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Für Nelle Harper Lee und ihre Schwester Alice.

Für Carmen Martín Gaite und ihre Schwester Ana María.

Für Ana María Matute, Carmen Laforet und alle Schriftstellerinnen, die den Mut hatten, ein Abbild ihrer Zeit zu erschaffen.

Kapitel 1

Alicia war süß wie getrocknete Weinbeeren. Estela hatte eine harte Schale, die so bitter war wie die der Johannisnuss. Beide waren sie in diesem Haus geboren, in einem Abstand von genau zwölf Monaten. Gesegnet sei ihre Mutter, die zwischen der einen Schwangerschaft und der nächsten nicht einmal durchatmen konnte. Wie sie erzählte, war Alicia bei Estelas Geburt, als die Kleine mit einem ersten Schrei das Leben begrüßte, mit ihrem Windelpopo wie ein aufgeschrecktes kleines Tier ins Zimmer gekrabbelt. Nach einem (imaginären) Tusch zog sie sich am Bettrand hoch und machte, mit zusammengeballten Fäusten an der Kante balancierend, drei wacklige Schritte auf das Kopfende des Bettes zu. Dabei lag etwas Neugieriges in Alicias Blick, eine Frage, die sich seit jenem Tag jedes Mal aufs Neue zwischen ihren Brauen abzeichnete, wenn sie ihre Schwester ansah.

Noch heute konnte Alicia sich die Szene lebhaft vorstellen, zumal alles sich in den letzten zweiundachtzig Jahren kaum verändert hatte. Im Hintergrund das Gebirge und der kleine Ort, dessen Einwohnerzahl nie die fünfzehntausend überschritten hatte. Und auch das Haus war noch dasselbe, ein Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert, der von einer mit Efeu bewachsenen Steinmauer umgeben war; mit einer Rotunde und einer Terrasse, einem Turm, einer Garage, einem gekachelten Brunnen, einem Pelota-Spielfeld und einem üppigen Garten, in dem Fliederbüsche und Rosensträucher wuchsen und ein alter Baum, dessen Stamm hohl war. Darin lebte ein Kobold, jedenfalls wenn man Tony glauben wollte, der Stein und Bein schwor, dass es für die Existenz des kleinen Wesens eindeutig Beweise gab. »Ein-deu-tig« sagte er, wobei er jede Silbe betonte.

Tony Cienfuegos wohnte zwei Häuser weiter. Zu jener Zeit war er ein theatralischer kleiner blonder Junge. Das Wort »theatralisch« hatte er wie andere schwierige Worte in den vielen Stunden gelernt, die er – von seiner Mutter ins Haus verbannt – drinnen verbrachte. Seine einzige Gesellschaft waren die vielen Bücher in seinem Zimmer. Diese hatten einmal seinem Stiefvater gehört, Reinaldo Cienfuegos, der sie bei seiner Flucht genau wie den kleinen Jungen und dessen Mutter einfach zurückgelassen hatte. Aus Rache hatten sie dann nicht nur seine Bücher, sondern auch seinen Namen behalten.

Das Bett, in dem Estela heute noch schlief, war das, in dem die beiden Schwestern geboren worden waren. Wenn man das Zimmer betrat, quietschten die Scharniere der Tür noch genauso wie früher, und auch der Boden knarrte an den gleichen Stellen wie damals. Alicias Schritte waren nun, im Alter, wieder ähnlich wacklig wie an dem Tag, an dem Estela das Licht der Welt erblickt hatte, und es fiel ihr nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten. Mit angehaltenem Atem balancierte sie wie bei einer Zirkusnummer das Tablett mit dem Frühstück in ihren Händen: Milchkaffee, Kekse, geröstetes Brot und Marmelade.

Genau wie am Morgen von Estelas Geburt trat sie an das Kopfende des Bettes, um ihre Schwester, die inzwischen eine alte Frau war, anzuschauen – ihr ungekämmtes kurzes weißes Haar, ihre kleinen, nun geschlossenen flinken Augen und die großen Ohren. Hübsch war sie nie gewesen, daher war die Faszination, die sie auslöste, eigentlich verwunderlich.

Wie üblich lag Estela in ihrem ruhigen Dornröschenschlaf. Die Gespenster der Vergangenheit hatte sie weit hinter sich gelassen. Wie tief sie schlief! Beneidenswert. Wenn Alicia nicht so ein Frühaufsteher wäre, würde Estela wahrscheinlich den ganzen Vormittag im Bett verbringen.

»Guten Morgen, du Schlafmütze«, flötete Alicia, während sie das Tablett auf dem Tisch mit dem Kohlebecken darunter abstellte, und öffnete dann die hölzernen Fensterläden, um die Maisonne hereinzulassen.

Estela antwortete mit einem trägen Brummen. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster und traf auf Estelas Brille, die neben dem offenen Buch, das ihr wahrscheinlich am Vorabend beim Einschlafen aus den Händen gefallen war, auf dem Boden lag.

Alicia bückte sich, um die Brille aufzuheben, und erkannte das Buch sofort: Das rote Backsteinhaus von Tony Cienfuegos.

»Wir haben eine neue Nachbarin«, sagte sie. »Sie scheint nett zu sein.«

Verstohlen schob sie das Buch mit dem Fuß unters Bett. Sie würde es später holen und an seinen Platz in der Bibliothek zurückstellen, zu den anderen alten Büchern, die ihre Schwester im ganzen Haus hortete: Sie stapelten sich an den Wänden und auf dem Boden und lugten wie Tomatenpflanzen in einem verlassenen Garten unter den Möbeln hervor.

»Ihr Name ist Maya. Ich schätze sie auf etwa dreißig. Sie hat das Nonnenhaus gemietet.«

Alicia hatte damit begonnen, Butter auf das Brot zu streichen. So machten sie es immer. Sie setzte sich an den Tisch, schenkte Kaffee ein, schmierte das Brot und plauderte vor sich hin, während ihre jüngere Schwester nach und nach wieder lebendig wurde.

»Das von den Nonnen?« Estelas Stimme klang ein wenig heiser, was wohl dem Gin Tonic geschuldet war, den sie am Abend zuvor getrunken hatte.

Sie waren spät zu Bett gegangen, weil die anderen Damen aus dem Kartenclub nicht nur Frühaufsteherinnen, sondern offenbar auch Nachtmenschen waren. Gezwungenermaßen, da sie nicht schlafen konnten. Mit dem siebzigsten Lebensjahr hatte sie die senile Bettflucht ereilt, und keine von ihnen machte nachts ein Auge zu. Sie trafen sich ein oder zwei Mal pro Woche, immer im »Haus der Schwestern« – wie sie es getauft hatten –, um gemeinsam Mus oder Poker zu spielen, zu trinken und zu rauchen wie die Kosaken, sich die neuesten Klatschgeschichten zu erzählen und Boleros anzuhören.

Wie üblich hatten sie im Wohnzimmer ein furchtbares Chaos hinterlassen, mit überquellenden Aschenbechern und halbvollen Gläsern. Alicia hatte am frühen Morgen schon alles sauber gemacht. Und als Estela sich endlich dazu herabließ herunterzukommen, waren die Spuren der Verwüstung längst beseitigt. Auch wenn ihre Schwester den Aufwand vielleicht nicht zu würdigen wusste und nicht einmal bemerkte, dass »auf wunderbare Weise« alles wieder an seinem Platz stand, tröstete sich Alicia mit dem befriedigenden Gedanken, ihre Pflicht erfüllt zu haben. Denn es war unerlässlich, dass alles seine Ordnung hatte, um ihre Schwester bei Laune zu halten, und die Mission, Estela die Ruhe zu verschaffen, die sie brauchte, betrachtete Alicia als den Sinn ihres Lebens.

Nachdem Alicia mit Aufräumen fertig war und die Tüte mit dem Brot hereinholen wollte, die außen an der Haustür hing, hatte sie die junge Frau gesehen. Sie hatte eine von diesen engen Sporthosen an, die man zum Joggen trug, und dazu ein leuchtendes Shirt in einer undefinierbaren Farbe zwischen Grün und Gelb. Alicia hatte sie über die Straße hinweg mit einem leichten Kopfnicken gegrüßt, woraufhin die junge Frau höflich stehen geblieben war und sich den kleinen Knopf aus dem Ohr gezogen hatte, der an einem weißen Kabel hing, um näher zu treten und ihr mit einem ehrlichen, strahlenden Lächeln einen guten Tag zu wünschen.

»Genau das hat sie mir erzählt. Dass sie das Nonnenhaus gemietet hat. Einfach so.« Alicia seufzte. »Ich möchte gar nicht daran denken, in welchem Zustand sie es vorgefunden hat. Die Ärmste. Das kommt davon, dass man heute alles übers Internet macht. Dann folgt anschließend die böse Überraschung.«

Estela richtete sich halb auf, zog sich zwei weiche Kissen an das Kopfende des Mahagoniholzbettes und ließ sich mit einem wohligen Seufzen darauf nieder. Die Sonne schien hell, und ein leichter Fliederduft erfüllte den Raum, der von den Zweigen kam, die ihre Schwester am Vorabend mit viel Liebe ins Zimmer gestellt hatte, nachdem sie unter den Tausenden wilden Blumen, die im schattigen Teil des Gartens gleich neben dem Pelota-Spielfeld blühten, die prächtigsten ausgewählt hatte. Estela hatte sie von der Terrasse aus dabei beobachtet, während sie von dem Buch aufblickte, das ihre Verlegerin ihr – aufmerksam, wie sie war – in einem in Stanniolpapier eingeschlagenen Päckchen mit ihrer unverwechselbaren Handschrift und dem Wort »BÜCHERSENDUNG« in Großbuchstaben darauf geschickt hatte.

Die Bücher, die sie heutzutage erhielt, waren in der Regel ohne großen literarischen Ehrgeiz geschriebene simple Geschichten – in den meisten Fällen von Leuten verfasst, deren Gesichter man aus dem Fernsehen kannte. Dabei handelte es sich oft um Journalisten, um prominente Talk-Show-Gäste oder die Nachfahren von Musik- oder Sportstars, die hofften, mehr durch ihren populären Namen denn aus Liebe zur Literatur das Interesse des breiten Publikums zu wecken. In Ausnahmefällen kam es auch vor, dass sie auf einen originellen Debütroman stieß, der sie zumindest gut unterhielt. Doch in den meisten Fällen brach sie die Lektüre bei der Hälfte des Buches ab, wenn die Heldin des Romans mal wieder vor dem Spiegel ihr Leben Revue passieren ließ – eine Szene, die offenbar in keinem modernen Roman fehlen durfte.

Derzeit las sie die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen einem jungen Mann aus bescheidenen Verhältnissen und einer jungen Frau, die gegen den Wunsch ihrer Eltern entschieden hatte, ihr Zuhause zu verlassen und mit ihm ein abenteuerliches Leben zu führen. Der Autor – Sohn eines sehr berühmten Künstlers – beharrte darauf, dass es eine rein fiktive Geschichte sei, die mit der Liebesgeschichte seiner Eltern, die am Ende zu seiner Geburt auf einer kleinen Mittelmeerinsel geführt hatte, nichts zu tun hätte. Es war also reiner Zufall, dass sich auf Seite achtzig die beiden Protagonisten, von mehreren Männern verfolgt, die der Vater der jungen Frau damit beauftragt hatte, seine Tochter zu finden, auf ein Frachtschiff flüchteten, dessen Ziel die Balearen waren. Dort versteckten sie sich in einem Container voller Kissen. Die daraufhin beschriebene Szene war äußerst anregend: all die herumwirbelnden Federn, während sich das junge Paar zum ersten Mal liebte.

Den Autoren von heute fehlt es nicht an Talent, sondern an Fantasie, sagte Estela sich zum wiederholten Mal. Denn Die wirbelnden Federn war der Titel eines der bekanntesten Gemälde des berühmten Künstlers, dessen Sohn der Romanautor war.

Estela hatte von ihrem Buch aufgeblickt, als sie Alicias Schritte im Garten hörte, und hatte ihrer Schwester dabei zugesehen, wie sie mit ihren breiten Hüften, einem Korb und der Gartenschere in den Händen, mit dem wie üblich hochgesteckten Haar und ihrem verträumten Lächeln zu den Fliederbüschen hinüberging. Sie sah aus wie eine Biene, die Blütenpollen sammelte, um Honig daraus zu machen. Denn sie war genauso süß, ihre ältere Schwester. Genauso fleißig.

»Ich habe der jungen Frau erzählt, dass Papa in diesem Haus geboren wurde«, sagte Alicia nun, während sie ihren Milchkaffee trank. »Als unseren Großeltern noch der halbe Ort gehörte und der Name Valiente in der ganzen Gegend einer der angesehensten war.«

»Du alte Angeberin!«

»Daraufhin hat sie mich gefragt, ob wir mit Estela Valiente verwandt seien«, fuhr Alicia ungerührt fort. »Sie meinte, dass du eine Berühmtheit seist und dass dein Buch in ihrer Schule Pflichtlektüre gewesen ist. Dann wurde sie ein bisschen nachdenklich und hat mich gefragt, ob du noch lebst.«

Alicia lachte verschmitzt. Hin und wieder machte es ihr Spaß, dass Ego ihrer Schwester zu kitzeln.

»Na immerhin konntest du ihr diese Frage zweifelsfrei beantworten.«

»In der Tat. Ich habe ihr gesagt, dass du gestern Abend, als du zu Bett gegangen bist, noch ziemlich lebendig und putzmunter warst, dass ich es aber erst garantieren kann, nachdem ich dich geweckt habe.«

Estela zwang sich zu einem komplizenhaften Lächeln, während sie einen Stich im Herzen spürte. Es war eine Sache, sich freiwillig aus dem Scheinwerferlicht zurückzuziehen, jedoch eine ganz andere, wenn die Leser einen für tot hielten.

Fünfzig Jahre zuvor wäre es ihr egal gewesen. Damals hätte sie sich sogar gewünscht, dass die ganze Welt denken möge, sie wäre nicht mehr am Leben und vorzugsweise Opfer eines tragischen Ereignisses geworden. Das hatte sie damals Alicia gestanden, während sie sich, von einer plötzlichen Identitätskrise befallen, voller Angst und in Tränen aufgelöst, in ihre Arme geflüchtet hatte.

Die ersten Jahre nach der Veröffentlichung von Hinter verschlossenen Türen, das ein herausragenden Erfolg werden sollte, waren furchtbar gewesen – vor allem nachdem sie den Preis erhalten hatte. Mit einem Mal wurde ihr Heimatort zur Pilgerstätte, im Briefkasten stapelte sich die Fan-Post, und das Telefon klingelte unaufhörlich. Ständig erhielt sie Einladungen, an irgendwelchen Seminaren teilzunehmen und Vorträge zu halten. Einige Universitäten in Europa und in den Vereinigten Staaten wollten ihr sogar die Ehrendoktorwürde verleihen. Die Journalisten belagerten ihr Haus, das nun ständig von einem lästigen hochtönenden Stimmengewirr umgeben war, das ihnen die Tage zur Hölle machte.

Später war der ganze Hype nach und nach abgeebbt. Die Jahre vergingen, die Kritiker wurden alt und gingen in den Ruhestand, und Estela selbst wurde zu einer mythischen, legendären Gestalt. Irgendwann wurden zwei nicht autorisierte Biografien über sie veröffentlicht, deren Inhalt komplett erlogen war. Ihr zurückgezogenes Dasein nährte das Mysterium, und nach wie vor waren die einzigen konkreten Hinweise auf ihr Leben die anekdotischen Erlebnisse ihrer Kindheit, die sie in ihrem Roman beschrieb. Nach und nach gaben die Leute Ruhe, doch damals, in der schlimmen Zeit, wurde sie mit Fragen bombardiert.

»Wie fühlt man sich als einzige spanische Schriftstellerin, die jemals den Literatur-Nobelpreis bekommen hat?«, fragten sie. Und Estela wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch?«

Natürlich. Aber es reichte ihr nicht, genauso gut zu sein; sie verspürte das Bedürfnis, sich der Herausforderung zu stellen, zu wachsen, die Welt in Erstaunen zu versetzen, und schon bald begannen die Probleme. Sie rief ihre Verlegerin mit der gleichen Panik und krankhaften Hartnäckigkeit an, mit denen andere Menschen ihren Therapeuten belagern. Die Verlegerin besuchte sie häufig, stets bemüht, sie zu ermutigen, zu beruhigen, ihr zu erklären, dass sie ja nicht unbedingt einen neuen Klassiker der Weltliteratur schreiben müsse, sondern irgendetwas. Dass sie der Menschheit ja bereits einen solchen beschert habe und dass das doch erst einmal ausreiche. Niemand erwartete, dass ihr nächstes Werk ihr Debüt übertreffe. Warum versuchte sie es nicht einfach mal mit einem anderen Genre? Vielleicht mit einem Essay oder einem erzählenden Sachbuch, wie ihr guter Freund Tony Cienfuegos es mit großem Erfolg gemacht hatte. Dann antwortete Estela stets resigniert mit einem Sprichwort, das sie oft von ihrer Schwester gehört hatte: »Wenn ein Bergsteiger den Gipfel erreicht hat, bleibt ihm nur der Weg nach unten, wenn er weitergehen will.«

Und so blieb das erträumte Buch aus.

Vor vierzig Jahren hatte Estela sich schließlich endgültig von dem Gedanken verabschiedet, jemals ein weiteres Werk zu veröffentlichen. Seitdem widmete sie sich zwanghaft, gierig fast, in der Art einer Ernährungsstörung, der Lektüre – eine nervöse Bulimie, die zu Übelkeit und Erbrechen führte, zu Abhängigkeit und Besessenheit.

Noch im Bett tastete sie suchend nach der Zigarettenschachtel. Sie fand sie, leicht zerdrückt von ihrem eigenen Körpergewicht, zwischen Kissen und Decken, nahm eine verbogene Zigarette heraus und entzündete sie mit einem Streichholz, dessen verräterisches Geräusch Alicias Aufmerksamkeit erregte.

»Was für ein schreckliches Laster, meine Liebe!«, sagte sie tadelnd. »Du hast noch keinen Bissen gegessen und rauchst schon die erste Zigarette.« Alicia kräuselte missbilligend die Lippen und schüttelte den Kopf. »Komm, gib her!«

Estela streckte ihr die Hand mit der Zigarette entgegen, ließ den eingeatmeten Rauch durch die Nase entweichen und legte genussvoll den Kopf in den Nacken. Alicia nahm ihr die Zigarette aus der Hand, steckte sie sich zwischen die Lippen und nahm selbst einen tiefen Zug. Wunderbar!

»Erinnerst du dich noch an Tonys Zigarettenspitze, die so aussah wie die von Audrey Hepburn?«

»Ich habe noch nie etwas Weiblicheres gesehen als Tony, wenn er geraucht hat.« Alicia lachte. »Mit seinen kleinen Händen und seiner überkandidelten Art, an der Zigarette zu ziehen. Skandalös!«

»Er wollte eben immer etwas Besonderes sein«, rief Estela ihrer Schwester in Erinnerung. »Tony liebte es, aufzufallen.«

Sie schloss die Augen, suchte in Gedanken jenen Winkel im Garten auf, in dem Tony immer noch lebte, und sah ihn wieder als Fünfzehnjährigen vor sich – kindlich und noch ohne Bart, bildschön, aber so affektiert, dass er mehr wie eine als Dandy verkleidete junge Frau wirkte als ein Junge auf der Schwelle zum Erwachsensein.

»Ein Engel«, seufzte sie.

»Ein Teufel!«, erwiderte Alicia trocken. »Er hat dich zum Rauchen verführt. Und zu allen anderen Lastern.«

Doch Estela hörte ihrer Schwester gar nicht mehr zu. Gierig zog sie an ihrer Zigarette und genoss die Wirkung. Zug um Zug spürte sie, wie ihr Körper sich entspannte, wie ihr langsam warm wurde. Und sie war Tony dankbar dafür, dass er der Verursacher jener und vieler anderer unaussprechlicher Freuden gewesen war.

Seine Stimme war es, die sie alle Regeln hatte brechen lassen. Die Regeln des Anstands und der Korrektheit. Um Tonys Eitelkeit auszugleichen, hatte sie sich sämtliche Flüche angeeignet, die im Wörterbuch zu finden waren; um seiner physischen Zerbrechlichkeit etwas entgegenzusetzen, hatte sie sich mit sämtlichen Rowdys im Ort angelegt; und wegen seiner Manie, immer tipptopp herausgeputzt zu sein, hatte sie sich selbst völlig schief das Haar geschnitten, abgewetzte Hosen und grobe Holzfällerhemden getragen. Sie war sein Kontrapunkt gewesen, seine Gegenstimme, die dunkle Seite des Mondes.

Wegen ihm hatte sie geflucht, war auf Bäume geklettert, hatte Teller zerbrochen. Wegen ihm hatte sie gegen alle Konventionen verstoßen und nirgendwo hingepasst, hatte sie keine Freundinnen, keine Freunde und keine Hobbys gehabt.

Die Zeit an der Universität war flüchtig wie ein kalter Windstoß. Wahrscheinlich hatte keiner ihrer Kommilitonen auch nur einen Gedanken an sie verschwendet, bis sie den Nobelpreis erhalten hatte und ihr Name zum Weltkulturerbe wurde. Von da an versicherten alle, sie gut gekannt zu haben. Behaupteten alle möglichen absurden Dinge. Dass sie immer schon ein Phänomen gewesen sei, ein Wunder.

Auf einmal war sie nicht mehr exzentrisch, sondern originell. Die Geschichten um ihre seltsamen Eigenheiten kursierten in den Zeitungsredaktionen: »Als Studentin hat sie viele Stunden in der Bibliothek verbracht, doch irgendwann haben sie sie rausgeworfen, weil sie ein Buch verbrannt hat, indem sie sich Zigaretten aus den Seiten drehte.« – »Was für ein Buch denn?« – »Ich glaube, es war Wie werde ich eine gute Ehefrau.« »Zum Abschlussball kam sie in einer Pilotenuniform.« »Sie schrieb aufrührerische Artikel in der Universitätszeitung. Niemand wird jemals ihr Pamphlet über die freie Liebe vergessen, in dem sie behauptete, dass die größte Freiheit darin bestehe, sich selbst zu lieben, Sie wissen schon, was ich meine …«

Und all das nur für Tony. Wegen des Vergnügens, es ihm zu erzählen, ihn zu schockieren und den Klang seines Lachens zu hören.

Jahre später, in Madrid, gingen sie regelmäßig in eine Bar, die Tony das »Schlachtfeld« nannte, da er dort auf Gegner traf, die es mit ihm aufnehmen konnten. Kräftige, bärtige Herzensbrecher, die ihn ausnutzten und ihn schließlich einsam an dem Tisch zurückließen, wo sie ihn gefunden hatten. Tony bestellte Daiquiri; Estela Gin.

Er war es auch, der sie mit dem Virus des Schreibens infizierte, mit neun Jahren schon, indem er für sie pikante Geschichten über die Nachbarn erfand, die sie in der Einsamkeit des Turmzimmers bei Kerzenlicht gemeinsam zu Papier brachten. Schon damals war abzusehen, wie sie beide enden würden: Schon damals rauchten sie und tranken Alkohol, obwohl sie noch nicht einmal zur Erstkommunion gegangen waren.

»Du machst schon wieder dieses lange Gesicht.« Alicia versetzte ihrer Schwester einen zärtlichen Klaps, um sie aus ihren Grübeleien zu reißen. Sie wusste, dass Estela, wann immer sie Tonys Gespenst heraufbeschwor, traurig wurde. »Los, komm aus dem Bett. Ich lade dich zu einem Wermut im Hotel Miranda ein.«

Alicia stand auf, klopfte sich die Krümel von den Kleidern und öffnete die Balkontür. Sie trat hinaus und atmete tief ein.

»Estela!«, rief sie gleich darauf. »Komm her, schnell, das musst du sehen! Unsere Nachbarin sonnt sich oben ohne im Garten des Nonnenhauses!«

Kapitel 2

Die Geschichte über das Leben eines Mädchens aus der Provinz in der Zeit nach dem spanischen Bürgerkrieg ließ niemanden unberührt. Es war die Saat, aus der die feministische Bewegung erstand, und ihre Anhängerinnen erhoben das Buch zum Fundament ihrer sozialen Revolution. Hinter verschlossenen Türen war in Schulen und an den Universitäten zunächst verboten und wurde aus den Bibliotheken verbannt. Die Autorin, Estela Valiente, wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt und verurteilt. Ihre Gefängnisstrafe saß sie gemeinsam mit ihrer Verlegerin Camino Aribau ab, der zur Last gelegt worden war, ein von der spanischen Zensur verbotenes Buch veröffentlicht, nach Frankreich verkauft und sogar heimlich in Spanien verbreitet zu haben.

Mehr als ein Jahr lang verbrachten die beiden unerschrockenen Damen in Haft, während Hinter verschlossenen Türen in Frankreich eine wahre intellektuelle Epidemie auslöste, die sich im ganzen Land ausbreitete. Das führte dazu, dass das Schicksal von Estela und Camino von vielen namhaften Personen diskutiert und ihre Verurteilung angeprangert wurde.

Am Ende wurden die beiden weiblichen Häftlinge diskret bei Nacht vorzeitig entlassen, wobei man ihnen nahelegte, die Unruhen, die sie verursacht hatten, nicht noch mehr anzuheizen und von nun an ein zurückhaltendes Leben zu führen. Sie wurden gewarnt, dass jegliche Erklärung gegenüber der Presse sowie jegliche Werbung für das verbotene Buch als neuerliche Straftat ausgelegt würde und Grund genug wäre, sie wieder zu inhaftieren.

Von da an setzte der Roman allein seinen Siegeszug fort, wurde unabhängig, emanzipierte sich, verließ sein Zuhause. Beinahe gegen den Wunsch von Autorin und Verlegerin wurde er groß, bis er in den Sechzigerjahren das meistgelesene Buch weiblicher Leserinnen war. Als sich dies Anfang der Siebzigerjahre überall herumgesprochen hatte und sich sogar die Zensoren schämten, wenn sie auf die von allen erwartete Aufhebung des Verbots angesprochen wurden, erhielt der Verlag Aribau (der seit 1963 nur noch medizinische Fachbücher und Werke zur Architektur herausbrachte und keine weiteren Romane) endlich die Erlaubnis, eine Taschenbuchausgabe von Hinter verschlossenen Türen in Spanien zu veröffentlichen.

Im Jahr 1973, genau zehn Jahre, nachdem ihr einziges Buch das Licht der Welt erblickt hatte, verkündete der Sprecher der weltberühmten schwedischen Kommission, dass die spanische Autorin Estela Valiente in diesem Jahr den Literatur-Nobelpreis erhalten sollte: »Für ihren universellen Beitrag im Kampf der Gleichberechtigung der Geschlechter.«

Wie zu erwarten war, erschien die über so viele Jahre geächtete Autorin nicht in Stockholm, um die Auszeichnung entgegenzunehmen. Als Entschuldigung gab sie persönliche Gründe an, was zu den unterschiedlichsten Spekulationen führte. Hatten die spanischen Behörden ihr die Ausreise nach Schweden verweigert, weil sie die Auswirkungen fürchteten, die ihre Worte haben könnten? Oder hatte im Gegenteil sie selbst beschlossen, nicht an der Preisverleihung teilzunehmen, um zu verhindern, dass ihre Gegenwart eine gesellschaftliche Situation legitimierte, mit der sie nicht einverstanden war?

Die Tatsache, dass der wirkliche Grund für die Absage niemandem bekannt war, ließ im Laufe der Jahre viel Raum für Vermutungen, die unzählige Seiten füllten. Die Autorin selbst hatte diese Frage niemals wirklich beantwortet. Sie bestand weiterhin darauf, dass »persönliche Gründe« dahinterstanden, genauer gesagt, ihre sprichwörtliche Schüchternheit und ihre Phobie, im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit zu stehen.

Und nach beinahe fünfzigjährigem Schweigen der Autorin hatte man diese Antwort schließlich irgendwie akzeptiert.

Doch all das – die Gefängnisstrafe, der Erfolg des Buches, der Nobelpreis und die Entstehung des Mythos – fand viele Jahre vor der Geburt einer gewissen Maya Millas statt. Diese wuchs in einer vollkommen anderen Zeit auf als die, welche einst Estela zu ihrem Roman inspiriert hatte.

Als Maya im Jahr 2005 Hinter verschlossenen Türen las, wirkte das Verbot von 1963 wie ein schlechter Scherz. Natürlich hatten Frauen das Recht, einer Arbeit außerhalb ihres Hauses nachzugehen, für diese Arbeit bezahlt zu werden, allein durch die Welt zu reisen und über ihr eigenes Geld zu bestimmen. Das wäre ja noch schöner!

Jedoch öffneten ihr die Lektüre und die anschließende Debatte im Schulunterricht den Blick auf die eigene entschiedene Position in Bezug auf das weibliche Geschlecht und auf die teilweise immer noch frauenfeindliche Einstellung einiger ihrer Klassenkameraden. Sie erklärte sich zur hartnäckigen Verfechterin der Ansicht, aus der zweiundvierzig Jahre zuvor die Legende Estela Valiente entstanden war, und sie identifizierte sich so stark mit Estelas Leben, ihrem Werk und sogar ihrem Schweigen, dass es einer regelrechten Besessenheit gleichkam.

In der Redaktion von L’Idéaliste, der Sonntagsbeilage der Wochenzeitung Crónica, bei der Maya Millas als Journalistin arbeitete, war sie trotz ihrer Jugend durchaus angesehen. Sie verstand sich hervorragend mit der Chefredakteurin Clara Cobián, und diese spontane Sympathie füreinander hatte Maya einen festen Vertrag und ein vernünftiges Gehalt eingebracht, als sie noch keine fünfundzwanzig Jahre alt gewesen war. Ihre Vorschläge wurden von den Kollegen sehr geschätzt, und ihre Artikel begeisterten die Leser.

»Du hast wirklich ein gutes Gespür für Geschichten, meine Liebe, wir sollten dich als Trendscout einsetzen«, meinte Clara, als sie Maya am frühen Montagmorgen in der Redaktion begegnete. »Sehen wir uns gleich in meinem Büro?«

Hin und wieder trafen sich die beiden Frauen zu einer Tasse Kaffee in Claras »Allerheiligstem« und gingen kurz darauf auseinander, begeistert von einer neuen originellen Idee, die dann auf dem Titelblatt der nächsten Ausgabe zu bewundern war.

Und an diesem Morgen musste Maya unbedingt etwas loswerden. Sie hatte das ganze Wochenende über nachgedacht und hatte ihrer Chefin eine eindringliche Mail geschrieben, um sie von der dringenden Notwendigkeit zu überzeugen, dem fünfzigsten Jahrestag ihres Lieblingsromans Hinter verschlossenen Türen eine Sonderausgabe zu widmen. Sie habe bereits einen Plan, verkündete sie, für den sie unbedingt die Genehmigung und die Unterstützung ihrer Chefin brauche.

»Also, was gibt’s?« Clara hatte sich auf ihrem Schreibtischsessel niedergelassen. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, den Computer einzuschalten.

»Es geht um Estela Valiente«, erklärte Maya, »und das Geheimnis, das sie umgibt. Was ist aus dieser Autorin geworden? Immerhin hat sie ein Buch geschrieben, das nach Don Quijote der am häufigsten übersetzte spanische Roman ist. Wo lebt sie jetzt? Was ist der Grund für ihr jahrzehntelanges Schweigen? Und warum hat sie nach dem Nobelpreis nie wieder ein Buch geschrieben?«

»Nun mal langsam, Maya.« Die Chefin schien Mayas Enthusiasmus offensichtlich nicht zu teilen. »Es sind schon so viele Bücher über Estela Valiente erschienen, darunter zwei recht bekannte Biografien, und ich weiß nicht, ob du den Film Das rote Backsteinhaus gesehen hast, über den Niedergang von Tony Cienfuegos … Du wirst dich kaum daran erinnern, weil du damals noch ein kleines Mädchen warst, aber in jenem Jahr hat Meryl Streep, die in dem Film die Estela spielt, ausnahmsweise mal nicht den Oscar gewonnen.«

»Natürlich erinnere ich mich; es ist einer meiner Lieblingsfilme«, entgegnete Maya ein wenig verschnupft.

»Na, dann weißt du ja so gut wie ich, dass über Estela Valiente bereits alles gesagt wurde. Und was die aktuellen Nachrichten angeht, ist diese Frau tot und begraben.«

Die Worte ihrer Chefin lösten bei Maya einen Wutanfall aus. Sie stand auf, schob ihren Stuhl heftig zurück und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

»Wie kannst du nur so etwas sagen! Estela Valiente ist Spaniens größtes literarisches Mysterium!«, fauchte sie.

Clara Cobián zuckte entgeistert zurück. Sie kannte das Temperament ihrer Redakteurin, aber noch nie hatte sie die junge Frau so aufgebracht erlebt. Also versuchte sie, die Wogen erst mal zu glätten.

»Na komm, jetzt trinken wir beide hübsch unseren koffeinfreien Kaffee, und dann erklärst du mir in Ruhe, was du dir überlegt hast.«

Claras Büro war mit einer modernen Kaffeekapselmaschine ausgestattet. Das sparte Zeit, denn so konnten sie ihren Kaffee in der Redaktion trinken und mussten nicht nach unten ins Café gehen. Dementsprechend bereitete Clara nun zwei Tassen Kaffee zu, gab Milch und Zucker hinein und rührte um.

Maya hatte sich derweil auf das kleine Sofa am Fenster gesetzt und beobachtete Clara noch immer ein wenig erregt, während diese das alltägliche Ritual ausführte.

»Gut«, lenkte sie ein. »Ich beruhige mich. Aber du hörst mir zu, ohne mich zu unterbrechen, okay?«

»Einverstanden.«

Maya Millas verfügte über eine Gabe. Sie war in der Lage, ihr Publikum mit Worten regelrecht zu hypnotisieren.

Mit einschmeichelnder Stimme begann sie mit ihrem Plädoyer und erläuterte zunächst, welch wertvollen Beitrag Estela Valiente zur Stellung der Frau in der Gesellschaft geleistet habe. Anschließend zählte sie die Gründe auf, warum die Autorin trotz der Existenz von diversen unautorisierten Biografien, unzähligen Artikeln, Berichten und sogar Filmen, die sich ihrer Person unerlaubterweise bedient hatten, noch immer die große Unbekannte der Literaturszene war.

»Das, was ich dir vorschlagen möchte, ist etwas ganz anders«, erklärte sie. »Es wird das erste Werk sein, das mit ihrem Einverständnis geschrieben wurde, auch wenn sie sich dessen möglicherweise nicht bewusst ist.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Hast du schon mal von Joe McGinniss oder Geordie Greig gehört? Von ihren Büchern über den Mörder Jeffrey MacDonald und den Maler Lucian Freud? Meine Strategie basiert darauf, mich mit Estala Valiente anzufreunden, ein Haus in der Nachbarschaft zu mieten, ihr selbst gebackene Plätzchen zu schenken … nach und nach ihr Vertrauen zu gewinnen und dann, zack, die am besten recherchierte Biografie aller Zeiten zu schreiben. Mit Gesprächen und allem«, schloss sie triumphierend.

Clara sah ihre Angestellte einen Moment verblüfft an.

»Bist du jetzt fertig?«, fragte sie dann. »Denn wenn ich mich nicht irre, ist das, was du mir da vorschlägst, die älteste und unsittlichste Art, an eine Geschichte zu kommen. Hast du wirklich vor, Estela Valientes Freundin zu werden, um sie dann zu verraten?«

»Nein, Clara«, entgegnete Maya. »Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte mit der Autorin, die ich am meisten bewundere, wirklich zusammenarbeiten.«

»Das heißt, du willst die erste autorisierte Biografie über Estela Valiente schreiben.«

»Genau.«

»Und wie kommst du auf den Gedanken, dass sie dich anders behandeln sollte als all die Schriftsteller und Journalisten, die das bereits versucht haben?«

»Bei mir wird sie sich sicher fühlen, weil sie einer Freundin von sich erzählt und nicht einem Biografen.«

»Mal sehen, ob ich das richtig verstehe«, meinte Clara süffisant. »Du willst ihr erst von deinen wahren Absichten erzählen, wenn du sie eingewickelt hast?«

»So wie du es jetzt sagst, hört es sich ziemlich mies an«, erwiderte Maya, »aber ja, im Grunde ist es genau so.«

»Und wenn sie dir am Ende die Genehmigung verweigert, das Buch zu veröffentlichen, war die ganze Arbeit umsonst?«

»Na ja … nicht wirklich umsonst. Einen Teil davon könnte man sicher anders verwenden, meinst du nicht?«

Clara dachte eine Weile nach. Zu Beginn ihrer Karriere hatte sie selbst vor einer ähnlichen Herausforderung gestanden. Sie war damals mit der Absicht, eine Biografie über die geheimnisvolle Millionärin Greta Bouvier zu schreiben, nach New York gereist, und diese Veröffentlichung hatte sie bekannt gemacht. Ein paar veränderte Namen, Daten und Orte, einige fiktive Charaktere zusätzlich, um die authentische Lebensgeschichte etwas aufzulockern, die auf Geheimnissen beruhte, die die Protagonistin noch nie mit jemandem geteilt hatte. Das war das Rezept ihres Erfolgs.

»Ich habe bereits in Los Rosales das Haus neben dem der Valiente-Schwestern angemietet«, erklärte Maya und sah eindringlich ihre Chefin an, die gerade ihren eigenen Gedanken nachhing. »Wenn du einverstanden bist, werde ich heute noch dort einziehen. Meine Arbeit kann ich auch von dort per E-Mail erledigen. Und wenn es nötig ist, komme ich nach Madrid. In einer guten Stunde kann ich hier sein.«

Wie ein kleines Mädchen, das Christus um ein Wunder anfleht, faltete Maya ihre Hände und hielt den Atem an.

»Hmmm … nun ja … Zur Not könnte man immer noch einen Roman daraus machen«, überlegte Clara.

Bei diesen Worten machte Maya Millas auf Claras Sofa beinahe einen Salto.

»Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst, Clara«, versicherte sie.

»Ich bereue es schon jetzt!«, rief diese ihrer Redakteurin zu, die in freudiger Erregung die Tür hinter sich zuknallte.

Mit dem gleichen Schwung, mit dem Maya die Bürotür der Chefredakteurin geschlossen hatte, öffnete sie ein paar Stunden später die ihres neuen Zuhauses, das sich in einem desolaten Zustand befand. Das Haus war überall im Ort unter dem Namen das »Nonnenhaus« bekannt, da dort, nachdem es vor langer Zeit einmal der Familie Valiente gehört hatte, in den Jahren vor dem Bürgerkrieg die Unbeschuhten Karmelitinnen für eine Weile untergekommen waren. Inzwischen gehörte das alte Gemäuer jedoch einer Immobilienfirma, die es zu einem günstigen Preis vermietete. Es war sehr rudimentär ausgestattet, hatte weder Heizung noch Klimaanlage, immerhin fließendes Wasser und einen Butangasherd. Die Einrichtung war äußerst spartanisch, der Kamin zog nicht richtig, und im Badezimmer, das bis zur halben Höhe des Raums gekachelt war, roch es nach alten Leitungen.

Doch aus dem Fenster der Mansarde bot sich dem Betrachter die interessanteste Aussicht, die die Welt zu bieten hatte: der direkte Blick auf das Haus der Valiente-Schwestern mit seinem Turm, dem gekachelten Brunnen, dem mit Flieder und Rosen bewachsenen Garten, dem Pelota-Spielfeld, das die alten Damen durchaus noch nutzten, der riesigen Eiche, die im Sommer Schatten spendete, und dem Schwimmbad, in dem Estela und Alicia mit ihren farblich aufeinander abgestimmten Badekappen ihre Bahnen zogen. Nicht in ihren kühnsten Träumen hatte Maya Millas sich vorgestellt, dass sie einen derart perfekten Ort finden würde, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Kapitel 3

Irgendetwas musste die Schwestern aus ihrer üblichen Ruhe gerissen haben, denn kurz nach Mittag hörte Maya den Motor eines Autos und sah gleich darauf die beiden miteinander streitenden Damen mit Alicia am Steuer in einem alten Lancia davonfahren. Zunächst maß sie dem keine größere Bedeutung bei, da sie es nicht für ungewöhnlich hielt, dass ihre Nachbarinnen hin und wieder ihr Heim verließen. Doch nach einer ganzen Weile, in der sie vergeblich versucht hatte, über ihr Mobiltelefon ins Internet zu gelangen, kam ihr der beunruhigende Gedanke, dass Estela und Alicia Valiente möglicherweise genau an diesem Tag eine lange Reise angetreten hatten, von der sie erst in mehreren Monaten zurückkommen würden.

Ein paar Stunden später jedoch konnte sie aus dem Mansardenfenster beobachten, wie sich der Lancia aus der Ferne über die Landstraße holpernd näherte. Dieser Anblick erleichterte sie einerseits, vermittelte ihr andererseits aber auch den drängenden Wunsch, so bald wie möglich mit dem zu beginnen, was sie an diesen Ort geführt hatte. Die Zeit rennt, sagte sie sich, und das umso schneller, wenn das Objekt der Begierde über achtzig ist. Denn dann ließ das Gedächtnis nach, und man warf Namen und Daten durcheinander, was bedeutete, dass Estela Valiente als Studienobjekt nicht mehr allzu lange zur Verfügung stehen würde. Also machte sich Maya gleich auf den Weg. Sie schnappte sich die Pralinenschachtel, die sie in Madrid gekauft hatte, und legte leichten Schrittes die knapp fünfzig Meter zurück, die ihr Haus von dem ihrer Nachbarinnen trennten. Sie blieb vor dem Gartentor stehen, klingelte und wartete. Wenige Sekunden später war das Geräusch kleiner Schritte auf dem Kies zu hören.

»Ja bitte?«

Es war das zweite Mal, dass Maya Alicia Valientes melodische Stimme hörte. Ihr Alter und ihr freundlicher, unschuldiger Tonfall rührten sie. Plötzlich beunruhigte sie der Gedanke an die Verletzlichkeit der beiden alten Damen, die ganz allein in diesem Haus wohnten. Ob sie über einen Notrufknopf mit irgendeinem Sicherheitsdienst verbunden waren?

»Ich bin Maya, ich wohne nebenan. Wir haben uns heute Morgen schon kurz kennengelernt. Erinnern Sie sich?«

Unwillkürlich drückte sie die Daumen, in der Hoffnung, dass Alicias Kurzzeitgedächtnis noch funktionierte. Denn oft erinnerten sich ältere Leute hervorragend an irgendwelche Nichtigkeiten aus ihrer Kindheit, während sie die wichtigen Dinge der Gegenwart vergaßen, wie zum Beispiel den Gashahn zuzudrehen oder ihre Medikamente zu nehmen.

»Natürlich erinnere ich mich«, entgegnete Alicia, wobei Maya aus ihrer Antwort einen leicht belustigten Tonfall herauszuhören meinte.

Ohne weiter nachzufragen, öffnete die alte Dame das grün gestrichene Holztor und lächelte.

»Oh!«, sagte sie überrascht. »Sie haben ja etwas Süßes mitgebracht!«

»Ja«, bestätigte Maya lachend. »Es mag ein wenig amerikanisch erscheinen, sich seiner Nachbarin mit einer Schachtel Pralinen in der Hand zu präsentieren, aber ich hatte einfach das Bedürfnis, vorbeizukommen und mich vernünftig vorzustellen. Heute Morgen war ich etwas aus der Puste, weil ich gerade vom Joggen kam.«

»Wie nett von Ihnen«, sagte Alicia. »Kommen Sie doch rein.«

»Nein, nein.« Maya hob abwehrend die Hände. »Ich möchte wirklich nicht stören.«

»Sie stören überhaupt nicht, meine Liebe. Meine Schwester ist gerade nach Madrid gefahren, und ich bin mutterseelenallein hier. Ein wenig Gesellschaft wird mir guttun. Wenn Sie möchten, können Sie zum Essen bleiben. Ich habe vor, ein Ragout zu kochen. Mögen Sie das?«

Niemals hätte Maya gedacht, dass es so einfach sein würde, in dieses Haus zu kommen, und schon gar nicht, dass sie gleich an ihrem ersten Tag in Los Rosales von Alicia Valiente zum Essen eingeladen würde. Im Gegenteil war sie angesichts des zurückgezogenen Lebens, das die beiden Schwestern angeblich führten, davon ausgegangen, deren Domizil wie eine Festung erobern zu müssen.

»Ich liebe Ragout«, log sie munter drauflos. »Und außerdem bin ich mindestens ebenso mutterseelenallein wie Sie.«

Die alte Dame trippelte mit kleinen Schritten voraus durch den Vorgarten, und Maya kam erneut in den Sinn, wie wehrlos ihre Nachbarinnen doch waren.

»Haben Sie denn gar keine Angst, so allein hier zu leben?«, fragte sie, während sie langsam über den Kiesweg gingen.

»In meinem Alter, meinen Sie?«

»Ein Einbrecher könnte ins Haus eindringen, um Sie zu bestehlen und …«

»Und was sollte er denn stehlen? Wir haben nicht mal einen Fernseher. Unsere Bücher?«

Alicia lachte belustigt, und ihr Lachen klang wie ein trockener Husten, dann schloss sie die Haustür auf. Beim Anblick der vielen Bücherstapel, die sich bereits im Flur an den Wänden auftürmten, dachte Maya, dass sich damit auf dem Flohmarkt sicher ein kleines Vermögen verdienen ließ. Überall waren Bücher: völlig ungeordnet in den unzähligen Regalen, auf Tischen und Stühlen, auf den Fensterbänken, dem Kaminsims und stapelweise in allen Ecken.

»Die meisten davon gehören meiner Schwester«, erklärte Alicia, als sie Mayas verblüfften Gesichtsausdruck sah. »Es hat etwas von einem Diogenes-Syndrom, aber zum Glück sind es nur die Bücher. Als junge Frau hat meine Schwester in Madrid gelebt und auch dort massenweise Bücher angehäuft, sogar auf dem Herd. Woran sich unschwer erkennen lässt, wie selten sie kocht und wie viel sie liest.«

Alicia ließ erneut ihr trockenes Hustenlachen hören, während sie weiter in die schattige Wohnung ging. Dort roch es nach erloschenem Kamin und alten, staubigen Büchern. Durch die Bäume, die draußen im Garten standen, kam kaum Licht in das untere Stockwerk des Hauses.

Den Mittelpunkt des Wohnzimmers bildete eine breite Holztreppe, die mit glänzendem Geländer und Bücherstapeln auf den Stufen in den Turm hinaufführte. Vor dem Kamin standen zwei Ohrensessel mit Fußschemeln, über deren Armlehnen gefaltete Wolldecken hingen. An der hinteren Wand befanden sich ein altes Klavier und ein unbequemes Sofa, mit dem man lästige Gäste sicher leicht vertreiben konnte. Alicia hatte das gute Stück in den Sechzigerjahren eigenhändig bezogen, passend zu den grünen Samtvorhängen vor den Fenstern. Ein paar Meter weiter gab es einen Tisch, an dem vier nackte Holzstühle standen. Auf der sorgfältig gebügelten Tischdecke lagen Karten zum Spiel bereit. Das ganze Haus war sehr sparsam ausgestattet, zwar ganz heimelig, aber dennoch ungewöhnlich für eine Frau und Autorin, die jedes Jahr nur durch ihre Tantiemen ein Vermögen verdiente und es sich sicher hätte leisten können, in einem Palast zu wohnen, wenn sie es gewollt hätte. Wenn man der Zeitschrift Rolling Stone glauben durfte, kamen die Einnahmen aus den Buchrechten für Hinter verschlossenen Türen, mit all den unzähligen Ausgaben, den internationalen Übersetzungen, den Verfilmungen und Theaterstücken, die auf dem Buch basierten, denen eines Rockstars gleich.

»Wer von Ihnen spielt denn Klavier?«, erkundigte sich Maya.

»Wir spielen beide, aber keine von uns hört die andere«, erklärte Alicia lachend. »Die Schwerhörigkeit hat auch was Gutes.«

Auf dem Sofa hatte jemand die Tageszeitung in einem wilden Durcheinander liegen lassen. Alicia legte die Seiten sorgfältig wieder zusammen und hielt sie Maya hin.

»Bitte«, sagte sie und wies auf das steife alte Sofa, »machen Sie es sich bequem und lesen Sie ein bisschen Zeitung, während ich das Essen zubereite.«

»Ich könnte Ihnen in der Küche ein wenig zur Hand gehen.«

»Kommt nicht infrage. Sie bleiben hier, und ich lege los.«

Der Zustand des Sofas war noch schlimmer, als es auf den ersten Blick schien. Einige Stahlfedern hatten sich gelöst und bohrten sich Maya in Rücken und Hintern. Wenn man sich einmal auf dieses Folterinstrument gesetzt hatte, durfte man sich nicht mehr bewegen und musste stocksteif dasitzen wie eine Dame aus dem achtzehnten Jahrhundert in Anwesenheit ihres affektierten Verehrers.

Während Alicia in der Küche mit Töpfen und Pfannen hantierte und einen Heidenlärm machte, ließ Maya den Blick durch den Raum wandern, merkte sich jedes Detail und prägte sich die Titel einiger Bücher ein, die sie erkannte. Später würde sie all diese Einzelheiten in ihrem Notizbuch festhalten, und dazu sämtliche Eindrücke, die sie in ihrem detektivischen Gehirn abspeicherte: die Wärme, den Geruch, das spärliche Licht, die raue Beschaffenheit der Polster, auf denen sie saß.

Sie atmete tief ein, um Estela Valientes Universum ganz in sich aufzunehmen, und fand es weniger bedrückend und viel gemütlicher, als sie es sich vorgestellt hatte. Und authentischer. Hier lebten Menschen aus Fleisch und Blut, die Karten und Klavier spielten und anstatt sich in den Wahnsinn der Welt zu stürzen, diese lieber von ihren Ohrensesseln aus betrachteten und die Nachrichten in der lokalen Tageszeitung lasen.

Alicia hatte ihr die Zeitung überreicht wie man jemandem die Fernbedienung des Fernsehers in die Hand drückte. »Machen Sie es sich bequem«, hatte sie gesagt und sie an den Gepflogenheiten dieses Haus teilhaben lassen. Wahrscheinlich las auch Estela die Zeitung, während ihre Schwester das Essen zubereitete, und später, wenn die beiden am Tisch saßen, unterhielten sie sich über die Neuigkeiten des Tages. Erwartete Alicia, dass der Überraschungsgast heute ihre Schwester beim täglichen Tischgespräch vertrat?

Wie eine fleißige Schülerin widmete sich Maya in den nächsten Minuten der Lektüre der aktuellen Ereignisse, wobei sie erfuhr, dass die Polizei einen Mann festgenommen hatte, dem vorgeworfen wurde, nachts durch die Gegend um den Bahnhof zu streifen. Eine Ortsbewohnerin hatte die ganze Nacht in ihrer Badewanne festgesessen. Das Organisationskomitee, das das Fest zum Feiertag am 15. Mai vorbereitete, würde am folgenden Dienstag zusammentreffen. Am 1. Juni sollte das Freibad eröffnet werden, und die sommerlichen Ferienlager würden Anfang Juli beginnen.

Maya wollte gerade die Lektüre abbrechen und nach ihrem Mobiltelefon greifen, um darin etwas Aufregenderes zu finden, da fiel ihr auf, dass in der Rubrik der Todesanzeigen eine Seite fehlte. Jemand hatte sie wütend oder in großer Eile herausgerissen, wie unschwer an den ausgefransten Rändern zu erkennen war. Sie nahm es zur Kenntnis, um sich später näher damit zu beschäftigen. Denn möglicherweise hatte es etwas mit Estela Valientes Abwesenheit zu tun. Oder vielleicht auch nicht.