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Hans Vorländer

DEMOKRATIE

Geschichte, Formen, Theorien

C.H.Beck


Zum Buch

Was macht eine Demokratie aus? Das Buch zeigt, wie die Demokratie in der Antike erfunden wurde und wie sie sich in der Moderne verändert hat. Unmittelbare, direkte Demokratie dort, mittelbare, repräsentative Demokratie hier – das sind die Grundformen. Darüber hinaus unterscheiden sich theoretische Modelle und gelebte Demokratie erheblich voneinander. Das wird an der historischen Entwicklung der Demokratie und den verschiedenen Traditionen demokratischen Denkens verdeutlicht. Zudem erörtert der Band alle zentralen Bedingungen, die Voraussetzungen und die gegenwärtigen Herausforderungen der Demokratie.

Über den Autor

Hans Vorländer, geb. 1954, ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere für Politische Theorie und Ideengeschichte, sowie Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der Technischen Universität Dresden. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des politischen Denkens und zur vergleichenden Politikanalyse. Bei C.H.Beck erschien zuletzt von ihm: «Die Verfassung. Idee und Geschichte» (3. Aufl., 2009).

Inhalt

I. Die Demokratie – ein Siegeszug?

II. Die Entstehung der Demokratie

III. Antike und moderne Demokratie

IV. Die republikanische Tradition der Demokratie

V. Die Begründung der modernen Demokratie

VI. Die Entwicklung der modernen Demokratie

VII. Voraussetzungen und Bedingungen
der modernen Demokratie

VIII. Strukturen und Probleme
der modernen Demokratie

IX. Die Demokratie – in der Krise?

Literaturverzeichnis

I. Die Demokratie – ein Siegeszug?

Die Epoche der Demokratien schien recht eigentlich erst 1989/90 begonnen zu haben. Die Demokratie feierte Triumphe, nachdem sozialistische und kommunistische Regime zusammengebrochen waren. Das westliche Modell der liberalen Demokratie hatte, so schien es, seinen Konkurrenten im Wettkampf der Systeme besiegt und konnte nun, wie manche meinten, das «Ende der Geschichte» ideologischer Auseinandersetzungen einleiten. Mit dem Ende der realsozialistischen Diktaturen gab es keine historischen Alternativen mehr, die, wie Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus, das 20. Jahrhundert zu einem «Zeitalter der Extreme» (Hobsbawm) hatten werden lassen. Nun aber war der Siegeszug der Demokratie nicht mehr aufzuhalten. In mehreren Wellen schien sich so die Regierungsform der Demokratie gegen ihre Widersacher durchgesetzt zu haben.

Eine erste Welle, so wurde argumentiert, begann in den 1820er Jahren, führte über die Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts für die männliche Bevölkerung, dauerte bis etwa 1926 und führte zur Etablierung von 29 Demokratien. Mit Mussolinis Machtantritt in Italien war der Beginn einer rückläufigen Entwicklung verbunden, die die Zahl der Demokratien zunächst wieder auf zwölf reduzierte. Aber durch den Triumph der Alliierten im Zweiten Weltkrieg entstand eine zweite Welle der Demokratisierung, die in den 1960er Jahren wieder zu 36 Demokratien führte. Und der Beginn der letzten, der dritten Welle der Demokratisierung kann mit der ersten Hälfte der 1970er Jahre angesetzt werden. Zwischen 1974 und 1990 schafften etwa 30 Länder den Übergang zu Formen demokratischer Herrschaft. Dann nahm diese Welle an Umfang erheblich zu, weshalb einige Demokratieforscher die Zahl der Demokratien von etwa 76 im Jahr 1990 auf etwa 120 Länder am Beginn des 21. Jahrhunderts bezifferten.

Doch hat sich dieses Bild zuletzt erheblich eingetrübt. Die mit dem Stichwort «Arabischer Frühling» verbundenen Hoffnungen, dass sich auch in Ländern wie Ägypten, Tunesien, Libyen und Marokko eine demokratische Umformung ehemals diktatorischer oder autoritärer Staaten vollziehen könne, sind jäh enttäuscht worden. Und viele der Demokratisierungsprozesse in den Ländern Ost- und Mitteleuropas sind wieder gestoppt oder durch neue autoritäre Regierungsformen ersetzt worden. Und auch die Demokratien, die wegen ihres Alters und ihres scheinbar stabilen institutionellen Gerüsts als «konsolidiert» bezeichnet werden können, sehen sich enormen Herausforderungen ausgesetzt. Populistische Bewegungen stellen zentrale Mechanismen ihrer repräsentativen Verfassung infrage, Bürger und Bürgerinnen entziehen Institutionen und Parteien ihr Vertrauen, in den sozialen Medien wie auch in öffentlicher Diskussion herrscht ein rauer Ton vor, Hass, Wut und Schmähungen lassen politische Verständigung und Entscheidungsbildung zunehmend schwieriger werden. Die Gesellschaften haben sich polarisiert, die Demokratien geraten unter Druck. Krisenerscheinungen stellen die Legitimität demokratischer politischer Systeme infrage.

Bereits die Krise der Demokratien im 20. Jahrhundert, die Auflösung der Weimarer Republik beispielsweise, zeigte, wie gefährdet Demokratien sind. Dass sie nicht nur gefährdet, sondern auch umstritten sind, belegt zudem die historische Erfahrung alternativer, tyrannischer, autoritärer oder diktatorischer Regime. Auch die Rede von demokratischen Defiziten oder defekten Demokratien zeigt an, dass Demokratien nicht nur in der wissenschaftlichen Analyse, sondern auch in der politisch-polemischen Auseinandersetzung an sehr unterschiedlichen Maßstäben gemessen werden können. Einem vermeintlichen Idealbild der Demokratie kann die Praxis der gelebten Demokratie selten oder kaum entsprechen. Hinter der «wahren» Demokratie muss jede reale Demokratie zurückbleiben. Die langsame, konfliktreiche Durchsetzung demokratischer Prinzipien im 18. und 19. Jahrhundert verdeutlicht auch, dass Demokratien höchst voraussetzungsvolle Formen politischer Ordnung sind.

Kaum ein Begriff ist in der Tradition politischen Denkens so umstritten geblieben wie der der Demokratie. Das liegt vor allem daran, dass Demokratie nie ein nur empirischer oder deskriptiver Begriff geblieben ist, sondern immer auch ein normatives Ideal umschrieben hat. Demokratie war und ist in einem gewissen Sinne bis heute ein politischer Kampfbegriff geblieben. Viele unterschiedliche politische, nicht zuletzt liberale, konservative und sozialistische Strömungen haben sich auf die Demokratie bezogen, demokratische Defizite konstatiert, ein Mehr an Demokratie eingeklagt oder aber sich von zu viel Demokratie distanziert. Demokratie war bei den Griechen eine politische Praxis, die sich langsam herausgebildet hatte und dann für zwei Jahrhunderte erstaunlich stabil blieb. Je länger die Praxis andauerte, desto stärker wurden aber auch die Kritiken, die von den Philosophen formuliert wurden. Dem Hohelied auf die Demokratie, wie sie uns von Perikles’ Gefallenenrede durch Thukydides überliefert ist, stand alsbald die fulminante Kritik eines die politische Philosophie begründenden Platon gegenüber. So großartig die attische Demokratie auch war, einen Sokrates ertrug sie nicht: Sie verurteilte ihn zum Tode. Die Demokratie wurde von den Athenern erfunden, sie wurde von den Griechen aber auch bestritten. Über viele Jahrhunderte wurde dann der Demokratiebegriff nur negativ konnotiert, die Demokratie galt als eine instabile Regierungs- und Verfassungsform, an deren Stelle andere, monarchische oder aristokratische Verfassungen treten sollten. Das lag vor allem daran, dass Demokratie als die «Herrschaft des Pöbels», des gemeinen Volkes und der Armen, denunziert wurde. Dies war eine der Wortbedeutungen von «Demos», auf Deutsch: das Volk. Es konnte aber immer auch die Gesamtheit der Bürger bedeuten, die in einem politischen Gemeinwesen handelten, berieten und entschieden. Hier bedeutete Demokratie, dass die Freien und Gleichen herrschten (griechisch: kratein). Alle freien und gleichen Bürger hatten demnach Anteil an der Regierung, oder in den Worten von Aristoteles, Demokratie meinte, «dass alle über jeden herrschen und jeder wechselweise über alle».

In Athen hatte sich die Herrschaft der Vielen, die demokratia, herausgebildet. Sie fand in Rom kein direktes Pendant, die Republik war eine Herrschaft der Aristokraten, allerdings mit einem hohen legitimatorischen Anteil des Volkes, und erst in der Neuzeit, vor allem aber zur Zeit der Amerikanischen und Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts, tauchte der Begriff der Demokratie mit seinem ursprünglichen Bedeutungsgehalt wieder auf. Zuvor, im späten Mittelalter und in der italienischen Renaissance, dann aber auch in der mitteleuropäischen und deutschen Stadtverfassung, war es eher der Begriff der Republik, der Formen bürgerschaftlichen Selbstregierens bezeichnete. Auch spielte in der spätmittelalterlichen Philosophie der Gedanke des Konsenses, der Zustimmung zu Herrschaft und politischer Regierung, eine zunehmend größere Rolle. Doch im Sinne einer umfassenden Teilhabe des gesamten Volkes am politischen Entscheidungsprozess und der Legitimation politischer Herrschaft durch die Gesamtheit der Bürger gewinnt der Demokratiebegriff erst mit Rousseau und dann den Revolutionen des 18. Jahrhunderts an positiver Bedeutung und dann auch an erheblicher politischer Dynamik. Demokratie wurde nun als Herrschaft des Volkes, vor allem als Volkssouveränität begriffen, aus der heraus sich das gesamte politische Gemeinwesen konstituieren und legitimieren musste. Die Herrschaft des Volkes über sich selbst drückte sich in der Selbstgesetzgebung, auch in der Verfassungsgebung, aus, das Volk gab sich selbst die Gesetze und die ausführende Regierung. Thomas Paine, der nordamerikanische Revolutionär, hatte, wie auch Abraham Lincoln ein Jahrhundert später es wieder aufnahm, die Demokratie als government by the people, of the people, and for the people bezeichnet. Eine Regierung also, die vom Volk abgeleitet, durch das Volk legitimiert und für das Volk ausgeführt werden sollte. Damit war wieder ein umfassender, positiver Begriff von Demokratie eingeführt worden, der aber in der konkreten Umsetzung mehr Fragen als Antworten beinhaltete. Wie sollte die Herrschaft des Volkes organisiert werden, war eine umfassende Teilhabe aller Bürger zu jeder Zeit und bei jeder Entscheidungsmaterie zu gewährleisten, woran lässt sich der demokratische Gehalt einer Entscheidung messen – kurzum: Wie demokratisch muss eine Demokratie sein, um als Demokratie bezeichnet werden zu können? Legitimität und Effizienz, institutionelle Struktur, politische Partizipation, formale Prozeduren und inhaltliche Entscheidungen – diese Strukturfragen entschieden über den Gehalt der Demokratie, aber auch über die konkreten Formen und die Praxis demokratischer Ordnungen. Dabei war von Athen das Modell der unmittelbaren, radikalen Demokratie, die Versammlungsdemokratie, überliefert. Aber wegen der sehr viel größeren räumlichen Ausdehnung des modernen Territorialstaates stellte sich hier – wie beispielsweise auch heute in der Globalisierungsdebatte – die Frage nach der Transformation der Demokratie. Zugleich war auch der Einbezug aller Bürger, aller Schichten und beider Geschlechter, zu gewährleisten. Das führte dann vor allem im 18. und 19. Jahrhundert zur teilweisen Neuerfindung der Demokratie, die fortan als mittelbare, repräsentative Demokratie organisiert wurde. Zugleich stellte sich damit das alte, aus der Antike bekannte Problem in der Moderne neu und diesmal sogar noch dringlicher: Bedeutete Demokratie, dass alle Bürger umfassend am Beratungs-, Entscheidungs- und Ausführungsprozess der Politik beteiligt werden mussten und sollten, also größtmögliche, wenn nicht gar allumfassende Partizipation sichergestellt werden musste, oder war es denkbar, dass auch in der Demokratie das Geschäft der Politik arbeitsteilig unternommen werden konnte, einige wenige berieten und entschieden, das Volk aber seine Beteiligung vor allem am Wahltag – und bisweilen bei einigen Sachabstimmungen – manifest werden ließ? Was bei Aristoteles in den beiden Verfassungsformen von Aristokratie und Demokratie eingefangen wurde, dann zu einer Mischform, der Politie, als Idealverfassung entwickelt worden war, das stellte sich nun als das Problem von Elitendemokratie hier und Massendemokratie dort dar. Die Lösung konnte darin gesehen werden, ein System der Demokratie zu entwerfen, in dem eine weitgehende Partizipation ermöglicht, wenngleich nicht immer vorausgesetzt werden konnte, bisweilen auch nicht erwünscht war, die politischen Eliten zwar als Repräsentanten der Bürger mit Deliberation und Dezision beauftragt, aber von einer starken öffentlichen Meinung kontrolliert und an die Wahlbürger zurückgebunden wurden. Dieses Modell wurde von vielen als liberale Demokratie bezeichnet, als eine auf Repräsentation und Öffentlichkeit gegründete Demokratie, die eine Liaison mit dem Verfassungsstaat einging, die Grund- und Menschenrechte beachtete, Gewaltenteilung praktizierte und damit sowohl dem Gedanken der Volkssouveränität als auch dem des Schutzes von Minderheiten gerecht werden konnte. Gleichwohl hat sich die Demokratie innerhalb des Spannungsrahmens von repräsentativer und direkter, plebiszitärer Ausprägung entwickeln und behaupten müssen. Gewissermaßen liegen zwischen den beiden Konzepten unmittelbarer, direkter Demokratie und mittelbarer, repräsentativer Demokratie die Strukturprobleme moderner Demokratien überhaupt, von Freiheit und Gleichheit, von Mehrheit und Minderheit, von bürgerschaftlichem Engagement und politischer Apathie, begründet. Eine reine «Wahldemokratie», wie sie als demokratisches Minimum definiert wird, markiert dann das eine Ende der demokratischen Skala, die unmittelbare, direkte – oder wie sie vielfach genannt wird: radikale – Demokratie wäre am anderen Ende der Skala anzusetzen. Zwischen diesen beiden Polen indes hat sich die Demokratie, wo sie etabliert war, immer wieder, mal in die eine, mal in die andere Richtung, bewegt. Von einem steten Siegeszug der Demokratie konnte nie und kann auch heute nicht gesprochen werden. Die Demokratie, immer gefährdet und angefochten, musste stets erkämpft und behauptet werden. Das war schon am Anfang der Geschichte der Demokratie, in Griechenland, nicht anders.

II. Die Entstehung der Demokratie

Als der attische König Theseus vom Herold aus Theben gefragt wird, wem er die Botschaft des thebanischen Königs Kreon überbringen könne – «Wer ist hier der absolute König?» –, da setzt Theseus zu einem Loblied auf Athen an:

«Nichts ist dem Volke so verhasst wie ein Tyrann.

Dort gelten nicht als Höchstes die gemeinsamen

Gesetze; einer schaltet als Gesetzesherr

Ganz unumschränkt, und das ist keine Gleichheit mehr.

Doch werden die Gesetze schriftlich festgelegt,

genießt der Arme wie der Reiche gleiches Recht;

die freie Rede steht dem Armen zu wie dem

vom Glück Gesegneten, wenn er beleidigt wird,

und hat er recht, besiegt der kleine Mann den großen.

So klingt der Ruf der Freiheit: ‹Wer will einen Rat,

der unsrem Staate nützt, vor die Versammlung bringen?›

Und wer es wünscht, der erntet Ruhm, wer nicht,

kann schweigen.

Wo gibt es größere Gleichheit noch in einem Staat?»

Die Rede des Theseus findet sich bei Euripides, in dessen Drama Hiketiden (Die Schutzflehenden – 424 v. Chr.). Hier werden die Grundlagen der Demokratie Athens genannt: Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht der freien Rede, die gemeinsame Beratung, schriftlich festgelegte Gesetze. Das Erstaunen des thebanischen Herolds über die Verhältnisse in Athen zeigt sich, als er in seiner Gegenrede das Loblied auf die Monarchie singt: «… in der Stadt, die mich entsandte, wird die Herrschaft von einem Manne, nicht vom Pöbel ausgeübt; und keinen gibt es, der das Volk durch eitles Schwatzen – zum eigenen Vorteil nur! – bald hier, bald dorthin lenkt. … Wie kann überhaupt das Volk den Staat beherrschen, wo es nicht die Redekunst beherrscht? Und ein armer Bauersmann mag zwar nicht unvernünftig sein – im Drange seiner Arbeit kann er jedoch kaum den Blick auf das Gemeinwohl richten!» – Euripides macht den thebanischen Herold zum Sprachrohr der Demokratiekritik: das Volk als «Pöbel», Demokratie als Veranstaltung der Demagogen und Schwätzer, der einfache Mann zur Politik nicht fähig. Das Unverständnis des Thebaners änderte indes nichts daran, dass Athen für knapp zwei Jahrhunderte eine funktionsfähige Demokratie gewesen ist.

Nach athenischer Auffassung war demokratia eine Verfassungsform, in der das Volk (demos) die Macht (kratos) in der Polis innehatte. Darunter wurde verstanden, dass das Volk die volle Gesetzgebungs-, Regierungs-, Kontroll- und Gerichtsgewalt ausübte. Allein das Volk beschloss Gesetze und Dekrete, es wählte die Beamten, es übte die Kontrolle der gewählten und erlosten Amtsträger aus, es prüfte die Amtsführung und es bestimmte die Richter. Damit war die Demokratie in Athen ein Regime direkter, unmittelbarer Herrschaft des Volkes, das auf umfassender Beteiligung aller männlichen Bürger beruhte und das keine Unterschiede zwischen arm und reich kannte. Die Demokratie Athens zeichnete sich durch ein Maß an Bürgerbeteiligung aus, das seitdem kaum wieder erreicht worden ist.

Die Reformen von Kleisthenes (508/507 v. Chr.) begründen die athenische Demokratie, mit der erfolgreichen Zurückweisung der beiden persischen Einfälle in Griechenland (490 und 480 v. Chr.) beginnt das goldene Zeitalter der Demokratie, das vor allem mit dem Namen Perikles verbunden ist. Während des Peloponnesischen Krieges, der 431 v. Chr. ausbrach und sich bis 404 hinzog, zeigten sich Krisen der Demokratie, die aber, nach oligarchischen Intervallen, überwunden werden konnten. Die Demokratie wurde wieder neu eingerichtet und erlebte im Zeitalter des Demosthenes bis etwa 322 v. Chr. eine neue Blüte. Nach dem Tod Alexanders des Großen endet die klassische Epoche der attischen Demokratie.

Wenn die Verfassung Athens von den Reformen des Kleisthenes von 508/7 an bis zur Niederlage im so genannten Lamischen Krieg 322 eine demokratia war, so lassen sich die ersten Zeugnisse für den Begriff «Demokratie» jedoch erst im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts finden. Die älteste Quelle ist Herodot, der um 430 v. Chr. festhält, dass es Kleisthenes war, der die demokratia in Athen eingeführt hat. 411 verabschiedete die athenische Volksversammlung ein Dekret, in dem ebenfalls Kleisthenes als Vater der Demokratie bezeichnet wird. Demokratia tauchte also erst zu einem relativ späten Zeitpunkt als Begriff auf, nachdem das, was damit bezeichnet wurde, längst praktiziert worden war. Der Begriff scheint lange Zeit unbekannt gewesen zu sein, die Rede war von isonomia (gleiches Recht), isegoria (gleiches Recht der Rede) oder isokratia (gleicher Anspruch auf Herrschaft). Damit wird deutlich, dass vor allem der Gedanke der Gleichheit entscheidend war für die neue demokratische Ordnung, die sich gleichermaßen von der Tyrannis wie der aristokratischen Gesellschaft abgrenzte. So war auch in zwei Gesetzen gegen die Tyrannis von 401 und 336 v. Chr. eine Strafe, nämlich die Vogelfreiheit, für die Abschaffung der demokratia bestimmt. Auf einer Stele war neben dem Gesetz von 336 übrigens auch das Relief der Göttin Demokratia zu sehen, die einen bärtigen alten Mann, den demos darstellend, bekränzt.

Die demokratia wurde nicht nur symbolisch zur Darstellung gebracht, sondern die demokratia wurde, wenngleich erst sehr spät, auch zu einem Gegenstand kultischer Verehrung und Vergewisserung gemacht. So hatte der Rat 333 v. Chr. beschlossen, dass der Göttin Demokratia auf der Agora, dem Markt- und Versammlungsplatz, eine Statue zu errichten war, deren Inschrift zeigte, dass die Strategen der Göttin jedes Jahr ein Opfer darbringen mussten. Auch in Tragödien und Komödien wie in den «Historien» Herodots ist der Begriff demokratia bezeugt. In den schon zitierten Hiketiden lässt Euripides Theseus sagen: «Ich habe das Volk zum Monarchen eingesetzt!» und: «Das Volk herrscht hier in jährlichem Turnus». Andernorts begegnet die Formel «Die Macht ist hier ‹vervolklicht›!». Reden in der Volksversammlung und vor den Gerichten rühmten die athenische Verfassung als eine demokratia. In der Gefallenenrede bei Thukydides sagt Perikles ausdrücklich, dass Athen eine demokratia genannt wird. Vom Siegeszug der Demokratie zeugen schließlich auch Grabinschriften und Namensgebungen. Zahlreiche Schiffe der athenischen Kriegsflotte trugen den Namen Demokratia.

Die Demokratie wurde in Athen erfunden, es gab aber keine Blaupause, kein Modell, keine Theorie, nach der die Institutionen entworfen und errichtet worden wären. Die Demokratie hat sich im Laufe der Zeit herausgebildet und sie hat sich auch, soviel wir wissen, zuerst in Athen voll entfaltet, bevor sie in anderen griechischen städtischen Gemeinwesen, den Poleis, zumeist auf Druck Athens, eingeführt wurde. Ganz ohne Frage war die Herausbildung des attischen Seereiches eine notwendige, wenngleich keine hinreichende Voraussetzung der Demokratie in Athen. Für die Etablierung und die Sicherung des Seereiches war die Flotte, und damit die untere Bevölkerungsschicht, die die Mannschaften stellte, unentbehrlich. Neben den Hopliten, den bewaffneten Kämpfern, die die Phalanx bildeten, mussten deshalb auch die Ruderer, die so genannten Theten, in den athenischen Bürgerverband einbezogen werden. Vor allem bei der Abwehr der Perser 490 bis 479 v. Chr. sind, auf Initiative des Themistokles, die Nichtbesitzenden, die Theten, auf die Kriegsflotte gesetzt worden. Sie erwiesen sich als unentbehrlich für den Sieg und konnten fortan politisch nicht mehr ignoriert werden. Es waren dann diese Schichten, mit deren Unterstützung Ephialtes und Perikles den Areopag, das Organ des Adels, stürzten und die Demokratie zu dem werden ließen, was heute als das klassische Modell athenischer Demokratie überliefert ist. Es waren mithin die äußeren Ereignisse der Perserkriege und des Attischen Seebundes gewesen, die die Entwicklung zur Demokratie, zu einer alle Bevölkerungsschichten umfassenden Herrschaft des Volkes, erst wirklich zum Ziel gelangen ließen.

Zuvor aber waren die Reformen, die Kleisthenes und bereits Solon eingeführt hatten, die entscheidenden Weichenstellungen gewesen. Solon (594 v. Chr.) beseitigte große soziale Missstände und schuf politische Institutionen, die Marksteine auf dem Weg zu einer demokratischen Ordnung werden sollten. Mittels der so genannten Lastenabschüttelung und der Abschaffung der Schuldknechtschaft wurden die Bauern von ihren drückenden Schulden und der Gefahr, in die Sklaverei abzurutschen, befreit. Solon schuf vier Vermögensklassen, was an sich noch keine genuin demokratische Reform genannt werden konnte, aber es bedeutete doch eine vorentscheidende Abkehr vom aristokratischen, auf Herkunft beruhenden Prinzip gesellschaftlicher und politischer Ordnung. Aber mit Solon, der später vor allem von Aristoteles als der große Gesetzgeber Athens bezeichnet wurde – was die Zeugnisse nicht im Einzelnen zu belegen vermögen –, hatte sich auch die Vorstellung durchsetzen können, dass die politische Ordnung gestaltbar war. Damit war gewissermaßen die Politik als ein Bereich, der der Gestaltung fähig ist, erfunden. Politik, tá politiká, war nun bürgerschaftliches Handeln, welches gerecht und auf eine gute Ordnung gerichtet sein musste. Dike (gerechtes Handeln) und Eunomia (gute Ordnung) wurden zu Voraussetzung und Ziel politischen Handelns. Das galt auch für die Demokratie und ihre Institutionen.

Mit Kleisthenes bekam die attische Demokratie ihre grundlegende institutionelle Struktur. Die List der Vernunft bestand nun auch hier darin, dass Kleisthenes seine Reformen wohl keineswegs als Maßnahmen der bewussten Demokratisierung intendiert hatte. Vielmehr hoffte er im Kampf unterschiedlicher aristokratischer Gruppen mit seinen Veränderungen das einfache Volk auf seine Seite ziehen und Isagoras, dem Konkurrenten, entgegentreten zu können. Zuvor war, nicht zuletzt mit Hilfe der verfeindeten Spartaner, das Regime des Tyrannen Hippias, der auf seinen Vater Peisistratos folgte, beendet worden. Anschließend hatten die Athener die Spartaner herausgeworfen, riefen Kleisthenes wieder zurück und verurteilten Isagoras in Abwesenheit zum Tode. Innerhalb von drei Jahren wurden damit nicht nur die Tyrannen vertrieben, auch die Herrschaft der Aristokraten endete, um der Demokratie Platz zu machen.

Die Reformen von Kleisthenes bewirkten vor allem die Entstehung einer einheitlichen politischen Bürgerschaft Attikas. Dies wurde durch eine Neuordnung der so genannten Phylen, der Stämme, erreicht, mit denen sich die Bindung an die lokale Herkunft und Familie entschieden lockerte. Zur neuen Grundlage der politischen Ordnung wurden die Gemeinden, die Demen. Diese Demen waren, modern gesprochen, Kommunen lokaler Selbstverwaltung. Hier entstand eine politische Gemeinschaft, in der isonomia und isegoria praktiziert wurden und, als Folge, sich ein Sinn für bürgerschaftliches Handeln und politische Verantwortung entwickelte. Denn zum einen erhielten die Demen auch das Recht, Bürgerlisten zu führen, zum anderen besaßen sie eigene Beamte und Priester und führten Gemeindeversammlungen durch. War damit eine gewisse Autonomie der lokalen politischen und kultischen Gemeinschaft geschaffen, so bewirkten die Reformen von Kleisthenes zugleich ein fast schon föderal zu nennendes politisches Mehrebenensystem. Denn die Demen delegierten, teils durch Wahl, teils durch Losung, eine ihrer Bürgerzahl entsprechende Quote von Mitgliedern in einen ebenfalls neu geschaffenen «Rat der Fünfhundert». Damit war die Repräsentanz der Demen im politischen Zentrum Athens gewährleistet. Gleichzeitig gelang es Kleisthenes, die Demen wieder in dreißig so genannte Trittyen zusammenzufassen. In je zehn dieser Trittyen waren die Regionen von Stadt, Küste und Binnenland eingeteilt. Indem Kleisthenes je eine Trittys aus den verschiedenen Regionen zu einer neuen Phyle kombinierte, waren nicht nur «Querschnitte» durch die Regionen hergestellt, sondern auch eine «Mischung» der Bürgerschaft erzielt. Die gesamte Bevölkerung Attikas war nun nach repräsentativen Kriterien politisch zusammengesetzt. Durch das Aufbrechen lokaler und regionaler, althergebrachter und vertrauter Bindungen und die Herausbildung überregionaler Interessen wuchs so die Bürgerschaft zusammen. Die «Vermischung» der Bürger, wie es Aristoteles später nannte, ließ eine integrierte Polis, ein politisches Gemeinwesen entstehen. Das bürgerschaftliche Bewusstsein drückte sich dann auch in der Kleisthenes zugeschriebenen Einführung des Ostrakismos, des Scherbengerichts, aus. Politische Führer konnten für zehn Jahre in die Verbannung geschickt werden, ohne indes den Bürgerstatus oder das Eigentum zu verlieren. Dieses Verfahren hatte zwei Stufen. Jedes Jahr konnte das Volk in einer Volksversammlung durch Handerheben darüber abstimmen, ob es einen Ostrakismos geben sollte. Wenn dies der Fall war, fand das Scherbengericht dann zwei Monate später auf der Agora statt, indem jeder Bürger eine Tonscherbe (Ostrakon) einwarf, auf der er den Namen des zu Verbannenden eingekratzt hatte. Zwanzig Jahre nach Einführung hielten die Athener 487 erstmals einen Ostrakismos ab, um einen Verwandten des ehemaligen Tyrannen zu verbannen. Der letzte Ostrakismos wurde 417 durchgeführt.