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WENN DER KRAMPUS ZWEIMAL KLINGELT

 

 

11 Weihnachtskrimis

aus der Oberpfalz

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Oktober 2019)

 

© 2019 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © stgrafix/stock.adobe.com

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0106-0

 

Inhalt

Hilde Artmeier – Alle Jahre wieder

Fabian Borkner – Ein warmer Winter

Wolfgang Burger – Nie wieder Glühwein

Markéta Čekanová – Ein Fall von lauter Großvätern

Horst Eckert – Ex und hopp

Lotte Kinskofer – Gefallener Engel

Tessa Korber – Sein Mädchen

Raimund A. Mader – Eckbert

Sonja Silberhorn – Der blauäugige Krampus

Max Stadler – Geködert

Elmar Tannert – Die Spieluhr

Die Autorinnen und Autoren

 

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Hilde Artmeier – Alle Jahre wieder

»Kein Problem, Frau Elflein, gar kein Problem«, sagt Marco in seinem gutmütigen Ton, an dem er so lange gefeilt hat. »Dafür bin ich schließlich da, und Ihr Doktor, der kommt doch wegen so was gar nicht.«

»Meinen Sie wirklich?«, fragt die alte Schachtel ängstlich. »Er hat aber doch gesagt …«

»Die Ärzte kommen nur, wenn sie kräftig dabei verdienen«, unterbricht er sie halb tadelnd, halb nachsichtig. »Was für ein Glück, dass ich gerade in der Nähe war.«

Auch das aufrichtige Lächeln erscheint wie von selbst auf seinem Gesicht. Stundenlang hat er es vor dem Spiegel einstudiert, ganz natürlich wirkt es. Prompt strahlt sie ihn an, die vertrocknete alte Kuh.

»Wenn Ihnen wieder mal schwummerig wird, Frau Elf­lein, dann rufen Sie mich am besten sofort an. Und ganz egal, wann, gelle?«

»Was würde ich nur machen, wenn ich Sie nicht hätte?« Stöhnend lässt sie ihren Kopf ins Kissen sinken. »Nicht einmal den Esel hab ich vorhin gehört, so schwindelig ist mir gewesen, und dabei freue ich mich doch jeden Tag auf sein Iaaa. Hab ich Ihnen eigentlich erzählt, Herr Busse, dass ich mal in einer Eselkaravane mitgeritten bin, in ­Tibet, und …«

»Marco, Frau Elflein. Für Sie bin ich der Marco, schon vergessen?«, fährt er ihr wieder dazwischen, aber so sanft wie möglich. »Jetzt schlafen Sie erst mal, und morgen früh sehen wir uns wieder, in alter Frische. Oder eher in junger Frische – Sie sind ja noch taufrisch, gelle?«

Das ist selbstverständlich das Allerletzte, das er sich erhofft. Doch immerhin entlockt er ihr ein geschmeicheltes Kichern. Sind doch alle gleich, die blöden Weiber, auch wenn sie schon auf die achtzig zugehen. Eitel bis zum Gehtnichtmehr.

Er tätschelt seiner Patientin die faltige Hand, die sich wie welkes Laub anfühlt. Dank des jahrelangen Trainings unterdrückt er den aufkeimenden Ekel mühelos und sammelt dann mit Engelsmiene den benutzten Waschlappen und ein herumstehendes Glas ein. Den Füllfederhalter, der auf dem Nachtkästchen liegt, steckt er zurück in seinen Kittel, zu dem Röllchen mit den zerstoßenen Tabletten. Beides trägt er immer bei sich, zusammen mit einem gefalteten, unbeschriebenen Blatt Papier.

Drei, vier Besuche noch, dann hat er sie soweit, spätestens am dritten Advent, da ist er sicher. Danach wird er sich zwar noch ein bisschen gedulden müssen, bis er zu Teil B seines Plans übergehen kann. Aber Anfang Februar könnte es vielleicht schon klappen, während der Faschingstage. Um diese Zeit setzen alle ihre Pappnasen auf, schleppen auf dem Schwarz-Weiß-Ball eine Babylon-Berlin-Tussi ab, und niemanden interessiert’s, was in der Straße nebenan geschieht. Überall ist das so. Auch hier in Straubing, dieser miefigen Kleinstadt in Niederbayern, wo die Leute noch neugieriger sind als anderswo.

Pfeifend packt Marco auch seine restlichen Utensilien in den Koffer mit der Aufschrift »Care & Co, Ihr Pflegedienst rund um die Uhr« und lässt die Jalousien noch ein wenig weiter herunter. Die Nachbarhäuser am Bärenweg liegen zwar in einiger Entfernung, trotzdem weiß man nie, wer vielleicht drüben am Moosmühlbach spazieren geht, sogar bei dieser eisigen Dezember-Kälte. Draußen dämmert es, das Haus aber ist hell erleuchtet, mit all den Lichterketten, blinkenden Sternen und dem ganzen sonstigen Adventsfirlefanz. Da sieht man nun mal genau, was sich hier drinnen abspielt.

Ganz allein wohnt die Alte in der Riesenvilla, vollgestopft mit ihrem antiken Zeug, auf das sie so stolz ist. Hier im Schlafzimmer das geschmacklose Himmelbett aus Mahagoni, draußen auf dem Korridor die Schelllacktischchen mit Intarsien, im Treppenhaus Gobelins und handgeknüpfte Teppiche aus aller Welt, und in den Vitrinen im Erdgeschoss haufenweise Silberbesteck und Meissener Porzellan.

Marco hat keine Ahnung, wie die alte Hexe es angestellt hat, ausgerechnet hier eine Baugenehmigung zu bekommen, so nah beim Tiergarten. Als ihr Mann noch lebte, hat sie mit ihm und dem Sohn hinterm Stadtplatz gewohnt. Als viel zu junge Witwe, hat sie Marco neulich erzählt, wollte sie jedoch unbedingt hierher. Vielleicht hatte sie damals ja ein Techtelmechtel mit dem Bürgermeister und hat ihn bezirzt. Ihr Dialekt ist zwar noch schlimmer als der hiesige, sie stamme aus der nördlichen Oberpfalz, hat sie Marco schon mehrfach erzählt. Mit den vollen Lippen und dem manchmal noch ziemlich kecken Augenaufschlag muss sie in ihren früheren Jahren trotzdem eine heiße Schnalle gewesen sein.

Von nichts anderem als den blöden Viechern faselt sie sonst bei Marcos täglichen Besuchen, die normalerweise nur während eines Dreißig-Minuten-Zeitfensters am Vormittag stattfinden. Von Eulen und Singvögeln, von Zebras und Kamelen, sogar von Alligatoren, Löwen und Bären säuselt sie, bis es ihm zu den Ohren rauskommt. Die Braunbären, sagt sie, fehlen ihr am meisten, seit sie nicht mehr raus darf, früher hat sie wohl ganze Tage im Straubinger Zoo verbracht. Was kann man an einem so zotteligen Biest bloß schön finden?

»Dann gehe ich mal in die Küche«, sagt Marco leutselig und klappt den Koffer zu. »Da räume ich noch schnell die Spülmaschine ein und dann bringe ich Ihnen Ihre Abendmilch, gelle?«

»Aber bitte mit mehr Honig als neulich«, mäkelt sie, sagt dann jedoch freundlicher: »Trotzdem ist es lieb von Ihnen, dass Sie reingeschaut haben.«

Es gehört zwar nicht zu seinen Pflichten, sich auch noch um ihren Haushaltskram zu kümmern. Ihr Sohn, der sich seit Marcos erstem Besuch noch kein einziges Mal hat blicken lassen, hat nämlich nur die Grundversorgung gebucht: Hilfe beim täglichen Waschen, bei der Körperpflege und beim Anziehen, siebenmal die Woche. Der lange Lulatsch vom hiesigen »Essen auf Rädern« kommt immer kurz vor Mittag, die Putze nur alle zwei Wochen. Trotz Parkinson ist die alte Schachtel ja noch erschreckend gut zu Fuß.

Aber das wird sich bald ändern. Außerdem gehört es nun mal zu Teil A seines Plans, dass Marco sich in jeder Hinsicht unentbehrlich macht.

»Den Einkaufszettel lassen Sie bitte liegen«, hört er die Alte mit erschöpfter Stimme sagen, als er schon an der Tür ist. »Luna hat mir versprochen, dass sie später noch kurz vorbeischaut. Und noch einmal danke für alles, Herr Buss… Marco, also gut. Sie sind wirklich ein Schatz.«

Na, wer sagt’s denn.

Zufrieden verlässt er das Schlafzimmer, das nach Alter und viel rascher voranschreitender Krankheit riecht, als die alte Hexe ahnt.

Als Marco die steile Holzstiege hinabsteigt, denkt er an Luna. Die kleine Chaotin mit den verlausten Rastazöpfen ist der einzige Faktor in seinem hübschen Plan, den er nicht einkalkuliert hat. Aber sicher wird ihm bald einfallen, wie er sie aus dem Weg räumen kann. Bisher hatte er schließlich immer eine gute Idee für Unvorhergesehenes. Das Einzige, das er dafür braucht, ist ein wenig Geduld.

 

*

 

Die Fütterungszeit ist längst zu Ende. Luna sammelt die abgenagten Knochen auf, wirft sie in die Schubkarre in der Ecke und spritzt das Innengehege mit Wasser aus. Boden, Wände, Nischen, die künstlich aufgebauten Felsen, die aussehen wie echt, alles säubert sie akribisch. Dabei achtet sie darauf, Bruno und Karla, die immer wieder ihre Tatzen durch die Gitterstäbe strecken, auf keinen Fall mit dem Strahl zu treffen. Das können sie nämlich auf den Tod nicht leiden.

»Bin gleich fertig«, ruft sie ihnen zu und versucht, mit der freien Hand die dicke Strickjacke zuzuknöpfen, durch das Gitter zieht es eisig herein. »Saukalt draußen, ich weiß ja, auch für zwei so süße Kuschelbären wie euch.«

Karla knurrt zustimmend. Bruno schlägt mit der Pranke gegen die Stäbe, dass es nur so kracht, dann trollt er sich mit beleidigtem Gebrüll in den vorderen Teil des Freigeheges. Seit Tagen hat es minus fünf Grad, in der Nacht weit unter minus zehn. Braunbären kommen zwar mit solchen Temperaturen durchaus zurecht, haben aber ihre Gewohnheiten. Und jetzt wollen sie nun mal rein.

Schnell beseitigt Luna die letzten Urin- und Blutspritzer. Sauberkeit sei in der Tierpflege das A und O, hat die Chefin ihr gestern zum x-ten Mal erklärt – ausgerechnet während der Weihnachtsfeier, die wie in Lunas erstem Ausbildungsjahr wieder am Samstag vor dem vierten Advent stattfand –, Sauberkeit und Zuverlässigkeit. Schließlich sei der Straubinger Tiergarten in ganz Ostbayern berühmt. In einem Vorzeigebetrieb wie diesem müsse alles vorbildlich laufen, wirklich alles, wegen der Außenwirkung für die Stadt, für den Landkreis, für Blablabla. Dann natürlich der Punkt Sicherheit. Für die Besucher, für das Team, und ganz speziell – das hat sie mit erhobenem Zeigefinger gesagt – natürlich für Luna. Schaufeln, Bürsten, jedwedes Werkzeug, einfach alles gehöre an seinen Platz. Wenn sie Luna im Übrigen noch ein einziges Mal ermahnen müsse, wegen der kleinsten Unachtsamkeit, oder wenn ihr sonst irgendetwas zu Ohren käme, nun …

Was die sich rausnimmt, grollt Luna, während sie sich mit dem Schlauch abmüht. Als er endlich aufgerollt ist und sie die Rolle aus dem Gehege zerrt, läuft am Ende Wasser heraus und versaut ihr Finger, Strickjacke, Hose. Genervt wischt sie sich die Hände an der Jeans ab und zieht das Mobiltelefon aus der Vordertasche. Trocken geblieben, zumindest das. Die Uhr im Handy zeigt an, dass ihre Schicht bald zu Ende ist.

Eigentlich stammt sie ja aus Tirschenreuth und wollte nie nach Niederbayern. Aber die Ausbildung hier ist ihr Traumjob. Luna liebt Tiere über alles, und sogar Steppenwolf, ihren Bernhardiner, der sich wie immer irgendwo zum Pennen hingelegt hat, darf sie mit in die Arbeit bringen. Außerdem ist sie viel an der frischen Luft und begegnet ständig neuen Menschen, darunter oft Kinder mit Oma oder Opa im Schlepptau. Die alten Leutchen mag Luna besonders gern. Und deshalb muss sie irgendwie mit dieser Bitch von Chefin klarkommen.

Luna überlegt. Sie muss noch ins Raubtierhaus, dann zu den Pinguinen, und wenn sie dort fertig ist, mit dem Radl zum Supermarkt. Für Frau Elflein will sie Anissterne und Dominosteine kaufen, die isst sie doch so gern. Für sich selbst Brot, Käse und Milch, vielleicht noch zwei Packungen Schokolebkuchen. Die sind zwar nicht ganz billig, aber bald ist schließlich schon Heiliger Abend.

Luna freut sich auf den Besuch bei der alten Dame. Wie glücklich sie jedes Mal ist, wenn sie Lunas Neuigkeiten aus dem Tiergarten zu hören kriegt. Im Gegenzug lauscht sie Frau Elfleins Erzählungen von früher. Als ihr Sohn noch nicht in Salzburg lebte, wo er eine Kunstgalerie betreibt, und als sie noch auf Reisen gehen konnte, meist in Länder, wo es exotische Tiere gab. Dazu naschen sie und Luna belgische Schokolade, unter dem großen roten Weihnachtsstern auf dem Diwan im Salon, und trinken original Englischen Tee aus echten Meissener Porzellantassen. Oft schwärmen sie auch von der gemeinsamen Heimat in der nördlichen Oberpfalz, nach der sie beide ein wenig Heimweh haben.

Wieder brüllt Bruno, dann auch Karla. Es wird höchste Zeit, dass sie die beiden reinlässt.

Rasch schiebt Luna die Schlauchrolle in die dafür vorgesehene Ecke, verriegelt die Tür zum Innengehege per Knopfdruck und drückt auf die Automatik für das Gitter zwischen Innen- und Außengehege. Als dieses surrend in der künstlichen Felsenwand verschwindet, muss sie an Frau Elfleins seltsame Schwindelanfälle denken. Die hatte sie früher überhaupt nicht, und Luna kennt sie immerhin schon seit bald anderthalb Jahren.

Neulich ist die alte Dame vor der Toilette sogar ohnmächtig geworden. Nur mit Müh und Not, hat sie ihr erzählt, hat sie es erst auf den Diwan geschafft und nach einer Verschnaufpause hinauf ins Bett. Wenn ihr das auf der Treppe passiert wäre, sie hat oben ja keine Toilette, nicht auszudenken …

Bruno wuchtet seinen massigen Körper in das Innengehege und grunzt zufrieden. Karla folgt ihm, wobei ihre zentimeterlangen, messerscharfen Krallen über den Boden kratzen, und brüllt wieder aus Leibeskräften. Dieses Mal klingt es nicht anklagend, sondern triumphierend.

Warum der Hausarzt seit dem Vorfall bei der Toilette nicht einmal nach Frau Elflein gesehen hat, kann Luna sich nicht erklären. Stattdessen hängt seit Neuestem ständig dieser schmierige Typ bei ihr rum, dieser Marco. Neulich in der Mittagspause hat sie sich die Website seines Pflegedienstes angesehen. Auf den Fotos hätte sie ihn erst gar nicht erkannt, im sauteuren Anzug am Computer in einem megamodernen Büro, dazu die vielen lächelnden Angestellten. Supernobel alles.

Die Filiale in Straubing hat Marco Busse, wie der eklige Typ mit vollem Namen heißt, erst vor drei Monaten gegründet. Auch in Aachen hat er eine Niederlassung, hat Luna gelesen, in Cottbus, im Taunus und zwei Filialen an der Ostsee, eine in Rostock und die andere in einem Ort, von dem sie noch nie gehört hat. Komisch irgendwie. Wenn der sich sonst nur mit Verwaltungskram beschäftigt – auf der Homepage hat es geheißen, dass er der Geschäftsführer ist –, warum wechselt er den Patienten in Straubing dann höchstpersönlich die Windeln?

Das Handy läutet.

Verstohlen sieht Luna sich um. Sven müsste gerade bei den Vogelkäfigen sein, der Obermaier im Streichelzoo und die Chefin im Büro. Die kriegt garantiert die Krise, wenn sie hört, dass Luna während der Arbeitszeit telefoniert. Sicherheitshalber dreht sie sich also so, dass niemand, der plötzlich um die Ecke biegt, sie sehen kann.

»Elflein«, sagt eine sonore Männerstimme. »Karl Elflein, ich rufe aus Salzburg an. Spreche ich mit Luna?«

Der Sohn der alten Dame, jetzt erst erkennt Luna seine Stimme wieder. Vor ein paar Tagen hat sie ihn angerufen, gegen Ende klang er ziemlich genervt. Und dabei wollte sie ihm doch nur verklickern, dass seine Mutter sich wie ein Honigkuchenpferd freuen würde, wenn er sich an Weihnachten vielleicht doch kurz blicken ließe. Luna überlegt, ob sie ihm von den Schwindelanfällen erzählen soll. Aber da spricht er schon weiter.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass meine Mutter ihr bestes Silberbesteck vermisst. Wissen Sie etwas darüber?«

»Silberbesteck? Äh …«

»Zwölfteilig und ziemlich wertvoll. Ist es möglich, dass Sie das Besteck bei Ihrem letzten Besuch eingesteckt haben? Wie ich höre, sind Sie immer knapp bei Kasse.«

»Wie bitte?«

»Damit Sie mich richtig verstehen: Sollte das Besteck nicht umgehend wieder an seinem Platz auftauchen, sehe ich mich gezwungen, die Direktorin des Tiergartens zu informieren. Schließlich muss sie wissen, welchem Diebesgesindel sie ihre Tiere anvertraut. Und außerdem möchte ich, dass Sie sich in Zukunft von meiner Mutter fernhalten. Haben Sie das verstanden?«

»Aber …« Luna begreift nicht, was das auf einmal soll. Nur, dass es ihm bitter ernst ist mit seinen Drohungen. »Sie hat doch sonst niemanden, ich meine, wer kauft denn dann für sie ein, und überhaupt …«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.«

Es knackt in der Leitung, die Verbindung ist unterbrochen.

»Hi, Luna«, hört sie Sven rufen. »Schau mal, was ich hier hab!«

Svens Klappergestell taucht unweit der Stelle auf, wo Steppenwolf liegt. Der Bernhardiner erhebt sich schwerfällig, lässt sich mit wedelndem Schwanz streicheln und plumpst wieder zu Boden. Man sieht es ihm nicht an. Aber wenn es hart auf hart käme, würde er seine Herrin bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.

»Den hab ich vorn beim Büro gefunden«, sagt Sven und hält einen abgeschabten Lederrucksack in die Höhe, was ein klirrendes Geräusch verursacht. »Gut, dass die Chefin ihn nicht gesehen hat, die wäre sonst bestimmt wieder ausgeflippt. Warum lässt du eigentlich ständig alles rumliegen?«

»Ist nicht meiner.«

»Steht aber dein Name drauf.«

Luna streckt die Hand aus. Tatsächlich – auf einem Aufkleber hat jemand ihren Namen notiert, in großen Druckbuchstaben.

Irritiert öffnet sie den Klickverschluss und inspiziert den Inhalt. Das Klirren stammt von Messern, Gabeln und Löffeln, alles aus purem Silber.

 

Mit einem Liedchen auf den Lippen rührt Marco einen Löffel Honig in die heiße Milch und legt ihn zur Seite. Dann aber nimmt er ihn wieder, kratzt noch mehr Honig aus dem Glas und rührt auch diesen in die Tasse. Endlich hat er die Testamentsänderung in der Tasche. Das Original liegt im Sekretär im Salon, wo es der Sohn aus Salzburg zu gegebener Zeit sofort sehen wird, und eine Kopie im Safe bei Marcos Bank.

Vorhin hat die Alte ihn so komisch angeguckt und gefragt, ob vielleicht er ihr Mobiltelefon gesehen habe, ein Geschenk ihres Sohnes. Das Festnetztelefon ist eins mit Kabel und im Erdgeschoss installiert – unfassbar, dass es heutzutage so etwas überhaupt noch gibt, andererseits natürlich hervorragend für Marcos Zwecke, weil sie damit nicht ohne Weiteres telefonieren kann. Wenn sie oben im Bett liegt, was in letzter Zeit ja immer häufiger der Fall ist, kommt sie da nicht ran. Zum Glück hat sie ihm dann aber doch geglaubt, dass die Putzfrau das Smartphone irgendwo hingelegt haben muss.

Lange wollte die alte Ziege nichts von einer Testamentsänderung wissen, trotz der Engelszungen, mit der Marco sie dazu bewegen wollte. Schließlich hat sie aber doch begriffen, dass ihm die Fünfzigtausend praktisch zustehen, so rührend wie er sich immer um sie kümmert. Bei jedem Anruf steht er auf der Matte, selbstverständlich auch außerhalb seiner Dienstzeiten, und auch sonst schaut er immer mal herein, sei es auch nur für ein Schwätzchen, und erledigt Liegengebliebenes. Und jeden Tag bereitet er ihr den Abendtrunk, ohne Ausnahme.

Der Rest hat wie am Schnürchen geklappt. Der Sohnemann hat anstandslos alles geschluckt, was Marco ihm beim letzten Telefonat in besorgtem Ton erklärte. Er werde der Sache nachgehen, hat der Salzburger versprochen, und entsprechende Schritte einleiten. Die Rotzgöre Luna ist Marco jetzt jedenfalls los.

Er wirft einen Blick durchs Küchenfenster. Draußen ist es schon ziemlich dämmrig, keine Spaziergänger am Moosmühlbach in Sicht. Am Vorabend zum vierten Advent sitzen sie alle im trauten Heim, saufen Glühwein mit Rum, Eierlikör, Baileys oder sonst ein perverses Zeug und freuen sich aufs Christkind. Dennoch lässt er die Rollos diesmal ganz herunter, man weiß ja nie. Dann holt er das Röllchen mit den zu Pulver zerstampften Schlaftabletten aus dem Kittel, kippt es in die Tasse und rührt kräftig um.

Jeden Tag erhöht er die Dosis nur um ein winziges bisschen. So kommt der Hausarzt nicht auf dumme Gedanken. Da die Alte das Handy nicht mehr findet, das Marco gut versteckt hat, kann sie den Arzt zwar ohnehin nicht verständigen. Aber manchmal schaut er doch einmal vorbei, als alter Bekannter ihres verstorbenen Mannes. Andererseits, ist ja normal, dass eine Parkinson-Patientin – vor allem, wenn sie so betagt ist wie die alte Schachtel – das Bett hütet, weil ihr ein bisschen schwindelig ist.

Egal, ob in Aachen oder Cottbus, im Taunus oder an der Ostsee – alle Jahre wieder findet Marco ein geeignetes Opfer. Und da er ebenso erfinderisch wie umsichtig ist – nur selten greift er auf ein und dieselbe Methode zurück –, hat bisher noch jeder Arzt am Ende den Totenschein ausgestellt. Ist ja schließlich normal, dass bettlägerige Menschen in hohem Alter irgendwann das Zeitliche segnen, sei es wegen Herzproblemen, sei es wegen plötzlichem Atemstillstand.

Auch hier in Straubing hat Marco sofort den richtigen Riecher gehabt. Die alte Schachtel ist gutgläubig und vertrauensselig, vor allem aber schwimmt sie in Geld und hat kaum noch soziale Kontakte in unmittelbarer Nähe. Bis auf die blöde Göre aus dem Zoo. Aber für die ist ja jetzt gesorgt.

Als Marco die Tasse auf das Tablett stellt, läutet es ungeduldig an der Tür.

Wer ist das denn noch – um diese Uhrzeit?

Unwirsch stapft er zur Haustür, reißt sie auf. Die kleine Chaotin glotzt ihn aufmüpfig an. Das speckige Haar hat sie unter der Kapuze ihres ausgeleierten olivgrünen Parkas versteckt, und wie immer sitzt das Ungetüm von Hund neben ihr.

»Ich will mit Frau Elflein sprechen«, sagt sie in frechem Ton, über der Schulter den Rucksack, den Marco nur allzu gut kennt. »Wenn’s recht ist.«

»Die schläft schon«, antwortet er, so perplex, dass er sogar seine so oft geübte Herzlichkeit vergisst. Warum steht die Göre denn jetzt hier anstatt im Büro ihrer Chefin?

»Um halb fünf?« Skeptisch mustert sie ihn und stellt einen Fuß in die Tür, der Köter beginnt zu knurren. »Es ist echt megawichtig und …«

»Sie hat sich nicht wohl gefühlt und sich hingelegt«, unterbricht er sie, eine Spur freundlicher, »und sie wollte auf keinen Fall gestört werden. Also dann, tschüss.«

Aber das verlauste Drecksstück bewegt sich keinen Zentimeter. Erst kaut sie auf der Unterlippe, dann knallt sie Marco den Rucksack vor die Füße. Das Silberbesteck, das noch gestern in der Vitrine nebenan lag, scheppert provokant.

»Geben Sie ihr das bitte.« Sie streicht dem Monsterhund über den massigen Kopf. »Steht zwar mein Name drauf, gehört mir aber nicht. Morgen komme ich wieder und erkläre ihr alles, okay?«

Ohne Gruß macht sie auf dem Absatz kehrt.

Er starrt ihr nach mit zusammengekniffenen Augen, und schließt langsam die Tür. Offenbar hat er sie unterschätzt. Nun gut, dann wird er schwerere Geschütze auffahren müssen.

Weihnachten ist zwar eigentlich zu früh, denkt Marco, als er mit dem Tablett schließlich die Treppe hinaufsteigt. Er wollte ja bis Fasching warten, damit nicht ausgerechnet er in Verdacht gerät, falls die Testamentsänderung mit Datum im Dezember doch jemandem auffallen sollte. Andererseits wird der Hausarzt am Heiligen Abend noch weniger genau hinschauen als sonst, in seiner glühweinumnebelten Stille-Nacht-Heilige-Nacht-Duseligkeit. Und der Sohnemann in Salzburg wird erst recht keine Fragen stellen. Für jemanden, der eine Protz-Villa und zwei Millionen erbt, sind Fünfzigtausend doch nur Peanuts.

 

*

 

Luna ist nervös. Seit gestern Abend ist sie nervös wie lange nicht. Schlecht geschlafen hat sie auch, die amerikanischen Christmas-Songs im Radio mag sie sowieso nicht mehr hören, und jetzt auch noch Steppenwolf …

Erst der Anruf aus Salzburg, dann das Silberbesteck, das ihr offenbar jemand unterjubeln wollte, und mit Frau Elf­lein konnte sie auch nicht reden. Sie muss die alte Dame davon überzeugen, dass sie nichts mit dem geklauten Besteck zu tun hat. Wenn ihre Chefin von dieser blöden Geschichte erfährt, ist Luna ihren Job los.

Irgendwie kann sie nicht begreifen, dass ausgerechnet die liebe alte Dame ihrem Sohn ein solches Lügenmärchen aufgetischt hat – andererseits, wie sonst wäre er auf den Gedanken gekommen, Luna hätte sich das Silberzeug unter den Nagel gerissen? Ob dieser eklige Marco etwas damit zu tun hat? Wie er Luna gestern angepflaumt hat – mit dem stimmt doch was nicht.

Aber dazu später. Erst einmal muss sie sich um Steppenwolf kümmern.

Heute ist der vierte Adventssonntag und Lunas freier Tag. Eigentlich wollte sie mit ihm raus, damit er sich endlich mal nach Herzenslust austoben kann. Ihr Zuhause ist ja nur ein alter Campingwagen und ziemlich beengt. Dank Svens Fürsprache darf Luna ihn den Winter über im Wäldchen beim Tiergartengelände abstellen, im Frühjahr kann sie sich hoffentlich ein, zwei Zimmer hinterm Stadtplatz leisten.

Im Lauf des Vormittags ist Steppenwolf aber immer komischer geworden. Als sie sich mit ihrem Käsebrot an den Klapptisch gesetzt hat, hat er nicht wie sonst herumgewinselt, damit sie ihm ein Stückchen davon abgibt. Nein, kaum einen Muckser hat er gemacht, nur dann und wann gejault zum Erbarmen. Auch getrunken hat er nichts, seit der Schüssel am Morgen keinen einzigen Tropfen mehr. Ständig hat er nur auf seiner Decke gelegen und das Letzte, das er wollte, war raus an die frische Luft.

Sie hat sich das Hirn zermartert, ob er vielleicht etwas Falsches gefressen hat, hat ihn warm zugedeckt, ihm wieder was zu trinken angeboten. Aber nichts hat geholfen, und seit ein paar Minuten bewegt er sich gar nicht mehr. Sein Herz schlägt so schnell, dass sie mit dem Zählen kaum noch mitkommt.