EINFÜHRUNG I Ging, das älteste Weisheitsbuch

von Thomas Cleary

Das I Ging, das Buch der Wandlungen, ist die älteste und komplexeste der klassischen chinesischen Schriften und wurde jahrtausendelang als Orakelbuch, als Führer zu Erfolg und als Weisheitsbuch geschätzt. Die gesamte chinesische Philosophie baut auf seinen Gedanken auf, und es ist die wichtigste Quelle für den pragmatischen Mystizismus des Daodejing, für den rationalen Humanismus des Konfuzius und auch für die analytische Strategie der Kunst des Krieges eines Sunzi.

Das Buch der Wandlungen wurde vor über dreitausend Jahren von einem König und seinem Sohn verfasst, die Schüler eines taoistischen Weisen waren. Sechshundert Jahre später wurde das Werk von Konfuzius, dem großen Gelehrten und Pädagogen, analysiert und kommentiert. Das Ergebnis dieser Arbeit war der Text in seiner heute bekannten Form, eine Sammlung von Ratschlägen, die die Ursachen, die hinter dem Aufstieg und Fall von Königreichen und Personen stehen, erhellen.

Nach traditioneller Auf‌fassung hatten die Zeichen im Buch der Wandlungen ursprünglich die Funktion eines Notationssystems und stellten ein Werkzeug dar, mit Hilfe dessen symbolisch Assoziationen hergestellt und Beziehungen definiert werden konnten. Dieses System entwickelte sich zu einer logischen Sprache zur Beschreibung von Ereignissen und Handlungen.

Die Anfänge des Buchs der Wandlungen liegen also in den Ursprüngen der Schrift selbst, in dem Versuch, Phänomene und Ereignisse mit Hilfe von Schriftzeichen zu beschreiben. Die Strukturen des Buchs der Wandlungen repräsentieren dynamische Muster von Kausalzusammenhängen, und der gesamte Aufbau des Werkes stellt eine Symbolsprache dar, die Beziehungen und deren Wandel im Lauf der Zeit beschreibt.

Ursprünglich wurde das Buch der Wandlungen auf Bambusstreifen oder Baumrinde niedergeschrieben, die zu Zwecken der Befragung aufgelegt wurden, aber weder in Form noch im Aufbau einem Buch, wie wir es heute kennen, ähnelten. Die innere Ordnung wurde durch die Beziehungen zwischen den wichtigsten Symbolen aufrechterhalten. Aufgrund der Komplexität dieser Symbole konnten mehrere verschiedene Systeme von Wechselbeziehungen innerhalb der inneren Ordnung des abstrakten Buchs der Wandlungen nebeneinander bestehen.

ZUM GEBRAUCH DES BUCHS DER WANDLUNGEN

Eine bequeme Methode, das Buch der Wandlungen zu befragen, wird in jenem Anhang, der von Konfuzius stammen soll, beschrieben und beruht auf den Prinzipien:

Der Wandel kennt eine absolute Grenze;

Diese erzeugt die zwei Erscheinungsweisen;

Die zwei Erscheinungsweisen erzeugen die vier Bilder;

Die vier Bilder erzeugen die acht Trigramme;

Die acht Trigramme bestimmen Glück und Unglück.

Diese Formel beinhaltet die Grundstruktur des Buchs der Wandlungen, von der sich die einfachste Methode, das Buch zu befragen, ableitet.

1. Die »absolute Grenze« des Wandels bezieht sich auf geistige Ruhe. Der erste Schritt beim Befragen des Buchs der Wandlungen besteht darin, den Geist zur Ruhe zu bringen.

2. Die »zwei Erscheinungsweisen« sind Yin und Yang. Diese abstrakten Begriffe repräsentieren Biegsamkeit und Festigkeit, Schwäche und Stärke, Stille und Bewegung, Passivität und Aktivität, Trauer und Freude, Depression und Begeisterung.

Kann der Leser die Yin- bzw. Yang-Faktoren und Eigenschaften bei einem Menschen oder in einer Situation erkennen, hilft ihm das, die Aussagen über die Yin- oder Yang-Komponenten der einzelnen Zeichen des Buchs der Wandlungen zu verstehen und anzuwenden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass im Buch der Wandlungen Yin und Yang nicht das Weibliche und das Männliche symbolisieren. Im Symbolismus dieses Systems repräsentiert die Frau Yin und der Mann Yang, aber nicht umgekehrt. Ein weibliches Symbol steht daher nicht für das weibliche Geschlecht und ein männliches Symbol nicht für das männliche Geschlecht; Yin steht nicht für die Frau und Yang nicht für den Mann. Yin und Yang sind universelle Komplemente, die in allen Menschen und allen Ereignissen vorhanden sind.

Es ist außerdem wichtig zu verstehen, dass Yin und Yang nicht gut beziehungsweise schlecht repräsentieren. Yin und Yang können sowohl gut als auch schlecht sein, je nachdem, welche Funktion die jeweilige Eigenschaft in einer bestimmten Situation hat.

3. Die »vier Bilder« heißen altes (reifes, großes) oder junges (kleines) Yin und Yang. Der Yin-Modus ist unterteilt in altes Yin und junges Yang, auch dem Höhepunkt zustrebendes Yin oder anfängliches Yang genannt. Der Yang-Modus ist unterteilt in altes Yang und junges Yin, auch dem Höhepunkt zustrebendes Yang und anfängliches Yin genannt.

Diese Unterteilungen verdeutlichen das Prinzip, dass die Yin- und Yang-Erscheinungsformen nichts Statisches sind, sondern sich immer in einem Prozess des Zunehmens oder Abnehmens befinden.

4. Die »acht Trigramme«, die aus den vier Formen von Yin und Yang entstehen, vervollständigen die grundlegende Struktur des Buchs der Wandlungen und ergeben jene Symbole, die zur schnellen Befragung des Buches verwendet werden:

Alte Yang-Trigramme: HIMMEL und SEE

Junge Yin-Trigramme: DONNER und FEUER

Alte Yin-Trigramme: ERDE und BERG

Junge Yang-Trigramme: WASSER und WIND

Die Kombinationen dieser acht Symbole bilden das Herzstück der 64 Kapitel des Buchs der Wandlungen. Die Befragung beruht denn auch auf der Nebeneinanderstellung ihrer symbolischen Werte:

HIMMEL symbolisiert Stärke oder Kreativität.

SEE symbolisiert Freude oder Anziehung.

DONNER symbolisiert Initiative oder Handeln.

FEUER symbolisiert Aufmerksamkeit oder Bewusstsein.

ERDE symbolisiert Empfänglichkeit oder Ergebenheit.

BERG symbolisiert Innehalten oder Ruhe.

WASSER symbolisiert Leidenschaft oder Gefahr.

WIND symbolisiert Eindringen oder Nachfolgen.

Bei der Befragung wird ein Symbolpaar ausgewählt, das Eigenschaften repräsentiert, die die betreffende Situation charakterisieren. Diese Eigenschaften können für Aspekte der Persönlichkeit und des Charakters einzelner Menschen oder Gruppen stehen, genauso aber auch für die dominanten Kräfte, die ein Ereignis, eine Aktivität oder ein Unterfangen charakterisieren.

Jedes Symbolpaar ergibt zwei Hexagramme (oder ein Hexagramm, bei dem dasselbe Symbol zweimal genommen wird). Diese bilden den Text für die Befragung und werden in der weiter unten beschriebenen Art und Weise gelesen. Benützen Sie bitte die Tabelle hinten auf Seite 249, was die Kombinationen der Trigramme und die Hexagramme, die sie bilden, betrifft. Die angeführten Beispiele am Ende der Einführung zeigen typische Beziehungen und Situationen, die sie darstellen können.

Wie die ausgewählten Hexagramme auf die betreffende Situation angewandt werden, ist eine persönliche Angelegenheit, denn die Natur des Buchs der Wandlungen impliziert, dass die Bedeutungen je nach individuellen Faktoren wie Persönlichkeit und Stimmung des Lesers variieren. Um einen tieferen Einblick zu erhalten, kann jedes Hexagramm auch zu zwei anderen in Beziehung gesetzt werden, zu einem primären Korrelat und einem strukturellen Komplement. (In einigen wenigen Fällen decken sich die beiden.) Im Anhang sind die primären Korrelate und strukturellen Komplemente angeführt.

In der eigentlichen Praxis haben Anwender des Buchs der Wandlungen es traditionellerweise immer als ein ganzes System gelesen und es auf dem Hintergrund seiner gesamten Philosophie interpretiert. Es ist diese umfassende Ganzheit und die Kohärenz des Buches, die erst seine Effizienz ausmachen; es wird daher traditionellerweise empfohlen, das Buch als Ganzes zu lesen, um den größtmöglichen Gewinn daraus zu ziehen.

Die einzelnen Abschnitte und ihre Interpretation:

Das erste Element einer individuellen Interpretation ist der Name des Hexagramms, der ein gewisses Thema anzeigt, das aus einem archetypischen Element oder Aspekt des menschlichen Lebens besteht. Darauf folgt eine kurze Darstellung des pragmatischen philosophischen Inhaltes dieses Themas.

Der nächste Abschnitt ist das »Gesamturteil«, die Analyse des Themas und der philosophischen Darstellung, die von Konfuzius stammen soll. Darin werden die Beziehungen der Elemente, die die Trigramme darstellen, herausgearbeitet. Daran schließt sich ein Aphorismus an, der ebenfalls Konfuzius zugeschrieben wird und der auf der Bildsprache des Hexagramms als ein Paar spezifischer Trigramme basiert.

Das Thema, die Darstellung, das Gesamturteil und der bildhafte Aphorismus bilden das abstrakte Herzstück eines jeden Kapitels und sind die Teile, die man im alltäglichen Leben in Mußestunden liest oder um sich die im Buch der Wandlungen verborgene Weisheit zu erschließen.

Die darauf‌folgenden Aussagen zu den einzelnen Linien geben Hinweise, wie man in Situationen relativer Stärke oder Schwäche auf spezielle Weise reagieren kann. Sie werden auch dann gelesen, wenn die Befragung sich auf unerwartete oder unvorhersagbare Veränderungen bezieht. Aufgrund des Beziehungsrahmens können sich die Aussagen zu den einzelnen Linien auch auf vergangene, zukünftige oder andere Faktoren außerhalb der unmittelbaren Gegenwart beziehen.

Berücksichtigt man auch die primären Korrelate und die strukturellen Komplemente des betreffenden Hexagramms, erhält man eine erweiterte Sicht der Lage und kann in tiefere Schichten der Interpretation vordringen.

Schlüssel:

HIMMEL: Stärke / Kreativität

SEE: Freude / Anziehung

DONNER: Initiative / Handeln

FEUER: Aufmerksamkeit / Bewusstsein

ERDE: Empfänglichkeit / Ergebenheit

BERG: Innehalten / Ruhe

WASSER: Leidenschaft / Gefahr

WIND: Eindringen / Nachfolgen

Beispiele:

1. Eine Beziehung zwischen einem Menschen, der sehr intelligent ist, und einem anderen, der sehr anpassungsfähig ist, kann durch eine Kombination von Feuer und Wind symbolisiert werden. Feuer über Wind ergibt das Hexagramm Nummer 50, DER SCHMELZTIEGEL. Wind über Feuer ergibt Nummer 37, DIE FAMILIE.

2. Eine Situation, in der eine Gruppe bei einer Unternehmung unbedingt weitermachen will, während eine andere Gruppierung zögerlich und zurückhaltend ist, kann durch eine Kombination von Donner und Berg dargestellt werden. Donner über Berg ergibt Nummer 62, DIE VORHERRSCHAFT DES KLEINEN. Berg über Donner ergibt Nummer 27, DAS ERNÄHREN.

3. Wenn Sie dazu tendieren, in einer gefährlichen Lage sorglos zu handeln, so kann dies durch eine Kombination von See und Wasser symbolisiert werden. See über Wasser ergibt Nummer 47, DIE ERSCHÖPFUNG. Wasser über See ergibt Nummer 60, DIE REGELUNG.

BEMERKUNG Die üblichen Methoden der Orakelbefragung

von Ingrid Fischer-Schreiber

Neben diesem von Thomas Cleary beschriebenen intuitiv-meditativen Ansatz haben sich im Laufe der Geschichte zwei weitere Methoden der Orakelbefragung herausgebildet, die es auch dem Anfänger relativ leicht machen, das I Ging zu benutzen: das Münzorakel und das Schafgarbenorakel.

Das Schafgarbenorakel stellt die traditionellere, kompliziertere, aber auch von vielen als »zuverlässiger« angesehene Methode des Orakelnehmens dar. Die entsprechende Anleitung findet sich in der Übersetzung des I Ging von Richard Wilhelm (Diederichs Verlag).

Die einfachste Methode, das I Ging zu befragen, bildet das Münzorakel. Dazu braucht man lediglich drei Münzen.

Man formuliert die Frage und konzentriert sich darauf. Dann wirft man die drei Münzen gleichzeitig auf eine ebene Fläche. Die »Zahl« gilt als Yin und stellt den Wert 2 dar, der »Kopf« gilt als Yang und stellt den Wert 3 dar. Dies ergibt dann den Charakter der Linie.

Das Ergebnis der einzelnen Würfe (ein Wurf ergibt eine Linie eines Hexagramms) wird folgendermaßen notiert:

2mal Zahl,

1mal Kopf = 7 Yang (statische Linie)

2mal Kopf,

1mal Zahl = 8 Yin (statische Linie)

3mal Zahl = 6 Yin (bewegte Linie)

3mal Kopf = 9 Yang (bewegte Linie)

Diesen Vorgang wiederholt man sechsmal, die Ergebnisse werden übereinander notiert, d.h., der erste Wurf ergibt die unterste Linie des Hexagramms. Mit Hilfe der Tabelle auf Seite 249 wird das Hexagramm identifiziert.

In diesem Hexagramm wird die grundlegende Situation und das der Frage angemessene Verhalten beschrieben. Im Allgemeinen bezieht es sich auf die gegenwärtige Situation bzw. die unmittelbare Vergangenheit.

Nun liest man den Text zum betreffenden Hexagramm bis zu den Kommentaren zu den einzelnen Linien. Nur wenn das Hexagramm auch bewegte Linien (Sechser und Neuner) enthält, sollte auch der Text zu diesen Linien gelesen werden.

Enthält ein Hexagramm bewegte Linien, wandelt es sich in ein neues Hexagramm, in dem jede der bewegten Linien sich in die entgegengesetzte wandelt, d.h., die 6 (Yin-Linie in Bewegung) wird zur 7 (statische Yang-Linie), die 9 wird zur 8.

Dieses neue Hexagramm beschreibt die bevorstehenden Entwicklungen der gegenwärtigen Situation, zu denen es kommt, da das Yin bzw. Yang in Bewegung auf ihrem Höhepunkt in ihr Gegenteil umschlagen. Zu diesem Hexagramm liest man nur den Haupttext, nicht die Kommentare zu den einzelnen Linien.

I GING

Das Buch der Wandlungen