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Nicole Lazzarotto

in Luzern (CH) geboren, arbeitete in Bahnhöfen und Zügen, auf Skipisten und in einer Berghütte.

Heute ist sie als Primarschullehrerin tätig und lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen im Zürcher Oberland. „Ein total verrückter Plan“ ist ihr erstes Jugendbuch.

NICOLE LAZZAROTTO

Ein total
verrückter

PLAN

Roman

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eISBN 978-3-03864-230-5

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, sind ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin
Realisation: Brigitta Vasella

Copyright © 2019 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

„Für Matteo, Fabio und Marco“

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

1

„Vergesst nicht, bis morgen die Englischwörter zu üben!“, mit diesen Worten schloss Frau Haas den Schulmorgen endlich ab. „Der letzte Satz gilt für dich ganz besonders, Leo!“, doppelte sie pingelig nach, als ich ihr zum Abschied die Hand drückte. Ihr aufdringlicher Blick und Tonfall nervten. Und überhaupt, warum musste ich ihr vor und nach jedem Schultag artig die Hand geben? Gab es dafür irgendein Gesetz? Ich war bereits in der siebten Klasse und hoffte, nicht mehr wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Doch da irrte ich mich offenbar. Die Frage nach dem Händeschütteln beschäftigte mich noch auf dem Heimweg, und als ich in Gedanken versunken die Haustüre öffnete, merkte ich erst gar nicht, dass das „Hallo“ meiner Mutter nicht ertönte.

Auf dem Boden, neben meinem noch nicht ausgepackten Turnsack und einer heruntergefallenen Jacke, lag ein Zettel.

Hallo Leo

Musste kurz weg, im Külschrank hat’s Spagetiresten von gestern, die du dir aufwährmen kannst.

Gruss Mama

Nicht schon wieder, dachte ich. Gestern war sie zwar zu Hause gewesen, doch gekocht hatte sie nichts und der Kühlschrank und die Vorratskammer gaben ebenfalls nichts Brauchbares her. Sie hatte mich also zum Bäcker geschickt, wo ich mir was aussuchen durfte. Na ja, „aussuchen“ ist vielleicht etwas übertrieben. Das leckere Schnitzel-Sandwich lachte mich vergebens an und blieb in der Vitrine. Ich entschied mich dann für eine Butterbrezel und einen Berliner. Leider hatte der Bäckermeister das Maß für die passende Füllmenge seiner Produkte nicht getroffen. Um die Brezel überhaupt essen zu können, musste ich die zentimeterdicke Schicht Butter mit meinen Fingernägeln abkratzen und an einem Haselstrauch abstreichen. Dafür suchte ich im Berliner vergeblich nach der Konfitüre.

Und heute war nun also gar niemand da. Aber was wollte ich jammern. Es konnte mich sowieso keiner hören. Ich las den Zettel nochmals durch, da ich nicht verstanden hatte, wo Mutter war. Doch das fand ich auch beim zweiten Mal Lesen nicht heraus. Der Zettel erinnerte mich an die Schule, weil wir am Morgen das Dehnungs-h besprochen hatten. Wie war das nochmal? Nun, eigentlich interessierte mich die Sache mit der Rechtschreibung nicht besonders und irgendwie hatte ich den Eindruck, dass meine Mutter es damit auch nicht so genau nahm.

Die Spaghetti, die Papa gestern Abend für uns und seinen besten und einzigen Freund Alex gekocht hatte, schmeckten noch immer nicht besonders. Immerhin konnte ich sie nun mit genug Ketchup verfeinern, ohne einen Rüffel zu kriegen. Alleine essen ist langweilig und irgendwie doof. Ich verschwendete darum keine Minute zu viel dafür und nach fünf Minuten waren die Dinger verdrückt. Fehlte nur noch die Nachspeise. Auf der Suche nach Schokolade oder Keksen stieß ich in einem der obersten Küchenschränke auf einen Stapel ausgeschnittener Zeitungsartikel. Sie lagen zuhinterst in der Ecke. Ich musste mich auf meinem Stuhl auf die Zehenspitzen stellen, um an meinen Fund zu gelangen. Die Artikel handelten von irgendeinem Kunstraub. Bei den meisten Artikeln war daneben ein Bild einer schlafenden Frau abgebildet. Sie war nackt und nur zur Hälfte mit einer dünnen Decke zugedeckt. Neben einem Artikel war ein Bild, auf dem ein Mann zu sehen war, der sich mit seiner Jacke den Kopf bedeckte. Unter dem Bild stand: „Der Verdächtige versucht, sein Gesicht vor den Journalisten zu verbergen.“

Mein Fund brachte mich ins Grübeln. Wieso bewahrte meine Mutter Zeitungsartikel im Küchenschrank auf, wo sie doch gar keine Zeitungen las? Und wo, zum Teufel, hatte sie die Zeitungen her? Die einzigen Zeitungen, die bei uns in der Wohnung je herumlagen, waren Gratiszeitungen. Und in diesen hatte ich noch nie einen Artikel gefunden, der länger als zehn Zeilen war. Die Artikel, die nun ausgelegt vor mir auf dem Küchentisch lagen, waren fast alle mindestens so groß wie eine Seite meines Mathebuches. Auf jeden Artikel hatte meine Mutter fein säuberlich ein Datum geschrieben und sie danach mit einer Büroklammer zusammengeheftet. Das machte mich gleich nochmals stutzig, findet es meine Mutter doch nur schon überflüssig, die Sockenpaare nach dem Waschen wieder zusammenzulegen. Sie legt jeweils alle meine gewaschenen Socken in eine Kiste, von wo ich mir jeden Morgen ein Paar aussuchen kann. Woher also kam nur dieser unerklärliche Ordnungstick?

Ich begann, den ersten Artikel zu lesen, verstand aber nur Bahnhof. Ich war gerade beim Wort „Kollusionsgefahr“ stecken geblieben, als das Telefon klingelte. Beim Aufstehen stiess ich mein Glas um und der Sirup bekleckerte nebst dem Boden meine Hose und dummerweise auch zwei Zeitungsartikel. „Ach, du Idiot“, beschimpfte ich mich selbst und holte einen Waschlappen, um die restlichen Zeitungsartikel vor der Himbeersirupwelle zu retten. Das Telefon war mir grad ziemlich egal. Ich hatte nun eindeutig Besseres zu tun, als einen der Telefonverkäufer, die gewöhnlich um diese Zeit anrufen, abzuwimmeln. „Scheint ein besonders motivierter Typ zu sein“, dachte ich mir, da es immer noch klingelte, als ich bereits überall geputzt hatte und die beiden Artikel zum Trocknen auf die Heizung gelegt hatte. Entnervt nahm ich den Hörer in die Hand: „Hier ist der Anschluss der Familie Wollmer, im Moment ist leider nur das sich alleinerziehende Kind zu Hause. Rufen Sie gefälligst später nochmals an oder …“

„Hi, Leo“, unterbrach mich Tim bei meiner Anrufbeantworternummer.

„Ah, du bist’s. Dachte mir schon, es sei einer dieser fleißigen Herren, die meiner Mutter um diese Zeit immer was verkaufen wollen.“

„Was laberst du da? Wer will was verkaufen?“

„Vergiss es. Was gibt’s? Weshalb rufst du mich an?“ Ich sollte hier vielleicht erwähnen, dass ich Tim nicht besonders mochte. Vor einem halben Jahr war er in unser Städtchen gezogen, und seither versuchte er krampfhaft, Freunde zu finden. Frau Haas hatte ihm den Platz neben mir gegeben. „Ist das nicht wunderbar: Leos Freund ist erst kürzlich weggezogen, darum ist in seiner Bank noch ein Platz leer. Na, Leo, gewiss verstehst du dich mit Tim schon bald ebenso gut, wie du dich mit Henry verstanden hast.“

Wie konnte sie nur. Henry war Henry, auch wenn er nicht mehr hier war. Nie und nimmer würde Tim auch nur entfernt so was wie ein zweiter Henry werden. Denn Henry war cool, lustig, mutig und bei allen beliebt gewesen.

Unsere Freizeit hatten wir meistens zusammen verbracht. Er hatte viele tolle und manchmal auch etwas verrückte Ideen, was wir unternehmen sollten, und darum war uns nie langweilig. Manchmal trafen wir uns mit anderen Kindern der Klasse, aber am liebsten waren mir die Nachmittage, an denen wir nur zu zweit was unternahmen.

Nun, Henry war leider Geschichte und Tim so was wie sein Nachfolger. Seit er in unserer Schule war, versuchte er beharrlich, mein Freund zu werden. Es ist nicht so, dass ich ihn total bescheuert finde. Manchmal ist er ganz okay. Zum Beispiel dann, wenn ich ihm etwas erzähle. Er hört mir jeweils sehr genau zu, ohne mich zu unterbrechen. Außerdem ist es oft praktisch, dass er so viel weiß. Er liest jeden Tag die Zeitung und ist der Klassenbeste. Aber das ist gerade das Problem: Mich nervt, dass er immer meint, alles besser zu wissen. In der Klasse gilt er als Streber und das bedeutet, dass jeder, der sich mit ihm abgibt, ebenfalls als Streber abgestempelt wird. Nein, darauf hatte ich keinen Bock, da blieb ich lieber freundlos.

Ich war also nicht scharf darauf, Tim am Nachmittag zu treffen. Und darauf würde es hinauslaufen. Mittwochs war ihm meist langweilig, darum versuchte er immer wieder, mit mir was zu unternehmen.

Und natürlich war es auch heute so: „Hast du am Nachmittag schon was los? Ich würde gerne abmachen. Wir könnten zusammen mein neues Computerspiel spielen.“

„Hm … geht leider nicht, ich fahr mit meiner Mutter in die Stadt und kaufe neue Hosen und ein cooles Shirt“, log ich Tim an.

„Komisch, als ich von der Schule nach Hause kam, habe ich sie im Bus, der in die Stadt fährt, sitzen sehen“, erwiderte der Klugscheißer prompt.

„Da weißt du ja mehr als ich“, wollte ich gerade antworten, besann mich dann aber doch auf meine Lüge und versuchte, die Situation zu retten. „Sie ist eben schon vorausgegangen. Ich fahr um eins nach und treffe sie in der Stadt.“

„Ach, Leo, erzähl das jemand anderem. Du würdest wohl gerne in die Stadt fahren und Klamotten kaufen. Aber dafür fehlt bei euch das nötige Kleingeld. Stimmt’s oder hab ich recht?“ Eben, hab ich’s doch gesagt, Tim nervt! Aber dumm ist der Kerl nicht und meist durchschaut er meine Lügen, noch bevor ich fertig bin mit dem Erzählen. Ich gab mich also geschlagen.

„Okay, du hast Recht. Abmachen kann ich trotzdem nicht. Ich muss die Englischwörter büffeln. Hast ja gehört, was Miss Haas heute gesagt hat.“

„Lernen wir die Wörter doch gemeinsam. Von mir kannst du übrigens richtig was lernen. Ich hatte in der letzten Prüfung als Einziger der Klasse die volle Punktzahl.“

So ein Angeber!

Da mir die Argumente fehlten, gab ich mich geschlagen. Wir verabredeten uns für halb zwei vor dem Kiosk.

Nach dem Telefongespräch setzte ich mich zurück an den Küchentisch und versuchte nochmals, die Artikel zu lesen. Immerhin fand ich heraus, dass der Verdächtige mangels Beweisen freigelassen worden war.

Nun legte ich die trocken gebliebenen Zeitungsartikel geordnet zurück in den Küchenschrank. Sämtliche noch nassen Exemplare versteckte ich vorsichtig in meinem Bett, zwischen Matratze und Lattenrost. Ich wollte sie zurücklegen, sobald sie trocken waren.

Gerade hatte ich die Matratze sorgfältig gesenkt, als wieder das Telefon klingelte. Dieses Mal antwortete ich bereits nach dem zweiten Klingeln: „Guten Tag, was wollen Sie mir heute verkaufen? Einen neuen Turbostaubsauger oder den allerbilligsten Handy-Vertrag?“

„Ähm … hallo … Leo, bist du das?“, antwortete die mir bestens vertraute Stimme von Selma. Auweia, ausgerechnet Selma, und ich redete solch einen Blödsinn daher.

Jetzt konnte mich nur noch die Defekte-Leitung-Nummer retten. Dazu schnalzte ich dreimal mit der Zunge, klopfte danach mit einem Kugelschreiber auf die Sprechmuschel, pfiff zum Abschluss ins Telefon und unterbrach dann die Verbindung. Mein Herz klopfte wie wild und als es nach kurzer Zeit erneut klingelte, hörte ich noch immer mein Blut in den Ohren rauschen.

„Leonardo Wollmer am Apparat.“ Oh, Gott, Leonardo nennt mich doch einzig meine Mutter. Wie konnte ich nur?

„Hallo, Leo, hier ist Selma.“

„Hallo, Selma“, erwiderte ich, darauf konzentriert, dass meine Stimme nicht zitterte. „Na, wie geht’s denn so?“, fragte ich dämlich, da mir in der Aufregung nichts Originelleres einfiel.

„Ganz gut. Sag mal, hast du heute Nachmittag schon was vor?“

Hatte ich richtig gehört? Selma interessierte sich dafür, ob ich schon was vorhatte? Mir wurde mulmig.

„Ähm … nein. Wieso fragst du?“

„Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, mit mir ins Kino zu kommen. Der neue Film mit Elyas M’Barek ist angelaufen. Der soll witzig sein.“

Mit mir will selten jemand ins Kino. Noch viel seltener will ein Mädchen mit mir ins Kino. Und noch nie wollte ein beliebtes Mädchen mit mir ins Kino. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser Elyas war, doch ehrlich gesagt war mir der Film total egal. Ich hätte mir mit Selmas Begleitung selbst „Die Eisprinzessin“ angeschaut.

„Ähm … klar hab ich Lust! Also … also … du und ich?“

„Was meinst du mit ‚du und ich‘?“

„Na … na, du und ich … ob wir … ob wir … ähm … alleine hingehen oder … oder … kommt noch wer mit?“ Oje, was stotterte ich da nur?

„Na klar, wer sollte denn sonst noch mitkommen?“

„Keine Ahnung. War nur so ’ne Frage.“

„Also, hast du nun Lust? Mit mir ins Kino zu kommen? Nur mit mir?“ Während mein überfordertes Hirn herauszufinden versuchte, was sie mit dieser letzten Frage sagen wollte, hörte ich mich wie von fern weiterstammeln.

„Ähm, ja, klar doch … hab ich doch … doch schon gesagt … ähm … dass ich Lust habe … mit dir … ins Kino …“

„Gut, treffen wir uns um zwei Uhr bei der Busstation“, unterbrach mich Selma schließlich und kicherte leise in den Hörer, was mich noch nervöser machte.

„Ja … ähm … ja, gut. Also dann … bis … bis um zwei.“

„Ja, bis dann, tschüss, Leo. Freue mich.“

Noch bevor ich ihr ebenfalls „Tschüss“ sagen konnte, hatte sie schon aufgelegt. Erst jetzt merkte ich, dass mir schwindlig war. Ich musste mich hinsetzen, um mir zu überlegen, ob ich mich nun über mein Gestammel ärgern oder doch lieber auf den Nachmittag mit Selma freuen sollte. Ich entschied mich für die Vorfreude auf das Kino, aber mein Hirn blieb dann doch beim Ärger über mein Gestammel hängen.

2

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, war es Viertel nach eins. Zeit genug, um die Küche in Ordnung zu bringen. Ich räumte das Ketchup in den fast leeren Kühlschrank zurück und überlegte mir, was ich mit dem Abwasch machen sollte. Da wir keine Geschirrspülmaschine haben, müssen wir von Hand abwaschen. Ich hätte das Geschirr stehen lassen und darauf hoffen können, dass Mutter es später machen würde. Aber diese Chance war sehr klein. Viel größer war die Gefahr, dass ich etwas zu hören kriegen würde, falls sie einen ihrer wütenden Tage hätte. So im Stil von: „Immer muss ich alles für diese Familie tun“, oder: „Du bist schon genauso faul wie dein Vater.“ Ja, so ist das an solchen Tagen, an denen ich ihr nichts recht machen kann und sie an allem rummeckert. Ob heute ein, wie ich solche Tage nenne, wütender Tag war, konnte ich nicht abschätzen, da sie am Morgen noch geschlafen hatte, als ich aufgestanden war und das Frühstück aß. Aber vielleicht hatte sie ja heute einen ihrer traurigen Tage. Dann würde ich nichts zu hören kriegen, wenn ich den Abwasch nicht gemacht hätte. An den traurigen Tagen ist ihr nämlich alles egal und es ist dann jeweils so, als ob sie gar nicht da wäre, sondern nur ihr Körper. An diesen Tagen nimmt sie nichts wahr, mich nicht und erst recht kein schmutziges Geschirr. Aber das bedeutet auch, dass sich an ihren traurigen Tagen entweder ich oder Papa um den Haushalt kümmern mussten. Und da Papa meist weg ist, bin dann letztendlich doch ich derjenige, der den Abwasch macht. Ich schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass Mutter heute entweder einen wütenden oder traurigen Tag haben würde, als ziemlich hoch ein. Darum erledigte ich den Abwasch möglichst schnell und versuchte, nicht länger darüber zu grübeln, weshalb Mutter so oft schlecht gelaunt war.

Heute musste ich nur das Geschirr vom Mittagessen und Frühstück abwaschen. Papa hatte gestern nach unserem Spaghetti-Essen die Küche sauber gemacht, was er nur dann tut, wenn er gut drauf ist. Gut drauf heißt, wenn er nicht zu viel getrunken hat. Die Stimmung war gestern trotzdem eigenartig. Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll.

Zunächst war alles wie immer. Mama, Papa, ich und Alex saßen am Tisch, aßen die faden Spaghetti, Salat mit zu viel Fertigsauce und tranken Rotwein. Na ja, ich trank wie üblich Sirup. Doch während Mama in der Regel kurz nach dem Essen aufsteht und sich im Wohnzimmer vor den Fernseher setzt, blieb sie gestern lange sitzen. Auch ich durfte am Küchentisch bleiben, was ungewohnt ist. Meist schicken sie mich nämlich nach dem Essen gleich ins Bett oder zumindest auf mein Zimmer. Von dort höre ich sie dann oft lautstark diskutieren. Wobei, das stimmt nicht ganz; ich höre Alex lautstark diskutieren. Papa hat eher die Rolle des Zuhörers. Meistens versucht Papa Alex zu besänftigen oder ihm beizustimmen. Ich glaube nicht, dass er sich Alex je widersetzt hat. Alex ist der Boss, Papa sein Helfer: So ist das. Was Papa und Alex zu besprechen hätten, sei geschäftlicher Natur, erklärt mir Papa wiederholt. Die zwei haben schon viele Geschäfte zusammen aufgebaut und wieder verloren. Momentan verdienen sie ihr Geld als „Männer für alles“. Alex findet diesen Geschäftsnamen wahnsinnig originell und er wird nicht müde, meiner Mutter verschwörerisch zuzuzwinkern und zu betonen, dass er ein Mann für ALLES sei. Was die beiden Supermänner den lieben langen Tag wirklich tun, ist mir nicht ganz klar. Ich weiß nur so viel, dass sie manchmal leere Wohnungen und Häuser hüten und für ältere, alleinstehende Damen die Einkäufe erledigen. Fürs Putzen und für Gartenarbeiten sind sie sich zu schade. So viel also zu „alles“. Wenn ich Papa frage, welche Art von Aufträgen sie sonst noch zu erledigen hätten, wechselt er sofort das Thema. Als ob ich blöd sei und nicht merkte, dass er nicht darüber reden will. Weshalb er nicht mit mir darüber reden möchte, weiß ich nicht. Ich kann mir eigentlich nur zwei Gründe vorstellen: entweder er schämt sich für die Aufträge, oder das, was die beiden tun, ist nicht legal.

Vor dem „Männer für alles“-Ding hatten sie versucht, mit einem mobilen Imbissstand, an dem sie Crêpes und Getränke verkauften, Geld zu verdienen. Sie zogen damit von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, ausgerüstet mit kiloweise Teig, Schokoladensauce, Zucker, Zimt, Zitronensaft, Käse und was sie sonst noch so in die Dinger füllten. Mit der Zeit konnten sie den Geruch der Crêpes nicht mehr ausstehen, und so gaben sie den wenig rentablen Imbissstand auf. Ich möchte wetten, dass auch ihr „Männer für alles“-Geschäft nicht das große Geld abwirft. Zumindest habe ich noch nicht das Geringste davon gespürt. Wäre das Geschäft erfolgreich, hätte mir meine Mutter zumindest meine undichte Regenjacke durch eine neue ersetzen können. Oder sie hätte mir ein Handy kaufen können. Aber daran wollte ich gar nicht erst denken, das machte mir nur schlechte Laune.

Dass sie den Crêpes-Stand nicht mehr haben, finde ich schade. Da hatte ich nämlich oft mitgeholfen. Mal war Alex einen vollen Monat krank gewesen, und darum blieb die ganze Arbeit an meinem Vater hängen. Und das geschah erst noch mitten im Sommer, als all die großen und wichtigen Jahrmärkte stattfanden. Und selbstverständlich sprang ich sofort ein, half, die Crêpes zu brutzeln und sie mit Konfitüre, Schokoladensauce und Co. zu bestreichen. Ja, sogar einkassieren durfte ich. Das volle Programm. Papa war sehr zufrieden mit mir. Nach einem besonders anstrengenden Tag hob er mich hoch, nahm mich in seine Arme, drückte mich fest an sich und sagte: „Ach, mein Junge, du machst das einfach toll. Was hätte ich heute nur gemacht ohne dich?“

Meinen Ohren hatte das gefallen, denn die kriegen nicht sehr oft was Gutes zu hören. Damals vielleicht noch eher, aber heute? Nein, heute höre ich kaum mehr was Gutes. Und auch hochheben würde er mich nicht mehr. Klar, ich bin inzwischen viel zu groß dafür. Wie sähe das denn aus? Und trotzdem; früher war das mit meinem Vater und mir irgendwie anders. Auch wenn er schon damals dauernd am Arbeiten war, hatten wir oft Spaß zusammen.

Leider wurde Alex viel zu bald wieder gesund und kam somit auch wieder zurück zum Crêpes-Stand. Das bedeutete das Ende des tollen Wollmerschen Teamworks. Jedes Mal, wenn wir danach zu dritt hinter der Theke standen, gab mir Alex zu verstehen, dass ich alles falsch, ungeschickt oder zu langsam erledigte. Er kommandierte mich herum, ganz so, als ob ich sein Sklave wäre. Mein Vater stand jeweils nur daneben und sagte nichts. Nein, nicht mit mir, dachte ich und ging darum nur noch zum Arbeiten, wenn Alex nicht da war. Aber nun waren die Crêpes ohnehin Geschichte und das Männer-für-alles-Ding vermutlich auch bald.

Gestern Abend hatte seltsamerweise keiner von ihrem Geschäft gesprochen. Ich hatte das Gefühl, dass Alex in Festlaune war. Auf jeden Fall wollte er dauernd anstoßen. Und er betonte mehrere Male, wie schön es sei, mit uns hier an einem Tisch zu sitzen und wie wunderbar das Essen schmecke.

Aber das war Schnee von gestern. Nun hatte ich zweifellos anderes zu tun, als mir über den Abend zuvor den Kopf zu zerbrechen. Die Küche war nach zehn Minuten sauber, fehlten nur noch die Englischwörter. Ich hatte noch eine knappe halbe Stunde Zeit, was zum Lernen reichen würde, um morgen eine genügende Note zu bekommen. Ich setzte mich also an meinen Schreibtisch und wollte das Englischheft aus meiner Schultasche zaubern, als ich feststellen musste, dass ich dazu einen Zauberstab gebraucht hätte. Wie so oft lag das Englischheft in der Schule statt in der Schultasche. Immerhin würde ich morgen keinen Eintrag kriegen, weil ich das Englischheft nicht dabeihaben würde, dachte ich frustriert und beschloss, die so gewonnene Zeit in meine Mähne zu investieren. Im Badezimmer fand ich eine fast leere Tube Haargel, die meinem Vater gehörte. Ich musste sie aufschneiden, um noch was rauszukriegen. Danach strich ich die klebrige Masse in meine Haare. Obwohl ich nicht sehr geübt bin in solchen Dingen, stellte ich zufrieden fest, dass mir mein Spiegelbild kaum mehr ähnlichsah. Meine Fransen, die sonst meine Stirn und mindestens eineinhalb Augen bedecken, hatte ich zur Seite frisiert. Und als ich mich schließlich mit diesem ungewohnt klaren Blick betrachtete, dachte ich mir, dass diese dunkelbraunen Augen gar nicht so übel waren.

Im Schrank suchte ich nach einem T-Shirt ohne Star Wars und Gefolgschaft, musste aber feststellen, dass Mama mein einziges Markenshirt noch immer nicht gewaschen hatte. Auch sonst war gähnende Leere im Kleiderschrank. So beließ ich es bei meiner mit Sirup getränkten Hose und meinem nicht mehr ganz sauberen Löwenshirt, das mir meine Großmutter vor Urzeiten geschenkt hatte. Sie hatte mal eine Phase, in der es ihr einen besonders großen Spaß machte, ihrem kleinen Leo Löwen in allen Variationen zu schenken. Die Phase hatte angedauert, bis ich es übers Herz gebracht hatte, ihr beizubringen, dass Klein-Leo trotz oder gerade wegen des Namens, kein Löwenfan mehr war.

Ich stellte mich nochmals vor den Spiegel, dieses Mal vor den großen im Gang, und versuchte herauszufinden, ob ich Selma so treffen konnte. Oder ob es nicht doch gescheiter wäre, ihr eine Ausrede aufzutischen und stattdessen zu Hause zu bleiben. Meine Klamotten fielen noch nicht mal unter die Kategorie „Out“, sondern eher unter die Kategorie „Außer Konkurrenz“. Was würde sie denken, wenn sie mich sehen würde?

Ach, was soll’s, dachte ich mir. Sie kennt mich eh schon lange und in der Schule hatte ich auch stets dieselben Klamotten an. Und vielleicht würde sie ja mehr in meine Augen als auf meine Kleider schauen.

Ich war gerade dabei, meine Zähne zu putzen, als es an der Haustüre klingelte. „Tim!“, schoss es mir durch den Kopf. Den hatte ich in der Aufregung total vergessen. Ach, Mist! Was sollte ich nur tun? Die Türe öffnen und ihm eine doofe Ausrede auftischen? Besser nicht, Mister Ich-weiß-alles würde mich durchschauen, noch bevor ich mit reden fertig wäre. Ihn fragen, ob er auch mit ins Kino wolle? Nie im Leben. Ich entschied mich, so zu tun, als ob ich nicht zu Hause wäre. Das tat ich und ließ mich auch von seinem penetranten Läuten und Klopfen nicht aus dem Konzept bringen, stieß aber schon bald auf ein Folgeproblem. Es war inzwischen fünf vor zwei, um zwei musste ich bei der Busstation sein und Tim versperrte mir noch immer den Ausgang. Er hatte sich, wie ich mit einem vorsichtigen Blick durch das Guckloch feststellte, vor der Türe auf die Treppe gesetzt. Ich saß in der Falle. In der Not entschied ich mich, einen Sprung von unserem Balkon zu riskieren.

3

Wir wohnen im ersten Stock und unter uns liegt die weiche Wiese, so dachte ich zumindest. Doch ich musste feststellen, dass die Wiese wesentlich härter war, als ich mir das vorgestellt hatte. Mit schmerzendem Fußgelenk humpelte ich nach dem missglückten Sprung, so schnell ich konnte, zur Bushaltestelle. Schon von weitem konnte ich erkennen, dass Selma bereits da war. Selma von weitem zu erkennen ist übrigens keine Kunst: Ihre langen, wild gekrausten Haare würde ich bestimmt auch mitten in einer riesigen Menschenmasse wiedererkennen. Sie war gerade dabei, ungeduldig auf ihre Armbanduhr zu schauen, als ich von hinten an sie herantrat und mich mit einem nicht sehr lauten „Hallo“ bemerkbar machte. Ich murmelte eine müde Entschuldigung vor mich hin, in der Hoffnung, sie sei nicht sauer wegen meiner Verspätung. „Ich dachte schon, du hättest unsere Verabredung vergessen“, sagte Selma, wobei ich an ihrer Stimme nicht erkennen konnte, ob sie nun sauer war oder nicht.

Verabredung vergessen? Wie bitte? Wusste sie nicht, wie sehr ich mich auf den gemeinsamen Kinobesuch freute? Was sollte ich auf einen solchen Satz antworten? „Nie im Leben könnte ich eine Verabredung mit dir vergessen!“ klang definitiv zu schleimig und „Beinahe hätte ich die Verabredung vergessen“ zu gemein.

Da mir keine passende Antwort einfiel und ich ihr nicht die Wahrheit erzählen wollte, entschied sich mein nervöses Hirn erneut für ein kaum verständliches Murmeln.

Der heranfahrende Bus bescherte der Situation zum Glück ein schnelles Ende. Die Ruhe währte jedoch nicht lange. Als Selma ihre Fahrkarte löste, stellte ich erschrocken fest, dass ich mein Portemonnaie zu Hause vergessen hatte. Selma drückte mir eine Fünfzigernote in die Hand.

„Du kannst sie mir später zurückgeben“, sagte sie. Verdattert bezahlte ich beim Chauffeur meine Fahrkarte mit der großen Note. Der fauchte mich an, ob ich noch nie was von einer Mehrfahrtenkarte gehört hätte. Während ich hastig das viele Rückgeld einsteckte, schimpfte er weiter vor sich hin.

Auf der Fahrt in die Stadt saßen wir auf den hintersten Sitzen. Außer uns waren nur noch drei weitere Leute im Bus, aber die saßen alle vorne. So nah und so alleine bei Selma zu sitzen, machte mich logischerweise noch nervöser, als ich es bereits war. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, entdeckte ich auch noch einen Fleck auf meiner Hose. Es sah aus, als hätte jemand mit einem feinen Buntstift einen ausgetrockneten See darauf gezeichnet. Ich legte meine Hand möglichst flach auf mein Bein und versuchte, nicht an meine Siruphose zu denken. Und auch die Frage, weshalb es Mutter nicht fertigbrachte, einmal pro Woche zu waschen, wollte ich jetzt nicht durch mein Hirn schicken. Nein, ich wollte mit Selma plaudern. Sofort. Und am liebsten voll locker.

„Wie heißt nochmals der Film, den wir anschauen?“

„Gefundenes Glück.“ Sie schaute mich an. Gut so.

„Um was geht es da?“

„Es ist so ’ne Ganoven-Geschichte. Eine Frau findet in einer alten Kommode, die sie auf dem Flohmarkt gekauft hat, wertvollen Schmuck. Sie will diesen verkaufen, um Kohle damit zu verdienen. Aber leider ist es Diebesware und die Ganoven sind hinter ihr und dem Schmuck her.“

„Pah, das sollte mir mal passieren. Einfach so zu Geld zu kommen.“

„Lieber nicht, oder willst du etwa von bösen Jungs verfolgt werden? Außerdem hat sie ja erst mal nur den Schmuck, und ich bezweifle, dass sie den überhaupt verkaufen kann.“

„Na ja, klingt auf jeden Fall spannend“, erwiderte ich und ärgerte mich etwas darüber, dass mir dazu nichts Originelleres einfiel.

„Oh ja, das glaub ich auch. Und gewiss lustig. Hab bis jetzt bei allen Filmen, die ich von Elyas M’Barek gesehen habe, Tränen gelacht.“

Nun wäre wieder ich dran gewesen, etwas zu sagen. Doch ich kannte weder diesen Elyas noch seine Filme und darum fiel mir erst mal gar nichts ein, was ich hätte sagen können. Und je länger ich überlegte, was ich jetzt Passendes sagen konnte, umso leerer wurde es in meinem Kopf.