DENNIS FREISCHLAD

ÜBER ALLEM LICHT

EINE REISE INS GRIECHISCHE LEBEN

© 2019 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Herburg Weiland, München

Umschlagfoto: Bildausschnitt, © Alex Webb / Magnum Photos / -Agentur Focus (Vorderseite) Katarina van den Wouwer (Rückseite)

Fotos: Dennis Freischlad, Katarina van den Wouwer

Karten: Dennis Freischlad, Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie

www.dumontreise.de

Für Hannah,

die es wusste.

INHALT

Die Mani. Peloponnes

Kreta

Die Kykladen

Athen

Delphi

Epilog

Quellennachweis

Danksagung

»Was ists denn, dass der Mensch so viel will?, fragt ich oft;
was soll denn die Unendlichkeit in seiner Brust?«

FRIEDRICH HÖLDERLIN, HYPERION

Die Mani.
Peloponnes

Am Anfang ist das Licht.

Der gesamte Saal ist grau und dunkel, einzig das Bullauge leuchtet. Sein heller Fleck legt sich in die Augen und stülpt sich über den Kopf. Ein weißer Himmel versucht, in der trüben Scheibe zu glitzern, aber erfolglos. Ich drehe mich auf den Bauch und versuche herauszufinden, ob mir warm ist oder kalt, reibe mir die Finger und puste in die Hände.

Die Augen wollen zurück in den Schlaf und wissen nicht wie.

Alles ist still.

Und draußen, draußen das Meer.

Ich liege noch eine Minute und lausche dem Brummen der Maschinen unter meinem Bauch. Mir ist kalt, aber das Bärenbrummen der Kolben, Scharniere und Ösen ist warm. Der ganze Saal schläft noch, auch Lisa und die beiden Schweizerinnen schlafen. Ausgestreckt liegen sie über der großen albanischen Decke und atmen in ihre Schlafsäcke.

Ich stehe auf und steige über den Kerl, der gestern Abend nackt bis auf eine Tennishose auf dem Gang lag. In der Nacht muss ihm kalt geworden sein, denn sein Kopf lugt nun aus einem zerrissenen Schlafsack. Über seinem Gesicht liegt der aufgeschlagene telefonbuchdicke Hafenguide, den er sich für den Gehalt seiner Träume über die Augen gelegt hat. Unter seinem Lid zucken die Wasser der Erde. Ozeanbarken werfen ihn von Küste zu Küste, und tief in seinem Schlafstern verklingen die Namen seiner Städte, salzblaue Bilder, die ihm aus dem Buch in den Traum schwemmen. In seinen Nussschalen stehend, in Königssegel gefaltet, rauscht er um Smyrna, Lisboa, Manila und Iquique, das stickige Kalkutta im Rücken und den Bug voll tunesischer Minze. Seite um Seite weht sich ein neuer Horizont in sein leinenloses Abermals, es warten vulkanschwarze Berge, die von langen Nächten anschießender Erde prahlen, es warten Madagaskarrot, Behring und Mistral, damit es weiter geht auf großen Winden bis unter den Kautabakgaumen New Orleans. Schweißgehörnte Bars und der Frauenschenkelblues sind treue Brüder, seine Schwestern heißt er Liebe, Nacht und das Knochenmahlen grundblauer Jahre. Überall hisst er seine türkisen Flaggen, das Schlaraffenlandsegel aus wässriger Tinte, damit man gelebt hat für an Seemannsgarn und große Sonnen verlorene Tage. Er fährt und fährt, die Stirn voller Patschuli und Zimt, während sein Körper hier rumliegt, klimaanlagenbestäubt, und taub ist vom dunklen Blei der Druckerschwärze. Kinshasa, Reykjavik-Winter, polynesisches Erz.

Nichts weiß er von seinem Glück, seinen sandnassen Füßen.

Grüß mir, sage ich ihm, deine hingetupften Inseln!

Nach vier Stockwerken stehe ich oben an Deck.

Vor uns liegt der große Anthrazitteppich und atmet.

Die ersten flachen Hügel tauchen aus der Dunkelheit auf, Silhouetten von Land und Ländereien, messerscharf aus dem Morgen geschnitten.

Alles ist nass von Wind und Tau.

Wer noch einen Schal dabei hat, wickelt sich darin ein.

Wir sind zu dritt. Eine junge Frau geht mit ihrem Hund spazieren, sucht sich eine trockene Stelle und schneidet sich Tomaten aufs Brot. Ein Mann, garantiert kein Matrose, Techniker oder sonstiger Mitarbeiter des Schiffes, klopft an eine Scheibe, auf der steht: Zutritt nur für Personal. Er kaut eine alte Zigarre herunter, die schon lange erloschen ist, und klopft und klopft und hat keine Lust, aufzuhören mit seinem Klopfen.

Der andere Mann steht neben mir, streckt den Finger über die Reling und sagt:

»Das ist Albanien.«

Dann schiebt er seinen Finger ein paar Zentimeter nach rechts.

»Und das, mein Freund, das ist Griechenland.«

Viele Stunden später steigt aus der höchsten Stunde des Tages eine Ansammlung von grauen Steinquadern auf. O Patras, vom Hügel ausgespuckt und ans Meer heruntergerollt, du bist unser Hafen!

Lisa und ich verabschieden uns von den Bekanntschaften, die wir an Bord gemacht haben, und befreien Elber, Lisas alten und treuen Passat, aus dem Autodeck. Wir gehen an Land. Das Erste, was ich sehe, ist ein Kerl, der seine Harley Davidson auf dem Mittelstreifen der Straße entlangschiebt. Rechterhand liegt ein verrostetes Schiff, alte Basketballplätze, Schrotthändler und Cafés und die üblichen Bars und Buden, helle Insignien der griechischen Vorortswirtschaft, die keinen angehen und niemanden interessieren. Sobald wir die letzten Ausläufer der Stadt hinter uns gelassen haben und anfangen, die zerstreuten Häuser und Dörfer zu passieren, steigt das Land in unser Auto.

Der erste Wurf gelber Zitronen.

Der Bambus mit seinen schlanken Fingern.

Das Artischockenherz, umrankt von Hornklee, Narzisse und Flieder.

Wir halten die Nasen aus den Fenstern und unter die Sonne, wir wissen, dass wir nun angekommen sind, genau so sollte es immer schon sein, genau so hatten wir das letzte Mal Abschied genommen von Griechenland, von Bergen, der Sonne, von Insel und Meer.

Wir fahren weiter Richtung Süden und durchqueren die Peloponnes.

Unser Ziel: die einsame, die wilde Mani.

Die Bar »No Name«, verlassen und geschlossen. Der »Club Envy«, verlassen und geschlossen. Ein Mann schafft es, beim Überqueren der Straße zweimal die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Wo er ankommt, häutet sich der Rosmarin und streckt sich der Riesenfenchel in den weißen Oleander.

Lisa sagt: »Alles, was schön ist, passiert hier langsam.«

Wir fahren, bis wir die Berge erreichen und die Erde uns mitnimmt unter den Himmel. Endlich! Auf diesen Moment habe ich lange gewartet. Mein Finger lag bereits so oft auf den Landkarten und hatte seinen Namen berührt. Nun lag es uns zu Füßen, das Taygetos-Gebirge mit seinen graugrünen Buckeln und schweren, tausend Meter in die Höhe geschossenen Geheimnissen, die man, wenn überhaupt, mit den Feigenbäumen oder den Toten teilt. Früher, zu den Blütezeiten des benachbarten Spartas, warf man die Kranken und Schwachen unter den Neugeborenen in die namenlosen Schluchten dieser Berge. Hier würden sie schnell sterben. Oder hart und mächtig werden, falls sie überlebten.

Wir spüren es sofort, sobald ich Elber durch die ersten Serpentinen navigiere: Überall auf der Welt besitzen Bergbewohner diesen eigenen Reifegrad der Seele, einen gänzlich anderen Stolz als die Bewohner des Flachlands. Die Abgeschiedenheit knüpft sie vertrauter an Licht und Schatten, ihr Umgang mit dem allgegenwärtigen, okkulten Gehalt der Natur lässt sie drastisch werden bis hin zur Orthodoxie. Die Nähe zum Himmel lehrt Gottesfürchtigkeit bis ins Mark. Hier weiß man noch um tausenderlei Gnome und ginsterne Gestalten, die unter dem Farn hocken und einen in Ruhe lassen, bis man sie stört, Däumlinge von der Größe noch ungeborener Wälder, die auf keiner Karte zu finden sind und doch diese Berge regieren. Geburt und Tod sind so beiläufig wie Wolkenfelder. Liebe und Hass, Freundschaft und Tod – alles schön und gut, aber der Berg steht ewig und denkt nicht mehr an die Kräfte, die seine Gipfel unter den Himmel geschossen haben. Wer also will sich sorgen um das Brimborium der Welt, um den Klingelschönbeutel, der automatisch geleert wird, wenn einem ein für allemal der Atem ausgeht.

Ja, diese in dunkle Kleider und stumme Blicke gehüllten Menschen: Sturmerprobt und egal, ob satt oder hungrig, sind sie meist keiner weltlichen Herrschaft untertan, kein Kaiser oder Staat, keine Uniform hat hier auf lange Zeit das Sagen. Das gilt besonders für das Land hinter diesen Bergen. Ohne den Schutz des Taygetos, der eine natürliche Abschirmung gegen die übrige Welt ist, wäre die Mani nur ein weiteres Stück Griechenland. Nun war es aber schon immer so: In der Mani kann man schlecht gefunden – und somit auch schlecht belangt werden.

Lisa spürt, dass ihr Zuhause naht. Sie rutscht auf dem Sitz herum und erzählt von Joannis, ihrem Olivenmüller. Sie erzählt, wie ihre Liebe begann, erzählt von dem Dorf, das uns empfangen wird, von den gedeckten Tischen und den großen Festlichkeiten. Sie erzählt von Joannis’ Mutter, die, wenn das Fest zu wild und ihr Herz zu groß wird, die Schränke aufreißt und mit Tellern um sich schmeißt. Je lauter der Tanz, desto größer der Scherbenhaufen.

Es sei reines Glück, sagt Lisa, das da entsteht.

Als es schließlich in die Mani heruntergeht und sich das weite, grüne Land unter uns ausbreitet, müssen wir anhalten, um unsere Herzen zu beruhigen. Das vom Taygetos aufgeträumte Licht schwebt in die Ebene und folgt den Olivenhainen, die nun als silbergrüne Wellen durch die Dörfer rollen und ihr Meer finden. Der Wind trägt seine große Stille über die Zweige, wir fahren unter ihnen her, wir passen nun ganz hinein in dieses Land und streicheln ehrfürchtig auf Elbers Armaturen herum, der es von Kiel bis hierhin geschafft hat, ohne ein einziges Mal zu murren.

Eine halbe Stunde noch, dann stehen wir vor den Fischkuttern von Agios Nikolaos, meiner Heimat für die kommenden Wochen. Ich steige aus, lege mich auf den Kai und stecke die Hände ins Wasser. Eine große Sonne macht die Bucht weiß. Es sind ewige Bilder, die ich mir über die Lippen zurück in die Brust stopfe. Ich sage: das Meer und der Wind und die Sonne. Ich sage: warm, sage: der Atem. Sage: Stein, das Salz und der Himmel. Es sind die einzigen Worte der Erde. Nach ihnen kommen, bereits fern und verwaschen, nur Töchter dieser ersten Sprache, kommt Hunger, Trost, Liebe, Sehnsucht, Gerechtigkeit, der Tag und die Nacht und die Hoffnung. Alles weitere ist Geschwätz und hat verklumpte Geschichten auf der Zunge.

Ich krame mein Notizheft hervor und schreibe, erneut, mein erstes Griechenlandwort: Licht.

Im Hafen dieser Buchstaben legen wir endgültig an.

Welch anderer Name, welch anderer Ort hat eine solche Geschichte!

Lisa sagt: »Warte eine Stunde, okay?«

Joannis ist in der Olivenmühle. Er muss noch arbeiten und hat leider erst am Abend Zeit, aber sie will ihn zumindest kurz besuchen fahren. Ich setze mich vor die Bar Limani, »Zum Hafen«, und bekomme ein Bier in einem eiskalten Glas. Das Bier ist so kalt, dass kleine Eisplatten darauf schwimmen. Ich bin der einzige Kunde. Den Wirt nenne ich Paulus. Auf der anderen Straßenseite sitzen die Alten und die Fischer, schlucken die Tage herunter und starren aufs Meer, das ihnen schon vor langer Zeit die Augen gestohlen hat. Sie wissen, dass die Ewigkeit sie betrügt mit Knochenhaut und süßem Wein, sie wissen, diese Ewigkeit ist ihr treuester Freund. Die warmen Mokkatassen klappern auf den Tischen, ihr Zauber gelingt: Die Männer klemmen sich den Himmel unters Kinn und ziehen sich ein Lied durch die Lunge, die nur noch ein Pfeifen hervorbringt. Alles fürs Heute, denn schon morgen, wer weiß es!, könnte die Sonne ein kalter Stein sein.

Paulus hat mir Bier nachgeschenkt und einem Fischer das Glas Wasser aufgefüllt. Genug Anstrengung, um sich erst einmal hinsetzen zu müssen. Unter seinen Achseln haben sich tellergroße Schweißflecken gebildet, er kneift die Augen zusammen. Die Haare, die auf der vorderen Hälfte seines Kopfes fehlen, hat er der Balance halber hinten lang wachen lassen. Ein runder, birnenförmiger, gemütlicher Bär, der sich bewegt, als lebe er unter Wasser. Selbst sein Doppelkinn hat ein Doppelkinn. Mit der Hand wischt er sich über seine riesige Stirn. Seine Frau stellt ihm eine Dose Cola light auf den Tisch und verschwindet wieder im Laden. Paulus’ Augen aber sind so klein geworden, dass er es nicht bemerkt.

Lieblingsort in Agios Nikolaos: Paulus’ Bar »Zum Hafen«.

Ich laufe die Hafenpromenade rauf und runter, die, wäre sie mehr als nur diese kleine, dreihundert Meter lange Straße mit einer schläfrigen Handvoll Cafés und Bars, die Bezeichnung Hafenpromenade verdient hätte. So aber ist sie das Hafensträßchen, das dem winzigen Hafenbecken mit seinen zerzausten Kuttern ein Schmuckbändchen um den Hals legt. Hier sitzen die wenigen Einwohner, schnippen ihre Gebetsketten, die Komboloi, die in der Zwischenzeit ihre religiöse Signifikanz verloren haben und vorwiegend der Entspannung und dem Zeitvertreib dienen, um die Finger, fangen die Stunden ein und dösen mit faltergelben Augen. Diese Damen und Herrschaften, diese jungen, alten und vor allem sehr alten Männer, diese Fischer von der milden Tiefe des Ozeans: Sie bilden den Kern des Dorfes. Und ich brauche nicht lange, um zu merken, dass die drei Männer mit Behinderung, von denen Lisa mir bereits erzählt hatte, der flattrige Schwarm sind, der um diesen Kern kreist.

Einer der Dorfältesten bekam vor langer Zeit die Syphilis; seine Frau brachte sechs Kinder zur Welt. Drei Jungen und drei Mädchen. Die Jungen waren geistig behindert, die Mädchen nicht. Die Schwestern und das ganze Dorf kümmern sich seitdem rührend um die drei, ohne die Agios Nikolaos ein anderes, ein unvollkommenes Dorf wäre.

Die drei Brüder besitzen ihre festen Aufgaben.

Der Erste hat einen Hut auf und sitzt schon frühmorgens vor den geschlossenen Bars und Cafés und abends so lange herum, bis die Bars und Cafés schließen. Seine einzige Notwendigkeit ist es, zu sitzen und dabei so gut auszusehen, wie es ihm nur möglich ist.

Er ist der Pate.

Der Zweite arbeitet als Rumschlepper in dem kleinen Kiosk-Supermarkt. Er schleppt rein und raus, verschwindet kurz und kommt wieder mit neuen Kisten. Er ist schnell und ganz bei der Sache seines Schleppens. Das Schleppen und Herumschwirren machen ihm Freude. Wenn er hübsch dasitzen würde wie sein Bruder, der nur ab und an den Finger in den Kaffee steckt, zerfiele ihm der Kopf zu tausend Kieseln. Aber weder er noch das Dorf könnten sich das leisten. Also schleppt er ausdauernd etwas herum, er ist der Schlepper.

Der Dritte sitzt den ganzen Tag vor den Cafés und raucht oder läuft herum und schnorrt Zigaretten. Er ist der Raucher. Er steht plötzlich neben jedem unschuldigen Kunden am Kiosk und befiehlt, gleichzeitig freundlich und vermessen, dass man ihm eine Schachtel kaufe. Die Zigaretten sind seine Gebete. Mit dem glühenden Ende der einen steckt er die nächste an. Der Raucher betet den ganzen Tag. In der Nacht, wenn er schläft, betet sein Traum graue Schlieren in seinen Kehlstein. Im Entenwatschelgang läuft er seine Erhaschungsorte ab, den Hosenbund auf Bauchnabelhöhe gezogen. Er grinst wie jemand, der nichts Böses tun will, mitunter aber Böses tut, riecht nach feuchtem Tabak und zerschlissenem Ledersandalen. Seine Hände sind salzverwaschen und voller Schorf. Jeden Morgen reicht er sie zur Begrüßung herum, weil er sich freut, wenn er jemanden begrüßen kann und er den Schorf nicht sieht und die pellenden Finger – und weil er hofft, dieser Jemand ließe eine Kippe in seiner Hand zurück.

Die drei Brüder dürfen alles. Beim Pinkeln die Toilettentür auflassen, Freunde anschreien, Fremde anschreien, sich öffentlich den Sack kratzen und grundlos mürrisch oder hocherfreut sein. Meistens aber sitzen sie, so wie jetzt, zufrieden herum oder wuseln umher.

Ja, es ist sicher: Ohne sie wäre Agios Nikolaos ein anderer, ein liebloserer Ort.

Lisa verschwendet keine Zeit.

Sie holt mich ab, quartiert mich im Nachbardorf bei einer befreundeten deutschen Hochzeitsgesellschaft ein, da der Bruder von Joannis das kleine Apartment, welches ich hätte beziehen sollen, anderweitig vermietet hat, und sagt: »Und nun, als Allererstes, zeige ich dir die Kapelle, von der ich dir erzählt habe!«

Die Stunde, in der das erste Abendgold über die Mani zieht, bringt uns hinauf in das Bergdorf Exechori. Manche der uralten Steinbauten sind noch bewohnt, andere schon lange nicht mehr. Die Höfe sind mit Dutzenden Blumen, Töpfen und Farben verziert, als Hinweis, dass hier gelebt und irgendwo hinter den breiten Mauern, über welche die leuchtenden Bäume ragen, von dieser und keiner anderen Welt geträumt wird. Andere Häuser hingegen bröckeln sachte auf ihre warmen Terrassen, wo sie zerfressen werden von Moos und all dem endlosen Wetter.

Ein schmaler Pfad bringt uns vorwärts. Wir kommen an einem alten Olivenmahlstein vorbei, dessen Fleckengesicht man gegen eine Wand gerollt hat, und verlassen das Dorf, wo es sich zu einem Trampelpfad von so viel Knospe und Blüte weitet, dass man nicht mehr weiß, was sich überhaupt noch von Knospe und Blüte unterscheidet in dieser Welt. Noch Meter über den Bäumen riecht der Salbei. Das Blüh-dich-Hin, das Zeig-mein-Licht: Der Kapillar- und Venenlauf jedes Gewächs gleitet uns über die Hände mit seinem großen Geheimnis, seinem unbekannten Namen. So ist alles vorhanden. Weiße Maulbeeren, Majoran, Pomeranze. Das Lied der Levkojen.

Ich pflücke einen der jungen Granatapfelkelche.

Lisa schüttelt den Kopf, zustimmend, und sagt: »Gleich sind wir da.«

Sie zeigt zwischen die Zweige eines Johannisbrotbaums, wo die Kapelle steht.

Blick von der Kapelle nahe Exechorie Richtung Meer.

Wir folgen dem Hang bergabwärts, um bald nach Norden abzubiegen. Zwischen den beiden mächtigen Flanken der Schlucht ist der Gipfel, der nun unsere Füße trägt, derart vorzeigbar in die Höhe geschossen, als habe man für die Fingerhutkirche extra einen Altar errichten wollen.

Die Kapelle selbst ist nicht mehr als ein weihrauchumhangenes Schiffchen aus Schiefer und Lehm. Hier hängen genau jene feinen Ikonen, die dieser Ort verdient hat, Heiligenbildchen, welche eine unbebilderbare Welt repräsentieren. Vor allem der Heilige Georg ist in jedem Winkel anwesend, hoch auf seinem Ross sitzend, das Schwert zum Kampfe gezückt und den Siegeslorbeer bereits vor Augen, erfüllt von Drachenbezwingerei und einem göttlichen Mut, dank dem er unter den Bergleuten die größte Gefolgschaft zu verbuchen weiß.

Als ich wieder draußen stehe, merke ich, dass man hier oben noch immer das dicke Summen der Bienen hört, die hangabwärts, zu Aristaios Freude, von den reifen Maulbeerbäumen trinken. Die Wolken malen ein immer neues Licht auf die Ostflanken des Taygetos. Auf der anderen Seite liegt das blaue Meer und zieht sich das Sonnenrad über den Horizont.

Lisa, ihre stahlblauen Augen ganz Kind und ganz Frau, blickt gedankenverloren hinunter ins Tal. Hier habe sie oft mit Heinz, ihrem Vater, gesessen, sagt sie, hier habe man in große Abende gefunden, die nie zu Ende gegangen sind. Um ihre gemeinsame Geschichte zu erzählen, beginnt sie mit dem Moment, als sie ihrem Vater zum ersten Mal begegnete. Lisa war elf. Damals fuhr sie allein nach Heidenheim und fand Heinz in dem Perserteppichladen seines Kumpels. Die beiden saßen herum und rauchten Pfeife. Als sie durch die Tür kam und urplötzlich vor ihm stand, sagte ihr Vater:

»Na, da bist du ja endlich!«

Es war Liebe auf den ersten Blick.

So folgte Lisa ihrem Vater nach Griechenland.

Die Heiligenbilder Griechenlands.

Heinz hatte bereits eine lange Reise hinter sich, als er das erste Mal maniotischen Boden betrat und sich hier sein erstes Haus baute. Geboren wurde er in Tarutino am Schwarzen Meer, zwischen den großen Weiten blaudunkler Berge. Kurz vor Ende des Krieges mussten er und seine Familie nach Polen flüchten, von wo sie erneut vertrieben wurden und in Halle an der Saale landeten. Aus dem gelernten Lehrer wurde ein Kneipier, ein Wirtsmann, der den »Gesellschaftsgarten« betrieb und zu einem Zentrum der schönen Künste machte. Irgendwann hat er seinem Kollegen die Schlüssel in die Hand gedrückt und sich abgemacht. In England kaufte er sich ein Boot und segelte los, in der Mani fand er sein Zuhause. Er brachte sich die Kunst der Ziegenkäseherstellung bei und übernahm eine alte Steinmühle, um überdies bald eines der besten Olivenöle des Landes herzustellen. Es wurde gelacht und getanzt und getrunken und geraucht, und wenn es zu Ende ging, begann es am nächsten Tag vorn vorne.

Ihr Vater, erklärt mir Lisa, war ein Nomade, sein ganzes Leben lang, bis zur letzten Stunde seines Lebens, bescheiden und trotzdem ein König. Die Leute haben ihn an jedem Ort der Welt festlich empfangen, wenn er zu Besuch kam, und ihm immer alles geboten, obwohl er nur auf der Couch schlief. Und hier, hier in seinem neuen Zuhause habe er für jedermann aufgetischt, er kannte das Brot, den Ozean und den Wein ganz Europas und mischte alles ins Fleisch seiner Oliven, seines goldummundeten Öls.

Ich kenne Heinz von einem Foto. Ein wallender Grieche, Hände wie ein Berg, die Augen voll dickem, kräftigem Licht, ein respekteinflößender Ur-Mann und ja, ein König, der wahrlich in diese Landschaft gehörte.

Üppige Schönheit, nennt es Lisa und fügt hinzu, dass sie schwer zufrieden damit sei, im Nomadenstrom ihres Vaters zu schwimmen.

Mir wird klar, dass Heinz nicht nur seine Tochter, sondern auch mich in die Mani gebracht hat. Ihm ist es zu verdanken, dass ich hier oben sitze und ein ihm verlorengegangenes Bild erneuere, hinunterblicke an das Ende der breiten Schluchten, wo das Meer funkelnd in seinen Abend rollt. Dank diesem alten Seemann beginnt hier und nirgendwo anders meine erneute Reise durch Griechenland und seine Geisteslandschaft, sein Licht, sein Blau, seine Menschen und alltäglichen Geschichten: Tragödien und Träume, die geschaffen wurden, uns das Wesen des Menschlichen zu offenbaren.

Mit Blick in diese griechische Landschaft ist es seltsam, dass man von Homer sagt, er müsse blind gewesen sein, um seinen inneren Reichtum als den der Welt sehen zu können. Denn gerade Homer musste doch – nebst allen anderen Griechen – vollkommen Mensch sein mit Augen und Haut und Ohren voller Wind. Leibhaftigkeit ist die Voraussetzung für irdische Götter. Plotin blieb ein Erdenmensch, den auch die banalsten Krankheiten heimsuchten, Aristoteles unterrichtete einen Massenmörder, und Sokrates ging von dieser Erde durch einen giftigen Schmodder, der seinem Körper das Lebenslicht davontrug. Epiktet seinerseits erwiderte, als man ihn köpfen wollte, er sei sowieso nur eine Schüssel aus Lehm mit ein wenig Blut darinnen.

Und Hesiod? Dem ewigen Hirten meckerten die Schafe und stach die Sonne Böotiens hart ins Gesicht, als ihn der Dichter- und Götterwille überfiel und sein Leben veränderte. Am kommenden Morgen stand die Sonne abermals über der Weide, und Hesiod machte große Augen. Alles Bekannte wurde ihm neu, und gleichzeitig blieb alles, was es war. Er sah die Bienen zu ihrem Honig fliegen, wischte sich Milch und Tabak vom Mund, freute sich seiner Freuden und bangte nachts um das Antlitz seiner Seele. Das genügte. In der Gegenwart war alles vorhanden. Niemals lebte er auch nur einen Zentimeter von der Erde entfernt. Wie Homer wusste auch er: Es gab keinen anderen Ort, auch im Himmel des tiefsten Innern nicht, an dem man sich sonst hätte aufhalten können.

Dies ist das Unheimliche in der Anmut der griechischen Landschaft: Sie macht es leicht, uns im Auffindbaren zu vergessen. Sie ist niemals das andere. Ein einziger Blick genügt, und schon stärkt sie die Sonnen in unserer Brust, erzählt in unserem Blut, nennt uns beim richtigen Namen und weckt die Erinnerung an uns selbst. In dieser vergeistigten Landschaft ist das Tier zum Menschen geworden, hier hat man eine Erde geschaffen, die auch im Himmel bestehen kann. Hier weiß der Mensch, dass Transzendenz lediglich bedeutet, an den Ort des Ursprungs zurückzukehren.

Und so wundern wir uns nicht, wenn wir uns dem Licht verwandt fühlen und vorhanden bleiben bei Wind, Zypresse und Meer. Genau hier soll nun aus dem Menschen auch ein Gott heranwachsen, weil sich eben jene Göttlichkeit nicht unterscheidet von den Mücken im Gras, sie nichts anderes ist als Sonne, Maulbeerfleisch und Augenschein.

Schönheit, schrieb Kant, sei die perfekte Form des Vertrauten.

Das Ideal der Griechen ist es, ganz und gar in ihr aufzugehen.

Die Seele Griechenlands, seine Erzählungen, Philosophie und vor allen Dingen seine Kunst sprechen also stets von der Menschwerdung des Tieres und den nunmehr zu weiterem Wachstum verpflichteten Organen, kommende Aufgaben und nächste Schritte, die im Menschen die Morgenröte der Götter verzeichnen. Aus diesem Grund begegnet man über peloponnesischen Platanen, kretischen Kermeseichen und dem Wasserzeichen der Ägäis auch immer diesem unermesslichen Licht, welches die Griechen stets als den Träger von Geist und Bewusstsein identifizierten.

Dass genau jene gestaltende Kraft ihre Macht nicht missbrauchte und die Welt durch Überschwänglichkeit nicht zur einen oder anderen Seite hin zerriss, ist laut Kazantzakis das wahrhaft griechische Wunder. Nichts durfte im Übermaß vorhanden sein und nichts zu gering ausfallen. Nirgendwo trieb sich eine derart gewaltige Kraft so feinfühlig aus, nirgendwo sonst steckt das erhabene Wort Wachstum in dem noch kleinsten Leben als das Gesamtversprechen der Schöpfung. In keinem anderen Land ist das Ungreifbare zugleich die sinnliche, die dieswärts besprochene Welt.

Dies ist also die Aufgabe, dazu besitzt man Zunge, Herzhof und Gedanken an endlose Sonnen und nachtblaue Asche. Im Dädalus-Flug vereinigte Griechenland die beiden großen Lebenskräfte, brachte Tiefe und Höhe, Chaos und Ordnung zu einem Gleichgewicht zusammen, zu einem offenkundigen Ideal. Der unbezwingbare Weltentrieb des Orients vermählte sich mit dem Logos des Abendlandes. Indem der Himmel die Erde ergänzte und Venus ihrem Mars die Stirn wachküsste, stieg ein allumfassendes Licht in den Traum von Körper und Mensch, in das Spiel des Werdenden. Die Natur wurde psychisch, weil sie es schon immer war. Auf allen Lippen lag nun das immerwährende Wort Zarathustras, das bebende, federleichte amor fati.

Apollon gräbt sein Erkenne dich selbst in die Herzen aller und umschlingt seinen Bruder Dionysos, dessen Weisheit ihn wiederum mit einer großen Warnung erreicht:

Du großer Gott, o Licht, du Allesmacher: Bleibe der Erde treu!

Und so ging Griechenland seinen Weg.

°°°

Als ich aufwache, steht Pepe in der Küche und kocht Wasser.

Er erzählt von Katzenbabys, die er gefunden hat, und von deren Bindehautentzündung, die er behandeln will. Der Fünfjährige will Kamillentee machen, um es ihnen auf die Augen zu reiben. Das soll helfen, hat man ihm gesagt. Die Katzen lägen zwischen Haus und Höhle, der Schwalbenhöhle, in einem Raum ohne Dach.

Ob ich sie sehen möchte?

Jetzt sofort sehen möchte?

Vom Balkon aus erkenne ich drei weiße Punkte im Meer, es könnten Schwäne sein oder Plastiktüten. Das endlose Wasser stopft sich sein Blau in die Taschen. Über uns kreisen Vögel durchs Licht. Pepe wird ungeduldig, zieht mich aus der Tür und zeigt mir die Katzenbabys, die tatsächlich alle mit zugeklebten, entzündeten Augen daliegen. Er pflegt sie, so gut er kann, während die illustre Flitterwochengesellschaft die Hauptaufgabe der kommende Woche beginnt: Auf der Veranda des Brautpaar-Apartments wird fünfzehnköpfig eingedeckt und aufgetischt, auf dass es uns an nichts mangeln werde und wir bestens genährt unser Tagewerk vollbringen, heute, morgen und übermorgen.

Wir gehen schwimmen und strecken uns auf die schieferblauen, riesigen Felsen von Katafigio. Die Steine sind schon heiß und verbrennen unsere Rücken. Dann fahre ich die wenigen Kilometer rüber zum Hafen von Agios Nikolaos und setze mich zu Paulus. Sein grauer Stoppelbart wächst ihm bis unter die Augen, die Haare hängen fettig von seinem Hinterkopf. Nur Gott weiß, ob es ihm gut geht oder nicht. Paulus selbst, irgendwo hinter seinen zusammengekniffenen Augen versteckt, wüsste es nicht zu sagen. Kaum etwas schwappt über den Tellerrand seiner Lippen. Er legt seine dicken Tatzen auf den Tisch oder schrubbt sich damit über die Stirn. Ob er sitzt, steht oder geht: Paulus achtet immer nur darauf, dass sein Bauch zwischen Kopf und Beckenknochen die rechte Haltung bewahrt, eine Haltung, die ihm den geringsten Aufwand von Herzkreislauf und Blutabfuhr verspricht.

Der Mann ist ein einziges langes Ausatmen. Zu seinen Freunden und Kunden – sie sind ein und dieselben – ist er aufmerksam in seiner schütteren Unaufmerksamkeit, die immer nur so viel wahrnimmt, wie sie muss. Im Laufe der Jahre hat er sich seiner Café-Bar angepasst oder umgekehrt. »Zum Hafen« existiert nicht für die werten Gäste oder den Broterwerb, sondern weil es sie so, wie sie nun mal ist, schon immer gegeben hat.

Auf den Tischen die ungeöffneten Briefe, Zigaretten und Kaffeebecher. Die Mittagshitze schleicht herein und klopft die Wände ab. Das Radio springt an. Jeder hat seinen Tisch und seinen Aschenbecher, es sind glückliche Stunden, die im großen Strom der Tage und Wochen verebben. Im Angebot: Stühle, auf denen sich die Fischer vergewissern, dass sie das Meer und vor allem ihre Fischwaage vor der Nase haben, ihren gusseisernen Goldengel, in dessen Armen der tägliche Fang abgewogen wird. Auf einer großen Marmorplatte wird hingeflatscht und ausgelegt und begutachtet und über alles Marine philosophiert. Stumm sitzt man im respektvollen Abstand beieinander und knibbelt sich die Haut von den Fingern. Dann ist die Aufmerksamkeit groß, wenn es einen Rotbarsch gibt, man einen Song im Radio erkennt oder eine schöne Sommerfrau vorbeizieht, die einer Zustimmung wert ist.

Till love tears us apart. Der Mann, zu dem diese Oberarmtätowierung gehört, schleicht in einer runtergetragenen Jogginghose über die Straße und schmiert sich Asche in den Bart. Seine Zigarette landet im Hafenbecken. Zeit für mich, im nahegelegenen Stoupa ein Motorrad zu organisieren. Ich finde eine Honda Enduro, perfekt für die geröllverschütteten, ungepflasterten Bergwege. Ich nenne sie Mariechen. Aber als ich mit ihr hoch in die Bergdörfer fahre, merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich taufe sie um. In Marie, ausgesprochen mit hartem M und ohne überflüssigen Zierrat.

Wir kommen durch ein Dorf, nur von schlafenden Katzen bewohnt, und durch ein Dorf, in dem die Hände taub werden vor Rosenstaub und Sonne. Die Dörfer sind menschenleer. Die einzigen Wächter sind die Katzen. Ohne sie würde alles verschwinden. Die Katzen liegen herum seit Tausenden von Jahren, sie halten die Häuser auf der Erde und das Leben im Dorf, wenn alle fort sind oder schlafen. Sie glauben nicht an den Quatsch der Menschen, die breitbrüstig und weniger träumend behaupten, das Dorf gehöre ihnen und die Katzen seien nichts anderes als tausendjährige Herumlieger.

So kommen wir durch hundert Dörfer, die alle eins sind und überall – wir zählen sie nicht.

Dann Milea: Dorf, Dorfplatz, Platane, Kirche. Die Katzen in den wärmsten Ecken. Kaum merklich spitzen sie die Ohren, als ich mich unter das Weinrebendach der einzigen Taverne setze. Sie schließen die Augen, und Milea ist verschwunden.

Wen könnte ich hier erwarten? Ich stelle mir eine dicke Köchin vor mit riesigen, walkenden Händen und dem großen Lachen der Berge. Eine Frau, die ohne zu murren elf Kinder zur Welt gebracht hat. Aber nein. Eva ist eine alte, kleine, liebliche und zur Buckligkeit neigende Frau. Sie besitzt eine Energie, die für hundert Lebensabende ausreichen wird. Auf ihrer Schulter sitzt ein weinrotes Lachen. Sie pflegt es mit Kirchenliedern und Brot. Auf der anderen Schulter wächst Pfeffer und körnt sich knisternd in ihre Pfannen.

Ihr Mann Timon stellt mir eine Karaffe Raki auf den Tisch. Ich brauche nicht lange, um zu verstehen: Weil diese beiden Menschen diese holz- und steinverschlagene Großmutter-Bergstube bewirten, ist es hier auch im Winter warm.

Wer kommt hier, wer geht? Alte Männer, ein ganzes Jahrhundert Wetter in den Gesichtern gelagert, schnipsen Papierkugeln von den Tischen, ihre Kraft verzimmert in ein Haus aus Knochen. Der Fernseher läuft, aber er interessiert kaum jemanden. Sie zappen von Talkshow zu Fußball und zurück, drei der vierundzwanzig Einwohner, die überhaupt noch in Milea wohnen. Wenn sie über die Nachrichten sprechen, dann bleibt es Geschwafel. Hier spricht man von wichtigeren Dingen: Dass der Oberschenkel zerrt. Das man einen Vogel gesehen hat. Dass man bald sterben wird, aber das Meer blau bleibt für die Augen der Enkel.

Eva schimpft halbherzig über die Türken, die laut den Nachrichten die gesamte Ägäis für sich beanspruchen. »Wir Griechen«, sagt sie, »sollen ihnen die Inseln schenken, damit sie aus dem Meer Öl holen können. Pah.«

Nicht im Bild: Die besoffene Wirtin und das Meer.

Sie wird nicht müde, mich darauf hinzuweisen, wie wenig Menschen dem malerischen Dorf noch geblieben sind. Das wunderschöne, kastanienbraune Milea: Es ist dabei auszusterben.

»Hier«, sagt Eva und stellt ein halbes Dutzend Teller vor mir ab, »hier iss, das ist der Käse, das ist die Knoblauchcreme, das ist Tsatsiki, das sind Gurken, das sind Tomaten und das ist Brot, wenn du mehr Brot willst, dann sag es, an Brot soll es uns nicht fehlen, wir haben genug Brot. Ich habe gehört, bei den Touristen auf Mykonos kostet ein bisschen Brot zum Salat sieben Euro, aber hier gibt es Brot zur Genüge. Iss!«

Ich esse. Nach dem Essen gibt es Brot, Olivenöl, Salz, Gewürzgurken. Dann eine Wurst. Ich esse das alles ohne Hunger. Dann Melonenstücke. Und als ich schon lange nicht mehr kann und sage, Eva, es reicht, es ist genug, ich kann keinen Bissen mehr nehmen – bringt sie mir Kirschen.

Und Trauben.

»Diese Kirche«, sage ich zu Timon und zeige quer über den Platz auf den uralten, verwaschenen Turm, »sie erinnert mich an indische Tempel. Sie ist keine gewöhnliche Kirche, oder?«

Timon nickt.

Der Turm scheint einige Jahrhunderte alt zu sein. Aus all ihren Poren wächst neues Leben, kleine Wurzeln und Blüten umringen den dunklen Stein. Als Verzierung sind noch ein Sonnenrad, ein Schiff, eine Frau, ein Vogel und ein Stern zu erkennen. Seltsam, dass diese Kirche hier einfach so mitten auf dem Platz steht. Man hat den Eindruck, sie zufällig entdecken zu müssen in irgendeinem Hinterwaldland, in dem man nichts vermutet, schon gar nicht Menschen oder Gotteshäuser.

»Warst du schon drinnen?«, fragt Timon.

»Nein«, antworte ich, »es ist abgeschlossen.«

»Kein Problem, warte. Wir haben den Schlüssel.«

Ich schließe die Kirche auf und trete hinein.

Vieles an der im 14. Jahrhundert erbauten Kirche ist erst kürzlich, wie eine vergilbende Infotafel berichtet, renoviert worden. Was für Wandmalereien! Eine bis in den letzten Winkel dekorativ ausgekleidete Höhle, Jesus wie in einem Mandala, im Rad von Leben und Tod, mit den zwölf Tierkreiszeichen und Sonne und Mond. Drum herum andere Heilige, die auf das glänzende Holz hinabschauen und die glänzenden Stühle und die glänzende, zum Sprechen kommende Stille.

Als sich meine Augen wieder an das Tageslicht gewöhnt haben, sehe ich in der Ferne, auf dem höchsten Punkte des höchsten Berges, ein Gebäude.

»Da, was ist das?«

»Ein Kloster«, sagt Timon.

»Wie kommt man da hoch?«

»Es gibt eine kleine Straße, eine schlechte Straße, eigentlich keine Straße.«

»Wo ist diese Straße?«

»Hier vorne. Nach der großen Kurve, in der die Oleanderbüsche blühen, musst du von der Straße runter und rechts hinauf.«

Dann sagt Timon einen Satz, als stelle er mir ein Koan.

»Wenn man erst einmal weiß, wo es ist, ist es nicht zu verfehlen.«

Nach einer einzigen Kurve haben Marie und ich die gerade noch so bewohnte Welt hinter uns gelassen. Die Arme der Schlucht breiten sich vor uns aus und steigen in den Himmel. Auf dem steinigen Feldweg muss ich alle zehn Minuten anhalten, um die neuen Ausblicke zu genießen. Marie schlägt sich tapfer, aber es dauert. Nach einer Stunde kommen wir an einem von Gewehrkugeln zerschossenen Schild an, an dem sich der Weg gabelt. Neben einer Quelle hat ein Hirte seine Schafe untergebracht, die kürzlich geschoren worden sind. Ein großer Haufen Schafwolle liegt aufgetürmt da und flattert im Wind. Als ich nahe an ihn herantrete, bewegt sich plötzlich der Haufen, und ein krankes Schaf kriecht aus dem Fellhaufen hervor. Sein Kopf ist komplett nackt. Es zittert. Die anderen Schafe dösen weiter herum, nachdem sie gemerkt haben, dass ich nichts zu essen dabei habe.

Mit Marie vor der Kirche in Milea.

Ich folge der Straße und stehe bald auf dem höchsten Kamm des mir bekannten Taygetos, alleine gelassen mit Licht und Wolke und Grün. Zu beiden Seiten sieht man hinunter in die flimmernde Ebene und bis ans Meer nach Ost und West. Ich stehe auf dem Gipfel der Mani. Marie brummt. Direkt unter uns liegt das Kloster.

Zwei dicke Kühe nehmen Reißaus, als ich auf den Parkplatz biege. Umstanden vom ewigen Farbenspiel der Disteln und allerlei Katzensalbei prunkt die Klostermauer in der Leere und versucht, die Außenwelt abzuwehren.

Ich gehe zur Pforte, fasse den dicken Messingring und klopfe.

Bumm Bumm Bumm Bumm.

Ich warte.

Dann klopfe ich erneut.

Bumm Bumm. Bumm Bumm.

Mittlerweile sind die Kühe den Hang wieder hinaufgekommen.

Ich rufe.

Klopfe.

Bumm Bumm.

Aber keiner kommt, mir zu öffnen.

Als ich um das Kloster herumgehe, sehe ich an der Hinterseite das sperrangelweit offene Tor. Ein Pick-up steht auf dem Hof, über den es ins Innere des Klosters geht. Ich rufe, aber niemand antwortet. Eindrucksvoller Marmor, eine vom Taubenunterschlupf vollgeschissene Treppe und ein Brunnen, an dem ich, der ich ohne Proviant und Wasser losgefahren bin, lange trinke und mir den Kopf wasche.

Dann höre ich Geklimper und eine Stimme.

Ich rufe in einen hellen Gang hinein.

Die Stimme kommt näher und steht bald vor mir mit strahlenden Augen. Natürlich, das lange schwarze Gewand, die schwarze Bekappung und der graumelierte Hotzenplotzbart, alles eben so, wie es sich für die orthodoxen Diener der Mutter Gottes gehört. Aber was auch immer unternommen worden ist, um ihn alt und würdevoll erscheinen zu lassen, hat dennoch ein junges Gesicht und kindliche Augen nicht verkleiden können.

Er funkelt mich an.

»Komm mit«, sagt er, und hüpft voraus.

Auf einem Schränkchen präsentiert er einen Krug voller Wasser.

Ich versuche ihm klarzumachen, dass ich schon getrunken habe, und zeige auf den Brunnen.

»Ja, es ist gutes Wasser, trink ruhig.«

»Ich habe keinen Durst mehr, danke. Aber Fragen.«

»Nimm noch etwas Wasser, es wird dich erfrischen.«

»Ich habe schon, danke. Aber Pater, wie lebt es sich hier oben so nahe am Himmel?«

»Hier ist auch eine Süßigkeit, nimm. Sie ist sehr lecker.«

Er öffnet den Schrank und hält mir einen Mandelkeks hin.

»Danke. Ich habe mich schon immer gefragt, welche Farbe Gott hat? Weder in der Bibel noch im Koran oder sonstwo habe ich etwas dazu gefunden. Haben Sie es herausgefunden?«

»Nimm noch was Süßes, es wird dich für den Heimweg stärken.«

»Wohnen Sie ganz alleine hier oben? Das Kloster sieht sehr gepflegt aus, haben Sie jemanden ...«

»Nimm, es ist lecker, und danke, danke für den Besuch ...«

Er legt seine Hand auf meine Schulter, um mich in Bewegung zu setzen.

»Dein Heimweg ist bestimmt weit, und es wird spät, schon sehr spät.«

Sachte werde ich von der Verköstigung in Richtung meiner Heimreise geschoben.

»Ich komme die Tage wieder, wenn das okay ist, dann können wir uns unterhalten. Immerhin weiß ich ja jetzt, wo –«

»Natürlich, natürlich ...«

»Äh, auf bald.«

»Natürlich, auf bald.«

Er schubst mich sanft und lachend hinaus, die Liebe der höchsten Erkenntnis als göttlichen Schubskranz in seine Handfläche gelegt, und winkt.

Ich winke zurück.

Die sperrangelweit offene Tür.

Scheppernd fällt sie hinter mir ins Schloss.

Ich öffne den Tank und halte einen dünnen Ast hinein. Vielleicht hätte ich mir noch seinen Segen abholen sollen, denn ich denke nicht, dass der letzte Schluck Benzin noch bis zum Hafen reichen wird. Ich schiebe Marie auf den Kamm und rolle mit ausgeschaltetem Motor ins Tal. Der einsame, sonnenüberflutete Weg ist nun, da ich fast geräuschlos daherkomme, bevölkert mit etlichen Freunden. Eine Wildsau mit ihren Kleinen, die wie wild ins Gebüsch springt, um mich von da aus anzumurren mit ihrem dunklen Beschützerinstinkt, dass ich mich so schnell wie möglich davonmache. Weiter unten: Kühe, eine Echse, eine grüne Schlange, Schafe und Ziegen.

In Milea angekommen, brennen mir die Unterarme vom steilen, dauergebremsten Abstieg. Hier muss ich kurz den Motor anlassen, um Schwung zu nehmen bis nach Agios Nikolaos. Mit dem buchstäblich letzten Tropfen erreiche ich die Tankstelle. Am Hafen stellt mir Paulus das Bier mit den Eisstückchen hin, es ist später Nachmittag geworden, und das Licht klimpert über die Tische. Der Raucher kommt. Ob er eine Zigarette habe, frage ich. Ich bräuchte jetzt eine.

Benzinlose Rückfahrt vom Kloster zurück nach Milea.

Er wackelt herum. Als er versteht, dass jemand eine Zigarette von ihm will, schnippt er mir eine aus seiner Packung.