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Vorwort zur 5. Auflage

✝ Jana L. (40)

✝ Kevin S. (20)

✝ Ferhat Ü. (22)

✝ Mercedes K. (35; zum Zeitpunkt ihrer Ermordung schwanger)

✝ Sedat G. (30)

✝ Gökhan G. (37)

✝ Hamza K. (20)

✝ Kalojan W. (33)

✝ Vili Viorel P. (23)

✝ Said Nesar H. (21 oder 22)

✝ Fatih S. (34)

 

Elf Menschen starben bei zwei rassistisch und antisemitisch motivierten Terroranschlägen in Deutschland – im Oktober 2019 und im Februar 2020. In den wenigen Monaten zwischen der 1. und der vorliegenden 5. Auflage hat sich »Deutschland rechts außen« weiter zugespitzt. Die erneuten Anschläge offenbaren die zerstörerische Kraft von Rassismus, Untergangsdenken und Verschwörungsideologien. Unzählige Menschen leiden unter dem Rechtsterror und sind mit diesen Botschaftstaten mit gemeint, weil sie sind, wie sie sind. Das Ziel dahinter: Angst und Schrecken verbreiten und die Gesellschaft spalten. Die Menschenwürde, der Rechtsstaat und die Bewahrung von Bürgerrechten stehen auf dem Spiel.

An Jom Kippur, dem wichtigsten jüdischen Feiertag, wollte ein antisemitischer, antifeministischer und rassistischer Attentäter am 9. Oktober 2019 in der Synagoge in Halle an der Saale ein Blutbad unter Jüdinnen und Juden anrichten. Davon hielt ihn die schwere Holztür der Synagoge ab. Der Attentäter erschoss Jana L. auf der Straße vor der Synagoge. Kevin S. starb während seiner Mittagspause in einem Dönerrestaurant. Dieses hatte der Täter aus rassistischen Motiven als zweiten Tatort ausgewählt.

Ferhat Ü., Mercedes K., Sedat G., Gökhan G., Hamza K., Kalojan W., Vili Viorel P., Said Nesar H. und Fatih S. wurden am 19. Februar 2020 in Hanau von einem rassistischen und frauenfeindlichen Attentäter erschossen. Der Attentäter stürmte in zwei Shisha-Bars, er suchte gezielt Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Die jungen Menschen wurden zum Opfer der rassistischen Vorurteile des Täters. Dieser tötete anschließend seine Mutter und sich selbst.

Bei beiden Terroranschlägen wurden weitere Menschen zum Teil schwer verletzt. Zurück bleiben Familien, Freunde und soziale Gemeinschaften mit ihrer Trauer, Wut, Erschütterung und Angst. Alltägliche Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen, rassistische Hasskommentare im Netz und die AfD in den Parlamenten verstärken feindselige Stimmungen und die Sorge, dass sich Gewalt und Terror wiederholen können. Nach den rechtsterroristischen Anschlägen gingen in vielen Städten Menschen auf die Straße, um Mitgefühl, Trauer und Unterstützung zu demonstrieren. Sie bewiesen Solidarität und forderten entschiedeneres Vorgehen des Staates, besseren Schutz für Betroffene rechter Gewalt sowie eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus.

Politiker der AfD bagatellisierten die rechtsterroristischen Anschläge. Damit wollten sie von ihrer Verantwortung für ein rassistisches Klima ablenken – und vom Schulterschluss mit Rechtsterroristen, wie er bereits im September 2018 in Chemnitz demonstriert wurde. Denn nach heutigen Informationen waren unter den Teilnehmenden der AfD-Demonstration auch der dringend Tatverdächtige des Mordes am hessischen Regierungspräsidenten und CDU-Politiker Walter Lübcke im Juni 2019 sowie Mitglieder der unter Rechtsterrorismusverdacht stehenden Gruppe »Revolution Chemnitz«. Doch nicht die Täter und auch nicht ihre ideologischen Verwandten sollten im Vordergrund stehen. Was die AfD zu Rassismus und rechtem Terror sagt, ist bestenfalls als Belegsammlung interessant. Wer den Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche fragen. Wesentlich ist das Schicksal der Angegriffenen, bedeutsam sind die Ängste der Betroffenen von derartigen gruppenbezogenen Botschaftstaten und die Wirkung auf die Gesellschaft.

Demokratie und Zusammenhalt stehen unter immer stärkeren Druck – von rechts außen und aus der Mitte der Gesellschaft und der Politik. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September 2019 erreichte die in Ostdeutschland besonders extreme AfD zwischen 23 und 28 Prozent der Stimmen – und führte die Republik in eine politische Krise. Bei den Ministerpräsidentenwahlen im Thüringer Landtag am 5. Februar 2020 stellte die AfD zwar einen Kandidaten auf, gab diesem jedoch im entscheidenden dritten Wahlgang keine einzige Stimme. Die AfD unterstützte stattdessen gemeinsam mit der CDU-Fraktion den FPD-Kandidaten Thomas Kemmerich. Dieser wurde durch die Stimmen der Rechtsradikalen um Björn Höcke Ministerpräsident. Statt die Wahl abzulehnen, nahm der Fraktionschef der Fünf-Prozent-Partei die Wahl an. Bereits am nächsten Tag verkündete er nach massiven Protesten seinen Rücktritt. Einige Abgeordnete von CDU und FDP sympathisierten bereits vorher öffentlich mit einer Zusammenarbeit mit der AfD, andere mögen der Partei vielleicht in die Falle gegangen sein – obwohl dieses Szenario allen bekannt war. Kein Wunder, dass Rechtsradikale aller Couleur diesen Coup feierten.

Doch es war nicht die »Genialität« der Rechten, sondern die fehlende Abgrenzung der Demokraten nach rechts außen, die in Thüringen zu einer Regierungskrise und in der gesamten Bundesrepublik zu einer Orientierungs- und Vertrauenskrise führte. Vor den destruktiven Folgen dieser fehlenden Abgrenzung für die demokratische Kultur, aber auch für die CDU, wurde im Voraus vielfach gewarnt – so auch in der 1. Auflage dieses Buches und in zahlreichen begleitenden Medienbeiträgen. Es half nichts. Wieder einmal verhallten Analysen und begründete Warnungen ungehört. In der Folge geriet die politische Landschaft in Aufruhr. CDU-Bundeschefin Annegret Kramp-Karrenbauer und ihr Parteikollege, der Ostbeauftragte der Bundesregierung Christian Hirte, mussten nach dem Politchaos im kleinen Thüringen ihren Hut nehmen.

Die Entwicklungen zeigen auch die historische Kontinuität, in der relevante Kräfte aus der selbsterklärten bürgerlichen Mitte im Zweifel eher mit Rechtsradikalen kooperieren, als in einem Bündnis mit Linken die Demokratie gegen rechts außen zu verteidigen. 1929 begann in Thüringen die Machtübernahme der NSDAP durch die Kollaboration bürgerlicher Politiker mit den Nazis. Von Thüringen aus ergriffen damals die Rechten die Macht – mithilfe der »Mitte«.

Doch zurück ins Heute: Die starken zivilgesellschaftlichen Reaktionen auf die rechtsterroristischen Anschläge und den Dammbruch in Thüringen auf der Straße machen Mut. Und so gibt es begründete Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft heute stärker ist. Eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler lehnt die Zusammenarbeit mit Rechtsradikalen ab. Nach dem Dammbruch in Thüringen im Februar 2020 verlor die CDU in Umfragen 10 Prozentpunkte Zustimmung – vor allem an die Linkspartei Bodo Ramelows. Dem Politbarometer zufolge erwarten 69 Prozent der Befragten in Deutschland eine schlechtere Politik, sollte die AfD in Landesregierungen beteiligt werden.[1] Links der AfD werden Wahlen nicht durch sprachliche oder politische Annäherung nach rechts, sondern gegen rechts gewonnen. Daran muss die Zivilgesellschaft die Politik immer wieder erinnern.

 

Matthias Quent, 23. Februar 2020

Einleitung

Viele Menschen reagierten im September 2017 schockiert auf den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag. Empörung und Fassungslosigkeit begleiteten die rechtsradikalen Krawalle in Chemnitz 2018, bei denen rechte Populisten und Problembürger mit Hooligans und Neonazis gemeinsame Sache machten. Weltweit sorgte der rechtsterroristische Anschlag im neuseeländischen Christchurch, bei dem im März 2019 einundfünfzig Muslime starben, für Entsetzen. Die neue Stärke populistischer und radikaler Rechter nach den Europawahlen im Mai 2019 macht deutlich, wie groß die Gefahr von rechts ist. Die Frage, wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können, beschäftigt viele: Sicherheitsbehörden, Politiker und 86 Prozent der Deutschen sorgten sich im Frühjahr 2019 vor einer Zunahme von Rechtsradikalismus und rassistischer Gewalt.[1] Doch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit einsetzt, ist es meist schon zu spät.

So auch bei der Ermordung des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke. Der Kasseler Regierungspräsident wurde am 2. Juni 2019 aus nächster Nähe erschossen. Im Internet ergoss sich eine menschenverachtende Lawine der Genugtuung über den Tod des Politikers, der sich gegen rechts und für einen humanen Umgang mit Geflüchteten ausgesprochen hat. Der tatverdächtige Attentäter wurde seit den frühen Neunzigerjahren Jahren mehrfach wegen rassistischer Anschläge und rechter Gewalttaten verurteilt. Zum ersten Mal seit 1945 hatte der Rechtsradikalismus damit für einen amtierenden Politiker tödliche Folgen.

Die Qualität ist eine andere, aber weder die rechten Positionen noch die Gewalt ist neu. Nicht für Fachleute, nicht für mich und nicht für viele meiner Freunde aus dem Osten der Republik. Wir wurden immer wieder von Neonazis gejagt, überfallen und verprügelt, weil ihnen unsere Frisuren und unsere Kleidung oder unsere Ideen nicht passten. Rassismus und Hasskriminalität ist auch nichts Neues für viele Menschen aus Einwandererfamilien, denen ihr Migrationshintergrund anzusehen ist und die seit Jahrzehnten noch schlimmere Erfahrungen machen müssen. Sie haben nicht die Möglichkeit, sich durch Anpassung vor Alltagdiskriminierung und rechter Gewalt zu schützen.

Ich bin 1986 in der DDR geboren und habe vom SED-Regime nicht viel mitbekommen. Prägend waren Erfahrungen, die ich als Jugendlicher machen musste. Die beschauliche Thüringer Kleinstadt Arnstadt, in der ich aufgewachsen bin, rühmt sich damit, dass der Komponist Johann Sebastian Bach einige Zeit dort tätig war, und vermarktet sich als »Tor zum Thüringer Wald«. Wie in jedem anderen Ort auch gibt es in Arnstadt anständige und unanständige Menschen. Nur sind die Anständigen meist zu leise und die Unanständigen zu laut. Am 18. Januar 1993 prügelten fünf rechtsradikale Jugendliche in Arnstadt den Parkwächter Karl Sidon bewusstlos und schleiften ihn auf eine viel befahrene Straße. Mehrere Autos überfuhren den Mann. Der 45-Jährige starb. Als ich das erste Mal von Neonazis überfallen wurde, war ich gerade vierzehn geworden. Im Schulbus hielten sie mich fest und gingen mit einem Messer auf mich los, um mir meine Haare abzuschneiden. Der Bus war voll besetzt, niemand griff ein.

Die Situationen variierten – gleich blieb die ständige Bedrohung durch die Gewalt der Rechtsradikalen und die Ignoranz der Öffentlichkeit. Sogar auf dem morgendlichen Schulweg wurden meine Freunde und ich von Nazis überfallen und mit Stahlstangen und Pflastersteinen verletzt. Am Bahnhof stießen sie mich auf die Gleise, im Zug nach Erfurt zündeten sie meinen Rucksack an. Freunde wurden mit Autos angefahren, einem der Kiefer zertrümmert und einer Bekannten Teile des Ohres abgerissen. Zum Glück musste ich nie Schlimmeres als eine gebrochene Nase erleiden.

Neonazis patrouillierten am Wochenende in Autos und verprügelten Menschen, die nicht in ihre ideologischen Vorstellungen passten. Anwesende sahen meist weg – ob aus Angst oder heimlicher Sympathie, weiß ich nicht. Die Polizei kam häufig gar nicht erst, nur einmal wurde ein rechter Gewalttäter verurteilt. Die anhaltende Normalität des rechten Alltagsterrors bewegte viele zum Wegzug. Ich blieb in Ostdeutschland, studierte Soziologie und wurde schließlich öffentlicher Rechtsextremismusforscher, doch ich verstehe jeden, der dieses Klima der Angst hinter sich ließ. Andere politisierten und wehrten sich, einige radikalisierten sich. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann erschüttert es mich sehr, wie normal es damals war, dass Sechzehnjährige mit Springmesser und Gaspistole ausgingen, um sich vor Nazis zu schützen. Leider hat sich an dieser prekären Situation mancherorts bis heute nicht viel geändert.

Das waren und sind keine Einzelfälle, sondern systematische Raumkämpfe, die so ähnlich überall in Ostdeutschland vorkamen und noch immer vorkommen. Und dabei waren die Nullerjahre schon viel friedlicher als das vorherige Jahrzehnt, in dem Rechtsradikale überall im Land Menschen überfielen, verletzten und sogar totschlugen. Wenn ich heute in Gesprächen mit Westdeutschen von meinen Erfahrungen berichte, erlebe ich bei den meisten Fassungslosigkeit, Unkenntnis und Wut. Bei einem Vortrag vor westdeutschen Gewerkschaftern schilderte ich am Rande die Erlebnisse in meiner Jugend; eine Teilnehmerin brach dabei in Tränen aus. Erst da verstand ich richtig, dass es in einer Demokratie nicht normal ist, ständig auf der Hut vor rechten Angriffen sein zu müssen. Wer den Rechtsradikalismus verstehen will, muss seine Nähe zur Gewalt – sei sie in offener Aggression oder in drohender Manier – einbeziehen. Und wer das, was derzeit in unserer Gesellschaft geschieht, verstehen will, muss die Kontinuität des Rechtsradikalismus berücksichtigen.

Auch der Rechtspopulismus ist für mich nicht neu. Der jahrelange Bürgermeister meiner Heimatstadt Arnstadt, Hans-Christian Köllmer (Wählergemeinschaft Pro Arnstadt), sympathisierte mit der rechtsradikalen Kleinstpartei Pro Deutschland. Während die EU-Staaten im Jahr 2000 die österreichische Bundesregierung unter dem Pionier der europäischen Rechtspopulisten, Jörg Haider, boykottierten, traf sich »mein« Bürgermeister öffentlichkeitswirksam mit Haider. Nachdem 2002 ein Amokläufer am Erfurter Gutenberg-Gymnasium fünfzehn Menschen erschoss, stellte Köllmer mit einem Aufkleber auf seinem Dienstwagen klar: »Ich bin die Waffenlobby.« Er erklärte eine CDU-Politikerin mit einem Plakat zur »unerwünschten Person«, setzte Proteste gegen rechts mit der Verfolgung der Juden im Dritten Reich gleich und wehrte sich gegen den Vorwurf, er sei ein »kleiner Nazi«, mit der Reaktion: »Im Nazi ist mir zu viel Sozialismus drin.« Das alles geschah vor der AfD.

In den vergangenen dreißig Jahren haben die Zivilgesellschaft und die demokratische Kultur in Ostdeutschland erhebliche Fortschritte gemacht, nicht zuletzt in der Abwehr der permanenten rechten Gefahr. Heute ist die vollbrachte historische Aufholleistung zum Westen riesig – nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft, sondern gerade auch hinsichtlich der politischen Kultur. Trotz des hohen gewaltsamen und politischen Drucks von rechts außen. Was die Rechtsradikalen nicht bedenken: Ihre Angriffe und Überfälle mobilisieren nicht nur Angst und Resignation, sondern auch Empörung und Gegenwehr. Viele Ostdeutsche meiner Generation teilen die Gewalterfahrungen aus eigenen Erlebnissen oder aus ihrem Umfeld. Aus der Betroffenheit erwächst Widerstand, der den Rechtsradikalismus und seine Wurzeln meist gezielt, intelligent und wirkungsvoll angeht. Wir konnten es uns nie leisten, neutral und gleichgültig gegenüber Rechtsradikalen zu sein. Ignoranz war – und ist – potenziell lebensgefährlich.

Überall treffe ich Menschen, die Erfahrungen mit dem Hass von rechts außen machen mussten und daraus Widerstandskraft entwickelt haben. Ich denke, wer lernen musste, stets auf der Hut vor rassistischen oder rechtsradikalen Angriffen zu sein, entwickelt eine besondere Sensibilität gegenüber den Gefahren von rechts außen. Dieser »andere« Osten braucht und verdient Solidarität, keine Vorurteile. Die rechten Angriffe auf die Demokratie hinterlassen in den neuen Bundesländern besonders starke Spuren, nicht zuletzt, weil die Zivilgesellschaft schwächer ist. Aber sie ist da, und sie ist wehrhaft. Ich bin überzeugt davon, dass die bundesdeutsche Gesellschaft von den Erfahrungen und der Expertise lernen kann, die viele Ostdeutsche – und auch viele Menschen aus Einwandererfamilien – unfreiwillig mit radikal Rechten machen mussten. Und oft kommen radikal rechte Angriffe aus dem Milieu der sogenannten Mitte der Gesellschaft.

Schon als 2011 bekannt wurde, dass mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ein rechtsterroristisches Netzwerk für Anschläge, Überfälle und den Tod von zehn Menschen verantwortlich war, fragte sich die Öffentlichkeit empört, warum scheinbar niemand das Treiben der Rechten erkannt und gestoppt hat. Die Neonazis kamen aus Jena – der Stadt, in der ich heute lebe und arbeite. Sie wohnten im sächsischen Zwickau und Chemnitz – Orte, die immer wieder wegen rechtsradikaler Vorfälle in die Schlagzeilen geraten. Um zu erforschen und die Gesellschaft darüber zu informieren, wie die Rechtsradikalen vorgehen, wie Diskriminierung wirkt und was die Ursachen dieser Bedrohungen für das Zusammenleben sind, fördert die Thüringer Landesregierung seit 2016 das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena (IDZ). In Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung, die sich seit über zwanzig Jahren gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus einsetzt, leite ich die Einrichtung. Als Thinktank der Zivilgesellschaft wollen wir verstehen, wo undemokratische und menschenfeindliche Tendenzen der Gesellschaft herkommen, was wir gegen Rassismus und für die Werte des Grundgesetzes tun können. Mit zehn anderen Forschungseinrichtungen in Deutschland untersuchen wir am IDZ als Teil des »Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt« zentrale Fragen des Zusammenlebens einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft, etwa: Wie werden wir künftig zusammenleben? Oder: Wie können wir aktuelle und kommende Herausforderungen bewältigen? Wir Forschende suchen dabei den Dialog mit Menschen, die andere Lebensrealitäten haben. Davon profitieren die Wissenschaft, die gesellschaftlich relevant sein will, und die Gesellschaft, die mit steigender Komplexität immer stärker auf Fakten angewiesen ist. Die Öffnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Debatten für die Zivilgesellschaft ist dringend nötig, um Diskussionen zu versachlichen, Zusammenhänge zu beleuchten und akademische Diskussionen stärker mit der gesellschaftlichen Realität zu verknüpfen.

Nicht die Rechtsradikalen sind am Zug, sondern wir Demokraten. Ich beobachte fatale Tendenzen der Resignation angesichts der empfundenen Ohnmacht gegenüber der neuen (Laut-)Stärke eines alten politischen Feindes der Demokratie, der spätestens nach den gewaltsamen Ausschreitungen in Chemnitz im August 2018 keine Tabus mehr zu kennen scheint. Immer wieder begegnen mir engagierte Menschen, die wegen des steigenden Drucks von rechts das Handtuch werfen. Aber ist wirklich alles schlimmer geworden? Oder ist nur sichtbar geworden, was einige schon lange erfahren mussten, aber die politisch interessierte Öffentlichkeit lange ignoriert hat?

Mit Rechtsradikalismus beschäftigen sich die meisten erst, wenn er sein Unheil längst angerichtet hat. Der Terrorismus des NSU, das Erstarken von Pegida und die hohen Wahlergebnisse der AfD, die Ausschreitungen in Chemnitz, der Anschlag auf Muslime im neuseeländischen Christchurch und die Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke – all diese Ereignisse rütteln die Öffentlichkeit auf und haben mehr miteinander und mit unserer Gesellschaft zu tun, als viele von uns immer noch denken. Die radikalen und populistischen Rechten waren aber schon immer da: auf der Straße und in den Parlamenten. 2019 kann niemand mehr die Bedrohung der Demokratie durch die populistische und radikale Rechte leugnen, und sie hat mehr mit den Nationalsozialisten gemeinsam, als wir oberflächlich sehen. Aber was genau steht dahinter? Wie greifen Rechtsaußen-Bewegungen und -Parteien nach der Macht? Dieses Buch legt die Ideologien, Ursachen und Zusammenhänge hinter den Ereignissen offen und zeigt Wege auf, wie wir die radikale Rechte stoppen können. Das ist so nötig wie möglich: Noch nie war die Gefahr für die offene Gesellschaft so groß wie heute, doch gleichzeitig – was im ersten Moment paradox erscheinen mag – sind die Voraussetzungen für den Erfolg der offenen Gesellschaft besser denn je. Ich möchte in diesem Buch auch Entwicklungen zeigen, die Hoffnung machen, denn die ist dringend nötig in Zeiten, in denen wir von Angstmache, Krisenszenarien und alarmistischen Schlagzeilen verfolgt werden.

Der Soziologe Max Weber definierte Macht als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«. Das bedeutet für die Frage, wie die Rechten an die Macht kommen: Es geht darum zu verstehen, mit welchen Mechanismen und Ideologien sie versuchen, ihre Vorstellungen auch gegen großen Widerstand aus der Gesellschaft durchzusetzen. Aus ihren Plänen nach einer Machtergreifung macht die radikale Rechte keinen Hehl. So will Uwe Junge, Vorsitzender der AfD in Rheinland-Pfalz, eines Tages die Befürworter der Willkommenskultur »zur Rechenschaft ziehen«. Thüringens AfD-Chef Björn Höcke kündigt an, den Islam »am Bosporus« bekämpfen zu wollen, wenn »wir die Macht bekommen«. Bayerische AfD-Anhänger drohten der CSU-Frauenunion: »Wenn wir regieren, werdet ihr alle eingesperrt.« Für Petr Bystron, einen Bundestagsabgeordneten der AfD, sind politische Gegner »Linksextremisten«, mit denen »Schluss« ist, »wenn wir an die Macht kommen«. Dann will er polizeiliche Informationen über Gegendemonstranten nutzen, um politische Gegner zu verfolgen. Die totalitären Vorsätze offenbaren das wahre Gesicht der AfD. Die Partei hat sich immer mehr zu einer antidemokratischen Partei entwickelt und schreckt mittlerweile auch nicht mehr vor der offenen Zusammenarbeit mit Neonazis, rechten Hooligans und Gewalttätern zurück. Und die Fäuste werden nicht nur verbal geschwungen: Immer wieder greifen Rechtsradikale ihre vermeintlichen Gegner, Journalistinnen und Menschen aus Einwandererfamilien auch körperlich an. Wer sich gegen Rechtsradikalismus ausspricht, bekommt Hausbesuche und Morddrohungen; Denunziation, Bedrohungen und Einschüchterungen gehören zum Handwerkszeug, um Privilegien zu bewahren und eigene Ziele entgegen den verfassungsrechtlichen Normen und Werten der Mehrheit durchzusetzen – eine historische Gefahr für die liberale Demokratie.

Um zu analysieren, wie die Rechten arbeiten und wie Demokraten ihre Pläne durchkreuzen können, habe ich Hunderte Dokumente, Studien und Quellen analysiert und zahllose Hintergrundgespräche geführt – mit zivilgesellschaftlich Engagierten, Betroffenen von Diskriminierung, Rassismus und Gewalt, mit Polizistinnen, Politikern, Journalistinnen, Experten, Wissenschaftlerinnen und Teilnehmenden an rechtsradikalen Protesten. Ihnen allen danke ich für die Einblicke und Perspektiven. Ich danke meinen Kolleginnen, meiner Familie und meinen Lektorinnen für die grandiose Unterstützung und kritischen Anmerkungen bei der Arbeit an diesem Buch. Besonders dankbar bin ich für die Expertise vieler Kolleginnen, Journalisten und Aktivistinnen, die sich die Mühe machen, Reden, Online-Kommunikation, Programme und Schriften rechtsradikaler Protagonisten detailliert zu analysieren und kritisch einzuordnen, sodass es nicht nötig ist, mit rechten Kadern reden zu müssen, um zu verstehen, was sie wollen und wie sie arbeiten. Auch weil zwischen dem, was Rechtsradikale öffentlich sagen, und dem, was sie in geschützten Räumen und in ihren Strategiepapieren von sich geben, häufig eine große Lücke klafft. Oft täuschen sie über ihre finalen Absichten hinweg, um in größere Teile der Bevölkerung einsickern zu können. Ein notwendiger Zwischenschritt zur politischen Machtergreifung ist die Verschiebung des öffentlichen Diskurses nach rechts. Der Rechtsradikalismus will zunächst seine Machtbasis in der politischen Kultur ausbauen, um dann einen politischen Umsturz anzuzetteln. Sein Ziel ist es, die Öffentlichkeit wieder an antisemitische, rassistische, nationalistische und rückwärtsgewandte Töne zu gewöhnen. Dafür ist es egal, wie faktenfrei und unsinnig die Behauptungen sind. Durch Provokationen und ständige Wiederholungen werden Ängste, Vorurteile und Umsturzfantasien geschürt. Zu diesem Zweck täuschen und lügen Rechtsradikale, sie passen sich taktisch an und normalisieren mit gezielten Tabubrüchen rechtsradikale Ideologie. Davon sollten wir uns nicht in die Irre führen lassen.

Wir müssen die Stärken und Schwächen der radikalen Rechten kennen, ihre Strategien und die Mechanismen der Mobilisierung. Wenn wir nicht mehr auf ihr Kalkül hereinfallen und dem rückwärtsgewandten Hass optimistische Solidarität entgegenstellen, dann können wir sie stoppen.

Lektionen aus Chemnitz

»Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!«

»Festung Europa – Macht die Grenzen dicht!«

»Merkel muss weg!«

»Nationaler Sozialismus: jetzt, jetzt, jetzt!«

»Widerstand!«

»Wir sind die Fans – Adolf Hitler Hooligans!«

 

All diese Parolen hallen an einem Montagabend im Sommer 2018 durch Chemnitz. In diesen Stunden explodiert eine Mischung, die lange gären konnte. Was in den kommenden Tagen geschieht, ist ein Lehrstück für Angstmache, Mobilisierung und Radikalisierung: An Chemnitz werden zentrale Rechtsaußen-Strategien im öffentlichen Raum sichtbar.

Aber der Reihe nach: In der Nacht zum 26. August 2018 kommt es am Rande des Stadtfests nach einer Auseinandersetzung zu einer Messerstecherei. Daniel H., ein 35-jähriger Mann mit einem kubanischen Vater und einer deutschen Mutter, stirbt. Tatverdächtig sind zwei Asylsuchende. Mehr weiß man zu diesem Zeitpunkt nicht.

Etwa 6000 Menschen folgen am nächsten Tag einem Aufruf von Pro Chemnitz, einer rechtsradikalen Regionalpartei, die sich als »Bürgerbewegung« tarnt. Teilnehmende attackieren Gegendemonstranten und Journalisten, sie bepöbeln Menschen mit dunklerer Haut und Polizeibeamte. Neonazis, Hooligans, Identitäre und AfD-Politiker aus dem gesamten Bundesgebiet kommen nach Chemnitz, um ein Fanal zu setzen. Auch rechtsradikale Kampfsportler sind unter den Demonstranten. Rechtsradikalismus ist in der Region seit Jahrzehnten fest verankert. Binnen weniger Stunden können die rechtsradikalen Netzwerke Hunderte Unterstützer mobilisieren. Die organisierten Gruppen marschieren Seit an Seit mit sächsischen Bürgern, die sich entschieden verwehren, in die rechte Ecke gestellt zu werden. »Wir sind keine Nazis, aber …« – aber was dann? Sie stehlen sich gegenüber der Gesellschaft und der Geschichte aus der Verantwortung für ihr Handeln. Es ist sehr leicht, immer anderen die Schuld zu geben und sich als Opfer darzustellen. Mit Courage hat das aber nichts zu tun, und es ist wichtig, die wirklichkeitsfremde Selbstdarstellung der Rechten zu entschleiern.

Noch bevor Hintergründe über den Todesfall bekannt sind, schafft die rechtsradikale Bewegung Tatsachen. Die Rechtsradikalen koordinieren sich über öffentliche und konspirative Kanäle im Internet – Neonazis aus verschiedenen Bundesländern kündigen ihr Erscheinen an. Im Netz schüren die Rechtsradikalen mit Fake News Angst: Die Ausschreitungen von Chemnitz, so der Tenor, seien »Notwehr eines geschundenen und zum Aussterben verurteilten Volks«. In der Messerstecherei sehen sie den Beweis für die »Vernichtung der Deutschen per Migrationswaffe«.

Mit der geballten Rechtsaußen-Mobilisierung ist die Polizei überfordert. Den 6000 Demonstranten stehen nur 600 Beamte gegenüber. Etwa 1500 Menschen demonstrieren gegen die Instrumentalisierung des Todesfalls. Ohne die vielen antifaschistischen Aktivisten, die vor allem aus Leipzig und Dresden anreisen, wäre der demonstrative Schutz des Grundgesetzes in Chemnitz noch schwächer. Doch Gegendemonstranten, Polizisten, Menschen aus Einwandererfamilien und Journalistinnen werden von Rechtsradikalen attackiert, und abseits der Öffentlichkeit eskaliert am Abend erneut die Gewalt: Etwa ein Dutzend Vermummte attackieren das jüdische Restaurant »Schalom« mit Steinen, Flaschen und einem Stahlrohr. Der Eigentümer wird verletzt, das Gebäude beschädigt. Der antisemitische Anschlag in SA-Manier macht international Schlagzeilen.

Dann bemüht sich die AfD um den Thüringer Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke, die Rechtsaußen-Proteste hinter sich zu vereinen. Am folgenden Wochenende mobilisieren Spitzenfunktionäre von AfD und Pegida zu einer als »Trauermarsch« betitelten Demonstration. Erneut kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Die Demonstration der AfD vereinigt sich mit einem Protestzug von Pro Chemnitz – man zeigt Geschlossenheit. Der Schulterschluss zwischen rechten Hooligans, Nazikameradschaften, trainierten »Sportgruppen«, offen nationalsozialistischen Kleinstparteien wie Der Dritte Weg und dem reaktionären Bürgertum, das in der AfD ein politisches Zuhause gefunden hat, ist brisant. Hinter Höcke reihen sich Neonazis, Rechtsradikale diverser Gruppen und neurechte Kader wie Götz Kubitschek ein: Die von den Rechtsaußen um Höcke schon länger geplante »fundamentaloppositionelle Bewegungspartei« offenbart ihre Integrationskraft vom äußersten rechten Rand bis in die Stadtgesellschaft.

In seinem Buch Nie zweimal in denselben Fluss beschreibt Höcke die Strategie: Dem Rechtsradikalen in Nadelstreifen geht es darum, »die ›rohen‹ Formen der Bürgerproteste geistig zu veredeln«.[1] Erklärtes Ziel ist es, die mobilisierbare Masse – die insbesondere aus reisewilligen Rechtsradikalen und Neonazis besteht – in eine langfristige Gesamtstrategie zu integrieren. Der Schulterschluss von Chemnitz zeigt wie unter dem Mikroskop die Gefahren der Machtergreifungsstrategien von rechts außen. Bereits Monate zuvor demonstrierten im pfälzischen Kandel bis zu 4000 Menschen bei rechtsradikalen Demonstrationen. Auch dort marschierten Neonazis, Identitäre und AfD-Politiker gemeinsam. Wer denkt, Rechtsradikalismus sei nur ein ostdeutsches Problem, täuscht sich. Im Osten der Republik schlagen sie lediglich besonders brachial zu, aber auch den Rest der Republik verschonen sie nicht. Allerdings wird der Rechtsradikalismus im Westen häufig ignoriert.

Nach den Ereignissen in Chemnitz wurde die Öffentlichkeit vor allem durch den damaligen Verfassungsschutz-Chef Georg Maaßen in eine irreführende Diskussion darüber verwickelt, ab wie vielen Metern rassistischer Verfolgung man von einer »Hetzjagd« sprechen könne – anstatt über die Ursachen rassistischer Aggressionen zu sprechen und nach Antworten auf die gefährliche Verankerung des rechtsradikalen Gewaltmilieus zu suchen. Voraus ging der Diskussion ein Video aus Chemnitz, in dem eine Frau ihren Mann mit den Worten »Hase, du bleibst hier« davon abhält, sich an der Jagd auf Menschen aus Einwandererfamilien zu beteiligen. Wie zuvor schon in Dresden, Heidenau und Freital radikalisierten sich einige der flüchtlingsfeindlichen Protestierenden schnell bis in die organisierte Gewalt: Die kurz nach den Ausschreitungen aufgeflogene Bürgerwehr Revolution Chemnitz steht unter Verdacht, rechtsterroristische Anschläge vorbereitet zu haben. Und wie fest die Chemnitzer Fußballfanszene im Griff von Rechtsradikalen ist, zeigte sich erneut, als im März 2019 während eines Spiels des Chemnitzer FC viele Fans und Teile des Vereins eines verstorbenen neonazistischen Hooligans gedachten.

#wirsindmehr – aber nicht überall

Interventionen überregionaler Akteure und Medien sind hilfreich, um die schweigende Masse zu stärken und sichtbar zu machen, die den Rechtsradikalismus entschieden ablehnt. Diese Masse gibt es auch in Chemnitz: An der Technischen Universität studieren mehr als 11 000 Menschen – darunter etwa 3000 ausländische Studierende. Die Stadt ist bekannt für ihre alternative Kulturszene. Viele Menschen engagieren sich für Geflüchtete, Demokratie und gegen Rechtsradikalismus. Besonders beeindruckend war das Protestkonzert unter dem Motto #wirsindmehr, zu dem nur eine Woche nach den rassistischen Ausschreitungen 65 000 Menschen in Chemnitz zusammenkamen. Organisiert wurde das Konzert von der Chemnitzer Band Kraftklub, unterstützt vom örtlichen Stadtmarketing und bekannten Künstlern wie den Toten Hosen, Feine Sahne Fischfilet und Caspar.

Kritische Stimmen, etwa der sächsische Jugendarbeiter Tobias Burdukat, wenden ein, dass die Nichtrechten im Alltag in ländlichen Regionen keineswegs mehr sind. Er beobachtet: Gerade aus den ländlichen Regionen in Sachsen ziehen viele weg, die für eine weltoffene Gesellschaft stehen. Weil es ihnen dort zu eng wird und sie es nicht mehr aushalten, können sich die Neonazis immer ungehinderter ausbreiten.[2] Die Beobachtung stimmt, und sie macht deutlich: Um die Normalisierung der Menschenfeindlichkeit zu beenden, ist entschlossene Gegenwehr gefragter denn je. Der Rechtsstaat muss seine Möglichkeiten besser ausschöpfen, um der radikalen Rechten im Alltag auf die Pelle zu rücken. Nötig ist unter anderem mehr Geld für nichtrechte Jugend- und Kulturarbeit im ländlichen Raum, um den radikalen Rechten die Rolle der vermeintlichen Kümmerer streitig zu machen. Und die Zivilgesellschaft muss den Druck erhöhen.

Mobilisierung des Hasses

Die radikale Rechte weiß um die Macht von Bildern und die öffentliche Deutung kritischer Ereignisse. Nicht nur was gesagt wird und was nicht, prägt die Botschaft, sondern auch, welche Worte dabei verwendet werden, also wie etwas gesagt wird. Noch stärker als Worte lösen Bilder und Videos Gefühle aus. Längst geht es bei vielen politischen Aktionen deshalb vor allem darum, Bilder und Inhalte für den »Informationskrieg« im Netz und in den Medien zu produzieren. Die von Rechtsradikalen verbreiteten Aufnahmen aus Chemnitz werden als Beweis verbreitet, dass sich »das Volk« nun angeblich erhebe. Jeder, der mitläuft, unterstützt die Inszenierung – ob gewollt oder nicht. Am Abend des #wirsindmehr-Konzerts riefen Rechtsradikale dazu auf, linke Demonstranten am Gedenkort für den ermordeten Daniel H. zu gewaltsamen Ausschreitungen zu provozieren. Bilder davon wollte man nutzen, um die #wirsindmehr-Veranstaltung als »linksextrem« zu denunzieren. Doch der Plan ging nicht auf, weil die Nazigegner die Provokationen ins Leere liefen ließen – und die rechtsradikalen Unruhestifter rechts liegen blieben.

Oft genug funktioniert die Taktik jedoch. Mit aufstachelnden Aktionen bündeln Rechtsradikale Betroffenheit, Verunsicherung, Stereotype und Zukunftsangst und rufen Handlungsdruck in ihrem Sinne hervor. In Chemnitz hat der tragische Tod eines jungen Mannes als Rechtfertigung hergehalten, um willkürlich Menschen aus Einwandererfamilien zu jagen und anzugreifen. Das hat weder etwas mit Trauer noch mit Selbstjustiz im Sinne von Gerechtigkeit zu tun. Rechtsradikale suchen und finden immer auslösende Ereignisse, mit denen sie Menschen aufstacheln, Gewalt rechtfertigen und den Hass auf die Straßen bringen. Ihr Ziel ist, vorhandene Spannungen zu polarisieren und zu steigern, bis es zum Ausbruch kommt. Ein zentraler Mechanismus ist es, Menschen aus Einwandererfamilien generell zu einer gefährlichen Bedrohung zu erklären. Ob Straftäter deutscher oder nichtdeutscher Abstammung sind, ist in der Öffentlichkeit zu einer relevanten Frage geworden. Diese Ethnisierung von Konflikten ist ein folgenschwerer Triumph der radikalen Rechten. Menschen aus Einwandererfamilien stehen damit unter Generalverdacht, und Integrationsbemühungen und -erfolge werden planmäßig torpediert.

Der Mechanismus dahinter ist die Aufhebung des Unterschieds zwischen Individuum und Gruppe. Die Aufhebung der Individualität negiert nicht nur Einzelfall und Pluralität, sondern auch die individuellen Menschenrechte: »Du bist nichts, dein Volk ist alles« – dieser Slogan des Volksgemeinschaftswahns soll wieder entscheidend werden. Es geht einerseits um den Ausschluss der als »die Anderen« Markierten und andererseits um eine neue »Wir«-Integration nach ethnisch-kulturellen Merkmalen. Letztendlich ist es das Ziel der radikalen Rechten, den verhassten Liberalismus abzuschaffen und individuelle Freiheiten kollektiven Zwängen unterzuordnen. Mit Liberalismus ist im ideengeschichtlichen Verständnis eine aufgeklärte, offene, freiheitliche und fortschrittliche Demokratie gemeint – nicht der marktgläubige Wirtschaftsliberalismus.

Aus Sicht der radikalen Rechten steigt die Notwendigkeit, die eigenen Reihen fest zu schließen, je bedrohlicher und bösartiger »die Anderen« beschrieben werden. Was das bedeutet, wissen viele Menschen, die die radikale Rechte zum Abschuss freigegeben hat: Ausgrenzung, Angst, Gewalt und Sich-verstellen-und-verstecken-Müssen.

Rechtsaußen-Hardliner wollen einen Bürgerkrieg (»Rassenkrieg«) zwischen Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte auslösen. Ihr Ziel ist die ethnisch und kulturell homogene Volksgemeinschaft. Die Rhetorik der kriegerischen Entmenschlichung bereitet derartigen Vorstellungen den Weg: Menschen auf der Flucht werden »Invasoren« oder »Messermigranten« genannt. Die Äußerungen verletzen die Würde dieser Menschen und behaupten eine verallgemeinerte Gefahr durch Einwanderer. Sie werden pauschal als Bedrohung dargestellt. Nach dieser Sichtweise stehen Ausländer- und Flüchtlingsfeinde dann nicht mehr als antidemokratische Aggressoren da. Vielmehr können sie sich als patriotische Beschützer und Verteidiger gerieren, die das Land vor einer drohenden Katastrophe bewahren. Für diese pauschalisierende Schuldumkehr greift die radikale Rechte auch auf Falschdarstellungen und Lügen zurück. Rechtsradikale Gewalttäter weltweit nutzen dieselbe Sprache, um ihren Hass zu rechtfertigen – etwa der Massenmörder Brenton Tarrant, der am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch einundfünfzig Muslime tötete: 65 Mal tauchen in dessen »Manifest« die Begriffe »Invasion« beziehungsweise »Invasoren« auf, mit denen er seine Opfer entmenschlichte.

Angstmache statt Politik

Laut der AfD-Bundestagsfraktionschefin Alice Weidel habe sich die Sicherheitslage in Deutschland durch Geflüchtete »dramatisch verschärft« – obwohl in Wirklichkeit die schwere Gewaltkriminalität in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten massiv zurückgegangen ist. Eine Untersuchung des Kriminologen Thomas Feltes aus Bochum zeigt: Die subjektive Angst vor Kriminalität ist 65 Mal so hoch wie die reale Gefahr, zum Opfer von Kriminalität zu werden.[3] Der Medienforscher Thomas Hestermann stellt fest: Die Berichterstattung im deutschen Fernsehen und in Zeitungen hat nach den sexualisierten Übergriffen in der Silvesternacht 2015 in Köln »den gewalttätigen Einwanderer als Angstfigur neu entdeckt«. Die Zahl registrierter Straftaten ist 2017 in Deutschland so stark zurückgegangen wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Trotzdem ist die Angstmache ein erfolgreiches Mobilisierungsmittel. Demagogen nutzen angebliche oder tatsächliche sexuelle Übergriffe und Gewalttaten, um das falsche und pauschalisierende Bild sexuell übergriffiger Fremder und schützender deutscher Männer zu konstruieren. Im Netz werden solche Darstellungen und behauptete Übergriffe dann zehntausendfach geteilt. In den Beiträgen wird ohne jede Differenzierung einerseits die Feindgruppe stigmatisiert und andererseits die Eigengruppe vom Stigma des Sexismus reingewaschen: »Die anderen sind das Problem!«

Die radikale Rechte stellt den liberalen Staat als gescheitert und zu schwach dar, um die Bevölkerung zu schützen. Dem Drohszenario von außen und der Schwäche von oben wird die Wehrhaftigkeit und Selbstermächtigung von rechts außen entgegengesetzt. Es werden aber nicht nur Ängste geschürt, sondern die vermeintlichen Lösungen gleich mit angeboten: Die Deutschen sollten entschlossener und »männlicher« sein, um sich zu wehren. Alte Ideale soldatischer Männlichkeit werden angerufen. Die behauptete große Gefahr, die von Geflüchteten und Einwanderung generell ausgehe, erfordere demnach sofortige Gegenmaßnahmen, die ihren Ausdruck in den massenhaften »Widerstand«-Parolen in Chemnitz, Kandel, Berlin, Dortmund und Dresden finden: Widerstand gegen angeblich gefährliche Veränderungen.

Von Widerstand zu sprechen – und eben nicht von Angriff – ist ein rhetorischer Trick. Denn Gewalt wird von den meisten Menschen abgelehnt, wenn der Gewalttäter als Aggressor erscheint. Wenn es jedoch gelingt, Aggressionen als Widerstand, Verteidigung oder Notwehr gegen angebliche Bedrohungen darzustellen, wächst das Verständnis: Wenn also Geflüchtete als »Invasoren« gesehen werden, die das Ziel verfolgen, das deutsche Volk »auszutauschen«, dann sind die Mittel, die gegen sie eingesetzt werden, keine aggressiven Handlungen mehr und weniger tabuisiert. Dieser Logik der Rechtfertigung folgend, erklärte der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland die Krawalle in Chemnitz zur »Selbstverteidigung«[4]. Aus unpolitischen Taten von Einzelnen werden ethnisch-kulturelle Großkonflikte geschürt. Der Versuch, durch Täter-Opfer-Umkehr Diskriminierung und Gewalt zu rechtfertigen, ist ein zentraler Schachzug der Rechtsradikalen – nicht erst seit den Ausschreitungen in Chemnitz. Gewalttäter und Terroristen radikalisieren diese Täter-Opfer-Umkehr. Dabei ist es egal, wie konstruiert diese Rechtfertigungsversuche sind. Der Rechtsterrorist, der in Neuseeland einundfünfzig Muslime tötete, inszenierte seine Taten als Vergeltungsreaktion auf islamistische Gewalttaten in Europa – fast 20 000 Kilometer entfernt! Und trotzdem glauben viele diese Umdeutung der tödlichen Aggression und verbreiten im Internet die Propaganda des Terroristen weiter.

Propaganda bis zur Eskalation

Die Täter-Opfer-Umkehr hat eine lange Tradition. »Die Juden sind unser Unglück« – der nationalsozialistische Propaganda-Apparat wurde von den Ursprüngen bis zum Untergang des Naziregimes nicht müde, die Schuld und Verantwortung für die schlimmsten Gräueltaten den Opfern zuzuschreiben. Der deutsche Überfall auf Polen, mit dem 1939 der Zweite Weltkrieg begann, wurde mit einem von der SS fingierten, angeblich polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz begründet. Hitler gab die Strategie vor: »Die Auslösung des Konfliktes wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht.« Noch im politischen Testament, das Hitler am Vortag seines Suizides verfasste, behauptete er, es sei eine Lüge, »dass ich oder irgendjemand anderer in Deutschland den Krieg im Jahre 1939 gewollt habe«. »Ausschließlich«, so Hitler, »internationale Staatsmänner, die entweder jüdischer Herkunft waren oder für jüdische Interessen arbeiteten«, hätten den Krieg gewollt. Schuld sind für die Rechtsradikalen immer ihre Opfer.

Die Nationalsozialisten rechtfertigten ihre Expansions-, Vernichtungs- und Unterdrückungspolitik als angeblich notwendige Verteidigung gegen die behauptete Bedrohung durch Juden. Für alle möglichen angeblichen Gefahren machten die Nazis sie verantwortlich, zum Beispiel für »Überfremdung«, Zukunftsangst, Materialismus, Demokratie, Liberalismus, Dekadenz, Marxismus und Kapitalismus. Die krude Universalerklärung einer liberal-marxistisch-jüdischen Verschwörung, gegen die sich das deutsche Volk wehren müsse, verfing in der Bevölkerung. Viele Deutsche ließen sich ideologisieren und folgten den Nazi-Anführern in Vernichtung, Zerstörung und Tod. Nicht wenige sahen sich selbst als Patrioten, als Verteidiger des Vaterlands vor der von den Nazis konstruierten Bedrohung. Auch wirtschaftspolitisch war die Angstpolitik erfolgreich. Die kriegswichtige Rüstungsindustrie und die Ausbeutung Hunderttausender Zwangsarbeiter schafften nach wirtschaftlichen Krisenzeiten und Abstiegssorgen Arbeitsplätze und Wohlstand.

Der Historiker Eric J. Hobsbawm deutet die Ursprünge der radikalen Rechten, die zu den europäischen Faschismen des 20. Jahrhunderts führten, als Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse im späten 19. Jahrhundert: erstens als Reaktion gegen die immer schnellere Transformation von Gesellschaften durch den Kapitalismus, zweitens als Reaktion gegen die aufstrebende sozialistische Arbeiterbewegung und drittens als Reaktion gegen die damaligen Migrationsbewegungen.[5] In historischer Perspektive war der deutsche Nationalsozialismus ein monströser Gegenschlag auf dem Weg der Durchsetzung der liberaldemokratischen Grundlagen unseres heutigen Zusammenlebens. Verantwortlich für den katastrophalen Gegenschlag sind aber nicht die demokratischen Fortschritte in der Weimarer Republik, sondern die Schwäche der demokratischen Kultur in der Zivilgesellschaft und die fehlende Wehrhaftigkeit der Republik gegen das zerstörerische Treiben in ihrem Inneren. Schuld am Nationalsozialismus waren die völkischen Wegbereiter, die Nazifunktionäre und die mehr als zwanzig Millionen Deutsche, die bei der Reichstagswahl 1933 für Antidemokraten stimmten. Deren Wahlkampf wurde mit Millionenhilfen aus der Industrie unterstützt. Die Nazis profitierten von der Weltwirtschaftskrise, indem sie die existenzielle Bedrohung und Verunsicherung der Menschen politisierten und mobilisierten. All das ist bekannt.

Wenn ich historische Auszüge und Beispiele heranziehe, die aus dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus oder jener Bewegungen stammen, die ihm den Weg bereiteten, dann in zweierlei Absicht: Vor allem geht es darum, hintergründige Mechanismen und Kontinuitäten aufzuzeigen. Außerdem soll daran erinnert werden, zu welch katastrophalen Folgen es führen kann, wenn die Abwertung von Menschengruppen, die Verachtung des Parlamentarismus, Verschwörungstheorien und die Lust am Untergang der liberalen Demokratie geduldet werden. Historische Gegenüberstellungen implizieren nicht, dass die neuen Politiker von rechts außen und deren Wählerschaft es automatisch und vor allem auf Krieg, Deportation und Massenvernichtung absehen. Aber was kommt in zehn oder zwanzig Jahren? Was, wenn massenhaft Verhetzte keinen demokratischen Weg mehr sehen?