. Diplomatische Kontakte und Verhandlungen gab es nur begrenzt, jede Partei betrachtete die andere als ihren natürlichen und vorgegebenen Feind. Die Eliten beider Länder glaubten leidenschaftlich an ihre Sache und daran, dass der Lauf der folgenden Jahrhunderte davon abhänge, wer in der Konfrontation den Sieg davontrug. Die Entdeckung Amerikas und der wissenschaftliche Fortschritt im Jahrhundert Johannes Keplers(1), Tycho Brahes(1) und Giordano Brunos(1) führten dazu, dass sehr viel auf dem Spiel stand: Wer immer den Sieg errang, so glaubte man, werde die Zukunft nicht nur beherrschen, sondern sie auch für seine Zwecke in Anspruch nehmen.

Außer dem Europa(3) des 16. Jahrhunderts, dem China(2) des 11. (mit dem Konflikt zwischen den Song- und den Liao-Staaten) und natürlich der viel erforschten Rivalität zwischen Athen(1) und Sparta(1) im antiken Griechenland(1) gab es nur selten bipolare Systeme. Im Lauf der Zeit tendierten die meisten Regionen zur Multipolarität oder etwas seltener auch zur Unipolarität. In Europa zum Beispiel herrschte nach dem Zusammenbruch des Fränkischen(1) Reiches im späten 9. Jahrhundert in den meisten Epochen Multipolarität. In Ostasien(1) hatte das Chinesische Reich(1) von der Yuan-Dynastie im 13. bis zur Qing-Dynastie im 19. Jahrhundert die Vorherrschaft. Die relative Seltenheit bipolarer Systeme ist vermutlich nicht schwer zu erklären. Da sie einer Art Gleichgewicht bedurften, waren sie instabiler als unipolare, an einem Reich orientierte Systeme oder als multipolare Systeme mit einem breiten Spektrum an Mächten. Die bipolaren Systeme hingen außerdem in den meisten Fällen von anderen Staaten ab, die nicht direkt unter der Herrschaft der Supermächte standen, aber das System in irgendeiner Form, insbesondere jedoch durch ideologische Identifikation, mittrugen. Und in allen Fällen außer im Kalten Krieg endeten sie mit verheerenden Kriegen: mit dem 30-jährigen Krieg, mit dem Zusammenbruch der Liao-Dynastie und mit dem Peloponnesischen Krieg.

Es besteht kein Zweifel, dass die leidenschaftliche Konfrontation der Ideen stark zur Bipolarität des Kalten Krieges beitrug. Die herrschende Ideologie der Vereinigten Staaten(6) mit ihrer Betonung von Marktwirtschaft, Mobilität und Mutabilität war universalistisch und teleologisch dank des immanenten Glaubens, dass sich alle Gesellschaften europäischen(4) Ursprungs unweigerlich in die gleiche allgemeine Richtung wie die Vereinigten Staaten(7) bewegen würden. Der Kommunismus, die spezielle in der Sowjetunion(4) entwickelte Form des Sozialismus, wiederum war als Antithese zu der von den Vereinigten Staaten(8) repräsentierten kapitalistischen Ideologie angelegt: als eine alternative Zukunft sozusagen, die sich die Menschen überall erkämpfen konnten. Wie viele Amerikaner(9) glaubten auch die führenden Politiker der Sowjetunion(5), dass die »alten« Gesellschaften, die auf lokaler Identifikation, sozialer Fügsamkeit und Rechtfertigung der Vergangenheit beruhten, tot seien. Sie konkurrierten um die Gesellschaft der Zukunft, und von dieser gab es nur zwei wirklich moderne Versionen: die Marktwirtschaft mit all ihren Unvollkommenheiten und Ungerechtigkeiten und die Planwirtschaft, die rational und integriert war. In der Sowjetideologie(6) stellte der Staat eine Maschine dar, die für die Verbesserung des Schicksals der Menschheit arbeitete. Dagegen waren die meisten Amerikaner(10) gegen die zentralisierte Macht des Staates und fürchteten deren Folgen. Damit war die Bühne für eine intensive Konkurrenz der Systeme bereitet, bei der nach Ansicht beider Parteien nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit auf dem Spiel stand.

Dieses Buch versucht, den Kalten Krieg als globales Phänomen innerhalb eines Betrachtungszeitraums von 100 Jahren einzuordnen. Es beginnt in den 1890er Jahren, den Jahren mit der ersten globalen Krise des Kapitalismus, der Radikalisierung der europäischen(5) Arbeiterbewegung und der Expansion der Vereinigten Staaten(11) und Russlands(1) zu transkontinentalen Reichen. Es endet um das Jahr 1990 mit dem Fall der Berliner(1) Mauer, dem Zusammenbruch der Sowjetunion(7) und dem Aufstieg der USA zu einer echten globalen Hegemonialmacht.

Mit dem von mir gewählten Betrachtungszeitraum von 100 Jahren verfolge ich nicht die Absicht, andere grundlegende Ereignisse wie die Weltkriege, den Zusammenbruch der Kolonialherrschaft, den wirtschaftlichen und technologischen Wandel oder die Umweltzerstörung in ein einziges sauberes System zu bringen. Vielmehr hat die Betrachtung den Zweck zu verstehen, wie der Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus in großem Maßstab globale Entwicklungen beeinflusste und von diesen beeinflusst wurde. Sie zielt jedoch auch darauf zu erklären, warum sich eine bestimmte Art von Konflikten während des gesamten Jahrhunderts mehrmals wiederholte und warum sich alle anderen, materiellen oder ideologischen, Konkurrenten um die Macht auf diesen Zeitraum beziehen mussten. Der Kalte Krieg entwickelte sich an den Bruchlinien eines Konflikts, der im späten 19. Jahrhundert begann, just in dem Moment, als die europäische(6) Moderne ihren Höhepunkt zu erreichen schien.

Meine These, wenn es in einem so umfangreichen Buch denn nur eine These geben kann, lautet, dass der Kalte Krieg den globalen Transformationen des 19. Jahrhunderts entsprang und ein Jahrhundert später, bedingt durch ungemein schnelle Veränderungen, zu Ende gebracht wurde. Als ideologischer Konflikt wie als internationales System kann er deshalb nur im Rahmen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandels begriffen werden, der viel breiter und tiefer ist, als die vom Kalten Krieg selbst ausgelösten Phänomene. Seine Hauptbedeutung kann auf verschiedene Art verstanden werden. In einem älteren Buch habe ich die Ansicht vertreten, dass tiefgreifende und oft gewaltsame Veränderungen im postkolonialen Asien(2), Afrika(1) und Lateinamerika(1) ein wichtiges Ergebnis des Kalten Krieges gewesen seien.[2] Doch der Konflikt hatte auch andere Bedeutungen. Er kann als ein Stadium in der Entstehung der globalen Hegemonie der Vereinigten Staaten(13) betrachtet werden. Er kann als die (allmähliche) Niederlage der sozialistischen Linken, insbesondere in der von Lenin(1) befürworteten Form, gesehen werden. Und er kann als akute und gefährliche Phase internationaler Rivalitäten dargestellt werden, die aus den Katastrophen zweier Weltkriege erwuchsen und Bestand hatten, bis in den siebziger und achtziger Jahren neue globale Trennlinien wichtiger wurden.

Gleichgültig welchen Aspekt des Kalten Krieges man betonen will, es kommt darauf an, die Intensität der wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Transformationen zu erkennen, die zeitgleich mit dem Konflikt stattfanden. In den 100 Jahren zwischen den 1890er Jahren und den 1990er Jahren entstanden (und verschwanden) neue Märkte in schwindelerregendem Tempo. Es entstanden Technologien, von denen frühere Generationen nur hätten träumen können, und von denen einige dafür eingesetzt wurden, die Fähigkeit der Menschen zu Beherrschung und Ausbeutung ihrer Mitmenschen zu vergrößern. Außerdem waren diese 100 Jahre geprägt von einem beispiellos raschen Wandel der globalen Strukturen des Lebens, der fast überall durch wachsende Mobilität und Urbanität gekennzeichnet war. Alle Formen des, rechten wie linken, politischen Denkens waren durch die Geschwindigkeit und Maßlosigkeit dieser Veränderungen beeinflusst.

Neben der Bedeutung der Ideologien war die Technologie einer der Hauptgründe für die Dauerhaftigkeit des Kalten Krieges als internationales System. In den Jahrzehnten nach 1945 wurden so große Atomwaffenarsenale aufgebaut, dass beide Supermächte versuchten, die Welt zu retten, indem sie ihre Zerstörung vorbereiteten, ein Verhalten, dessen tragische Ironie dem heutigen Leser nicht verborgen bleibt. Atomwaffen waren, wie der führende Politiker der Sowjetunion(8) Josef Stalin(1) es formulierte, »Waffen neuen Typs«: nicht Gefechtsfeldwaffen, sondern Waffen, mit denen man ganze Städte auslöschen konnte, wie es die Vereinigten Staaten(14) 1945 mit Hiroshima(1) und Nagasaki(1) getan hatten. Nur die beiden Supermächte, die USA und die Sowjetunion(9), besaßen freilich genug Atomwaffen, um die Erde mit totaler Vernichtung zu bedrohen.

Wie in allen Jahrhunderten der Geschichte vollzogen sich auch im 20. zahlreiche wichtige Entwicklungen mehr oder weniger parallel. Und sie waren fast alle von dem Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus beeinflusst, auch die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre. Gegen Ende des Jahrhunderts trugen einige dieser Entwicklungen dazu bei, dass der Kalte Krieg sowohl als internationales System als auch als vorherrschender ideologischer Konflikt obsolet wurde. Es ist deshalb gut möglich, dass die Wichtigkeit des Kalten Krieges von künftigen Historikern herabgestuft wird, weil sie etwa den Ursprüngen der asiatischen(3) Wirtschaftsmacht, den Anfängen der Erkundung des Weltraums oder der Ausrottung der Pocken von ihrem Standpunkt aus größere Bedeutung beimessen. Die Geschichte ist immer ein komplexes Geflecht von Sinn und Bedeutung, dessen Interpretation sehr stark von der Position des Historikers geprägt ist. Ich beschäftige mich vor allem mit der Rolle, die der Kalte Krieg bei der Entstehung unserer heutigen Welt gespielt hat. Doch das bedeutet natürlich nicht, die Geschichte des Kalten Krieges höher als alle anderen Geschichten zu bewerten. Es beinhaltet lediglich die Aussage, dass der Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus lange Zeit sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene einen tiefgreifenden Einfluss darauf hatte, wie die Menschen ihr Leben lebten und wie sie in lokalem und globalem Maßstab politisch dachten.

Grob gesagt, vollzog sich der Kalte Krieg im Kontext zweier grundlegender Veränderungsprozesse in der internationalen Politik. Der eine war die Entstehung neuer Staaten, die mehr oder weniger nach dem Vorbild der europäischen(7) Staaten des 19. Jahrhunderts gebildet wurden. Im Jahr 1900 gab es weniger als 50 unabhängige Staaten auf der Welt, davon etwa die Hälfte in Lateinamerika(2). Heute sind es nahezu 200, von denen die meisten in Bezug auf Regierungssystem und Verwaltung bemerkenswert ähnlich sind. Der andere fundamentale Veränderungsprozess war der Aufstieg der Vereinigten Staaten(16) zur beherrschenden Weltmacht. Im Jahr 1900 beliefen sich die amerikanischen(17) Verteidigungsausgaben, im Dollarkurs von 2010 gerechnet, auf etwa zehn Milliarden Dollar, bedingt durch den Spanisch-Amerikanischen(2) Krieg und die Aufstandsbekämpfung auf den Philippinen(1) und Kuba(2) – eine außerordentliche Steigerung im Vergleich zu früheren Jahren. Heute haben sich diese Ausgaben in Höhe von einer Billion Dollar verhundertfacht. Im Jahr 1870 betrug das Bruttoinlandsprodukt der USA neun Prozent des Weltbruttoinlandsprodukts; auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges im Jahr 1955 lag es etwa bei 28 Prozent. Und selbst heute, nach jahrelangen Berichten über den Niedergang der Vereinigten Staaten(19), beläuft es sich immer noch auf etwa 22 Prozent. Der Kalte Krieg entstand also in einer Ära der Staatenvermehrung und der wachsenden amerikanischen(20) Macht, und beides prägte die Richtung, in die er sich entwickelte.

Diese internationalen Veränderungen bewirkten auch, dass der Kalte Krieg in einem Rahmen stattfand, in dem der Nationalismus eine nachhaltige Kraft war. Wenngleich die Anhänger von Sozialismus oder Kapitalismus als sozialen und wirtschaftlichen Systemen dies oft bedauerten, konnte der Appell an irgendeine nationale Identität manchmal die besten ideologischen Pläne für menschlichen Fortschritt vereiteln. Immer wieder zerschellten großartige Modernisierungs- oder Bündnispläne oder Pläne für die Gründung transnationaler Bewegungen schon an der ersten Hürde, die der Nationalismus oder eine andere Form der Identitätspolitik darstellten. Obwohl auch der Nationalismus per definitionem als globales System deutliche Grenzen hat (man denke nur an die Niederlage der hypernationalistischen Staaten Deutschland(2), Italien(1) und Japan(1) im Zweiten Weltkrieg), war er immer ein Problem für diejenigen, die der Ansicht waren, die Zukunft gehöre universalistischen Ideologien.

Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, von 1945 bis 1989, hatte deshalb die Bipolarität immer ihre Grenzen. Trotz ihrer globalen Anziehungskraft wurde weder das sowjetische(10) noch das US-amerikanische System in einem anderen Land jemals vollständig kopiert. Einen solchen Klon hielten selbst die leidenschaftlichsten Ideologen nicht für möglich. Die Folge war, dass entweder kapitalistische oder sozialistische Volkswirtschaften mit starker lokaler Prägung entstanden. In einigen Fällen waren diese Mischungen der politischen Führung, die gerne eine nicht kontaminierte Form ihrer politischen Ideale verwirklichen wollte, regelrecht verhasst. Aber zum Glück für die meisten, wie man behaupten könnte, mussten Kompromisse geschlossen werden. Länder wie Polen(1) oder Vietnam(2) verschrieben sich zwar dem sowjetischen(11) Entwicklungsideal, entwickelten sich jedoch in der Realität ganz anders als die Sowjetunion(12), genau wie Japan(2) oder Westdeutschland(1) trotz tiefgreifender amerikanischer(22) Einflüsse, immer anders als die Vereinigten Staaten(23) waren. Ein Land wie Indien(1) mit seiner einzigartigen Mischung von parlamentarischer Demokratie und detaillierter ökonomischer Planung war sogar noch weiter von jedem Idealtypus des Kalten Krieges entfernt. Nur die beiden Supermächte waren in den Augen ihrer eigenen Regierungschefs und ihrer leidenschaftlichsten Anhänger im Ausland so unverfälscht, dass sie anderen Ländern als Modell dienen konnten.

In gewisser Hinsicht ist das nicht überraschend. Die jeweiligen Vorstellungen von der Moderne in den Vereinigten Staaten(24) und der Sowjetunion(13) hatten einen gemeinsamen Ursprung im späten 19. Jahrhundert und behielten auch während des Kalten Krieges viele Gemeinsamkeiten. Beide Auffassungen gründeten in der Expansion Europas(8) und dem europäischen Denken, sie hatten sich in globalem Maßstab in den drei Jahrhunderten zuvor entfaltet. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte ein Zentrum, Europa(9) mit seinen Ablegern, die Welt beherrscht. Die Europäer hatten Reiche geschaffen, die mit der Zeit den größten Teil der Erde in Besitz nahmen und drei Kontinente mit ihren eigenen Leuten besiedelten. Dies war eine einzigartige Entwicklung, die bei einigen Europäern und Menschen europäischen(10) Ursprungs die Überzeugung weckte, sie könnten mit den von ihnen entwickelten Ideen und Technologien die Zukunft der ganzen Welt beherrschen.

Diese Art zu denken, erreichte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt, wenngleich ihre Wurzeln viel weiter in die Vergangenheit reichten. Auch das ist kaum verwunderlich: Das 19. Jahrhundert war zweifellos die Ära, in der der Vorsprung der Europäer(11) gegenüber dem Rest der Menschheit in Bezug auf Technologie, Produktion und militärische Macht am größten war. Das Vertrauen in das, was einige Historiker »die Werte der Aufklärung« genannt haben: Vernunft, Wissenschaft, Fortschritt, Entwicklung und Zivilisation als System und das leidenschaftliche Engagement für diese Werte beruhten offenbar auf der europäischen(12) Übermacht, genau wie die Kolonisierung Afrikas(2) und Südostasiens(2) und die Unterjochung Chinas(3) und des größten Teils der arabischen Welt. Ab dem späten 19. Jahrhundert herrschten Europa(13) und seine Ableger, einschließlich Russlands(2) und der Vereinigten Staaten(25) trotz interner Differenzen absolut, und dasselbe galt auch für die von ihnen entwickelten Ideen.

In der Epoche der europäischen(14) Vorherrschaft blühten die europäischen Ideen allmählich auch andernorts auf. Die Moderne nahm in unterschiedlichen Teilen der Welt unterschiedliche Formen an. Doch die Hoffnung der lokalen Eliten auf die Schaffung ihrer jeweils eigenen industriellen Zivilisation reichte von China(4) und Japan(3) bis in den Iran(1) und nach Brasilien(1). Der Schlüssel zur modernen Transformation, den sie zu erwerben hofften, waren der Primat des menschlichen Willens gegenüber der Natur, die Fähigkeit, dank neuer Energieformen die Produktion zu mechanisieren, und die Schaffung eines Nationalstaats mit massiver Partizipation der Öffentlichkeit. Ironischerweise war die Verbreitung dieser Ideen europäischen(15) Ursprungs der Anfang vom Ende der europäischen Vorherrschaft: Die Menschen in anderen Ländern strebten auch deshalb nach Modernität, um sich den Imperien, die über sie herrschten, besser widersetzen zu können.

Selbst im Kernbereich der europäischen(16) Moderne entstanden im 19. Jahrhundert ideologische Konflikte, die letztlich das gesamte künstliche Konzept einer einzigen Moderne sprengen sollten. Als sich die Industriegesellschaft durchsetzte, meldeten sich verschiedene Kritiker zu Wort, die nicht so sehr die Moderne selbst als vielmehr ihren Endpunkt infrage stellten. Mit der bemerkenswerten Transformation von Produktion und Gesellschaft, sagten einige, müsse es doch mehr auf sich haben, als dass lediglich ein paar Menschen reich würden und sich ein paar europäische(17) Reiche nach Afrika(3) und Asien(4) ausdehnten. Es müsse doch ein Ziel geben, das, wenigstens historisch gesehen, für das durch die Industrialisierung entstandene menschliche Elend eine Entschädigung wäre. Einige dieser Kritiker verbanden sich mit anderen, die die gesamte Industrialisierung bedauerten und manchmal vorindustrielle Gesellschaften idealisierten. All diese Kritiker forderten neue politische und wirtschaftliche Systeme, die auf der Unterstützung der einfachen Männer und Frauen beruhten, die in der Zentrifuge des Kapitalismus landeten.

Die fundamentalste Kritik war der Sozialismus, der als Begriff in den 1830er Jahren allgemein gebräuchlich wurde, aber schon in der Französischen(1) Revolution seine Wurzeln hat. Seine zentralen Ideen sind: öffentliches statt privaten Eigentums von Grund, Boden und Rohstoffen und Erweiterung der Massendemokratie. Anfänglich blickten viele Sozialisten genauso oft zurück in die Vergangenheit wie voraus in die Zukunft. Sie feierten den Egalitarismus bäuerlicher Gemeinschaften oder, in einigen Fällen, die religiöse Kritik am Kapitalismus oft in Verbindung mit Jesu(1) Worten in der Bergpredigt: »Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.«

Aber ab den 1860er Jahren gerieten die frühsozialistischen Vorstellungen durch das Denken von Karl Marx(1) und seinen Anhängern unter Druck. Marx, ein Deutscher, der die sozialistischen Prinzipien zu einer Fundamentalkritik des Kapitalismus organisieren wollte, interessierte sich mehr für die Zukunft als für die Vergangenheit. Er postulierte, dass der Sozialismus logischerweise aus dem Chaos des wirtschaftlichen und sozialen Wandels in der Mitte des 19. Jahrhunderts erwachsen werde. Weder die feudalistische Ordnung der Vergangenheit noch die kapitalistische Ordnung der Gegenwart konnten seiner Ansicht nach mit den Herausforderungen der modernen Gesellschaft fertigwerden. Sie mussten durch eine sozialistische Ordnung ersetzt werden, die auf wissenschaftlichen Grundsätzen zur Führung der Volkswirtschaft beruhte. Diese Ordnung sollte durch eine Revolution des Proletariats der besitzlosen Industriearbeiter entstehen. »Das Proletariat«, schrieb Marx(2) im Kommunistischen Manifest, »wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.«[3]

Marx(3)’ Anhänger, die sich selbst nach dem Manifest Kommunisten nannten, waren im 19. Jahrhundert immer nur kleine Gruppen, hatten aber einen viel größeren Einfluss, als ihre geringe Zahl vermuten ließ. Sie zeichneten sich insbesondere durch die Leidenschaft ihrer Überzeugungen und ihren grundsätzlichen Internationalismus aus. Andere Bewegungen der Arbeiterklasse strebten nach allmählichem Fortschritt und stellten die wirtschaftlichen Forderungen der durch sie vertretenen Unterprivilegierten in den Mittelpunkt. Marx(4)’ Anhänger dagegen betonten die Notwendigkeit eines rückhaltlosen Klassenkampfs mit dem Ziel, durch eine Revolution die politische Macht zu erringen. Ihrer Ansicht nach hatten die Arbeiter keinen König und kein Vaterland, und der Kampf für eine neue Welt hatte für sie keine Grenzen. Demgegenüber waren die meisten ihrer Konkurrenten Nationalisten und manchmal sogar Imperialisten.

Der Internationalismus und der antidemokratische Dogmatismus der Marxisten(1) waren die wichtigsten Gründe, warum sie sich Ende des 19. Jahrhunderts gegen andere Bewegungen der Arbeiterklasse oft nicht durchsetzen konnten. In Deutschland(1) zum Beispiel begrüßten viele Arbeiter die Gründung eines neuen starken Einheitsstaats durch Bismarck(1) in den 1870er Jahren, weil ihnen die Staatenbildung wichtiger war als der Klassenkampf. Marx(5) selbst jedoch verdammte den neuen deutschen Staat wegen seines »militärischen Despotismus und seiner rücksichtslosen Unterdrückung der arbeitenden Massen«, als er in seinem komfortablen Exil auf dem Londoner(1) Haverstock Hill interviewt wurde.[4] Auch die deutschen Sozialdemokraten wurden von den Marxisten(2) verdammt, als sie in ihrem Programm von 1891 den Kampf für die Demokratie als ihr wichtigstes politisches Ziel bezeichneten(2). Sie hatten ein »Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen« verlangt.[5] Für Friedrich Engels(1), Marx’ Mitarbeiter und Nachfolger, hieß dies »das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmen und sich selbst vor die Blöße binden«. Seiner Ansicht nach mochte »dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen … ›ehrlich‹ gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt es, und der ›ehrliche‹ Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen«.[6]

Schon in den 1890er Jahren hatten sich überall in Europa(18) und auf dem amerikanischen(26) Doppelkontinent sozialdemokratische Parteien gegründet. Wenngleich sie in ihrer Kritik des kapitalistischen Systems manchmal am Marxismus(3) orientiert waren, zogen die meisten Reformen einer Revolution vor und warben für mehr Demokratie, Arbeiterrechte und allgemein verfügbare Sozialeinrichtungen. Etliche hatten sich bereits zu Massenparteien entwickelt, die mit den Gewerkschaftsbewegungen in ihren Ländern verbunden waren. In Deutschland(3) erzielte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei bei der Reichstagswahl von 1890 mit eineinhalb Millionen fast 20 Prozent der abgegebenen Stimmen (wenngleich sie wegen der unfairen Wahlgesetze nur wenige Sitze im Reichstag erhielt). In den nordeuropäischen(1) Staaten waren die Zahlen ähnlich. In Frankreich(2) hatte die Fédération des travailleurs socialistes de France schon in den 1880er Jahren mehrere Stadtregierungen übernommen. Trotz der Kritik von Engels(2) und anderen förderten die meisten sozialdemokratischen Parteien die Demokratie und begannen, von ihren Früchten zu profitieren.

Durch die globale Wirtschaftskrise der 1890er Jahre änderte sich das alles. Wie die Krise von 2007/08 begann auch die von 1890 mit der nahezu vollständigen Insolvenz einer großen Bank – in diesem Fall der britischen(3) Baring Bank, die zu hohe Risiken auf ausländischen Märkten eingegangen war. Die City of London(2) hatte schon schlimmere Krisen erlebt, doch diesmal bestand der Unterschied darin, dass sich das Problem wegen der größeren ökonomischen wechselseitigen Abhängigkeiten schnell ausbreitete und Volkswirtschaften auf der ganzen Welt befiel. So kam es in den frühen 1890er Jahren zur ersten globalen Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit (in den Vereinigten Staaten(27) in einem bestimmten Stadium fast 20 Prozent) und zu massiven Arbeiterunruhen. Viele Arbeiter und sogar junge Fachkräfte, die zum ersten Mal in großer Zahl arbeitslos wurden, fragten sich, ob der Kapitalismus am Ende sei. Selbst viele Mitglieder des Establishments begannen, sich dieselbe Frage zu stellen, als sich die Unruhen ausbreiteten. Teile der extremen Linken, insbesondere Anarchisten, brachten Terrorkampagnen gegen den Staat ins Rollen. In Frankreich(3) gab es zwischen 1892 und 1894 sogar große Bombenanschläge, unter anderen einen auf die Nationalversammlung. In vielen Ländern Europas(19) und in den Vereinigten Staaten(28) wurden politische Führer ermordet: der französische Staatspräsident 1894, der spanische(3) Ministerpräsident 1897, die Kaiserin von Österreich(1) 1898 und der italienische(2) König 1900. Im folgenden Jahr wurde der amerikanische(29) Präsident William McKinley(1) auf der Pan-American Exposition in Buffalo(1), New York, ermordet. Auf der ganzen Welt waren die Herrschenden wütend und voller Furcht.

Die Unruhen der 1890er Jahre spalteten die sozialdemokratischen Bewegungen ausgerechnet in einer Zeit, da sie beispiellosen Angriffen von Unternehmern und Regierungen ausgesetzt waren. Streiks wurden oft gewaltsam niedergeschlagen, Sozialisten und Gewerkschaftler ins Gefängnis geworfen. Als Folge der ersten globalen Wirtschaftskrise wurden die demokratischen Errungenschaften der Jahre zuvor zurückgenommen. Die Krise führte außerdem zu einer Wiederbelebung der extremen Linken der Sozialisten, die die Demokratie nur als Feigenblatt der Bourgeoisie betrachtete. Der junge Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich bald darauf Lenin(2) nennen sollte, vertrat diese Auffassung, und dasselbe galt für viele andere, die die Bewegungen der Sozialisten und Arbeiter in Europa(20) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach links trieben.

Verschiedene Mitglieder der Arbeiterorganisationen zogen verschiedene Lehren aus der Krise. Etliche hatten erwartet, dass durch die Finanzkatastrophen der frühen 1890er Jahre der Kapitalismus zusammenbrechen würde. Als dies nicht geschah und sich die Wirtschaft, wenigstens in einigen Regionen, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wieder erholte, konzentrierte sich die Hauptströmung der Sozialdemokraten weiter auf die Organisation von Gewerkschaften und die Durchsetzung von Tarifverhandlungen. Dabei profitierten sie von einer Erkenntnis, die ihnen aus der Krise geholfen hatte: dass bei einem wirtschaftlichen Abschwung nur starke Gewerkschaften gegen willkürliche Entlassungen und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen Widerstand leisten können. In Deutschland(4), Frankreich(4), Italien(3) und Großbritannien(4) nahm die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder rasant zu. In Dänemark(1) stimmte der Dachverband der Gewerkschaften im Jahr 1899 jährlichen Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen mit dem Arbeitgeberverband zu. Diese langfristige Übereinkunft, weltweit die erste ihrer Art, wurde zu einem Modell, das sich allmählich auch anderswo verbreitete. In der Folge war Dänemark während des Kalten Krieges eines der am wenigsten gespaltenen Länder der Welt.

Die radikale Linke in Europa(21) hasste nichts mehr als den »Klassenverrat«, den die dänischen(2) Sozialdemokraten ihrer Ansicht nach durch das Septemberabkommen begingen. Als die Radikalen durch die Krise neuen Auftrieb bekamen, waren sie mehr denn je davon überzeugt, dass es, wie Marx(6) vorausgesagt hatte, mit dem Kapitalismus bald zu Ende gehen werde. Einige von ihnen fanden, dass die Arbeiter selbst mit ihren politischen Organisationen die Geschichte zu ihrer logischen Bestimmung treiben könnten: Streiks, Boykotte und andere Formen des kollektiven Protests waren nicht nur Mittel, um das Los der Arbeiterklasse zu verbessern, sie konnten auch zum Untergang des bürgerlichen Staates beitragen. Unter diesen Bedingungen kam es in den 1890er Jahren zum endgültigen Bruch zwischen der Hauptströmung der reformistischen Sozialdemokraten und den revolutionären Sozialisten, die sich schon bald wieder Kommunisten nannten – ein Bruch, der bis zum Ende des Kalten Krieges Bestand haben sollte. Die Konfrontation zwischen den beiden Richtungen sollte sich zu einem wichtigen Moment der Geschichte des 20. Jahrhunderts entwickeln.

Die Entstehung politisch organisierter Arbeiterbewegungen war ein echter Schock für das etablierte Staatensystem des späten 19. Jahrhunderts. Doch damals waren noch zwei weitere wichtige Mobilisierungen im Gange, um die sich zunächst weder das politische Establishment noch seine sozialistischen Gegner groß kümmerten.

Die eine betraf die Kampagnen der Frauen für politische und soziale Gerechtigkeit, die zum Teil in Reaktion auf die frühen Kämpfe der Arbeiter um das Wahlrecht entstanden. Warum, fragten manche, sollte selbst gebildeten Frauen aus dem Bürgertum das Wahlrecht verweigert werden, wenn auch männliche Analphabeten aus der Arbeiterklasse darüber verfügten? Andere nahmen eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Forderungen der Frauen – einschließlich der gleichen ökonomischen Rechte und der gleichen Rechte innerhalb der Familie – und dem wahr, was die Arbeiterklasse forderte, doch sie waren während der ersten Welle der feministischen Agitation vermutlich eine Minderheit.

Die Militanz der Bewegung jedoch war, insbesondere in Großbritannien(5) vor dem Ersten Weltkrieg, verblüffend. Als die Suffragetten ihr Ziel der vollen politischen Emanzipation nicht erreichten und bei ihren Demonstrationen von der Polizei geschlagen und festgenommen wurden, traten sie im Gefängnis in den Hungerstreik. Und in einem besonders schockierenden Fall wurde eine Suffragette getötet, als sie sich bei einem Pferderennen vor ein Pferd des Königs warf. Sie und ihre Schwestern siegten letztlich auf der ganzen Linie, aber nicht als Teil der sozialistischen Linken.

Zur selben Zeit wie die Frauenbewegung wuchs auch der antikolonialistische Widerstand. In den 1890er Jahren verebbte in Teilen Afrikas(4) der erste Schock über seine Besetzung und Kolonialisierung. Bewaffnet mit Ideen und Konzepten, die aus den imperialistischen Metropolen stammten, aber für den lokalen Gebrauch modifiziert waren, schwankten die gebildeten Eliten in den Kolonien zwischen dem Bedürfnis, vom Kolonialsystem zu profitieren, und dem Bedürfnis, es im Namen der Selbstregierung zu bekämpfen. Auch bäuerliche Bewegungen schlossen sich dem Widerstand gegen den Einfluss des Westens an: der Donghak-Aufstand in Korea(1), der Boxeraufstand in China(5) oder die Dschihadis in Nordafrika(1) hatten vermutlich eine andere Welt zum Ziel als ihre gebildeten Landsleute, aber auch sie säten die Saat des antikolonialen Widerstands. Die lokale Bewegung, die gegen die Vereinigten Staaten(30) kämpfte, als diese 1899 auf den Philippinen(2) ihr erstes koloniales Abenteuer starteten, bestand sowohl aus angesehenen Bürgern als auch aus Bauern. Anfang des 20. Jahrhunderts waren bereits die ersten antikolonialistischen Organisationen entstanden: der Indische(2) Nationalkongress, der Afrikanische Nationalkongress (ANC) in Südafrika(1) und die Vorläufer der Indonesischen Nationalpartei.

Während die Gegner von Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat ihre Kämpfe gegen das Establishment führten, fanden auch im internationalen Staatensystem globale Veränderungen statt. In Europa(22) und in Ostasien(2) verstärkten Deutschland(5) und Japan(4) ihre Positionen. Die bemerkenswerteste Veränderung jedoch ereignete sich an den Rändern Europas(23). Europa, oder genauer gesagt Teile Westeuropas(2) hatten seit dem 17. Jahrhundert auf der ganzen Welt militärisch dominiert, und seit dem 18. Jahrhundert hatten einige westeuropäische(3) Länder, insbesondere Großbritannien(6), Frankreich(5), Belgien(1) und die Niederlande(1), in Bezug auf Innovationen weltweit den größten wirtschaftlichen Erfolg. Ende des 19. Jahrhunderts jedoch holten die riesigen kontinentalen Reiche an den Rändern Europas(24) – eine besondere Art von Staaten – die wichtigsten europäischen(25) Länder ein und überholten sie sogar auf einigen Gebieten. Russland(3) und die Vereinigten Staaten(31) waren sehr unterschiedlich, was ihr politisches System und ihre wirtschaftliche Organisation betraf. Aber beide hatten sich stark ausgedehnt und von den Völkern an ihren Grenzen riesige Territorien erobert. Die Vereinigten Staaten(32) hatten ihr Staatsgebiet seit ihrer Gründung in den 1780er Jahren von 971 250 auf 984 000 000 Millionen Quadratkilometer verzehnfacht. Und Russland(4) war seit der Entstehung der Romanow-Dynastie im Jahr 1613 ebenfalls schnell gewachsen: von etwa fünf Millionen auf 22,6 Millionen Quadratkilometer. Großbritannien(7) und Frankreich hatten natürlich ebenfalls riesige koloniale Besitzungen, aber sie waren nicht zusammenhängend und größtenteils von Ureinwohnern besiedelt, also viel schwerer wirtschaftlich zu nutzen und langfristig unter Kontrolle zu halten.

Wie in diesem Buch weiter unten dargestellt, spielten Ideen und ein Gefühl der schicksalhaften Bestimmung sowohl bei der russischen(5) als auch bei der amerikanischen(33)(26)(27)(28)(29)(30)(6)(34)(8)(6)