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Eine Fliege kommt selten allein

Geschafft! Walter hängt das Geschirrtuch an den Haken und schaut zufrieden auf sein Werk. Die Spülmaschine ist ausgeräumt, das Restgeschirr gespült und sogar der Herd glänzt wie neu. Auf ihn ist eben Verlass. Wie er früher in der Firma als Werkstattmeister vorbildlich für Ordnung und Sauberkeit im Unternehmen gesorgt hat, so erfüllt er jetzt gewissenhaft die Aufträge, die ihm seine Frau Leni erteilt. Früher, als er noch berufstätig war, musste er ja nicht so oft ran im Haushalt. Klar, am Samstag hat er schon mal seine Wohnungsrunde mit dem Staubsauger gedreht. Seit er aber in Rente ist, zieht ihn Leni mehr und mehr zu den üblichen „Männerdiensten“ im Haushalt heran: Spülmaschine ein- und ausräumen, Müll rausbringen, Saugen sowieso und beim Spülen helfen. Sogar ein bisschen kochen durfte Walter schon – zumindest seiner Frau ein wenig assistieren dabei.

Jetzt aber ist es höchste Zeit für sein geliebtes Ritual. Mit einem geschickten Griff fischt er die Zeitung aus dem Ständer, geht zu seinem gemütlichen Lesesessel in der Ecke des Wohnzimmers, schaltet die antike Stehlampe an, die er von Tante Rita geerbt hat und die Leni so hasst, weil sie angeblich so hässlich ist. Aber pfenniggut. So etwas schmeißt man doch nicht auf den Sperrmüll. So ein Stück hält man absolut in Ehren. Walter sucht sich die bequemste Position, legt die Beine hoch und lässt die Pantoffeln zu Boden fallen.

Endlich Ruhe. Leni ist sicher noch eine gute Stunde beim Shoppen in der Stadt, jetzt kann sich Walter ganz ungeniert seiner Zeitung widmen. Zuerst den Lokalteil, das ist ihm wichtig. Schließlich will er informiert sein, was in seiner kleinen Gemeinde so passiert. Oder vielmehr: Was in den Nachbardörfern so los ist. Da, schau, der Müller Georg ist neuer Schützenkönig!

Ein „Ssssssssssss“ durchbricht plötzlich die Stille des Nachmittags. „Sssssssssss“. Schon setzt sich eine Fliege auf die Zeitung. Mitten auf das Bild des neuen Schützenkönigs. Walter wedelt das lästige Tier mit der Hand fort und widmet sich wieder dem Artikel. „Der Müller kann doch gar nicht richtig schießen, der zittert doch wie ein alter Ackergaul“, denkt sich Walter gerade, als das lästige Geräusch erneut zu hören ist. „Sssssssss.“ Frech setzt sich die Fliege auf die Hand des Rentners. Na warte. Walter holt aus und schlägt nach ihr. Aua! Das hat ganz schön weh getan. Und die Fliege ist auch weg. Ihr „Ssssssssss“ hört Walter ganz deutlich.

„Ich zittere ja schon mehr, als dieser Müller“, brummelt Walter und wendet sich dem Artikel über die Freiwillige Feuerwehr zu. „Ssssssssss“ macht es wieder und er spürt ein leichtes Kitzeln auf seinem Kopf. Dort, wo das Haar am lichtesten ist. Warte, du Biest! Ganz langsam rollt Walter die Zeitung zusammen. Ganz vorsichtig, um das freche Tier nicht aufzuschrecken, hebt er die Papierrolle über seinen Kopf. Zack! Im hohen Bogen fliegt die Lesebrille von Walter quer durch das Wohnzimmer und knallt gegen die Schrankwand. Walter schmeißt die Zeitung weg und macht sich auf die Suche. Glück gehabt, die Brille ist noch heil, denkt er, als er auch schon ungeschickt auf seine Lesehilfe tritt. Das laute Knirschen von brechendem Glas verrät ihm, dass seine Brille nun nicht mehr ganz ist.

Verdammt, alles wegen dieser blöden Fliege. Und erwischt hat er das hinterhältige Vieh auch nicht mit seinem Schlag. Hastig kehrt Walter die Scherben zusammen. Vorsichtig lauscht er, ob er auch nicht das vertraute Geräusch des Schlüssels in der Haustür hört. Hoffentlich kommt Leni nicht ausgerechnet jetzt heim. Ausgerechnet, wenn er seine Brille ruiniert hat. Schnell die Scherben beseitigen. Leni wird er erzählen, dass ihm die Brille bei der Hausarbeit runtergefallen ist. Genau, die Ausrede ist gut. Dann kann er seiner Frau auch gleich noch ein schlechtes Gewissen machen, weil er immer im Haushalt helfen muss. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Aber in einer guten Ehe ist sich jeder selbst der Nächste – vor allem, wenn man Tag für Tag für so niedrige Dienste eingeteilt wird.

„Ssssssss“! Wieder umsurrt das freche Biest seinen Kopf. Walter hebt die Zeitung wieder auf, rollt sie erneut zusammen und macht sich auf die Jagd nach der Fliege. Wie ein wildgewordener Baseball-Spieler jagt er dem Tier hinterher, schlägt mit der Zeitungsrolle wild um sich, um den ekelhaften Schädling endlich zu erlegen. Jetzt hat er sie in der Falle. Mit einem gezielten Schlag haut Walter auf die Fliege, die auf der antiken Vase sitzt, die seine Frau vor Jahren für viel Geld bei einem Antiquitätenhändler gekauft hat. Patsch, der hat gesessen, die Fliege fällt auf den Boden. Das tut allerdings auch die Vase von Leni. Mit einem lauten Geschepper kracht sie auf das Parkett und zerschellt in tausend Scherben.

Autsch, das war jetzt nicht so gut. Die gute Vase von Leni. Das gibt Ärger. Großen Ärger. Walter spürt, wie sein Blutdruck nach oben schnellt. Wie bringt er das nur seiner Frau bei? „Ich habe wie ein Blöder um mich geschlagen, um eine Fliege zu erwischen.“ Das kann er garantiert nicht sagen, da bekommt Leni einen Tobsuchtsanfall vom Feinsten. „Ich sage ihr einfach, ich bin mit dem Staubsauger dagegen gestoßen“, denkt sich Walter. „Dann hat Leni vielleicht sogar ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil ich daheim so viel tun muss.“ Toben wird die geliebte Ehefrau trotzdem. Da ist eine neue Vase und eine satte Entschuldigung fällig. Da wird er tief in seine Tasche greifen müssen, um Leni besänftigen zu können. Wahrscheinlich muss er jetzt sogar mit ihr auf Kur nach Bad Füssing fahren. Da redet er sich seit Jahren erfolgreich raus, jetzt gibt es kein Entkommen mehr, wenn er Leni wieder besänftigen will. Wenigstens hat er diese blöde Fliege erwischt. Mit einem Schlag, der aller Ehren wert ist.

Walter hebt das auf, was von der Fliege noch übrig ist, und wirft es in den Mülleimer zu den Scherben der Brille und den Überresten der Vase. „Die quält mich nicht mehr“, denkt er und greift wieder nach der Zeitung. „Ssssssssss“, macht es und eine Fliege setzt sich ganz frech mitten auf das Bild des neuen Schützenkönigs in der Zeitung.

Ein Herz für Tiere

Egon fehlten die Worte. Dass er sich in einem Fernsehstudio befand, vor laufender Kamera eine Expertise bekommen hatte, und letztendlich die von halb Deutschland begehrte Händlerkarte in seinen Händen hielt, grenzte für ihn an ein Wunder. Jetzt musste er nur noch in den Verkaufsraum. Einerseits war er furchtbar aufgeregt, andererseits neugierig, wer vom Händlerteam ihn erwarten würde.

Mit wild klopfenden Herzen macht er sich auf den Weg in die Höhle des Löwen. Dort angekommen blickt er eingeschüchtert in die Gesichter der anwesenden Antiquitätenhändler. Kein Wort kommt über seine Lippen, während die Kamera zu den Händlern wandert, die hinter der Verkaufstheke sitzen.

Einer der Händler durchbricht die Stille und fragt: „Guten Tag der Herr. Da haben Sie uns ja einen sehr speziellen Zoo mitgebracht. Ich kann mir schwer vorstellen, dass diese edlen Tiere aus Ihrem Besitz stammen.“

Die Kamera schwenkt auf Egons braune Cordhose, die derben Lederhalbschuhe und das rot-blau karierte Baumwollhemd. Ja, wie ein Sammler für filigrane Kunst sieht er nun wirklich nicht aus. Er passt besser auf seinen Bauernhof, als hierher, in diesen Verkaufsraum.

Egon schluckt seine Angst hinunter und erklärt: „Diese Tiere habe ich von meiner kinderlosen Tante geerbt. Die hatte eine winzige Wohnung in der Stadt und ist in ihrem Urlaub immer zu uns auf den Bauernhof gekommen. Sie hat jedem ihrer Neffen und Nichten 5.000 Euro vererbt, ich aber habe die Kiste mit ihrer Tiersammlung bekommen.“

Der Händler lacht: „Da waren Sie bestimmt erst einmal überrascht, oder?“

Egon schüttelt den Kopf.

„Eher enttäuscht. Warum meine Lieblingstante gerade mir das Zeug vermacht hat, wo ich doch lebendige Tiere im Stall habe? Mein Nachbar ist dann auf die Idee gekommen, an den Fernsehsender zu schreiben. Jetzt im Winter habe ich ja nicht so viel zu tun.“

Ein anderer Händler meldet sich zu Wort: „Da würde ich sagen, hat Ihr Nachbar aufs richtige Pferd gesetzt. Die Kiste ist dabei, nehme ich an? Ich beginne mit meinem ersten Gebot: 80 Euro! Das sollte so ein Vieh schon wert sein.“

Egon fällt die Kinnlade herunter. Nur 80 Euro! Die Expertise hatte bis zu 250 Euro pro Tierfigur ergeben, 5.000 Euro insgesamt. Die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben!

Der bietende Händler klatscht vor Schadenfreude in die Hände: „Scherz beiseite, 180 Euro − pro Figur natürlich.“

Ein weiterer Händler, der ein Auktionshaus betreibt, zeigt auch Interesse: „Ihre Tiere sind von KPM, der Kaiserlichen Porzellan Manufaktur, vom Bildhauer Anton Puchegger. Haben Sie sich über den bereits schlau gemacht?“

Egon schüttelt den Kopf und bleibt eine Antwort schuldig.

Daraufhin klärt ihn der Auktionator auf: „Der Bildhauer Anton Puchegger war ein Wunderkind. Mit acht Jahren schnitzte er eine Karikatur des Bürgermeisters in eine Holzplanke. Der regte sich fürchterlich auf und verlangte vom Dorfschullehrer eine Bestrafung, was 1886 mit Prügeln gleichzusetzen war. Der Lehrer aber erkannte das große Talent, machte einen Grafen darauf aufmerksam, und der schickte Puchegger auf die Holzschnitzerschule nach Bozen. Dann kam die Kunstakademie in Wien, Paris und schließlich Berlin. Um die Jahrhundertwende waren exotische Tiere eine Sensation, und zum ersten Mal konnte man sie, zum Beispiel im Berliner Zoo, lebendig bewundern. Für KPM schuf Puchegger Zebras, Affen, Meerkatzen, Leoparden, Tiger und Eisbären. Er war einer der berühmtesten Tierbildhauer seiner Zeit. Ich biete Ihnen 280 Euro pro Stück.“

Egon hält die Luft an, die Expertise ist bereits um 30 Euro pro Figur überschritten.

Ein Gebot nach dem anderen wird in den Raum geworfen. Erst als der Schätzpreis um ein vielfaches übertroffen ist, kommt die Verhandlung ins Stocken.

Der meistbietende Händler möchte von Egon wissen: „Verkaufen Sie an mich für eine Gesamtsumme von 9.500 Euro? Das ist eine Menge Bares, auch wenn es sich um ein Konvolut aus 20 außergewöhnlich raren Tierdarstellungen handelt.“

Egon nickt zustimmend.

Er geht zu dem Händler und besiegelt das Geschäft mit Handschlag. Dann nimmt er die Geldscheine entgegen und lässt sie in seiner ausgebeulten Hosentasche verschwinden. Ohne ein weiteres Wort zu vergeuden, verabschiedet er sich mit einem Kopfnicken in die Runde und verlässt den Raum.

Draußen erwartet ihn ein Kamerateam und stellt sich ihm in den Weg: „Und wie ist es für Sie gelaufen.“

Sekundenlang herrscht Stille.

Egon überlegt krampfhaft, was er antworten soll, dann setzt er zum Sprechen an: „Gut.“, und macht sich aus dem Staub.

Jetzt kann ich mir den Traktor eine Nummer größer bestellen, freut er sich insgeheim und verlässt fluchtartig das Gebäude. Dann steigt er in sein Auto und fährt los, Richtung Heimat. Zurück auf seinen Bauernhof, zu seinen geliebten Tieren. Was für ein Glück, geht es Egon durch den Kopf, dass auch die Tante ein Herz für Tiere hatte.

Der schlaue Vielfraß

Die Kirchturmuhr der spätgotischen Kirche, die das Zentrum des vom Weinanbau geprägten Dorfes in der Pfalz bildete, schlug sechs Mal. Die Tage wurden merklich kürzer und die Weinlese stand bevor, dachte Hans und brockte den Rest seiner Semmel in den lauwarmen Kaffee. Zu früh für die Jahreszeit, doch der Sommer war heiß und trocken gewesen. Wochenlang hatte er um seine Weintrauben gebangt, hatte Angst gehabt, dass sie die anhaltende Dürre nicht überstehen könnten. Wider Erwarten war die Qualität der Trauben hervorragend, und auch wenn die Lese vom Ertrag her geringer ausfallen würde, machte das die Aussicht auf einen Spitzenjahrgang wieder wett.

Seit dreißig Jahren bewirtschaftete Hans den Weinberg seiner Vorfahren mit Hilfe von zwei Pferden, wie es in früheren Zeiten gang und gäbe gewesen war. Dies machte ihn Ende der neunziger Jahre zum Gespött in dem Pfälzer Winzerdorf, in dem er, seit er denken konnte, lebte. Hinter seinem Rücken wurde gemunkelt, dass er nicht genug Geld für die Anschaffung eines Schleppers hätte oder, was nicht besser war, dass er ein sentimentaler Spinner wäre.