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Dr. Sonntag
– Box 1 –

E-Book 1-5

Peik Volmer

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-422-2

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Aller Anfang ist schwer

Einer muss den Laden ja zusammenhalten

Roman von Volmer, Peik

»Aaah, die Frau Chefarzt! Ja mei, Sie gangad persönlich einkaufen?«

Bauer Erlacher strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte den Artikel über die Neueröffnung der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses St. Bernhard in der Miesbacher Zeitung gelesen. Der Text war wie ein Rahmen um ein Foto dekoriert. ›Chefarzt Professor Sonntag und seine charmante Gattin‹, hatte unter dem Bild gestanden. Daher identifizierte er die schick gekleidete Dame, die sich seinem Marktstand genähert hatte, mit Leichtigkeit.

Corinna Sonntag lächelte verlegen. »Mein Mann ist der Chefarzt. ›Frau Sonntag‹ reicht mir als Anrede völlig aus!«

»Aber Frau Chefarzt!« Der Landwirt sah sie fast enttäuscht an. »Mia san hier zwar auf dem Land, und ich bin nur a Bauer, aber i woaß doch, was sich gehört! Ehre, wem Ehre gebührt!«

Corinna lächelte. Gern hätte sie ihm erzählt, dass sie, als sie Egidius kennenlernte, Krankenschwester war und ihr ein Titel gar nicht zustand. Sie war eine selbstbewusste, schöne Frau, sehr bodenständig und ohne Dünkel. Von wegen, Krankenschwestern versuchten immer, sich einen Arzt zu ›angeln‹! Im Gegenteil. Egidius hatte sie umworben, ihr Komplimente gemacht. Ihre Arbeit bei der Chefvisite lobend erwähnt. Sie anderen Schwestern vorgezogen. Mein Gott, war ihr das peinlich gewesen!

»Glauben Sie mir, Herr –?«

»Erlacher ist meine Name, habe d'Ehre! Erlacher!«

»Herr Erlacher, also – ich bin sehr dankbar für Ihre Freundlichkeit, aber wenn Sie ›Frau Sonntag‹ zu mir sagten, fände ich das wirklich nett!«

Sie lächelte ihn strahlend an.

Er schmolz dahin. »Wenn Sie auf Kohlrabi bestehen, Frau Sonntag, aber nehmen Sie lieber den Blumenkohl. Ganz frisch! Und schneeweiß! Wirklich! Ist besser als der Kohlrabi!«

Corinna dankte, zahlte und verabschiedete sich mit einem zuversichtlichen: »Bis zum nächsten Mal!«

Bauer Erlacher sah ihr versonnen nach. »Vergelt’s Gott, Frau Chefarzt!«, rief er hinter der schlanken, dunkelblonden Frau her. Ein fesches Weib, das war sie!

*

Professor Sonntag drückte genervt die rote Taste seines Mobiltelefons. Früher hätte man einen Hörer auf die Gabel werfen können, dachte er. Schade, dass diese Zeiten vorbei sind. Irgendwie war das befreiender als der Druck mit dem Finger. Archaischer. Man warf den Anrufer von sich weg, im wahrsten Sinne des Wortes. Genau das hätte er auch gern mit Herrn Somnitz getan, dem klebrigen Verwaltungsleiter. Was, bitte, hatte er mit der Bettenbelegung der Gynäkologischen Abteilung zu tun? Sollte er sich etwa mit einem Lasso auf die Straße stellen und Patientinnen einfangen? Warum hatte er bloß zugestimmt, neben der Chefarzt-Position gleichzeitig die des Ärztlichen Direktors zu bekleiden?

Sein Kollege, Chefarzt Ross, stand im Verdacht, einen Kunstfehler begangen zu haben. Jedenfalls wurde dies von seinem Oberarzt Kühne so dargestellt. Hinter vorgehaltener Hand zwar und im Flüsterton, aber wiederholt, und jedem gegenüber, der für den Tratsch und Klatsch, wie er nun mal in einer Klinik entstand, offen war. Er hätte ein Karzinom übersehen, hieß es, was dem Ruf der Abteilung nicht gut getan hätte. Seine eigene Station, die Chirurgie, brummte, seit er sie kürzlich übernommen hatte.

»Herein!«

Schüchtern öffnete sich die Tür auf seine missgelaunte Einladung hin, und der erste Oberarzt, Dr. Ferdinand Niedermaier, stand vor ihm. »Wenn’s jetzt nicht passt, kann ich auch später …«

Professor Sonntag lachte auf und zupfte seine Fliege gerade. Das Lachen klang allerdings nicht heiter. »Nu' sind Se schon mal da, nu' komm' Se rin, haben wir in Berlin immer gesagt! Was gibt es denn, Herr Niedermaier?«

Der Oberarzt hatte den OP-Plan für den kommenden Tag und den Dienstplan für den folgenden Monat im Gepäck. »Außerdem hätte ich gern noch mit Ihnen über das Vorgehen bei dem Neuzugang gesprochen, Herr Professor.«

Der Chefarzt stöhnte auf. »O Gott! Der Mann, der sich heute früh in der Ambulanz vorgestellt hat? Der Tag geht so besch…eiden weiter, wie er begonnen hat! Ich würde mich für die Chemotherapie aussprechen. Operieren können wir dann immer noch, wenn sich die Notwendigkeit herausstellt!«

»Von der Operation ohne Chemotherapie halten Sie nichts? Die Blutwerte des Patienten sind so schlecht … Ich bin nicht sicher, ob wir ihm mit den Medikamenten mehr Schaden zufügen als nützen!«

Professor Sonntag sah besorgt drein. »Denken Sie an die Tumorgröße! Wenn wir primär operieren, wird der Blutverlust erheblich sein, und bei dem Allgemeinzustand … Lassen Sie uns morgen den Herrn noch einmal gemeinsam visitieren!«

*

Die Vorbereitungen waren alle getroffen, die Laser-Sonde eingelegt. Dem Patienten hatte die erfahrene Narkoseärztin, die die Rückenmarkskanal-Narkose bereits eingeleitet hatte, einen Kopfhörer mit dessen Lieblingsmusik übergestülpt. »Damit Sie nicht alles mit anhören müssen, Herr Schütte«, lachte sie vergnügt. »Der Chef hat manchmal einen sehr speziellen Humor!«

Zu Schwester Katrin gewandt, erklärte sie mit hochgezogenen Augenbrauen: »So, es wäre gut, wenn der Alte langsam erscheinen würde. Wir wollen doch nicht, dass die Wirkung der örtlichen Betäubung nachlässt, bevor die Operation zu Ende ist, nicht wahr?«

Kaum hatte sie ihren Satz vollendet, ertönte das Rauschen, mit dem die Schiebetür der Schleuse zur Seite glitt, und Professor Sonntag betrat den Raum. »Sind wir schon so weit?«, fragte er hektisch. »Liegt er schon auf?«

Frau Dr. Elenore Pahlhaus, von allen liebevoll Elli genannt, lachte mit einem Anflug von Sarkasmus. »Wie lange kennen wir uns, Herr Kollege Sonntag? War ich jemals unpünktlich?«

Professor Sonntag hob die seifigen Hände, in der Linken die Bürste haltend. »Vergeben Sie mir, liebe Frau Pahlhaus! Ich bin gerade etwas angespannt. Diese Diskussionen mit Somnitz um die Bettenbelegung …«

Schwester Katrin reichte den sterilen Kittel so an, dass er direkt hineinschlüpfen konnte. Es folgten die sterilen Handschuhe. Der Eingriff nahm seinen Verlauf.

»Wer sich in Ihre Hände begibt, Herr Professor, hat wirklich Glück gehabt!« Sie hatte, aus purer Effekthascherei, eine Terz tiefer gesprochen und das eingeübte Manöver mit dem langsamen Heben des Blicks durchgeführt. Sie ließ ihren Blick strahlend auf dem chefärztlichen Antlitz ruhen.

»So geht das aber nicht, Schwester«, zwinkerte der Professor mit scherzhaft-tadelndem Unterton. »Wenn Sie mich nervös machen, schnibbele ich daneben. Und dann haben wir den Salat!«

»Was?«, rief der Patient, der vor Schreck zusammengezuckt war. »Sie haben daneben geschnitten?«

Frau Dr. Pahlhaus rückte den verrutschten Kopfhörer zurecht. »Sehen Sie«, bemerkte sie, das Objekt des allgemeinen Bemühens freundlich durch ihre bunte Brille musternd. »Das habe ich gemeint mit dem sehr speziellen Humor unseres Herrn und Meisters. Nur keine Angst. Alles wird gut!«

Nach exakt 60 Minuten war der Eingriff beendet. »Ich denke, dass wir uns einen schönen, starken, heißen Kaffee verdient haben, gell, Schwester Katrin?«

»Bitte, Herr Professor, sagen Sie doch Kati zu mir, wie alle. ›Schwester Katrin‹ hört sich so bieder an! Und ich bin alles andere als bieder!«

Sie lächelte fröhlich und zwinkerte ihm neckisch zu.

Auch das hatte sie, nebenbei bemerkt, ihrem Badezimmerspiegel zu verdanken.

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Schwester Kati. Aber ich denke, dass Ihr Freund beziehungsweise Ihr Ehemann eifersüchtig werden könnte.«

Katrin, die sich inzwischen ihres Mundschutzes entledigt hatte, riss die Augen weit auf. Ihre Lippen waren etwas geöffnet und zitterten, als sie hervorstieß: »Ich bin Single, Herr Professor. Ich kann mit jungen Männern einfach nichts anfangen. Ich mag nur die Reiferen mit den grauen Schläfen. Aber die sind ja alle schon vergeben!« Sie sah ihn mit nachdenklichem Lächeln, fast traurig, an. »Ich glaube, das liegt daran, dass mein Vater so früh verstorben ist. Klischee, oder? Krankenschwester mit Vaterkomplex?«

Er lachte freundlich. »Sehr Klischee! Sagen Sie, haben Sie nicht Lust, als meine private OP-Schwester zu arbeiten? Voraussetzung dafür ist, dass Sie im Voraus wissen, welche Instrumente ich brauche. Ich bin da sehr eigenwillig, und es wäre schön, jemanden an meiner Seite zu haben, der meine Marotten kennt!«

Kati errötete.

Sie saß plötzlich kerzengrade und klammerte sich an ihrem Kaffeebecher fest.

»Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Herr Professor. Diese Auszeichnung … Ja, gerne! Wirklich! Ich bedanke mich!«

»Ich habe eine Operationslehre, in die ich die von mir verwendeten Instrumente notiert habe. Ich muss jetzt direkt zur Visite. Kommen Sie morgen Vormittag bitte zu mir und holen das Buch heraus, dann können Sie sich schon mal einstimmen auf das, was Sie erwartet!«

*

Corinna Sonntag wartete. Na gut, das kam öfter vor. Das war das Los der Frau eines Chefarztes und der Preis, den man für Ansehen und letztlich auch materiellen Wohlstand zu zahlen hatte. Aber hätte er nicht heute, an ihrem fünfzehnten Hochzeitstag, pünktlich sein können? Gerade heute hatte sie mit ihm wichtige Angelegenheiten zu besprechen, sehr wichtige Angelegenheiten. Sie hatte aus dem wunderbaren frischen Gemüse von Bauer Erlacher Blumenkohlreis zubereitet, den sie zu einem wirklich köstlichen Hähnchenbrust-Curry servieren wollte. Sie hatte sich bei der Tischdekoration so viel Mühe gegeben. Als Hintergrund diente Händels Feuerwerksmusik, die Kerzen in den gläsernen Rosenthal-Kandelabern waren bereits zur Hälfte heruntergebrannt.

Endlich klapperte es an der Eingangstür. »War viel los in der Klinik?«, fragte sie.

»Frag nicht.« Er hatte die Schuhe abgestreift, die Fliege gelockert und sich erschöpft in seinen Lieblingssessel fallen lassen. Er schloss die Augen, aber bevor sie intervenieren konnte, hatte er sie schon wieder geöffnet. »Hast du gekocht?«

Sie nickte wortlos. »Sei nicht böse, aber … der Tag ist mir auf den Magen geschlagen. Ich gehe bald schlafen!«

Corinna sah ihren Mann verblüfft an. »Ach, Mensch, Egidius! Dabei ist heute doch ein besonderer Tag! Wir haben –«

»Wie konntest du das wissen?« Jetzt war es an ihm, überrascht auszusehen. »Ja, du hast recht. Endlich habe eine vernünftige OP-Schwester gefunden! Stell dir vor: Sie will sich sogar auf meine kleinen Eigenheiten beim Ins­trumentieren einarbeiten! Wir werden das perfekte Team!«

Corinna war erstarrt. »Und sonst fällt dir nichts ein zum Thema ›Besonderer Tag‹?«

Er dachte angestrengt nach. »Nein, kein Stück. Hilf mir, bitte!«

Corinna nahm auf dem Kanapee Platz. Ganz vorn, auf der Kante. Ihr Rücken berührte die Polster nicht. Angespannt, kerzengerade. »Egidius, ich … ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Wir leben eine lange Zeit miteinander, und ja, gewiss: Eine Beziehung ändert sich ständig. Die erotische Anziehung nimmt ab, der Alltag kehrt ein. Aber die Liebe … Ich meine, liebst du mich denn überhaupt noch?«

Seine Augen waren geschlossen. Es klang etwas verwaschen, als er entgegnete: »Wie am ersten Tag, meine Liebe, wie am ersten Tag.«

»Aber deine Arbeit wird offenbar immer wichtiger! Es ist immer die Klinik! Ich weiß doch, wie verantwortungsvoll dein Beruf ist! Es geht um Menschenleben, jeden Tag. Und nun hast du auch noch den Verwaltungskram am Hals. Das sehe ich ein und das respektiere ich auch. Aber was wird aus uns, Egidius? Wir bleiben auf der Strecke, spürst du das nicht? Und jetzt hast du sogar unseren Hochzeitstag vergessen. Und, falls es dich überhaupt interessiert: Es ist der fünfzehnte. Und ich war noch nie so verletzt. Noch nie.« Tränen rannen über ihr Gesicht. »Und … ich muss dir noch etwas erzählen. Ich habe einen Knoten in der linken Brust entdeckt. Falkenegg glaubt … Na ja. Er hat Tumormarker abgenommen, und ich war bei der Mammografie. Morgen …« Ihr Mann reagiert nicht. »Egidius?«

Sie erhob sich und näherte sich dem Sessel. Professor Sonntag lag leidenschaftslos vor ihr. Seine Atemzüge waren friedlich und gleichmäßig. Völlig entspannt schlummerte er, illuminiert nur von dem unruhigen Flackern der Kerzen, die gerade vollends herunterbrannten. Corinna ergriff die Wolldecke, die über der Armlehne des Sofas lag, und deckte ihn damit zu, bevor sie selbst schlafen ging.

*

Alles war ganz unwirklich. Das Sonnenlicht schmerzte in ihren Augen, die Geräusche des fließenden Verkehrs hörten sich seltsam gedämpft an. Die Menschen strömten in Zeitlupe um sie herum, aber sie erkannte niemanden, auch wenn sie gelegentlich Grußworte wahrnahm. »Hey! Es ist Rot! Sind sie wahnsinnig geworden? Sie können doch nicht einfach …« Ein junger Mann hatte sie am Ärmel gepackt und mit einem Ruck auf den Bürgersteig zurückgezogen. Er schaute in ihr Gesicht und hielt bestürzt inne. »Entschuldigen Sie! Ich habe Sie nicht so anfahren wollen. Ich war nur so erschrocken!«

Corinna nickte. »Schon gut. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich bin heute nicht ganz zurechnungsfähig!«

»Schlechte Nachrichten?«

»Das kann man wohl so sagen, ja.«

Er blickte ihr fest in die Augen. »Vanille! Stimmt’s?«

»Wie bitte?«

»Sie sind der klassische Vanille-Typ. Ich mag ja am liebsten Zitrone. Aber Sie bestimmt Vanille, da gehe ich jede Wette ein!«

Gegen ihren Willen musste sie lachen. »Geht es um Eiscreme?«

Sein Unterton war tadelnd-nachsichtig, als spräche er mit einem nur leicht ungezogenen Kind. »Natürlich geht es um Eiscreme. Oder kennen Sie etwas anderes, was bei Schicksalsschlägen hilft?«

»Und wo nehmen Sie jetzt Eiscreme her?«

Der junge Mann zeigte auf die gegenüberliegende Ecke. »Bitteschön. Eiscafé Dolomiti. Dort gehen wir jetzt hin. Nein, danken Sie mir nicht!«

»Das hatte ich auch noch nicht vor«, lächelte Corinna. »Zumindest nicht vor dem Vanilleeis!«

Daniel sah nett aus. Dunkelhaarig, markantes Kinn, strahlende, dunkelblaue Augen. Man sah ihm durch sein eng anliegendes schwarzes Shirt an, dass er gelegentlich das Fitnessstudio aufsuchte. Er war komplett schwarz gekleidet.

Wie erfrischend dieser Junge war! Wie unkompliziert! Wie aufmerksam ihr gegenüber! So viel wie mit ihm in dieser halben Stunde hatte sie mit Egidius im vergangenen Monat nicht gesprochen!

Er hielt ihr die Tür auf, rückte ihr den Stuhl zurecht, hörte interessiert zu und brachte sie zum Lachen. Wenn er lachte, zeigte er eine Reihe perfekter, weißer Zähne, die wie Perlen schimmerten.

»Wie ist es denn nun?«, fragte er. »Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, was Sie bedrückt? Ich weiß nicht, ob ich Ihnen einen Rat geben oder gar Sie trösten kann. Aber zumindest bin ich ein guter Zuhörer!«

Corinna versank in seinen Augen.

»Dessen bin ich gewiss«, flüsterte sie, mehr für sich selbst. Laut erklärte sie: »Sie haben mich bereits getröstet. Danke, Daniel!« Sie schaute auf die Uhr, die über dem Tresen des Cafés hing. »Himmel, schon so spät! Ich muss dringend nach Hause!«

Daniel Berger lieh sich einen Kugelschreiber von der jungen Frau, die die beiden bedient hatte, und kritzelte eilig etwas auf eines der roten Deko-Schirmchen, mit denen ihr Eisbecher garniert war. »Hier. Für den Fall der Fälle. Ich hoffe, dass Sie es lesen können, Corinna.«

*

Der Eingriff war beendet. Sonntag bedankte sich mit einem kurzen Nicken in Richtung Oberarzt, OP-Schwester und Narkoseärztin und verließ den Saal. Katrin stand fassungslos am Tisch. Sie hatte sich so sehr bemüht, alles richtig zu machen. Die benötigten Instrumente stets bereits angereicht, bevor der Chef sie fordern konnte. Und er hatte kein Wort gesagt. Nichts. Hatte er überhaupt zur Kenntnis genommen, dass sie, Kati, am Tisch war? »Wie war der denn drauf?«, verhörte sie die leitende OP-Schwester, die heute als Springer fungiert hatte.

»Wer?«

»Der Alte, natürlich! Redet der immer so wenig?«

»Der Chefarzt, Schwester Katrin, ist nicht hier, um Reden zu halten, sondern um zu operieren!«

»Ach was! Ja, das ist mir bekannt. Aber er hätte mir wenigstens mal ›Guten Morgen‹ wünschen oder mich loben können!«

»Hat er Sie angebrüllt? Das Skalpell nach Ihnen geworfen? Sie aus dem Saal geschmissen?«

»Nein! Wie kommen Sie denn …«

»Na also. Das war es, das Lob. Mehr können Sie nicht erwarten. Aber mal ganz unter uns: Denken Sie wirklich, dass Sie ein Lob verdienen, nur weil Sie hier Ihre Pflicht erfüllen?«

Katrin Gräber verließ den Raum, schälte sich aus dem sterilen Kittel und streifte die Latex-Handschuhe ab. Sie kontrollierte ihr Make-up im Spiegel über den Waschbecken, an dem die Operateure und das Personal sich sorgfältig die Hände wuschen und desinfizierten. So. Perfekt. Sie begutachtete kurz die Wirkung ihres Gesichts, wenn die die Lippen zu einem Schmollen vorschob. Sie durfte nicht zu kindlich wirken. Lieber etwas sexy. Ja, zusammen mit dem Augenaufschlag ging’s. Na denn! Auf zu Egidius Sonntags Vorzimmer!

Frau Fürstenrieder runzelte die Stirn und schob die goldgerandete, mit einer goldenen Kette gesicherte Brille, die bis auf die Nasenspitze gerutscht war, zurück. »Heute ist Chefarzt-Konferenz! Außerdem fährt der Chef morgen auf einen Kongress! Ohne Termin kann ich Sie nicht zu ihm lassen, Schwester Katrin!«

»Es ist aber wichtig! Es dreht sich um den Eingriff morgen früh! Vielleicht wissen Sie es noch nicht, aber ich bin inzwischen die persönliche OP-Schwester des Professors, und er erwartet von mir, dass das Instrumentieren perfekt läuft!«

Frau Fürstenrieder zuckte die Achseln. Sie öffnete den Deckel einer Plastikdose und entnahm dieser einen Apfelschnitz, den sie leicht widerwillig in den Mund steckte. Heute war nämlich ihr Obsttag. Da hatte sie immer Probleme mit ihrer Magensäure.

Es klang etwas undeutlich, als sie erklärte: »Liebes Kind, ich war hier schon Sekretärin, da war ich zwanzig, und der Professor noch junger Oberarzt in irgendeiner Klinik. Aber um des lieben Friedens willen: Nehmen Sie einen Moment Platz!«

Sie erhob sich und schlüpfte geräuschlos in das Allerheiligste. Gedämpfte Stimmen waren zu vernehmen. Dann öffnete sich die Tür erneut. »Er hat jetzt Zeit für Sie. Fünfzehn Minuten. Keine Sekunde mehr. Versprochen?«

Kati nickte. »Großes Indianer-Ehrenwort!«

Professor Sonntag erhob sich, als sie den Raum betrat. »Das hat ja toll geklappt mit uns beiden, oder?«, fragte er lächelnd. »Ich war sehr zufrieden mit Ihnen, Schwester Kati!«

»Na endlich!«

»Wie – na endlich?«

»Nach der OP haben Sie sich gründlich ausgeschwiegen, kein Lob, keine Kritik – nichts! Und ich habe mir … « – Unterlippe vorschieben! – » … so viel Mühe gegeben!«

Professor Sonntag lachte. »Kind, wie Sie wissen, habe ich einen Teil meiner Ausbildung in Berlin gemacht. Mein alter Chefarzt war, wie ich, ein Bayer, der zu sagen pflegte: ›Ned gschimpft is globt gnua!‹ Das habe ich mir wohl zueigen gemacht! Da ich nicht geschimpft habe, dachte ich, das sei Lob genug!«

Die Schwester warf ihm einen scheuen Blick zu und lächelte unsicher. »Na gut! Wenn ich das weiß, dann geht das in Ordnung so! Ich will wirklich richtig gut sein – für Sie!«

Kokett senkte sie ihr Köpfchen und schlug dann anmutig die Augen zu ihm auf. »Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen! Danke! Für alles!«

Er sah ihr in die Augen. »Hätten Sie Lust, mich morgen nach der OP auf den Kongress nach München zu begleiten? Ich regele das mit der Verwaltung – auch das Finanzielle – und der Pflegedienstleitung!« Er hielt kurz inne. »Und sehen Sie sich vor meiner Sekretärin vor. Die hat heute Obsttag! Da ist sie immer besonders ungnädig!«

*

Corinna lag in ihrem Bett in der Schlierseer Privatklinik von Professor von Falkenegg in der Miesbacher Straße. Ihr Mann würde nichts merken. In den Nächten vor einem Kongress übernachtete er in der Klinik. Und er würde erst in vier Tagen zurück sein.

Sie hatte die Pille für die Prämedikation bereits von der Schwester erhalten. Die ›LMAA‹-Pille, wie diese lachend sagte. »Die Aufnahme hat vergessen, Sie nach einer Telefonnummer nächster Angehöriger zu fragen, Frau Sonntag! Haben Sie da was für mich?«

Corinna war es, als schwebte sie. »Hier! Für den Fall der Fälle! Ich hoffe nur, dass Sie es lesen können!«, wiederholte sie jetzt Daniels Worte, mit denen er es ihr überreicht hatte.

»Ach, bestimmt! Hübsches Schirmchen!«, behauptete die Schwester. Aber das hörte Corinna nicht mehr, weil sie eingeschlafen war.

Professor von Falkenegg war zufrieden. Der Tumor schien lokal begrenzt. Die Schnellschnitt-Untersuchung zeigte die Ränder des entfernten Geschwürs tumorfrei, sodass mit höchster Wahrscheinlichkeit alle bösartigen Zellen beseitigt waren. »Bitte um eine Intracutan-Naht, Herr Kollege«, wies der Operateur den Assistenten an. »Wir haben die Brust erhalten können. Nun wollen wir die Patientin nicht durch eine häßliche Narbe entstellen, nicht wahr.« Er wandte sich der Schwester zu. »Rufen Sie gerade mal den Gatten an? Alles gut gelaufen. Wenn sie wach ist, kann sie direkt auf die Station zurück.«

»Privatklinik Dr. Falkenegg hier! Spreche ich mit einem Angehörigen von Frau Corinna Sonntag? – Corinna Sonntag! – Ja, genau! Ich soll ausrichten, dass die Patientin die Operation gut überstanden hat und es ihr den Umständen entsprechend gut geht! – Ja! Natürlich darf sie Besuch haben!«

Die Kühlbox war blau. So blau, als fröre sie wegen der in ihr herrschenden Kälte.

Corinna erinnerte sich, dass sie wegen eines klappernden Geräuschs die Augen aufschlug, und das Erste, was sie sah, war das Blau dieser Box mit dem weißen Deckel.

»Warum sagst du denn nichts!« Daniels Stimme klang vorwurfsvoll.

»Na, höre mal«, sagte sie. »Man rennt doch nicht durch die Stadt und erzählt wildfremden Leuten, ach übrigens, ich habe Brustkrebs und werde in der kommenden Woche operiert!«

»Ich bin kein wildfremder Leut«, erläuterte Daniel geduldig. »Ich bin der Mann mit dem Vanilleeis!«

Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Na so was! Fast hätt' ich’s vergessen!«

Er öffnete die Kühlbox und produzierte ein Glasschälchen mit drei Kugeln Vanilleeis, in denen ein blaues Cocktailschirmchen steckte.

»Du spinnst ja!« Sie konnte es nicht fassen.

»Wieso?«, erkundigte er sich neugierig. »Mehr als drei Kugeln nach einer Operation sind nicht gestattet!«

Sie lachten und sie löffelten ihr Eis, so vergnügt, als befänden sie sich nicht im Zimmer 404 einer Klinik, sondern in einer Eisdiele in Florenz. Oder wenigstens im Tessin.

*

Professor Sonntag referierte in einem brillanten Vortrag die Ergebnisse seiner Klinik bei der operativen Behandlung von Hodentumoren. Die Kollegen honorierten den Vortrag seiner Daten mit Applaus, dem sich eine interessierte Fragerunde anschloss. Schwester Kati strahlte ihn an, als er vom Podium zu seinem Sitzplatz neben ihr in der ersten Reihe zurückkehrte. Wirklich erstaunlich, wie viele Arten von Lächeln Katrin Gräber beherrschte. Stolz, wie in diesem Fall. Dankbar, bescheiden. Bewundernd. Heiter. Nachdenklich. Bösartig.

»Na, wie sieht es mit einem Mittagessen aus?«, fragte Sonntag sie.

»Ach, ich habe noch gar keinen Hunger, danke«, log sie dreist. Einen halben Ochsen hätte sie verschlingen können. Aber das Mittagessen fand in der Kantine des gastgebenden Klinikums rechts der Isar statt, inmitten von allen Kollegen. Sie wollte ihn für sich allein, in romantischer Atmosphäre. »Machen wir doch lieber einen kleinen Spaziergang!«

Vom Stachus führte sie ihr Weg durch die Kaufinger Straße, vorbei an der Frauenkirche und dem Rathaus, über den Viktualienmarkt zur Residenz, durch den Hofgarten und den Englischen Garten in die Maximilians­anlage. Und dann, zum Abschluss des Tages, in einen klassischen Biergarten am Wiener Platz. Katrins Plan stand fest.

»Wollen wir hier nicht, zur Feier des Tages gewissermaßen, heute Abend den Kongress ausklingen lassen?«, fragte sie ihren Chefarzt.

»Gern«, erwiderte er. »Ich denke, dass ich besser reserviere. Es ist immerhin Freitag!« Kurze Zeit später trat er vergnügt aus dem Gebäude. »Hat geklappt! Erst wollten sie nicht. Wer zuerst käme, male zuerst. Aber dann haben Sie nachgegeben. 19 Uhr!«

*

Mit Daniel war nicht zu spaßen. »Keine Widerrede. Ich hole dich Samstag ab. Wann ist die Visite? Um neun? Gut. Ich bin um neun Uhr pünktlich da. Du wartest hier. Ich möchte nicht, dass du die schwere Tasche schleppst.«

Corinna sah ihn überrascht an, als erwachte sie aus einem Traum. »Womit habe ich dich eigentlich verdient?«

Daniel legte den Finger an die Nase und krauste die Stirn, als grübele er angestrengt. »Lass mich mal nachdenken«, murmelte er. »Ich habe an einer roten Ampel zwischen dich und ein herannahendes Auto eine Portion Vanilleeis geworfen. Und dann hat mich jemand angerufen und gesagt, dass du aus der Narkose erwacht und recht munter bist. Und jetzt gerade haben wir uns für morgen früh verabredet. Also sagen wir mal, das Schicksal hat uns zusammengeführt. Die Vorsehung? Göttliche Fügung? Ach, nenne es, wie du willst. Es ist doch auch völlig wurscht, oder?«

Corinna lächelte. »Du hast ein eigenartiges Talent, für mich da zu sein, wenn ich dich brauche. So was kann sich eigentlich nur ein Romanautor ausdenken. So jemanden wie dich gibt es doch gar nicht im wirklichen Leben.«

»Nicht. Aha. Na gut, dann bin ich eben der Geist der zukünftigen Weihnacht und zeige dir, was alles passieren kann, wenn ich nicht auf dich aufpasse!«

Sie lachte. »Mein Herr, ich bin verheiratet, und eine anständige Frau!«

Er verneigte sich formvollendet. »Das sollen Sie ja auch bleiben, meine Dame. An diesem Zustand möchte ich so wenig wie möglich ändern!«

*

Corinna stand auf dem Bahnsteig, an dem die Züge der BOB, der Bayerischen Oberlandbahn, aus Richtung München eintrafen. Auf der anderen Seite hatte gerade der Zug aus Bayrischzell die kleine Stadt erreicht. Bis zum Eintreffen des Zuges aus der Landeshauptstadt dauerte es noch fast eine halbe Stunde. Sie setzte sich auf eine Bank, deren Lackierung teilweise abgebröckelt war, und in die pubertierende Schüler mit Taschenmessern oder Kugelschreibern Liebesbekundungen oder Beschimpfungen geritzt hatten.

Daniel war auf die Minute pünktlich gewesen. Alles war wie selbstverständlich. Sie hatte sich bei ihm untergehakt, er hatte ihre Reisetasche in der anderen Hand gehalten und sie zu seinem Wagen geführt. Nach kurzer Fahrt hatten sie das Ziel erreicht. Er hatte sie im Laubries vor ihre Haustür begleitet. »Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Ich kann mir meine Arbeit und Zeit einteilen.«

»Und das nennt sich nun 1. Klasse!«, schimpfte Kati Gräber. »Wie um alles in der Welt sind Sie nur auf den Gedanken gekommen, mit dem Zug zu fahren?«

Professor Sonntag schmunzelte. »Schlechte Planung! Die Inspektion hat ein paar Mängel zutage gefördert, die behoben werden mussten. Und meine Frau brauchte ihren Wagen selbst! – So schlimm ist es doch gar nicht, oder? Etwas schmutzig, vielleicht! Aber es dauert nur eine Stunde! Das geht doch!«

Schwester Katrin zog die Augenbrauen hoch. »Immerhin – die Begleitung eines derart faszinierenden Mannes tröstet über vieles hinweg!«

»Sie finden mich faszinierend?«

»Absolut!«

Schmunzelnd fächelte er sich mit beiden Händen Luft zu. »Mehr, mehr! So etwas habe ich ja schon lange nicht mehr gehört!«

Der Zug lief in den Bahnhof ein. Die routinierten Bahnfahrer und Berufspendler hatten sich bereits zu den Ausgängen bewegt und warteten geduldig, bis der Zug angehalten hatte. Zischend öffneten sich nach Druck auf den roten Knopf die Türen. »Moment, ich helfe Ihnen!« Egidius hatte sich beider Taschen bemächtigt, diese auf dem Bahnsteig abgestellt, und wandte sich Kati zu. Er packte sie mit beiden Händen in Höhe ihrer Taille, und hob sie mit einem Ruck heraus. Kati lachte laut auf, umschlang den Hals ihres Chefs spontan mit beiden Armen und küsste ihn. »Danke für die wunderschönen Tage!«, stieß sie verlegen, sich der Unmöglichkeit ihrer Geste bewusst werdend, hervor.

Ihm war ihre Sympathiebekundung offenbar nicht unangenehm. »Danke für die zauberhafte Begleitung, und das nette Rahmenprogramm – CORINNA? Ich …«

Seine Frau hatte sich den beiden unauffällig genähert. Nun stand sie, unübersehbar, unmittelbar vor ihnen. »Schön, dass es dir gut geht, Egidius. Willst du mich der jungen Frau nicht vorstellen?«

Ihre Stimme klang freundlich und ruhig. Unheimlich ruhig. Er war von Kati zurückgewichen und sagte verlegen: »Schwester Katrin hat mich zum Kongress begleitet. Sie ist meine persönliche OP-Schwester, weißt du!«

Corinna lächelte. »Komisch. Ich hatte mit einem Satz gerechnet wie ›Es ist nicht so, wie es aussieht!‹ Abgeschmackte Sätze für banale Situationen. Bitte entschuldigt. Ich hatte nicht vor, euch zu unterbrechen.«

Sie wandte sich um und erreichte nach kurzem Weg die hässliche ­Glastür. Eine Sekunde später war sie im Bahnhofsgebäude verschwunden. »Das tut mir so leid«, log Kati. Es war ihr völlig egal. Im Gegenteil. Für ihre Pläne war eine solche ›Panne‹ eher zweckdienlich. »Ich konnte ja nicht ahnen … Bekommen Sie jetzt Schwierigkeiten?« Chefarzt Professor Dr. Egidius Sonntag öffnete den Mund, aber statt einer Antwort gab er nur ein heiseres Seufzen von sich. Er ergriff die Taschen und eilte kommentarlos zum Taxenstand.

*

»Berger! – Hallo? Wer spricht denn da? Bitte melden Sie sich!«

Er wartete einige Sekunden, dann legte er auf. Auf dem Display stand ›Anonym‹. Vermutlich falsch verbunden. Aber dann konnte man das doch wenigstens sagen und sich entschuldigen. Oder? Leute gab's! Wirklich erstaunlich.

Gerade hatte Daniel sein Handy verstaut, als es erneut klingelte. Offenbar der gleiche Anrufer. Wieder ›Anonym‹.

»Berger hier! Hören Sie bitte: Wenn Sie nicht sprechen, haben Sie den Sinn des Telefons nicht begriffen. Bitte rufen … «

»Daniel, ich bin’s. Corinna. Ich brauche dringend ein Eis.«

Sie trafen sich in ›ihrem‹ Eiscafé. Dolomiti. Sie bearbeiteten hingebungsvoll und schweigend ihre Eisbecher, als verlöre der, der als Erster sprechen würde, eine Wette. Corinna legte auf halber Strecke den langstieligen Löffel aus der Hand. Sie erklärte Daniel, was vorgefallen war. »Du wirst mich für eine überspannte Ziege halten. Ich verstehe selbst nicht, warum ich so bescheuert reagiert habe. Lachen hätte ich sollen. Und so tun, als wäre nichts geschehen. Ich glaube, es wäre besser für mich, nach Hause zu gehen, bevor ich noch mehr Porzellan zerdeppere.«

Daniel sah sie traurig an. »Ich kann dich gut verstehen, Corinna. Der vergessene Hochzeitstag. Deine Krebsdiagnose. Für jeden seiner Patienten hat er Zeit. Jedem Mitarbeiter begegnet er aufmerksamer als dir. Und jetzt das. Ich kann dir nicht raten. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Jederzeit.«

Sie kämpfte mit ihren Tränen. »Könntest du mich bitte eben mal in den Arm nehmen?«

»Obwohl du dein Eis noch nicht aufgegessen hast?«

»Ja.«

»Na gut! Ausnahmsweise!«

Es fühlte sich gut an, einen Freund zu haben. Und vielleicht war ihre Ehe doch noch zu retten. Sie würde alles daransetzen.

Sie hatte sich bei Daniel eingehakt. Er begleitete sie noch zu ihrem Wagen. Im Rückspiegel beobachtete sie den schlanken, schwarz gekleideten Mann, der am Straßenrand stehenblieb und ihr hinterher sah, bis sie in die Bundesstraße abbog, die vom Zentrum über Neuhaus nach Josefstal führte.

Zwölf Anrufe in Abwesenheit. Das Display reichte kaum aus, um alle Benachrichtigungen anzuzeigen. Der Anrufer war ihr Mann. Die Frequenz sprach für ein schlechtes Gewissen. Aber wenn er die Wahrheit sagte, waren doch Kuss und Umarmung der Schwester bedeutungslos. Und hätte sie sich nicht in den Kopf gesetzt, trotz ihrer Brustkrebs-Operation Egidius vom Miesbacher Bahnhof abzuholen, hätte sie nichts von alledem mitbekommen.

Vom Beifahrersitz her ertönte der Klingelton erneut. Anruf Nummer dreizehn. Wozu sollte sie jetzt noch drangehen. In fünf Minuten erreichte sie den Laubries ohnehin.

Wie spät war es überhaupt? Wann war der Tisch im ›Bräustüberl‹ reserviert? Sie hatte sich so auf die Renke gefreut. Und auch wenn sie gern am Schliersee lebte, genoss sie die Ausflüge an den Tegern- oder Chiemsee.

»Schatz, warum antwortest du nicht? Ich bin fast gestorben vor Sorge!«

Egidius war auf das klappernde Geräusch ihres Schlüssels an die Haustür gelaufen. »Vorsicht, nicht so doll! Aua!«

Die OP-Wunde war ja noch ganz frisch und schmerzte unter seiner Umarmung. »Was ist denn los?«, erkundigte er sich besorgt. »Was tut dir weh?«

»Ich hatte einen kleinen Eingriff, während du fort warst!«

»Was für einen Eingriff? Wo? Und weswegen weiß ich davon nichts?«

Professor Sonntag hielt sie an den Schultern, als gelte es, sie am Fallen zu hindern.

»Ich hatte versucht, dir die Neuigkeit an unserem Hochzeitstag zu erzählen. Du bist allerdings eingeschlafen, und ich hielt es nicht für so wichtig.«

»Nicht so wichtig, na, höre mal! Wer hat den Eingriff den durchgeführt?«

»Graf von Falkenegg!«

»Was Gynäkologisches, also. Im Rahmen der Früherkennung?«

Corinna lächelte bitter. »Für eine Früherkennung war es in diesem Fall bereits zu spät. Aber es sieht so aus, als sei jetzt wieder alles in Ordnung. Die Lymphknoten waren tumorfrei.«

Egidius Sonntag ließ sich ächzend in einen Sessel fallen. Jeder durfte als Patient zu ihm kommen. Er fühlte sich immer zuständig, und er nahm sich für jedes Anliegen Zeit. Wenn allerdings Menschen, die er liebte, zu Patienten wurden, fühlte er sich hilflos und ängstlich. »Und ich war nicht da, um dir beizustehen! Das werde ich mir ewig vorwerfen!«

»Das wäre sehr töricht von dir, Egidius. Offen gestanden war ich ganz froh, niemandem mit meinen Wehwehchen zur Last zu fallen!« Corinna biss sich auf die Lippen. Sie dachte einen Moment lang an Daniel.

»Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Hast du Schmerzen?« Ihr Mann war aufgesprungen und hatte besorgt den Arm um sie gelegt.

»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich war nur einen Moment geistesabwesend. Mach dir keine Gedanken! – Diese Schwester, die dich begleitet hat –«

»Schwester Kati!«

»Richtig, Schwester Katrin … was bedeutet sie dir?«

»Wie meinst du das: ›Was bedeutet sie dir‹? Nichts bedeutet sie mir. Ich bin der Chefarzt, und sie ist eine der OP-Schwestern. Eine besonders tüchtige OP-Schwester, deswegen habe ich sie ja auch unter meine Fittiche genommen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«

»Ich mache mir darüber keine Sorgen, Egidius. Ich mach mir Sorgen über uns. Wann haben wir eigentlich aufgehört, miteinander zu reden?«

»Haben wir das?«

Der resignierte Tonfall in seiner Stimme ließ sie einen Moment lang den eigenen Kummer vergessen. Sie wusste, was es bedeutete, Arzt, Chefarzt, ärztlicher Direktor zu sein. Egidius war und fühlte sich für alles zuständig. Und da er ein umgänglicher Mensch geblieben war, zögerte niemand, ihn mit seinen Anliegen zu behelligen. Seine Klinik war sein Leben. Dieser Umstand war ihr ja bekannt gewesen, als sie ihn damals kennenlernte. Und es hatte ihr imponiert, wenn sie ihn verstohlen und unbemerkt beobachtete. Er war ein tüchtiger Mensch, in jeder Beziehung.

»Komm, lass uns essen gehen«, schlug sie vor. »Ich rufe im Bräustüberl an und entschuldige mich, dass wir uns eine halbe Stunde verspäten. Ach, und nimm die dunkle Fliege. Die ist elegant und macht was her.«

Es klingelte an der Haustür. Corinna telefonierte bereits. Sie deckte die Sprechmuschel ab. »Egidius, gehst du mal?« Dann wieder, laut: »Nein, nur dreißig Minuten! Der Zug meines Mannes hatte mal wieder Verspätung! Ja, wirklich schlimm, mit der Bahn!«

Ihr Mann hatte die Haustür geöffnet. Ein hübscher, blonder Junge stand dort. »Egidius, ich gehe kurz ins Bad! Denk dran, dass wir in spätestens zehn Minuten …«

Sie verschwand im hinteren Teil des Hauses.

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich der Hausherr liebenswürdig.

Der Junge nahm die rote Basecap ab. »Sind Sie Egidius Sonntag?«

Der Befragte lachte auf. »Bis eben war ich es noch! Verraten Sie mir denn auch, wer Sie sind?«

»Ich bin Lukas.«

»Aha. Freut mich sehr, Lukas, Sie kennenzulernen, aber meine Frau und ich stehen etwas unter Zeitdruck! Gibt es denn etwas Wichtiges?«

Der Junge kratzte sich verlegen am Arm. »Lukas Bernleitner?«

»Musst du noch mal ins Bad, bevor wir aufbrechen?« Corinna hatte Make-up und Frisur gerichtet und legte ihre kleine Handtasche auf den Garderobentisch. »Wir müssen wirklich aus dem Haus, Herr –«

»Er heißt Lukas Bernleitner!« Egidius floh.

»Herr Bernleitner, also.«

»›Lukas‹ reicht. Bernleiter hab ich nur gesagt, damit er sich auskennt. Ich bin vierzehn und aus Berlin. Und der Mann, der hier wohnt, ist mein Vater.«

*

»Könnten Sie bitte noch ein Gedeck dazulegen, Herr Weber?« Die Sonntags waren sozusagen Stammgäste im Restaurant Bräustüberl, von dem man einen schönen Blick über den gesamten Tegernsee hatte, und in dem immer wieder Prominenz zu Gast war.

»Selbstverständlich, Herr Professor!« Für diesen Menschen hätte Herr Weber persönlich sämtliche Tische umgestellt. Nicht nur, dass er ein höflicher, angenehmer Gast war, der mit dem Trinkgeld nicht geizte. Nein. Er hatte ihn vor drei Jahren von einem eingeklemmten Harnleiterstein befreit. Und das würde er ihm nie vergessen.

Es wäre dem grauhaarigen, vornehmen Mann auch nie eingefallen, Kritik an Professor Sonntag oder seiner Begleitung zuzulassen. Hätte jemand sich über die legere Kleidung des jungen Mannes – zerrissene Jeans, pinkfarbenes Polohemd, weiße Sneakers – mokiert, hätte er den Kritiker in seine Schranken gewiesen. Und der Gast war nun mal König. Und der Junge war ganz offensichtlich der Sohn des Herrn Professors. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Zweifel ausgeschlossen. Nicht mal Egidius selbst hatte Zweifel, auch wenn er zunächst nicht glauben wollte, dass die Mutter des Jungen das Kind bekommen hatte.

»Darf ich 'ne Vorspeise?«

Der frischgebackene Vater sah seine Gattin an. »Nehmen wir auch eine, Corinna, Liebes?« Und, dem jungen Mann zugewandt, »Lieb von dir, dass du fragst, Lukas! Natürlich darfst du. Hast du schon was ausgesucht?«

Für Lukas gab es Toast mit Aal, dem Ehepaar wurde Bouillabaisse serviert. »Was ist das?«, erkundigte sich der junge Mann neugierig.

»Eine französische Fischsuppe. Sehr lecker!«

Zum Hauptgang wurde dann gebratene Renke serviert. »Es passt nicht wirklich«, meinte der chefärztliche Gourmet. »Fisch als Vorspeise und Hauptgericht, aber hier wird der Fisch so wunderbar zubereitet!«

Lukas zeigte sich davon unbeeindruckt. Er säbelte ein großes Stück seines Steaks ab. »Wie geht es deiner Mutter, Lukas?«, fragte Egidius seinen Sohn.

»Gut.« Lukas kaute und spießte sogleich ein paar von den Pommes Frites auf, die er im Ketchup badete, bevor er sie in den Mund schob.

»Weiß sie, dass du hier bist?«, setzte Corinna das Verhör fort.

»Nö.«

Corinna zeigte sich erschüttert. »Aber sie wird sich doch Sorgen machen! Also, ich wäre völlig fertig, wenn mein Kind plötzlich verschwunden wäre! Vermutlich hat sie schon Suchtrupps der Polizei losgeschickt!«

Lukas kaute, unbeeindruckt. »Merkt sie gar nicht. Sie hat zu tun. Mit ihrem Neuen. Christoph oder so.«

»Jedenfalls rufen wir sie gleich an, wenn wir wieder zu Hause sind. Woher weißt du …?«

»Dass du mein Dad bist? Hat sie mir erzählt!«

»Und wie hast du mich gefunden?«

Lukas sah seinen Erzeuger ungläubig an.

»Schon mal was von Google gehört?«

»Ach so. Ja, natürlich. – Und? Wie geht es ihr so?«

»Mit dem Typen? Am Arsch!«

»Lukas, ich würde mich wirklich freuen, wenn du diese Kraftausdrücke auf ein absolut erforderliches Minimum reduzieren würdest! Immerhin redest du hier über den Lebensgefährten deiner Mutter. Und du wirst irgendwann mit ihm klarkommen müssen!«

Lukas legte die Gabel beiseite, und begann, die frittierten Kartoffelstäbchen mit den Fingern zu essen.

»Lukas! Das ist völlig unmöglich! Wir sind hier im ersten Restaurant am Platze und nicht im Schnellimbiss in Hausham!«

Mit einem Stöhnen, dass seinen Unwillen dokumentierte, ließ der Junge die Pommes auf den Teller zurückfallen und lehnte sich zurück. »Übrigens muss Mama operiert werden«, stieß er hervor.

Corinna zuckte zusammen. »Warum das? Was hat sie denn?«

»Keine Ahnung. Hat sie nicht gesagt!«

»Gibst du mir bitte ihre Handy-Nummer?«

»Klar.«

*

»Eine Dummheit von mir. Eine Jugendsünde, eigentlich. Ich war damals fast 26, und alle drei Tage aufs Neue und natürlich unsterblich verliebt!«

»Waren Sie damals nicht schon verehelicht?«