Hereinspaziert!

Harry trat durch die kleine Wohnwagentür ins Freie und reckte die Nase in die Luft. »Was für ein herrlicher Morgen!«, dachte er, kletterte auf das Treppengeländer und rutschte auf seinem Fellpo hinunter. Dort blieb er einen Moment stehen, um sich von der Sonne den Pelz wärmen zu lassen. Besser konnte ein Tag nicht beginnen! Er streckte sich ausgiebig und begann dann mit seinem Frühsport: zwanzig Kniebeugen. Weil er so gute Laune hatte, machte er gleich noch zehn Liegestütze hinterher. Dann stand er wieder auf und schüttelte die Pfoten aus.

Während er seinen Blick über den Rasen zum Zirkuszelt gleiten ließ, joggte er noch ein wenig auf der Stelle – er mochte das lustige Gefühl in den Hamsterbacken, wenn die Schnurrhaare auf und ab wippten. Nach ein paar Minuten beschleunigte er sein Tempo und rannte schließlich los. Kurz vor dem Ziel warf er sich auf den Bauch, um das letzte Stück zu schlittern. Das machte er immer so, denn das war ein Riesenspaß! Schwungvoll glitt er unter der Plane des Zirkuszelts hindurch. Im Inneren war noch alles dunkel, aber Harry kannte den Weg genau. Er sprintete in die Manege und schnappte sich das lange weinrote Tuch, das wie ein Seil von oben herabhing. Dann schwang er vor und zurück. Juhu! Je mehr Schwung er bekam, desto besser wurde der Schaukelwind, der ihm durchs Fell fuhr. Klick! Er hatte seinen Fellpo nach vorne geschoben, die Hinterpfoten ausgestreckt und den Lichtschalter angetippt. Das Zirkuszelt war jetzt hell erleuchtet.

Und während das Tuch weiter vor sich hin schaukelte, zog Harry sich nach oben, Zentimeter für Zentimeter, bis fast unter die Zirkusdachspitze. Von hier hatte er einen hamsterstarken Blick über die Manege und die Zuschauerplätze. Noch war nichts los, aber übermorgen war es so weit. Übermorgen würden Harry und seine Zirkusfreunde ihre neue Show vorstellen. Die Kinder würden sich auf den gemütlichen Sofas und weich gepolsterten Stühlen tummeln und ihn anfeuern, wenn er eines seiner waghalsigen Kunststücke vorführte. Nicht umsonst war Harry der gefragteste Zirkushamster der Welt. Und damit das auch so blieb, war es an der Zeit, mit dem Training zu beginnen. Harry ließ erst mit der linken Vorderpfote los und dann mit der linken Hinterpfote. So hing er eine Weile, dann wechselte er die Pfoten: Die linken Pfoten krallten sich wieder ins Tuch und die rechten streckte er von sich. Das war eine der leichteren Übungen. Harry mochte sie trotzdem, denn sie erforderte Konzentration. Und es war wichtig, nicht nur die Hamstermuskeln zu trainieren, sondern auch das Hamsterköpfchen. Er wechselte hin und her – festhalten, loslassen, Pfoten links, Pfoten rechts – und begann schließlich, sich um das Tuch herum langsam nach unten zu drehen.

»Ach du heiliges Salatblatt!«, ertönte kurz darauf eine Stimme vom Eingang des Zirkuszelts. »Da wird ja die Schildkröte im Panzer verrückt! Ich bekomme jedes Mal einen fürchterlichen Schreck, wenn er allein dort oben herumturnt.«

Harry musste gar nicht nach unten blicken, um zu wissen, wer da gerade hereingekommen war: seine Freundin Gerda, die Rennschildkröte. Sie machte sich immer große Sorgen um alles Mögliche. Und um Harry ganz besonders – aber so war das nun mal mit besten Freunden.

»Trainingsbeginn ist um neun Uhr. Er kann doch nicht jedes Mal ohne uns anfangen!«, zwitscherte Wellensittich Franz und klang ein wenig entrüstet. Als Harry nun doch nach unten schaute, sah er, dass Franz auf Gerdas Panzer saß und sich von ihr tragen ließ. Wahrscheinlich hatte er mal wieder keine Lust zum Fliegen.

»Guten Morgen allerseits!«, rief Harry fröhlich und winkte. »Ist das nicht ein herrlicher Tag heute? Ich könnte Grashalme ausreißen vor Freude! Wartet, ich bin gleich bei euch.«

Gerda lachte. »Ach, Harry, deine gute Laune ist wirklich ansteckend. Na, komm schon runter, damit ich dich an meinen Panzer drücken kann!«

Während er sich weiter nach unten drehte, betrat Anna das Zirkuszelt. Anna war elf Jahre alt, hatte lange, blonde Haare und funkelnde grüne Augen. Sie war die gute Seele des Zirkus und kümmerte sich um Harry und seine Freunde. Er bewunderte sie für ihre ruhige Art, mit der sie den Tieren immer wieder neue Kunststücke beibrachte.

»Hallöchen!«, rief Anna fröhlich und hielt ihrer Schwester Saphira den Zirkuszelteingang auf. Die hatte nämlich die Hasenzwillinge Hoppi und Moppi dabei – den einen unter ihrem rechten Arm, den anderen unter dem linken.

»Hallo zusammen«, sagte Saphira und setzte die Hasen ab.

»Auf die Plätze, fertig, los!«, brüllte Moppi und raste los. Hoppi folgte ihm und so jagten sie ein paar Runden durch die Manege.

»Diese Hasen«, sagte Saphira mit einem Lachen und verfolgte staunend Runde um Runde, die die beiden drehten.

»Jeden Morgen dasselbe«, meinte Anna. »Aber eigentlich finde ich es ziemlich praktisch – dann sind sie wenigstens gleich aufgewärmt.« Ihr Blick wanderte zu Harry. »Unser Hamsterchen treibt auch schon wieder Frühsport.« Sie ging in die Knie und streckte die Hand aus. »Na, komm mal her!«

Darauf hatte Harry nur gewartet, denn Annas morgendliche Streicheleinheit war für ihn das Schönste am Tag. Er sprang vom Tuch, flitzte zu ihr und reckte seinen Kopf in die Höhe, um sich unter dem Kinn kraulen zu lassen. Ohhhh, wie er das liebte!

»He, und was ist mit mir?«, beschwerte sich Gerda.

»Komme ja schon«, sagte Harry, lächelte Anna noch einmal an und lief dann zu seiner Schildkrötenfreundin. Als die sich auf die Hinterbeine stellte, rutschte Franz von ihrem Panzer und landete unsanft auf dem Boden.

»Aua«, tschilpte er. »Geht das nicht ein bisschen vorsichtiger?« Beleidigt flatterte er zu einem der Zuschauersofas und setzte sich auf die Lehne.

Saphira juchzte auf, als Harry und Gerda sich umarmten. Wobei eigentlich nur Harry von Gerda umarmt wurde. Er kam mit seinen kurzen Beinchen nämlich nicht einmal ansatzweise um ihren Panzer herum. »Die beiden sind echt so süß!«, rief Saphira. »Guck dir das doch mal an.«

»Ich weiß«, sagte Anna. »Die zwei sind wirklich unzertrennlich. Natürlich lasse ich sie auch im neuen Programm wieder gemeinsam auftreten. Die Kinder lieben das! Wir können dir ja gleich mal zeigen, was wir schon einstudiert haben.«

»Au ja«, antwortete Saphira. »Das wäre super. Vielleicht bekomme ich da noch ein paar Ideen für meine eigene Nummer.«

Während Anna sich im Zirkus um die Auftritte der Tiere kümmerte, trat Saphira selbst auf. Sie war drei Jahre älter als Anna, trug ihre dunklen Haare immer zum Pferdeschwanz und war Seiltänzerin. Manchmal turnte sie auch an dem Tuch, so wie Harry es gerade getan hatte.

»Moppi, Hoppi!«, rief Anna. »Genug gerannt. Wir wollen anfangen.«

Die Hasenzwillinge waren so in Fahrt, dass sie gar nicht reagierten. Anna seufzte. »Es wäre so viel einfacher, wenn mich die Tiere verstehen würden.«

»Das tun wir doch!«, rief Harry. »Wir verstehen dich! Sehr gut sogar!«

Gerda kicherte. »Harry, gib es auf«, sagte sie. »Anna hört nur ein Fiepen, wenn du redest.«

Harry fand es zu schade, dass er sich nicht mit den Zirkusmädchen unterhalten konnte.

Saphira stellte sich in die Laufbahn der Hasen und versuchte, sie einzufangen.

»Hehe«, machte Hoppi. »Du kriegst uns nicht!« Er flitzte einfach zwischen Saphiras Beinen hindurch und Moppi raste daran vorbei.

»Hallo!«, rief Harry. »Habt ihr nicht gehört? Wir wollen anfangen!«

Anna zog einen Zettel aus der Hosentasche und faltete ihn auseinander. »Lass die beiden«, sagte sie zu Saphira. »Sie werden schon gleich kommen.«

Franz erhob sich von seinem Platz, flog zu Anna und setzte sich auf ihre Schulter.

»Ich kenne wirklich niemanden, der so neugierig ist wie Franz«, flüsterte Gerda, doch der Vogel hatte es trotzdem gehört.

»Ich bin eben gerne informiert«, tschilpte er beleidigt. »Das ist ja wohl nicht schlimm.«

Anna begann vorzulesen. »Also, zuerst kommt Saphiras Nummer am Tuch, dann folgt Papa als Clown«, erklärte sie. »Nachdem er die Kinder im Zuschauerraum mit seiner Wasserblume nass gespritzt hat, krabbelt Harry in sein Hosenbein und kitzelt ihn. Die Kinder werden kreischen und juchzen, wenn Papa versucht, Harry zu fangen.«

»Ich kann es mir schon richtig gut vorstellen«, sagte Saphira, und auch Harry nickte begeistert, um Anna zu zeigen, dass er ganz ihrer Meinung war.

»Wenn Harry wieder aus dem Hosenbein rausgekrabbelt ist, betritt Gerda die Manege, und die beiden beginnen mit ihrem Auftritt«, fuhr Anna fort.

»Hauptsache, ich muss nicht wieder ein Wasserglas auf dem Rücken tragen«, murmelte Gerda.

»Das war doch super!«, meinte Hoppi, der nun endlich stehen geblieben war. Auch Moppi hielt mit einer Vollbremsung an und wirbelte ein paar Sägespäne vom Manegenboden auf.

»Was war daran bitte schön super?«, fragte Gerda entrüstet. »Das Glas ist umgekippt und das Wasser lief von allen Seiten in meinen Panzer. Brrrrr!« Sie schüttelte sich.

»Ist jetzt egal«, zwitscherte Franz von Annas Schulter. »Lasst sie doch erst mal weiterlesen.«

Anna drehte ihren Kopf zum Wellensittich. »Was piepst du denn so rum? Keine Angst, du bist auch gleich dran!« Sie sah wieder auf ihren Zettel. »Dann kommt der Verwechslungstrick der Hasen und zum Abschluss Franz, der Papa die Blumen vom Hut klaut und im Zuschauerraum verteilt.«

»Sehr schön«, sagte Saphira. »Das klingt für mich nach einer runden Sache.« Sie beugte sich zu Harry und seinen Freunden herunter. »Findet ihr auch, oder?«

»Wollen wir mal hoffen, dass der Hamster nicht plötzlich ausfällt«, gab Moppi zurück. Er warf Harry einen vorwurfsvollen Blick zu, und der ahnte schon, was gleich wieder kam. »Er könnte krank werden«, fuhr Moppi fort. »Oder verschwinden. Einfach so, mir nichts, dir nichts.«

»Bitte erinnere mich nicht daran«, rief Gerda theatralisch. »Es war schrecklich. Was haben wir unseren Hamster gesucht!«

»Und hinterher wollte er nur noch mit Harry angesprochen werden«, schaltete sich Hoppi ein. »Das verstehe ich bis heute nicht. Johnny war doch ein passabler Name.«

Harry war es langsam leid, immer wieder dieselbe Geschichte zu hören. Er konnte sich selbst nicht erklären, was genau damals passiert war – er wusste nur noch, dass während einer Probe das Zirkuszelt plötzlich mächtig gewackelt und er kurz darauf in einem wunderschönen Buchladen gestanden hatte. Dort gab es eine nette Buchhändlerin und ein Mädchen namens Clara, das ihm den Namen Harry verpasst hatte. Und nach ein paar abenteuerlichen Tagen, die er nie in seinem ganzen Leben vergessen würde, war er wieder im Zirkus gelandet, als wäre nichts gewesen.

Harry zuckte mit den Schultern. »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ich bleibe hier. Meinetwegen können wir jetzt loslegen!«

Er kletterte auf Gerdas Panzer, um Anna zu signalisieren, dass er bereit war.

Anna lachte. »Ich verstehe. Ihr wollt endlich arbeiten und nicht länger mein Gerede hören. Na dann los!« Sie streckte Hoppi und Moppi die Hand hin und sie schlugen mit ihren Vorderpfoten ein.

»Es ist so lustig, dass du den Hasen das beigebracht hast«, meinte Saphira. »Bist echt die beste Dompteurin, die ein Zirkus sich wünschen kann.«