von Bismarck, Julie 84 Monate

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Für alle Frauen und Männer, die nicht einfach so ein Kind bekommen können.



© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotive: iStock/VasjaKoman

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Vorwort

Eine Geschichte zu veröffentlichen, die von derart schrecklichen und persönlichen Erlebnissen handelt, war für mich eigentlich undenkbar. Es gab nur einen einzigen Grund, es dennoch zu tun: den Gedanken, wie sehr es mir geholfen hätte, eine Geschichte wie die meine zu lesen. Wie sehr mich die Erkenntnis getröstet hätte, nicht allein zu sein mit meinem Leid, die Versicherung, mir die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit nicht einzubilden.

Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich mit dem Veröffentlichen meiner Geschichte anderen diese Unterstützung geben kann. Dass dieses Buch all jenen Trost spendet, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, und dass es allen nicht betroffenen Menschen einen Eindruck davon zu vermitteln in der Lage ist, was es wirklich bedeutet, in einem Kinderwunsch gefangen zu sein.

Ich hoffe, es hilft.

1. Kapitel

Ich sehe zu, wie sich mein Blut in der Toilette verteilt. Hellrote Muster bilden sich, die zu ständig wechselnden Formen verschwimmen. Da ist ein Engel. Ein Engel aus Blut. Meinem Blut. Johns Blut. Vielleicht sind es auch nur die Flügel eines Engels. Dann könnten es ebenso gut die Flügel eines Vogels sein, schwer zu sagen. Mein Blut verläuft im Wasser, und ich starre gebannt und wie aus weiter Ferne auf die feinen roten Linien, die dort schwimmen. Wie ein Mandala, denke ich, diese Sandbilder, die buddhistische Mönche in wochenlanger Arbeit erschaffen, nur um sie dann in einem Ritual zusammenzufegen und in einen Fluss zu streuen. Als Symbol für die Vergänglichkeit. Meine Mandalas bestehen aus Blut statt aus Sand. Und ihre Zerstörung ist nicht meine Entscheidung, aber sie erfüllt ihren Zweck: Sie erinnert mich jeden Monat wieder daran, wie vergänglich all meine Mühen sind.

Ich brauche vier Wochen für ein solches Mandala. Dann kommt die Blutung wie ein böser Drache und fegt mein Bild mit einem einzigen Schlag des gezackten Schwanzes zusammen. Statt in einem Fluss enden die Überreste meiner Mandalas in der Toilette – aber Wasser ist Wasser, nehme ich an. Wie aus weiter Ferne starre ich unablässig auf die roten Muster. Es fühlt sich an, als hätte ich meinen Körper verlassen und als wäre das Blut dort auch nur noch Materie. Ich fühle nichts. Einfach nichts. Nur eine vollkommene Leere, die sich in meinem gesamten Körper ausgebreitet hat. Es fühlt sich an, als sei ich gelähmt, aber ich bin nicht gelähmt, nur leer. Diesmal scheint die Leere auch noch meine Kraft verdrängt zu haben, denn in meinen Muskeln ist nichts mehr. Ich versuche, den Arm anzuspannen, aber es ist einfach nichts mehr da. Vielleicht ist die Grenze überschritten. Vielleicht kann ich nicht mehr. Nicht mehr hoffen, nicht mehr bangen, nicht mehr leiden.

Heute ist es das 84. Mal, dass ich statt eines positiven Schwangerschaftstests einen Klumpen blutigen Toilettenpapiers in der Hand halte. Es ist der 84. Monat, in dem ich versucht habe, schwanger zu werden. Es ist das 84. Mandala, das von der Menstruation in die Toilette befördert wurde. Es ist das 84. Mal, dass sich größte Zuversicht und Hoffnung in größter Trauer und Verzweiflung auflösen. Sieben Jahre meines Lebens, die ich dem Wunsch nach einem Kind untergeordnet habe. Vergebens.

Ich lasse den blutigen Klumpen in meiner Hand zu den hellroten Mustern ins Wasser sinken und betätige die Spülung. Das Wasser rauscht, und die Überreste meiner letzten Anstrengungen verschwinden gemeinsam mit den letzten Resten meiner Hoffnung in der Kanalisation. Auch diese Embryonen werden im Chemiebad irgendeiner Kläranlage zersetzt werden. Die beiden perfekten Blastozysten aus meinem letzten IVF-Versuch.

Sekunden später ist das Wasser in der Toilette wieder so klar, als wäre es nie anders gewesen. Als wären dort nicht gerade vier Wochen meines Lebens verschwunden. Oder sieben Jahre.

Mir ist schlecht. Ich klammere mich mit weißen Knöcheln an das Waschbecken und versuche zu atmen. Mit der linken Hand drehe ich das kalte Wasser auf und wasche mir das Gesicht. Meine Arme zittern, das Handtuch hängt in unerreichbarer Ferne. Ich gebe auf und trockne mein Gesicht an meinem T-Shirt ab. Im Spiegel erscheint mein grün, blau, gelb und violett verfärbter Bauch. Das, was übrig bleibt von meinen Mühen. Keine Schwangerschaft. Kein Baby. Jeden Tag zwei bis vier Spritzen, wochenlang.

Mechanisch öffne ich die Schublade mit den Tampons und löse meinen Klammergriff vom Waschbecken. Als ich mich hinüberbeuge, sehe ich kurz mein Gesicht. Erschüttert wende ich den Blick ab und denke an meine preußischen Vorfahren. Ich muss mich zusammenreißen. »Das Leben geht weiter«, murmele ich mein Mantra, »es geht immer weiter, jetzt nur nicht zusammenbrechen.« Ich taumele aus dem Badezimmer ins Esszimmer.

Starken Kaffee kochen und dann etwas tun, ablenken, nicht darüber nachdenken. Etwas arbeiten, mit den Hunden rausgehen, irgendwann Abendessen machen, weil John nach Hause kommt …

Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag. John wird nach Hause kommen. John, der immer noch daran glaubt, dass es diesmal geklappt hat. John, der noch glaubt, dass ich schwanger bin. John, der wie ich seit sieben Jahren alles diesem einen Wunsch unterordnet …

Jemand rammt mir ein Messer in Unterleib und Magen. Stöhnend krümme ich mich zusammen und greife nach der Tischkante. Preußen. Disziplin. Zusammenreißen.

Ich frage mich verzweifelt, was meine Großmutter getan hätte in einer solchen Situation. Sie hätte Haltung bewahrt und sich nichts anmerken lassen, denke ich – und richte mich von Schmerzen gepeinigt auf.

Da trifft mein Blick den meines Hundes, der mich aus seinen klugen braunen Augen von seinem Platz aus ansieht. Sein Blick ist so voller Trauer, Sorge und Kummer, dass Preußen mir nicht mehr helfen kann. Ich breche neben ihm zusammen, vergrabe mein Gesicht in seinem weichen Fell und weine bitterlich.

Ich bin am Ende. Ich kann nicht mehr.

 

Ich wache davon auf, dass mein Hund mir über die Hände leckt. Für einen Moment bin ich mir nicht sicher, was passiert ist, doch dann spüre ich die Krämpfe in meinem Unterleib toben und den schmerzenden Hohlraum in meiner Seele. Meine Augen brennen, mein Kopf hämmert, und ich bin unendlich müde. So müde, dass es sich anfühlt, als würden meine Arme und Beine jemand anderem gehören. Ich schiebe meine Hände unter die Vorderbeine meines alten Gefährten, in seine »Achselhöhlen«, wie John es nennt, um etwas zu fühlen, um mich zu vergewissern, dass es meine eigenen Hände sind.

Wie lange liege ich schon hier? Wie spät ist es? Ich müsste aufstehen und nachsehen, aber ich bin zu erschöpft. Es spielt auch keine Rolle mehr, es ist wieder alles umsonst gewesen. Auch diesmal, alles umsonst.

»Sie können jederzeit wieder schwanger werden!«, hatte der Arzt gesagt. Damals, einige Tage nach dem einen Tag. »Sie können jederzeit wieder schwanger werden!«

Ich hatte ihm geglaubt. In jedem Zyklus wieder. Auch in diesem letzten. Die Spritzen, die Hormone, die Nebenwirkungen, die Operationen, die Vollnarkosen, die brutalen Schmerzen. Die Hoffnung, diese immer wieder aufkommende riesige Hoffnung. Seit sieben Jahren hoffen, seit sieben Jahren zusehen, wie die Hoffnung zerstört wird, neue Hoffnung aufbauen. Immer und immer wieder. Immer umsonst. Sie können jederzeit wieder schwanger werden …

Und nun liege ich hier und blute und blute und bin es nicht. Wieder nicht. Noch ein Mandala, welches nach wochenlanger Arbeit in einem kurzen Moment zerstört wurde und verschwunden ist.

Vergänglichkeit. Die letzten 83 Male habe ich mich immer wieder aufgerafft und wieder von vorn angefangen. Heute scheint irgendetwas anders zu sein. Ich fühle mich so schwach und erschöpft wie an dem Tag damals. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich es schaffen soll aufzustehen. Ich bin froh, die Wärme der Hundearme auf meinen Händen zu fühlen, vertraut und lebendig – und nicht allein zu sein.

Mein Hund ist da, Henry. So, wie er in den letzten sieben Jahren immer da gewesen ist. Mein treuester und bester Freund. Vielleicht der Einzige, der dieses Wort verdient. Außer John natürlich. Ich ziehe meine rechte Hand aus seiner Achselhöhle und streiche ihm über das von meinen Tränen durchnässte Fell. Tausende weiche schwarze Haare bleiben an meiner Hand kleben. Wie oft ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe, wie ich diese Haare wohl vom Mund meines Kindes fernhalten könnte …

Des Kindes, das nicht da ist.

 

Ich denke an meine Kindheit. An die Sommer, die erfüllt waren von dem Geruch frischen Heus, strahlend blauen Himmeln und weißen Wolken, dem leuchtenden Rot des Mohns und dem schönsten Kornblumenblau an den Feldrändern; dem betörenden Duft der wilden Kamille, von Blumenwiesen, Schmetterlingen und jubilierenden Lerchen, die so hoch in den sommerlichen Lüften schwebten, dass man nur ihren Gesang hörte und sie erst nach einigem Suchen als winzige Punkte in den weißblauen Höhen ausmachen konnte.

Die Sommer, die erfüllt waren von den gewaltigen Konzerten der Grillen in lauen Sommernächten, von Glühwürmchen zwischen den uralten knorrigen Linden der Allee, die zum Haus meiner Großeltern führte, dem Geruch von faulenden Aprikosen unter den Obstbäumen und dem einzigartigen Duft von Quitten und Rosen sowie dem aufziehenden Nebel über dem Moor, wenn es dunkel wurde.

Die Sommer, die erfüllt waren von taunassem Gras am Morgen, goldgelbem Stroh, das süßlich schmeckte, wenn man auf den Halmen kaute, dem Schnauben der Pferde, vom Schwimmen in sumpfigen Seen, Blutegeln, zerschundenen Knien und Armen, moosbewachsenen Bäumen, dem Spielen, Entdecken, Reiten, Pferde striegeln und Sattelzeug putzen – bis es irgendwann zu dunkel wurde, um noch draußen zu sein. Es waren die unbeschwertesten Tage und wir waren von morgens bis abends barfuß, schmutzig und glücklich.

Ich erinnere mich an das Basteln und Malen an verregneten Sommertagen. Vögel malte ich meist. Hunderte fliegender Vögel. Und Pferde. Gemeinsam mit meiner Cousine schrieb ich Gedichte in kleine Bücher, die meine Mutter uns kaufte, jede schrieb eines, und zu jedem Gedicht malten wir ein Bild in unser Buch. Oder wir dachten uns Geschichten aus, welche wir dann unseren kleinen Geschwistern vorlasen.

Wir gründeten Clubs für unsere Kuscheltiere. Da keine von uns mit Puppen spielte, saßen bei unseren Teestunden Krokodile, Affen, Löwen, Papageien, Bären und Pferde am Tisch und führten mit ihren Hufen, Tatzen, Pfoten und Klauen die kleinen chinesischen Porzellantassen an ihre Mäuler, Schnauzen und Schnäbel. Die Clubhäuser dieser exklusiven Gemeinschaft befanden sich meist in Bäumen und wurden von uns mit größter Emsigkeit und voller Tatendrang errichtet. Ich erinnere mich noch ganz genau an dieses besondere Gefühl, das ich damals empfand: Man hatte eine Idee und war so begeistert davon, dass man sie sofort in die Tat umsetzen musste. Der Eifer, mit dem wir derartige Projekte angingen, war so groß, dass uns jedes Rufen zum Mittagessen, ja sogar sonst willkommene Ausflüge ins Schwimmbad oder an den See außerordentlich ungelegen kamen. Wir hatten keine Zeit für derartige Ablenkungen, wir mussten unser Clubhaus fertig bauen.

Und dann war es geschafft, und wir saßen zufrieden und voller Stolz in unseren Baumbuden, die Namen trugen wie »SchiBärKuFuAff«: Schiwa = mein Papagei, Bär = der Bär meines Bruders – ich frage mich gerade, wie der es in unseren Club geschafft hatte –, Kuschelmuschel = das Krokodil meiner Cousine, Fuchs = der Fuchs meines Cousins – offenbar durften unsere Brüder auch mitspielen – und natürlich Affe = mein Affe.

Dort saßen wir also stolzerfüllt, tranken höchst zufrieden Himbeersaft zur feierlichen Einweihung und erfanden Fantasielieder. Die Hymnen unserer Clubs.

Wir gründeten eine Ungeheuerbande, die wir mit größter Geheimhaltung behandelten: Wann immer Nichtmitglieder wie unsere kleinen Schwestern in der Nähe waren, flüsterten wir oder sprachen in unserer Geheimsprache. Ich weiß bis heute nicht genau, ob die Erwachsenen uns verstanden, wenn wir so sprachen.

Löffelsprache hieß das bei uns: »Passhasslefass aufhauflefauf diehielefie Kleiheinlefein nenhenlefen komhommlefomm enhenlefen!« Seltsam, dass ich mich daran noch erinnere. Manche Dinge vergisst man einfach nicht …

Jedenfalls führte es dazu, dass die »Kleinen« unbedingt ebenfalls alle Ungeheuer werden wollten. Also erklärten wir ihnen, sie müssten erst einmal die Hexenprüfung bestehen, bevor sie Ungeheuer werden könnten, dachten uns eine Vielzahl von Zaubersprüchen aus, die sie auswendig lernen mussten, und ließen sie etliche »Prüfungen« ablegen.

Die meisten dieser »Prüfungen« bestanden daraus, uns in unseren Baumbuden mit Limonade und Eis zu versorgen, welches sie heimlich aus der großen, uralten Tiefkühltruhe im Keller entwenden mussten. Es war also ziemlich angenehm für uns, dass die »Kleinen« so unbedingt und um jeden Preis in unsere Bande aufgenommen werden wollten …

Irgendwie gab es keine Erwachsenen in meiner Kindheit. Zumindest nicht in diesen Sommern.

Ich denke an mein Kind, das Sommer wie diese erleben sollte. Mein Kind, das nicht da ist. Es sollte eine solch unbeschwerte Kindheit haben. Eine Kindheit, die sich jetzt anfühlt, als hätte sie sich in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt ereignet. Einer Welt, die für mich endgültig verschlossen scheint.

Was gäbe ich darum, nur einen Tag wieder dort sein zu dürfen! Nur einen Tag noch einmal Kind zu sein und unbeschwert, in einem solchen Sommer. Ich sehne mich dorthin zurück, während ich hier auf dem Hundeplatz liege und die Reste meiner Hoffnungen, meiner Opfer, meiner Anstrengungen unter den tobenden Schmerzen in meinem Unterleib aus mir herausbluten.

Nur einen Tag.

Mit den dicken Brummern, die aus irgendeinem Grund immer ins Haus kamen und schwerfällig an die Fenster pockten. Brumm brumm pock, brumm brumm pock – und die mir durch ihre pure Größe und Lautstärke den letzten Nerv raubten. Besonders, wenn ich las, was häufig der Fall war. Ich verschlang unzählige Bücher, am liebsten an Orten, an denen ich nicht gestört wurde, und tauchte ein in die Geschichten anderer.

Ich hatte sie stets hartnäckig gejagt, die Brummer. Wie leicht diese riesigen Fliegen zu erledigen waren! Ich musste sie nicht einmal richtig treffen mit dem Buch, in das ich gerade vertieft war. Meistens war ich allerdings lieber auf Nummer sicher gegangen und hatte sie an der Fensterscheibe zerquetscht. Sicher ist sicher. Die andere Hälfte des Brummermatsches hatte dann an meinem Buch geklebt, und es galt, ihn unauffällig am Fensterbrett abzuwischen.

An meinem mehrere Sommer überdauernden Lieblingsbuch hatten etliche Fliegenreste geklebt. Das Buch war ungefähr zehn Zentimeter dick und wog bestimmt zwei Kilo, und ich schleppte es überallhin mit: an den See, in den Garten, auf den Dachboden. Bald hatte es beide Pappdeckel eingebüßt und bestand nur noch aus den Seiten. Es hatte dadurch jeglichen Halt verloren, was es schwierig machte, darin zu lesen.

Einmal, auf dem Dachboden, war mir das Buch aus der Hand gefallen und hatte sich in Einzelteilen auf den uralten, staubigen Dielen verteilt. Ein paar wenige Seiten hafteten noch an dem Buchrücken aus Band und Klebstoff, die allermeisten lagen jedoch in einem heillosen Durcheinander lose um mich herum. Ich saß in einem Meer aus Buchseiten. Und es dauerte nicht einmal fünf Minuten, bis ich die Seiten wieder korrekt zusammengesetzt und mein Buch mit Klebeband repariert hatte. Seitenzahlen hätte ich dafür nicht benötigt, ich kannte das Buch nämlich auswendig.

Dieses Lieblingsbuch erlaubte es mir, in eine Welt abzutauchen, die für mich die schönstmögliche schien, und es machte mir absolut nichts aus, dass ich es schon so oft gelesen hatte. Wenn ich darin las, war ich jemand anderes. Ich konnte der Realität entkommen und in einer Welt sein, die sich für mich beim Lesen so wirklich anfühlte, dass ich, wenn ich das Buch zugeschlagen hatte, immer eine Weile brauchte, bis ich wieder im tatsächlichen Leben angekommen war.

Was gäbe ich dafür, noch einmal dorthin zurückzukönnen, in diese unbeschwerte Zeit.

Nur einen Tag.

Der Dachboden war ein Ort, an dem ich nicht so schnell gefunden wurde, wenn ich in Ruhe lesen wollte. Tagsüber herrschte dort schummerige Dunkelheit, die nur von einzelnen Sonnenstrahlen durchbrochen wurde, welche durch Löcher in den tönernen roten Dachziegeln schräg auf die alten, knarzenden Dielen fielen. In den Strahlen tanzten Millionen kleiner Staubkörner, und sie hoben sich deutlich ab gegen die Dunkelheit des Raumes. Pfeiler aus Licht, vom Dach bis zum Boden, wo sie scharf umrissene runde Flecken bildeten.

Ich setzte mich dann auf ein altes, staubiges Kissen mit einem dicken, mit Rosen bestickten Bezug aus grobem Leinen, das irgendjemand einmal dort vergessen hatte, genau auf einen der Sonnenflecken. Sie waren meine Leselampe. Wenn ich lange dort saß, musste ich währenddessen mehrmals umziehen, um den wandernden Lichtflecken zu folgen.

Am liebsten aber las ich im Bett. Zuvor investierte ich mein Taschengeld in Süßigkeiten in dem Tante-Emma-Laden im Dorf. Dort gab es die großen Plastikbehälter hinter dem Tresen, aus denen man sich von der dicken Verkäuferin – je nach finanzieller Lage – eine größere oder kleinere Zellophantüte befüllen lassen konnte. Mit dieser Tüte saß ich dann auf meinem Bett, aß Süßigkeiten und tauchte ab in mein Buch und die Welt eines Mädchens, das in meinen Augen das schönstmögliche Leben hatte: mit einem eigenen Pony, auf einem Gestüt, am Meer. Ich wünschte mir jeden Tag, so zu sein wie sie.

 

Wie oft habe ich mir in den letzten sieben Jahren ausgemalt, wie wir unseren Kindern die schönste aller Kindheiten schaffen würden. Wie unsere Kinder von morgens bis abends durch die von Sonne und Heu und Lerchen und Sommerregen erfüllten Tage streifen würden, von Wärme durchdrungen, unbeschwert und glücklich. Wie meine Tochter das Pony bekommen sollte, das ich nie hatte, wie mein Sohn mit seinem Vater ein Baumhaus bauen würde. Wie wunderschön es alles werden würde für unsere Kinder. Und für uns.

Jedes Mal, wenn ich andere Kinder beobachtete, dachte ich an unsere eigene Familie. Zuerst: »Das haben wir auch bald!«, und bei diesem Gedanken hatten mich größte Vorfreude und Glück durchströmt. Später nur noch: »Das werden wir niemals haben.« Und dann zerbrach etwas in mir. Bei jedem Kind, das ich sah. Etwas, das nicht zu reparieren war.

»Sie können jederzeit wieder schwanger werden.«

Sieben Jahre später muss ich feststellen, dass diese Aussage die größte Lüge meines Lebens ist.

Mich durchfährt ein stechender Schmerz, und ich stöhne leise auf. Es gibt so vieles, das nicht mehr zu reparieren ist. So vieles, das unwiederbringlich zerstört wurde. Aufgelöst, einfach nicht mehr da. Seelen und Körper, Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht, Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden, der Glaube daran, dass noch einmal etwas Gutes passiert. Leben.

Ich blicke auf das, was übrig ist von unseren übergroßen Anstrengungen. Ich blicke auf das, was übrig ist von unserer Existenz. Ich blicke ins Nichts. In diesem Moment ist es, als sei einfach nichts mehr da.

2. Kapitel

Wie anders doch alles vor etwas über sieben Jahren war! Unser Leben war angefüllt mit Freude, Glück, Liebe, Zuversicht, Fröhlichkeit, Freunden, Familie und Lachen. Wir waren die glücklichsten Menschen auf dem Planeten – verliebt und voller Kraft, Glauben und Tatendrang. In unserem Leben war so viel Glück und Zuneigung vorhanden, dass wir die Menschen in unserer Umgebung mit vollen Händen daraus beschenken konnten. Alles war licht und hell und sonnendurchflutet.

John und ich, das war die buchstäbliche Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ich hatte ihn gesehen und in dem Moment gewusst, dass dies der Mann ist, mit dem ich um jeden Preis mein Leben verbringen wollte. Und ihm war es mit mir genauso ergangen. »Ich glaube«, hatte er nach unserer ersten Begegnung zu seinem ehemals besten Freund gesagt, »ich glaube, ich bin in Schwierigkeiten.«

Um jeden Preis. Wie hoch der Preis sein würde, wussten wir damals nicht. Aber hätte ich es gewusst, ich hätte ihn trotzdem geheiratet.

Wir waren vielleicht das glücklichste Paar, das es je gegeben hat. Wir gingen stundenlang mit unseren Hunden spazieren, saßen nächtelang am Lagerfeuer, führten endlose Gespräche, während es dunkel wurde und nach frisch gemähtem Gras und Freiheit roch … Es war die schönste Zeit meines erwachsenen Lebens. Nach eineinhalb Jahren heirateten wir. Gegen erhebliche Einwände und Befürchtungen: »Der passt doch überhaupt nicht zu dir …«, »Das geht viel zu schnell, du kennst den doch gar nicht …«, solche Dinge.

Stimmte von außen betrachtet vielleicht sogar. Er, der strukturierte und durchtrainierte Ex-Polizist, der direkt nach dem Abschluss seiner Berufsausbildung zum Polizisten zur Ausbildung in der Spezialeinheit der deutschen Bundespolizei abgeordnet wurde und sich bereits im darauffolgenden Jahr selbstständig machte, der international als Krisenmanager die schwierigsten Konflikte löste. Und ich, die ebenfalls weltweit tätige Pferdeosteopathin und Akupunkteurin, die sich außerdem als Autorin und Dozentin für das Wohl der Tiere einsetzte und dabei immer ein bisschen zu sehr an das Gute in allem glaubte und deswegen immer ein bisschen zu idealistisch an die Dinge heranging. Teil meines Jobs eben.

Mir war das gleichgültig. Es ging nicht um unsere Berufe, es ging um uns. Ich hatte den Mann, diesen einen besonderen Mann meines Lebens gefunden, von dem so wenige das Glück haben, ihn zu finden. Und ich heiratete ihn. Und wie!

Unsere Hochzeit ist heute, zehn Jahre später, zuweilen immer noch Thema unter den damaligen Hochzeitsgästen. Es war ein ausgelassenes Fest geworden, wider Erwarten. Es schien, als würde sich die Liebe, die John und ich füreinander empfanden, auf die Anwesenden und ihre Skepsis übertragen und so, für diesen einen Tag und diese eine Nacht, alle Querelen, Streitigkeiten und Dramen überstrahlen.

Johns kurze Rede zum Beginn des Abends hatte sicher einen großen Anteil daran. Er hatte nichts in der Hand gehabt, keinen Zettel, kein Glas, nichts. Hatte einfach dagestanden in seinem Smoking, wie ein Leuchtturm oder etwas sehr Besonderes, das man noch nie gesehen hat und von dem man sich sicher ist, dass es einmalig ist. Es wirkte, als würde er alle Gäste gleichzeitig ansehen, so fest und ruhig ließ er seinen Blick über die vielen Tische schweifen. Er stand einfach da.

Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Alle waren mucksmäuschenstill, wie in der Erwartung von etwas Außergewöhnlichem. Nicht wissend, ob es etwas Gutes oder Schlechtes sein würde. Und dann, in diese völlige Stille, diese angespannte Erwartung, sagte er mit seiner klaren, ruhigen, lauten Stimme:

»Liebe Freunde, liebe Familie, liebe Julie«, (Pause) »ich freue mich sehr, dass ihr alle hier seid. (Stille) Einmal abgesehen davon, dass ich wahnsinnig nervös bin (Lacher unter den Gästen), was man nicht merkt (brüllendes Gelächter an allen Tischen, Applaus), seht ihr hier heute einen sehr, sehr glücklichen Mann (Pause). Ich war noch nie in meinem ganzen Leben so frei, so geborgen, so sicher und – so glücklich wie jetzt. Und das habe ich einer Frau zu verdanken. (Applaus) Meiner Frau. (Tosender Applaus, zustimmende Pfiffe) Die jetzt endlich mal weint.« (Lautes Gelächter, Applaus)

Und an mich gerichtet: »Julie, ich liebe dich so sehr, dass ich es mit Worten nicht fassen kann, und ich freue mich wahnsinnig darauf, mit dir den Rest unseres Lebens zu teilen. (Tosender Applaus, zustimmende Rufe) Und jetzt ist das Buffet eröffnet.« (Gelächter, Pfeifen, Bravo-Rufe, Klatschen)

 

Meine Arme um seinen Hals, die glücklichste Frau der Welt. Es war das rauschendste Fest, das je gefeiert wurde.

 

Einige Tage nach der Hochzeit lagen wir glückstrunken an unserem See. Eine meiner Freundinnen hatte uns gerade eröffnet, dass sie ein Baby erwarte, und halb im Spaß gesagt, ich solle doch dann jetzt auch schwanger werden, damit die Kinder später zusammen spielen könnten.

»Und? Wollen wir jetzt schwanger werden?«, fragte ich John halb im Spaß, der schläfrig in die Sonne blinzelte.

»Aber ganz bestimmt«, sagte er und grinste. »Was bemerkenswert ist, weil Kinder zuvor nie weit oben auf meiner Wunschliste standen, aber das hat sich geändert.« In seinen Augen blitzte es. »Denn«, fuhr er fort, »hast du dir schon mal überlegt, wie süß unsere Kinder werden?«

Ich war glücklich.

»Wir müssen eine richtige Familie sein«, sagte John und schloss mich in seine Arme »Das meine ich ernst.«

»Abgemacht«, erwiderte ich lachend.

Ich weiß noch, wie aufgeregt ich bei diesem Gedanken war. Es war dasselbe Gefühl, wie ich es damals als Kind beim Bauen der Baumhäuser gehabt hatte: eine Idee, für die ich mich so begeisterte, dass ich sie am liebsten auf der Stelle in die Tat umgesetzt hätte.

Wir lagen den ganzen Abend am See und redeten darüber, was wir alles mit unseren Kindern erleben würden, malten uns aus, nach wem sie wohl kämen, ob sie so aussehen würden wie einer von uns oder eine Mischung aus uns beiden und welche Charakterzüge von uns sich in ihnen widerspiegeln würden.

Weder John noch ich hatten uns bislang damit auseinandergesetzt, was »Schwangerwerden« eigentlich bedeutete – man wurde eben schwanger und bekam ein Kind. Ganz einfach. Als ich am Ende desselben Zyklus die Pille absetzte, waren wir beide so aufgeregt wie kleine Kinder vor ihrem Geburtstag.

»Na, dann wollen wir mal ein Baby bekommen«, sagte ich zu John.

Er grinste sein unverwechselbares Spitzbubengrinsen. »Jawoll. Ab heute wird scharf geschossen.«

Ich war so voller glücklicher Vorfreude, dass ich mich nicht einmal über den blöden Spruch beschwerte. Wir würden ein Kind bekommen, die Krönung unserer Liebe! Wie aufregend das war! Nach ein paar Tagen setzte der Arbeitsalltag wieder ein, und wir beide dachten nicht mehr allzu oft daran, dass wir nun nicht mehr verhüteten.

 

Einige Wochen später saßen wir abends mit einer riesigen Pizza auf dem Sofa, als ich wie selbstverständlich in die Küche ging, mir Ketchup und Mayonnaise holte und diese, als sei das ein normaler Vorgang, großzügig auf dem Pizzastück auf meinem Teller verteilte.

John sah mich irritiert an. »Sag mal, was isst du denn da? Kann es sein, dass du schwanger bist?«

Ich starrte ihn mit dem Mund voller Ketchup-Mayonnaise-Pizza an. Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht. Irgendwie hatte ich einfach plötzlich Appetit auf Pizza mit Ketchup und Mayonnaise. Als ich jetzt darüber nachdachte, war es in der Tat etwas befremdlich. Konnte es sein, dass es wirklich so schnell ging? So einfach?

Ich hatte mich immer gewundert, dass in meiner Familie alle Frauen immer genau auf den Punkt an dem Tag ihre Kinder bekamen, an dem sie sie haben wollten. Achtzehn Monate auseinander. Maximum. Sonst können die Kinder nicht miteinander spielen, hieß es immer. Wenn es tatsächlich so einfach war, schwanger zu werden, war es ja überhaupt kein Wunder, dass ihnen das mit dieser Präzision gelang. Aber konnte das wirklich sein? Ich wusste ja nicht einmal, wann mein Eisprung gewesen war, und hatte gerade erst die Pille abgesetzt. Es hieß doch immer, nach Absetzen der Pille dauere es mindestens ein halbes Jahr, ehe man schwanger werden könne? Das hatte meine Mutter immer gesagt, daran sollte ich immer denken, wenn ich »meine Kinder planen« würde …

Am nächsten Morgen machte ich einen Test. Den Moment, als ich die Treppe herunterstürmte, John um den Hals flog und ihm meine Schwangerschaft verkündete, werde ich niemals vergessen. Ich war überwältigt vor Freude und verspürte so etwas wie Stolz auf dieses Baby, auf uns, es war unbeschreiblich. Wir würden eine richtige Familie werden!

Es war ein absolut einzigartiges Gefühl, es war mit nichts zu vergleichen, was ich jemals zuvor gefühlt hatte. Ein Gefühl, als sei ich schlagartig zu einem anderen Menschen geworden. Ich war eine schwangere Frau, und das machte mich augenblicklich zu etwas Besonderem: In mir wuchs ein Mensch heran!

In dem Augenblick, in dem ich den positiven Test in den Händen hielt, wurde mir klar, warum schwangere Frauen dieses besondere Leuchten haben, das ihnen immer nachgesagt wird: Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie wieder so außergewöhnlich, so wichtig, so stolz, so selbstbewusst, so unangreifbar, so zufrieden und so in mir ruhend gefühlt wie damals.

»Ich bin schwanger!«, jubelte ich ein ums andere Mal. »Ich bin schwanger! Wir bekommen ein Kind!«

Ich lachte und lachte, und auf Johns Gesicht lag eine solch pure und reine Freude, ein solch glückseliges Strahlen, als habe jemand in seinem Inneren ein ewiges und unlöschbares Feuer entzündet, dessen Widerschein nun auf seinem Gesicht lag. (Wie sich später herausstellte, war es das nicht, unlöschbar. Ich habe diesen Ausdruck nie wieder auf Johns Gesicht gesehen.)

»Hab ich es doch gewusst!«, strahlte er. »Das ist die beste Botschaft meines Lebens! Außer, dass du mich geheiratet hast, natürlich!«

Wir lagen uns in den Armen und lachten und waren glücklich wie nie zuvor.

 

Alle Tage und Wochen, die auf diesen Tag folgten, waren erfüllt von einer neuen, ungekannten Freude. Wir waren glückstrunken in der Gewissheit, dass wir nun eine Familie werden würden. Alles drehte sich um die Schwangerschaft und das Baby. Wann immer John mich sah, begrüßte er mich mit: »Na, wie geht es euch beiden?« Jeden Morgen und jeden Abend sprachen wir mit unserem Baby.

Henry, mein Hund und bester Freund, wurde noch wachsamer, als er es ohnehin schon war, wich mir keinen Zentimeter mehr von der Seite und sah irgendwie immer aus, als lächelte er. Seine großen, schwarzen, ordentlichen Mundwinkel waren nun immer ein bisschen angehoben, und in seinen braunen Knopfaugen lag ein fröhliches Zwinkern.

Gemeinsam lagen wir stundenlang im Gras, Henry passte auf und die Labradorin, unser zweiter Hund, stöberte in Kreisen um uns herum und suchte vergnügt nach Essbarem. John hatte seine Hand schützend auf meinen Bauch gelegt. Wir sprachen über Namen und ob wir unser Kind in meiner zweiten Heimat Afrika aufwachsen lassen könnten und ob es wohl ein Junge oder ein Mädchen werden würde.

Johns Vatergefühle beeindruckten mich. Ich hätte nie erwartet, ihn so verändert zu sehen. Er hatte so oft gesagt, er wolle nicht unbedingt Kinder haben, und wenn, dann nur mit der richtigen Frau … Die hatte er jetzt, und nun konnte er gar nicht genug bekommen von den Plänen und Tagträumen für unser Leben mit unserem Kind. Bereits in diesen ersten Tagen ließ er dem Baby seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Treue zuteilwerden. Es schien für ihn überhaupt keine Rolle zu spielen, dass es sich bisher nur um einen winzigen Zellhaufen handelte. Mir ging es genauso. Wir beide dachten von dem Moment des positiven Tests an nur an ein Baby. An unser Kind.

Die Gewissheit, dass er Vater werden würde, schien die stabilen Mauern, die John vor die Erinnerungen an seine eigene Kindheit und Jugend gebaut hatte, zum Bröckeln zu bringen. Er sprach plötzlich über seine Vergangenheit, etwas, das er zuvor nicht gerne getan hatte. Er hatte keine besonders schönen Erinnerungen an seine Kindheit. Ich vermute, dies war einer der Gründe, warum er nie hatte Kinder bekommen wollen. Aber nun, wo er Vater wurde, war er wie ausgewechselt. Er malte sich aus, wie er seine eigene Kindheit gewissermaßen an seinem Kind heilen könnte.

Eines Tages zeigte er mir seine alte Schule, genauer gesagt, den Sportplatz seiner alten Schule. John hatte es als Junge und Jugendlicher zu einiger Berühmtheit gebracht, da er dort so manchen Rekord auf den Kurzstrecken gebrochen hatte. Laufen war seine Leidenschaft, und offenbar besaß er eine besondere Begabung für diesen Sport. Seine Eltern hatten ihn fast nie begleiten können und so war er zu den meisten seiner Wettkämpfe allein gefahren, hatte vor jedem Lauf mutterseelenallein auf dem Platz gestanden. Er hatte einen Rekord nach dem anderen gebrochen, in der Hoffnung, es würde sich irgendwann jemand dafür interessieren – und war trotzdem beim nächsten Wettkampf wieder alleine gewesen. Ich glaube, seine Rekorde waren nicht viel wert für ihn – weil niemand da war, der sie mit ihm auskostete. Niemand, der ihn anfeuerte, niemand, der seine Leistungen mit Stolz verfolgte, niemand, der ihn lobte und mit ihm mitfieberte.

Es war Samstag, und auf dem Sportplatz tummelten sich etliche kleine Jungen und Mädchen. Auf den Rasenflächen um den Platz herum standen die Eltern und feuerten ihre Zöglinge an. Gerade liefen einige Jungen einen Staffellauf, eine andere Gruppe maß sich im Weitsprung. John blickte strahlend, zufrieden und mit so etwas wie Stolz auf die rennenden und springenden Kinder.

»Ha, da werden Erinnerungen wach!« Er deutete mit der Hand auf die rote Tartanbahn. »Der Kleine da unten, der gerade den Stab übernommen hat, der ist gar nicht schlecht. Aus dem könnte was werden. Lauf, Junge! Jetzt noch mal Gas geben! Sehr gut gemacht! Hast du gesehen, wie geschickt er den Stab übergeben hat? Der Junge ist richtig schnell. Und das Mädchen da, die jetzt läuft, die kann auch richtig gut werden.« Er schien die Eltern nicht weiter zu beachten und hatte nur Augen für die Kinder.

Ein älterer Herr kam über den Rasen zielstrebig auf uns zu.

»Kennst du den Mann?«, fragte ich. »Der sieht so aus, als wolle er zu dir?«

John folgte meinem Blick, und auf seinem Gesicht breitete sich absolute Verblüffung aus. »Das gibt es ja gar nicht, das ist mein alter Leichtathletiktrainer!«

Und mit einem Satz war John über den Zaun gesprungen, hinter dem wir standen, und lief dem Mann entgegen.

»Herr Jansen, das ist ja eine Überraschung! Immer noch hier im Dienst?«

Der alte Mann lachte. »Natürlich, Junge, wo soll ich denn sonst sein?«

Er schien ehrlich erfreut, John zu sehen, und gab ihm die Hand. »Na, wenn das man nicht mein schnellster Schüler ist! Das ist aber man schön, dich zu sehen! Wie geht’s denn immer?«

John strahlte. »Sehr gut, danke! Und Ihnen? Sie unterrichten immer noch hier?«

Herr Jansen lachte. »Na ja, in meinen Alter – nur noch die richtig Guten. Aber da gibt es kaum noch welche von.« Er zuckte mit den Achseln. »Zumindest keinen, der so rennen kann wie du damals.«

John schaute ihn an, als habe er sich verhört. »Wirklich?«, fragte er, und ich konnte sehen, wie er noch ein paar Zentimeter größer wurde.

Herr Jansen nickte. »Immer noch der Schnellste von meinen Schützlingen.«

John starrte seinen alten Trainer ungläubig an, und dann sah er aus, als habe man ihm gerade den Ritterschlag verliehen oder einen Orden – und etwas Ähnliches war es ja auch.

»Das ist ja verrückt«, sagte er strahlend.

»Ist das die werte Frau Gemahlin?« Herr Jansen streckte mir die Hand hin.

»Oh, ja, Entschuldigung. Das ist meine Frau Julie, Julie, Herr Jansen, mein alter Leichtalethiktrainer!« John freute sich, als sei er wieder ein kleiner Junge. Ich konnte nicht aufhören zu lächeln.

»Sehr erfreut«, sagte Herr Jansen und deutete eine Verbeugung an. »Ist wirklich so – der Bursche hier war der beste Hundertmeterläufer, den ich je trainiert habe. Der Junge konnte rennen – man konnte meinen, er liefe vor etwas davon. Hat alle besiegt, auch die aus den höheren Klassen. Das hat manch einer von denen nicht gut verwunden.« Herr Jansen schmunzelte. »Und überheblich war der Bursche! Hat sich immer erst im letzten Moment die Schuhe zugebunden und ist immer als Letzter an den Startblock. Als könnte er die anderen auch dann noch überholen, wenn er am Start zu spät wäre. Konnte er allerdings auch.«

Herr Jansen lachte, und ich beobachtete gerührt, mit welcher Begeisterung John an Herrn Jansens Lippen hing und wie es ihm gleichzeitig unangenehm und die größte Ehre war, so gelobt zu werden.

»Wirklich?«, fragte ich skeptisch. »Er hat die anderen überholt, auch wenn sie vor ihm losgelaufen sind? Auf hundert Metern?«

Herr Jansen nickte, und auf seinem freundlichen, faltigen Gesicht lag jetzt unverhohlener Stolz. »Einmal hat er am Start Faxen gemacht, das hat er immer gemacht, aber da hat er den Start verpasst. Die anderen hatten schon zwei, drei Schritte hinter sich, als er schließlich loslief. Wie Sie schon sagen – das ist ’ne Menge auf hundert Meter. Ich hatte mich schon gefreut, dachte, na endlich, heute bekommt er mal die Quittung für seine Faxen. Der Junge war nämlich kein guter Verlierer, müssen Sie wissen, der konnte tagelang schmollen, wenn er mal nicht gewonnen hat, wahrscheinlich gewann er deshalb immer. Na, jedenfalls hatte ich mich schon gefreut, da gibt der Bursche auf einmal Gas, mit einer Entschlossenheit und einem derart eisernen Willen, so was habe ich davor und danach nie wieder gesehen. Die ersten vier Konkurrenten hatte er mit wenigen Schritten überholt, die letzten drei schaffte er so fünf Meter vor dem Ziel. Und dann gewinnt der Kerl mit einem Schritt Vorsprung! Das war das Verrückteste, was ich je gesehen habe. Ja, der konnte rennen, und wenn der sich was in den Kopf gesetzt hatte, hat er es auch erreicht.«

Die ehrliche Bewunderung in Herrn Jansens Stimme war nicht zu überhören. Etwas verlegen klopfte er John kurz auf die Schulter, und in dieser kleinen Geste zeigten sich der ganze Stolz und die Zuneigung, die dieser Mann für ihn empfand.

Ich spürte wie sich mein Herz zusammenzog vor Dankbarkeit und Rührung. Also war John doch nicht ganz allein gewesen, es hatte jemanden gegeben, der unübersehbar stolz auf ihn war und der ihn offenbar ehrlich mochte.

»Kann mich nicht dran erinnern, deinen Vater bei den Wettkämpfen gesehen zu haben«, sagte Herr Jansen und gab sich keine große Mühe, sein Unverständnis zu verbergen. »Hat wirklich was verpasst, der Mann. Hab ich nie verstanden. Ich hab mir immer so ’nen Jungen gewünscht wie dich. Wenn ich das Glück gehabt hätte, so einen Sohn zu haben, hätte ich keinen einzigen Wettkampf verpasst.«

Ich konnte sehen, wie sehr John diese Worte berührten. »Haben Sie doch auch nicht!«, sagte er und lachte. »Sie waren jedes Mal da und haben mir die Hölle heißgemacht!«

Herr Jansen lachte jetzt auch. »Allerdings! Und es hat sich ja wohl gelohnt. Scheinst ja immer noch ’n büschen Sport zu machen, so wie du aussiehst. Na, hat nicht sollen sein mit einem eigenen, meine Gerda ist ja leider so früh verstorben. Und mit ’ner anderen Frau wollte ich nix zu schaffen haben.« Herr Jansen lachte und zog ein Stofftaschentuch aus der Tasche seiner beigen Altmännerhose, mit dem er sich über den Nacken fuhr. »Die wahre Liebe gibt’s nur einmal im Leben, sach ich immer. Zumindest war das bei mir so.« Er zwinkerte mir zu und steckte das Taschentuch behutsam wieder ein wie eine Kostbarkeit.

 

Auf dem Weg zum Auto schwiegen wir, jeder in seine Gedanken versunken. Aber kaum waren wir losgefahren, sprudelte es aus John heraus: »Wenn unser Sohn nach mir kommt, möchte er bestimmt auch in die Leichtathletik, meinst du nicht? Glaubst du, er kann die hundert Meter auch so schnell rennen, wie ich es konnte? Ab wann dürfen Babys Sport machen? Wann kann ich anfangen, mit ihm laufen zu gehen? Ich bin dann jedes Wochenende mit ihm unterwegs, darauf kannst du dich schon mal einstellen. Ich werde keinen einzigen seiner Wettkämpfe verpassen! Mein Sohn wird nie allein auf der Bahn stehen!«

Ich runzelte die Stirn und unterdrückte ein Lächeln. »Was macht dich eigentlich so sicher, dass es ein Junge wird?«

John schaute ertappt. »Na ja, oder meine Tochter halt. Die kann ja auch Leichtathletik machen.«

Ich lachte. Er sah so fröhlich aus, wie er dasaß, mit vor Aufregung roten Wangen, in die Vorstellungen seiner Zukunft als Vater versunken.

»Du wirst die schlimmste Hockey-Mum aller Zeiten«, sagte ich trocken.

»Kann schon sein«, schmunzelte er.

*

Ich schleppe mich in die Küche, drehe den Wasserhahn auf und trinke ein Glas Wasser. Kaltes, klares Wasser.

Henry verfolgt mich mit seinem bekümmerten Blick. Selbst die Labradorin öffnet nun ein Auge und wirft mir einen prüfenden Blick zu, offenbar scheint auch sie zu merken, dass heute etwas nicht in Ordnung ist. Wenn es sogar der stets unbesorgten Mabel auffällt, muss es schlecht um mich stehen.

Kühles, klares Wasser hat immer etwas Tröstendes für mich. Wenn ich es trinke, aber auch, wenn ich darin schwimme. Es weckt in mir die Hoffnung, es würde alles Schlechte von mir abwaschen oder aus mir herausspülen und ich könnte mich erneuern. Ohne jedes Übel neu beginnen. Es ist nie zu spät, sein Leben zu ändern … Wer hat das neulich gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Was Herr Jansen wohl damit meinte, als er sagte, John sei vor etwas davongelaufen? Ich habe John nie gefragt.

Gekrümmt taumele ich wieder zum Hundeplatz und lege mich zu Henry. Ich denke an den Tag zurück, an dem wir zum ersten Mal das Herz unseres Babys hatten schlagen sehen.

*

Wir fuhren durch einen strahlenden Sommertag, die Sonne schien aus einem stahlblauen Himmel, an dem einzelne blitzweiße Wolken den Horizont zu vergrößern schienen. Die wellige, weite Landschaft Schleswig-Holsteins zog an uns vorbei, und wir redeten und redeten.

Wir waren auf dem Weg zum ersten Ultraschall, der Bestätigung der Schwangerschaft durch den Arzt. John löcherte mich mit Fragen. Das tat er immer, wenn er aufgeregt war oder sich sehr auf etwas freute. Er stellte dann unzählige Fragen, auf die er die meisten Antworten ziemlich sicher selber wusste. So auch an diesem Tag.

»Meinst du, man kann schon etwas sehen?«

»Weiß nicht, mit Glück vielleicht den Herzschlag.«

»So früh schon? Ab wann schlägt denn das Herz?«

»Ab der sechsten Woche.«

»Aber du hast gesagt, es ist bisher nur ein Haufen Zellen, wie kann dann ein schlagendes Herz da sein?«

»Weiß ich auch nicht, aber das habe ich gelesen.«

Nach kurzem Nachdenken: »Kann man dann auch schon sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«

»Natürlich nicht, sei nicht albern!«

»Wieso, ein Herz ist doch komplizierter als ein Geschlechtsorgan, oder etwa nicht?«

Da hatte er recht. »Das Herz selbst kann man ja auch noch nicht richtig erkennen, nur einen schwarzen Punkt, der schlägt, schätze ich.«

»Das wäre trotzdem das Aufregendste, was ich je gesehen hätte. Hast du das schon mal gesehen?«

»Nein.«

»Findest du die Vorstellung nicht komisch, dass in deinem Bauch ein zweiter Mensch lebt? Mit Herzschlag und allem?«

Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Wo er es jetzt sagte, doch, das war ein seltsames Gefühl. »Wir müssen erst einmal abwarten, ob man den Herzschlag heute überhaupt schon sieht, wir wissen ja nicht mal genau, in welcher Woche ich bin.«

»Okay, aber gleich, gleich wissen wir es.«

Auf dem Weg zum Wartezimmer in dem Krankenhaus, in dem mein Arzt arbeitete, kam uns eine Frau entgegen, die aussah, als würde sie jeden Moment gebären. Und zwar definitiv mehr als ein Kind. Sie stöhnte und watschelte breitbeinig den Flur hinunter, eine Hand in den Rücken gestemmt, die andere auf einen winzigen Mann gestützt, der jeden Moment zusammenzubrechen drohte. Die Frau war … gewaltig.

Entgeistert starrten John und ich dem ungleichen Paar hinterher. »Das ist bestimmt eine Ausnahme …«, sagte ich, »hoffentlich.«

Als wir das Wartezimmer betraten, mussten wir jedoch feststellen, dass es das offenbar nicht gewesen war, eine Ausnahme. Der Raum war voll mit hochschwangeren Frauen, die ihre riesigen Bäuche mühsam auf ihren Oberschenkeln balancierten. Es war ein einigermaßen verstörender Anblick für uns. Natürlich kannten wir Bilder von schwangeren Frauen, aber in dieser Masse, alle so weit fortgeschritten, so viele auf einen Streich, das war etwas anderes. Keine der Frauen strahlte von innen, der berühmte Schwangerschafts-Glow schien völliger Erschöpfung und absoluter Genervtheit gewichen zu sein. Alle sahen aus, als würden sie jeden Augenblick anfangen zu schreien oder zu weinen.

Die Blicke, mit denen ich beim Betreten des Raumes von oben bis unten gemustert wurde, in meinem dünnen Sommerkleid, ohne Anzeichen einer Wölbung, mit schlanken Fesseln und ohne geschwollene Füße, waren derart böse, dass ich befürchtete, gleich in Flammen aufzugehen. Ich schämte mich und fürchtete mich ehrlich gesagt auch ein bisschen vor diesen Blicken. Am liebsten wäre ich direkt wieder hinausgegangen, aber es gab leider nur dieses eine Wartezimmer.

»Wenn man sich hier so umsieht«, flüsterte ich John zu, »machen wir ein ganz schönes Bohei um meine Schwangerschaft, bei mir sieht man ja noch nicht mal was!«

John starrte entgeistert und einigermaßen indiskret auf die riesigen Körper und geschwollenen Beine um uns herum. »Sehen alle schwangeren Frauen so aus in dem Stadium?«, raunte er zurück und sah sehr besorgt aus.

»Ich glaube schon«, flüsterte ich. »Vielleicht werden manche Frauen nicht ganz so riesig …«

»O Mann, das hoffe ich wirklich.« John schien ehrlich schockiert zu sein.

»Warum? In ein paar Monaten sehe ich auch aus wie ein Wal mit Elefantenbeinen! Gewöhn dich lieber schon mal an den Anblick! Das Wunder des Lebens geht eben mit ein paar Opfern einher …«

John verzog das Gesicht.

»Du brauchst gar nicht so zu gucken, ihr Männer könnt froh sein, dass das alles nicht mit euren Körpern passiert! Das Mindeste, was wir Frauen ja wohl erwarten können, ist Respekt, Dankbarkeit und Liebe für die Opfer, die wir bringen, um eine Familie zu gründen!«

»Natürlich«, raunte John beschwichtigend. »Ich habe das bloß noch nie gesehen, das ist alles. Die Frauen sehen trotzdem toll aus. Nur eben … anders«, versuchte er sein Glück.

Ich lachte. »Lass es gut sein, du verschlimmbesserst es.«

Der Arzt erschien.

»Kommen Sie«, er winkte uns zu, »dann wollen wir mal gucken!«

Und einige Minuten später erschien auf dem Monitor des Ultraschalls, in all dem schwarz-weiß-grauen Gewusel tatsächlich deutlich und stark: das schlagende Herz unseres Babys! Alle Elefantenbeine und Walkörper waren schlagartig vergessen. Wir waren vollkommen überwältigt. Wir hatten einen Menschen erschaffen!

Mit einem Blick auf John sah ich, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. Er war genauso ergriffen wie ich. Ich war so gebannt von diesem winzigen schlagenden Herzen, dass ich meinen Blick keine Sekunde abwenden konnte.

Das Herz unseres Kindes schlug, dasselbe Herz, das es sein ganzes Leben haben würde, mit dem es uns lieben und vermutlich hin und wieder hassen würde; das Herz, das es in die Lage versetzen würde, zu rennen, auf Bäume zu klettern und mit vor Aufregung roten Wangen zu uns gelaufen zu kommen, weil es etwas Besonderes im Wald entdeckt hatte …

Hier schlug das Herz unseres Babys, in meinem Bauch war tatsächlich ein zweiter Mensch, der dort heranwuchs, der unsere Familie vervollständigen würde, mit dem wir von nun an den Rest unseres Lebens teilen würden. Es war das größte Wunder und das größte Geschenk unseres Lebens. Sowohl für John als auch für mich.

Später erzählte er mir, dass dieser Moment, in dem er zum ersten Mal das Herz unseres Kindes hatte schlagen sehen, der überwältigendste seines Lebens gewesen sei. Ich glaube, für mich war er das auch. Keiner von uns hatte sich zuvor darüber Gedanken gemacht, was es eigentlich bedeutete, ein Baby zu bekommen. Frauen wurden eben schwanger und bekamen Kinder, so einfach war das.

Aber jetzt, wo sich dieses kleine Wesen in meinem eigenen Bauch heranbildete, war es ein vollkommen anderes, vollkommen neues Gefühl. Als würden wir zum ersten Mal zu realisieren beginnen, welch komplizierte Abläufe und Entwicklungen dafür nötig waren.

*

»Keine Ahnung hatten wir«, sage ich traurig zu den Hunden und kraule Henry das linke Ohr.

Er grumpft leise.

Vielleicht hätten wir es verhindern können, denke ich, wie schon so oft in den letzten sieben Jahren, wenn wir nur mehr gewusst hätten. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Dennoch durchströmen mich augenblicklich Selbstvorwürfe, Schuld, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ich ziehe meine Beine näher an mich heran. Die Schmerzen. Diese unvorstellbaren Schmerzen.

*

Mit welcher Freude ich damals die körperlichen Beeinträchtigungen auf mich genommen hatte, die die Schwangerschaft mit sich brachte! Die permanente Übelkeit, die Schmerzen, wenn sich die Mutterbänder dehnten, die bleierne Müdigkeit, jede Nacht stündlich auf die Toilette zu müssen. Der Verzicht auf meinen geliebten Sport, auf Laufen, Reiten, auf Kaffee, Sushi, Wurst, schwarzen Tee, Rohmilchkäse, etliche Lebensmittel, die sonst auf meinem täglichen Speiseplan standen.

Nichts davon hatte mir auch nur das Geringste ausgemacht. Im Gegenteil: Ich liebte es. Ich liebte die bleierne Müdigkeit, das mehrmals nächtlich auf die Toilette Gehen, die schmerzenden Brüste – alles davon erschien mir herrlich. Waren es doch sichere Zeichen dafür, dass in mir ein neues Leben heranwuchs. Und nicht irgendein neues Leben: unser Kind! Ich war so verliebt in mein Baby, ich hätte alles in Kauf genommen, um seine Unversehrtheit und sein gesundes Wachstum sicherzustellen.