Über das Buch:
Die begabte Fotografin Avery Tate wird von ihrer Jugendfreundin Sky zu einer ungewöhnlichen Fotoausstellung in einer Galerie in Baltimore eingeladen. Doch seltsamerweise erscheint Sky nicht, stattdessen ist ein düsteres Foto von ihr ausgestellt, das auf mysteriöse Weise seinen Weg in die Galerie gefunden hat. Avery ist beunruhigt. Als Sky verschwunden bleibt, vermutet sie ein Verbrechen und bittet ihren früheren Kollegen, den Tatortanalytiker Parker Mitchell, ihr zu helfen. Was Parker nicht weiß: Avery ist schon lange hoffnungslos in ihn verliebt. Doch er trauert noch immer seiner verstorbenen Jugendliebe nach. Bei den Ermittlungen, die Avery und Parker gemeinsam mit ihren Freunden vom FBI durchführen, gerät der unheimlich wirkende junge Fotograf Sebastian in den Fokus, der Sky gestalkt hat. Doch immer dann, wenn Avery und Parker der Lösung des Falles ein Stück näher zu kommen scheinen, ergibt sich eine unerwartete Wendung.

Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

7. Kapitel

Averys Atem stockte, als sie den gefährlich aggressiven Unterton in Garys Stimme hörte. Er würde die Sache nicht eben leichter machen. Aber das tat er ja nie.

Jetzt legte er den Kopf auf die Seite und ein süffisantes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Wusste ich doch, dass es nicht lange dauern würde, bis du wieder hier bist.“ Er schob sich neben sie und sie spürte seinen schweren Atem an ihrem Hals. „Eine Rolle zu spielen, hält man nicht ewig durch, Kleines.“

Ein Schauer lief über ihren Rücken.

Parker trat auf die beiden zu und seine grünen Augen blitzten. „Was hältst du davon, wenn du einen Schritt zurücktrittst, Kumpel?“

„Kumpel?“ Gary lachte und sah Avery an. „Wer ist das denn? Sag bloß nicht, ihr zwei …“

Oh, bitte nicht …

„Lass mich raten“, sagte Gary. „Du hast ihm nichts von uns erzählt, mein Kätzchen, oder?“ Er legte die Hand in ihren Nacken und fuhr mit den Fingern in ihre Haare.

Parker machte einen Satz nach vorne, aber bevor er Avery erreicht hatte, nahm sie Garys Hand, drehte sie kraftvoll, bog seine Finger in einem schmerzhaften Winkel nach hinten und zwang ihn so in die Knie.

Gary brüllte einen Fluch und machte Anstalten, mit der freien Hand den Metallstock zu schwingen.

Parker kickte ihm die Stange aus der Hand und zog Avery in seine Arme. „Cool reagiert“, flüsterte er.

„Danke.“ Kickboxen und Selbstverteidigung hatten sich gelohnt und trotzdem war ihr ganz schlecht. Als dieser Kosename über Garys Lippen gekommen war, hatte es sie schmerzlich an das Leben erinnert, das sie einmal geführt hatte. Die Erinnerungen überwältigten sie hier in diesem Umfeld beinahe und verhöhnten sie.

Sie blickte auf und sah, wie Gary seine Hand ausschüttelte und sich bückte, um seinen Schlagstock aufzuheben.

Parker zog seine Wilson-Combat-Pistole heraus. „Keine gute Idee.“

„Du hast einen Bullen mitgebracht?“, brüllte Gary, während er sich ohne den Schlagstock aufrichtete.

Es hatte keinen Sinn, seinen falschen Eindruck zu korrigieren. Parker war ein freier Ermittler – einer der besten im Land –, der regelmäßig mit den Polizeidirektionen und den Bundesbehörden vor Ort zusammenarbeitete, aber wenn Gary ihn für einen Polizeibeamten hielt, war ihm das nur recht.

Gary zeigte auf Avery und sein ganzer Körper war gespannt wie eine Schnur, die jeden Moment zu zerreißen droht. „Du kannst von Glück sagen, dass du Verstärkung dabeihast.“

Parker neigte den Kopf zur Seite und zielte mit der Waffe auf Garys massigen Bauch. „War das eine Drohung?“

Garys Blick durchbohrte Avery förmlich.

Ganz wie in alten Zeiten. Er versuchte, sie einzuschüchtern. Und damals hatte das funktioniert. Aber jetzt nicht mehr.

„Ja, das war eine Drohung, also halt besser die Augen auf, Av.“

„Keine Sorge“, sagte Parker mit beißendem Lächeln. „Ich werde die Lage schon im Auge behalten.“

„Du kannst mich nicht mehr einschüchtern, Gary“, sagte Avery. Gary hatte eine große Klappe und schikanierte andere, aber solche Spielchen spielte sie nicht mehr mit.

„Das kannst du dir ruhig einreden, Süße.“ Er zwinkerte.

„Ich glaube, es wird Zeit, dass Sie gehen“, sagte Parker, während sein Finger über den Abzug strich.

„Warte.“ Avery legte die Hand auf Parkers tätowierten Unterarm. „Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.“

Gary lachte. „Glaubst du im Ernst, dass ich dir nach der kleinen Nummer eben helfe?“

„Ich versuche, Skylar zu finden.“

„Tun wir das nicht alle?“

„Wir?“

„Du, ich, ein paar Mädels, ein paar Typen.“ Er fuhr sich mit dem Finger unter der Nase entlang. „Sky ist plötzlich ausgesprochen beliebt.“

„Weißt du, wer sich für sie interessiert? Und was diese Leute wollten?“

„Ich kann mir vorstellen, was die Typen wollten.“

Avery ignorierte seine Bemerkung. „Wann hast du Skylar das letzte Mal gesehen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Neulich abends.“

„An welchem Abend?“

„Donnerstag.“

„Also gestern? Um wie viel Uhr?“

„Keine Ahnung. Vielleicht neun oder zehn. Ich war auf dem Weg zu McDougalls Pub.“

„Hat sie gesagt, wohin sie geht?“

„Nein. Du kennst doch Sky. Sie hat nichts gesagt und ich habe nicht gefragt.“

Das konnte nicht stimmen. Jedenfalls nicht in Averys Fall. Als sie noch mit Gary zusammen gewesen war, hatte er sich wie ein Gefängniswärter aufgeführt. Er hatte genau registriert, wohin sie ging. Nie wieder würde sie sich so abhängig und verwundbar machen. Deshalb hatte sie sich auch von Parker zurückgezogen, denn er würde sich ihr nie so vollständig hingeben können wie sie ihm.

„Hatte sie Gepäck bei sich?“, fragte sie.

Wieder fuhr sich Gary über die Nase. „Du meinst die schäbige Reisetasche, die sie immer bei sich hatte?“

„Genau.“

„Hab ich nichts von gesehen.“

„Und warum suchst du jetzt nach ihr?“ Er war Skylar bislang noch nie nachgelaufen. Stattdessen ließ er sie machen und war dann wieder mit ihr zusammen, wenn sie zurückkam. Leider kam sie immer wieder zu ihm zurück.

„Was glaubst du denn?“ Ein abscheuliches lüsternes Grinsen umspielte Garys Mundwinkel.

Schnell lenkte Avery das Gespräch in eine andere Richtung, bevor sie noch handgreiflich wurde. „Die anderen Leute, von denen du gesprochen hast … Kannst du mir sonst noch was über sie sagen?“

„Ich weiß nicht. Der eine Typ hat vor ein paar Tagen hier an der Tür mit Sky gesprochen, aber sie hat ihn nicht reingelassen.“

„Hast du irgendeine Ahnung, worüber sie gesprochen haben?“

„Nee. Wie gesagt, sie hat ihn nicht reingelassen. Hat nur durch die Fliegengittertür mit ihm geredet.“

„Kannst du ihn beschreiben?“

„Normal groß, dünn, braune Haare. Sein Gesicht konnte ich nicht richtig sehen.“

„Du hast gesagt, dass auch ein paar Mädchen nach ihr gefragt haben?“ Das war merkwürdig. Sky kam nicht gut mit anderen Frauen aus. Sky und sie waren nur deshalb Freundinnen, weil ihre Mütter ein Herz und eine Seele gewesen waren, bis Averys Mom sich aus dem Staub gemacht hatte.

„Ja. Einmal hab ich eine davon vor Skys Tür gesehen, aber die war an dem Tag nicht zu Hause.“

„An welchem Tag war das?“

„Ich weiß nicht. Letztes Wochenende vielleicht.“

„Kannst du sie beschreiben?“

„Klar. Sie war echt heiß.“

„Ein bisschen mehr bräuchten wir schon.“

„Ich weiß nicht. Klein. Blonder Pferdeschwanz. Hätte mich ja vorgestellt, aber sie war ziemlich schnell wieder weg.“

Na, super. Gary baggerte alles an, was zwei Beine hatte.

„Und die andere Frau?“

„War irgendwann letzte Woche hier. Sie hat auch an die Tür geklopft, als ich auf dem Weg zu McDougalls war.“

Sein allabendliches Ritual.

„Also gegen neun oder zehn?“

„Wahrscheinlich.“

„Wie sah sie denn aus?“

„Es war dunkel und ich bin im Wagen vorbeigefahren. Kann ich also nicht sagen.“

„War Sky zu Hause?“

Er zuckte mit den Schultern. „Im Rückspiegel hab ich gesehen, wie die Außenlampe anging.“

„Hast du gesehen, wie Skylar die Tür aufgemacht hat?“

„Da war ich schon auf der Hauptstraße angekommen.“ Er runzelte die Stirn. „Was sollen eigentlich die ganzen Fragen?“

Avery erklärte schnell, was in der Galerie geschehen war und dass jemand sich Zugang zu Skylars Trailer verschafft hatte.

„Jemand hat bei Sky eingebrochen? Da hat er aber Glück gehabt, dass ich nicht da war. Den hätte ich mir schon vorgeknöpft.“

Sie hatte nichts davon, wenn Gary sich als Bürgerwehr aufspielte, aber sie brauchte seine Hilfe. „Kannst du die Polizei anrufen und Sky als vermisst melden?“

Gary sah sie verständnislos an. „Was?“

„Ich glaube, Skylar ist etwas zugestoßen. Aber sie hat ja den Ruf, sich immer wieder mal abzusetzen, und auch keine Verwandten, die sie als vermisst melden könnten. Doch die Beamtin sagte mir, sie würde dann eine offizielle Vermisstenmeldung rausgeben, wenn du, der du mehr oder weniger bei ihr wohnst, meldest, dass sie verschwunden ist.“

„Wie du weißt, rede ich nicht gerne mit Bullen.“

„Aber machst du dir denn keine Sorgen um Skylar?“

Er lachte. „Die taucht schon wieder auf. Das ist immer so.“

Avery seufzte frustriert und gab Gary ihre Visitenkarte. „Da steht meine Handynummer drauf. Ruf mich an, wenn du Sky siehst, wenn du es dir anders überlegst mit der Vermisstenmeldung oder wenn dir sonst etwas einfällt, was helfen könnte.“

„Wir werden sehen.“ Gary verstaute die Karte in seiner Hosentasche.

Sie betete, dass er ihre Nummer nur für die von ihr genannten Zwecke benutzen würde. Gary war der letzte Mensch, von dem sie hören wollte, es sei denn, es hatte etwas mit Skylar zu tun.

Parker wartete, bis Gary gegangen war, bevor er etwas sagte.

Na super. Jetzt würde er sie sicher nach Gary fragen – dem größten Fehler ihres Lebens. Na ja, dem zweitgrößten.

„Könnte es sein, dass Gary der Eindringling war?“

Sie runzelte die Stirn, heilfroh darüber, dass er sie nicht nach ihrer früheren Beziehung zu Gary fragte, aber die Frage erschütterte sie. Daran hatte sie gar nicht gedacht … „Warum sollte er in die Wohnung seiner eigenen Freundin einbrechen?“ Allerdings hatte er einen Schlüssel und die Polizei hatte gesagt, dass es keine Einbruchspuren gab, was Parker und sie nach ihrer Durchsuchung bestätigen konnten.

„Vielleicht hatte sie etwas, das er haben wollte, und sie war nirgends zu finden“, schlug Parker vor.

„Aber warum dann heimlich, mit einer Taschenlampe? Warum hätte er sich hier hereinschleichen sollen?“

„Ist das nicht etwas, das er tun würde?“, fragte Parker.

Sie überlegte. „Wenn er ein Motiv hatte, könnte ich es mir vorstellen.“

„Ich glaube, ich werde die Unterhaltung mit Gary fortsetzen“, sagte Parker und ging auf die Tür zu.

„Ich bezweifle, dass er noch mehr Fragen beantworten wird.“ Jedenfalls nicht, wenn Parker sie stellte. Wenn sie fragte, vielleicht, aber nicht Parker gegenüber. Für Gary war er ein Außenseiter und mit denen redete man nicht, vor allem nicht mit solchen, die eine Waffe trugen.

„Kann sein, dass er mir nicht sagt, was er weiß“, gab Parker zu, „aber jeder Mensch gibt unbewusst Dinge preis, die ihn verraten.“

Und Parker war sehr talentiert darin, diese verräterischen Zeichen zu entdecken. Genau das machte ihr ja solche Angst. Konnte er in ihrem Herzen lesen? Wusste er, was sie für ihn empfand? Bevor sie sich mit dem Gedanken ganz verrückt machen konnte, konzentrierte sie sich wieder auf Gary. „Warum interessierst du dich so für Gary?“ Weil er ihr gedroht hatte? Höchstwahrscheinlich war das nur leeres Gerede gewesen, und selbst wenn das nicht der Fall war – sie hatte vor ihm nicht mehr solche Angst wie früher.

„Weil wir hier überall seine Fingerabdrücke gefunden haben“, sagte Parker.

„Ich habe dir doch gesagt, dass er und Sky zusammen waren. Natürlich sind seine Abdrücke hier zu finden“, wandte Avery ein.

„Ja, aber eine Stelle war selbst für ein Paar ungewöhnlich. Finde ich jedenfalls, vor allem, nachdem ich ihn kennengelernt habe“, sagte Parker.

Avery runzelte die Stirn. „Wo denn?“

„Auf ihrer chinesischen Schmuckschatulle mit den Geheimfächern.“

8. Kapitel

„Warum hast du nichts gesagt, bevor er gegangen ist?“, wollte Avery wissen und ging zur Tür.

„Weil sie ein Paar waren, wie du gesagt hast, und ich wollte erst dich fragen. Aber wahrscheinlich antwortet er eher, wenn du nicht dabei bist. Von Mann zu Mann.“

Sie atmete erleichtert aus. Das stimmte wahrscheinlich. Aber Parker war ein Außenseiter und er wollte einfach nur, dass Gary aus ihrer Nähe verschwand. Er wollte, dass ihr nichts zustieß. Dass war wirklich lieb, aber inzwischen wurde sie mit Gary auch allein fertig.

„Hast du eine Ahnung, was sie in ihrer Schmuckschatulle hatte“, fragte Parker.

„Hatte? Vergangenheitsform? War er denn nicht drin?“

„Er?“ Parker zog die Augenbrauen hoch.

„Ein dreikarätiger Diamantring.“

„Drei Karat?“ Parker starrte sie mit offenem Mund an.

„Es war ein Verlobungsring, den ein reicher alter Mann ihrer Mutter gegeben hatte. Aber sie hat seine Hand ausgeschlagen, weil sie ihn nicht wegen des Geldes heiraten wollte. Weil sie ehrlich zu ihrem Verehrer gewesen war, ließ er sie den Ring behalten. Und bevor sie starb, hat sie ihn Sky gegeben, weil sie wollte, dass Sky eine bessere Zukunft hat.“

„Warum hat Sky ihn dann nicht verkauft?“, fragte Parker.

„Weil er ein Geschenk von ihrer Mom war. Eines der wenigen Dinge, die sie von ihr hatte, und das letzte Geschenk. Auf keinen Fall würde Sky sich davon trennen. Sie hat ihn noch nicht einmal getragen, weil sie Angst hatte, ihn zu verlieren. Bist du sicher, dass er nicht da drin ist? Es gibt mehr als ein Fach.“

„Ich habe drei Geheimfächer gefunden – alle leer“, sagte Parker.

„Dann hast du sie alle entdeckt.“ Sie ging ins Schlafzimmer, ließ sich von Parker bestätigen, dass sie die Schachtel in die Hand nehmen durfte, weil er mit den Fingerabdrücken fertig war, und sah selbst nach. Wie hatte der beschränkte Gary es geschafft, die Schatulle zu öffnen? „Das geht zu weit. Ich werde ihn zusammen mit dir zur Rede stellen.“ Dieser Ring war alles, was Sky besaß.

„Dann beeilst du dich besser“, sagte Parker nach einem Blick aus dem Fenster. „So wie es aussieht, fährt er gerade.“

„Was?“ Sie nahm ihren Schlüssel und rannte die Treppe hinunter und zu ihrem Auto. Als sie einstieg, schoss Garys Pick-up gerade an ihr vorbei.

Parker sprang neben ihr auf den Beifahrersitz.

„Was machst du da?“, fragte sie, während sie den Rückwärtsgang einlegte.

„Du bist verrückt, wenn du glaubst, ich würde nicht mitkommen.“

Sie konnte protestieren, aber wozu?

Außerdem konnte sie sich jetzt, wo Parker wieder bei ihr war, gar nicht vorstellen, dass ihre gemeinsame Zeit schon wieder enden sollte.

„Gut.“ Sie ging etwas vom Gas. „Ich glaube nicht, dass er uns gesehen hat. Und es bringt nichts, wenn er weiß, dass wir ihm folgen. Wir halten ein bisschen Abstand und stellen ihn zur Rede, wenn er da ankommt, wo er hinwill.“

„Guter Plan. Und anschließend können wir die Liste durchgehen.“

„Liste?“ Sie sah ihn fragend an.

„Der Fingerabdrücke.“

„Du hast noch andere als die von Gary und diesem Einundzwanzigjährigen gefunden? Wen haben wir denn noch?“ Vielleicht würde sie einige der Namen erkennen. Die Trailersiedlung war nicht groß.

* * *

Sein Meisterwerk war jetzt in den Händen einer neugierigen Freundin seines Models. Er konnte nicht riskieren, es in der Galerie zurückzufordern. Das Risiko war zu groß. Die Frau hatte den ganzen Abend Fragen über Skylars Verbleib gestellt. Das schränkte seine Beweglichkeit ein und änderte seine Ausstellung. Deshalb hatte er sein Kunstwerk zurücklassen müssen.

Aber jetzt wollte er es zurückhaben. Er brauchte es zurück. Es gehörte ihm. Sie gehörte ihm.

Also musste er die Frau finden, die ihm sein Eigentum geraubt hatte.

* * *

Parker zog die Liste der übereinstimmenden Fingerabdrücke aus seiner Jackentasche und hielt sie in den schwachen Schein des Armaturenbretts, weil er nicht die Lampe am Autohimmel einschalten und Gary auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen wollte. „Also, zum einen sind da natürlich Connor Davis und Gary Boyd“, begann er, „und dann eine Crystal Lewis. Sie und Gary sind wegen verschiedener Delikte in der Datei – Alkohol am Steuer und Ladendiebstahl bei Crystal, Körperverletzung und Hausfriedensbruch bei Gary.“

„Crystal war bei Skylar?“

Er warf ihr einen schnellen Blick zu, während er gleichzeitig immer noch Garys Rücklichter zweihundert Meter vor ihnen im Blick behielt. „Sehe ich das richtig, dass du Crystal kennst?“

„Sie wohnt auch in der Trailersiedlung. Mir war nicht bewusst, dass Sky und sie noch immer befreundet sind.“

„Okay.“ Als sie keine weitere Erklärung hinzufügte, ging er zu dem nächsten Namen auf der Liste über, weil er sie nicht drängen wollte, was ihre Vergangenheit betraf. „Als Nächstes haben wir eine Megan Kent. Kennst du Megan?“

Avery schüttelte den Kopf. „Kommt mir nicht bekannt vor. Ich vermute, sie ist auch vorbestraft?“

„Nein. Sieht so aus, als hätte jemand im Zusammenhang mit einer Arbeitsstelle ihren Hintergrund überprüft. Sie ist Krankenschwester in St. Agnes. Was ist mit Sebastian Chadwyck?“, fuhr er fort. „Seine Fingerabdrücke sind auch im Zusammenhang mit einer Überprüfung abgespeichert. Auch er arbeitet in St. Agnes, aber als Pflegehelfer. Ich wusste gar nicht, dass es so was noch gibt.“

„Sebastian?“ Ihre Stimme klang mit einem Mal eine Oktave höher.

„Du kennst Sebastian?“

„Nein, aber Gerard beschuldigt einen Typen namens Sebastian, die Porträts ausgetauscht zu haben.“ Sie deutete mit einer Bewegung ihres hübschen Kopfes auf das Bild auf dem Rücksitz.

Parker sah nach hinten und musterte die Verpackung, so gut er es im Scheinwerferlicht des Wagens hinter ihnen konnte. Nach allem, was er in dem Dämmerlicht sehen konnte, hatte sie ihre Sache gut gemacht. Er drehte sich wieder nach vorne. „Aber warum sollte ein Krankenpfleger Bilder austauschen?“

„Gerard sagte, er sei ein Neuling in der Kunstszene. Gerard war sein Mentor“, sagte sie und malte bei dem letzten Wort mit einer Hand Anführungszeichen in die Luft. „Wahrscheinlich jobbt er im Krankenhaus, um die Rechnungen zu bezahlen, während er an seinem Erfolg arbeitet.“

„Da beide in St. Agnes arbeiten und beide bei Skylar waren, ist anzunehmen, dass Megan und Sebastian einander kennen.“

„Vielleicht war Megan eine der Frauen, die Gary bei Skylar gesehen hat“, schlug Avery vor.

„Und Sebastian einer von den Typen?“, fragte er.

„Könnte sein.“ Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. „Nachdem wir Gary dazu gebracht haben zu reden, sollten wir als Nächstes Sebastian besuchen, finde ich.“

„Gleich morgen früh“, nickte Parker.

Sie sah zu der Uhr am Armaturenbrett hinüber und sein Blick folgte ihrem.

Es war beinahe halb vier Uhr morgens und stockduster.

„Wer sonst noch?“, fragte Avery. „Weitere Namen?“

„Noch ein Name und eine ganze Anzahl Unbekannte.“

„Wie lautet der letzte Name?“

„Lennie Wilcox.“

„Kenne ich nicht.“

„Ich leider schon.“ Seine Finger krallten sich fester um das Blatt Papier.

Sie warf ihm von der Seite einen Blick zu. „Warum gefällt mir nicht, wie du das sagst?“

„Weil Lennie für Max Stallings arbeitet.“

„Und wer ist das?“

„Ein übler Bursche. Ich sage Declan und Lexi, dass sie mit ihm reden sollen.“

„Warum?“

„Sagen wir mal, sie haben eine gemeinsame Geschichte mit Max Stallings.“

„Wo wir gerade von Declan sprechen“, sagte Avery, während sie ihren Hals seitwärts dehnte, „ich bin gespannt, was er herausgefunden hat.“

„Dann sind wir schon zu zweit.“ Parker zog die Augenbrauen hoch, denn seine angeborene Neugier war neu entfacht.

* * *

Sie hatte noch nie jemanden getroffen, der so viel Wissensdrang besaß, und es war fesselnd – so als würde man einem kleinen Kind zusehen, das zum ersten Mal einen Schmetterling entdeckt. Sie fand das toll an ihm.

„Tanner und Declan haben den heutigen Abend also unerwartet zusammen verbracht …“ Parkers Mundwinkel zuckten.

„Stimmt. Wieso grinst du?“

Er legte eine Hand auf sein Knie. „Ich finde die Interaktion zwischen den beiden äußerst interessant.“

Avery lächelte ebenfalls. „So kann man es auch nennen.“ Sie vermisste diese Unterhaltungen. Sie vermisste ihr Zusammensein, wobei dieses Zusammensein von ihnen beiden offenbar unterschiedlich bewertet wurde.

Parker flirtete gerne und war ganz eindeutig irgendeiner Art von Beziehung nicht abgeneigt, aber lockere Beziehungen waren nicht ihr Ding. Sie wollte etwas von Dauer mit einem Mann, der ihr sein ganzes Herz schenken konnte. Leider würde Parker nie dieser Mann sein. Sein Herz, oder jedenfalls ein großer Teil davon, gehörte noch immer seiner ersten Liebe – Griffins kleiner Schwester Jenna.

Seit jemand die siebzehnjährige Jenna ermordet hatte, war Parker – der damals einundzwanzig gewesen war – nicht mehr derselbe. Er hatte kein Problem damit, mit Frauen auszugehen, und es kursierten Gerüchte über den attraktiven Amerikaner mit den irischen Wurzeln. Allein schon von seinem irischen Akzent bekam Avery weiche Knie, aber er hatte noch viel mehr zu bieten. Er war brillant – sowohl was die Kreativität als auch seinen Intellekt betraf – und besaß eine Tiefe, die nicht vielen Männern eigen war. Wo andere kleine blasse Punkte sahen, entdeckte er Sterne. Und er zog mit einer Intensität durch ihre Gedanken, die sie zugleich begeisterte und ihr Angst machte. Aber sie brauchte etwas, das er nicht geben konnte.

Also konzentrierte sie sich nicht darauf, wie weh diese Tatsache tat, sondern genoss den Duft seines Zedernholz-Rasierwassers. Der holzig-würzige Geruch löste viele schöne Erinnerungen an ihre Reise nach Deep Creek Lake vor zwei Sommern aus. Sie dachte daran, wie sie die Sonne auf ihrem Gesicht gespürt und beobachtet hatte, wie die Sonnenstrahlen sich in dem durch kleine Wellen gekräuselten Wasser spiegelten. Sie roch wieder den würzigen, frischen Duft von Piniennadeln. Das Zedernholz-Aroma war beruhigend, aber an Parker war es zugleich äußerst berauschend. Es lockte sie, all ihre Schutzmechanismen in seiner tröstlichen Gegenwart fallen zu lassen.

Sie folgten Gary schweigend, bis er in östlicher Richtung auf die 404 abbog. „Hast du eine Ahnung, wohin er fährt?“ Sie waren ihm jetzt schon seit fast einer Stunde auf den Fersen.

„Ich vermute, zu seinem Bruder. Der wohnt an der Ostküste. Wann immer Gary in Schwierigkeiten ist, läuft er zu seinem großen Bruder.“ Sie schüttelte den Kopf. „Manche Dinge ändern sich einfach nicht.“ Andere zum Glück schon.

* * *

Über die Schulter warf Parker einen neuerlichen Blick auf das Porträt, weil er es kaum erwarten konnte, es zu untersuchen. Dann bemerkte er den Wagen, der hinter ihnen herfuhr. Immer noch. „Hmm.“

„Was ‚Hmm‘?“, fragte sie in diesem neugierigen Tonfall, den er so liebte.

„Kurz nachdem wir die Siedlung verlassen haben, hat sich ein Wagen hinter uns gehängt und er ist immer noch da.“

„Wirklich?“ Avery sah in den Rückspiegel. „Was meinst du, folgt er uns oder Gary?“

„Ich würde sagen Gary.“

Das Auto ließ sich zurückfallen.

Wieder warf Avery einen Blick in den Rückspiegel. „Ich glaube, sie wissen, dass wir sie bemerkt haben.“

„Fahr ein bisschen langsamer und versuch die Entfernung so weit zu verringern, dass ich das Nummernschild mit der Taschenlampe erkennen kann. Das verscheucht sie zwar, aber ich brauche nur ein paar Sekunden, um das Kennzeichen zu notieren.“ Er streckte den Arm aus dem Fenster, den Blick auf das vordere Kennzeichen des Wagens gerichtet, und schaltete die Taschenlampe ein, aber das Schild war mit etwas Schwarzem verschmiert, sodass Zahlen und Buchstaben nicht zu entziffern waren.

Als sie sich einer Verkehrsinsel näherten, lenkte der Wagen, ein Fiat Cabrio, scharf nach links. Parker hob die Taschenlampe an, um den Fahrer sehen zu können, der eine illegale 180-Grad-Wendung machte und in die entgegengesetzte Richtung davonbrauste. Parker glaubte, einen blonden Pferdeschwanz gesehen zu haben.

„Hast du das Kennzeichen?“, fragte Avery, als er sich auf dem Beifahrersitz wieder zurücklehnte.

„Nein. Das war unkenntlich gemacht.“

„Ein alter Trick“, nickte sie. „Sky hat das oft getan, wenn sie irgendwo eingedrungen ist oder …“, sie atmete hörbar aus, „… wenn wir irgendwo eingedrungen sind.“ Sie sagte es, als wäre es neu für ihn, aber er hatte natürlich ihr Strafregister gesehen, als er ihren Hintergrund überprüft hatte. Normalerweise wären ihre Vorstrafen Grund genug gewesen, sie nicht einzustellen, aber nach mehr als nur einer Handvoll Jahre, in denen sie sich absolut nichts hatte zuschulden kommen lassen, war klar, dass die Frau neben ihm sich geändert und einen neuen Weg eingeschlagen hatte.

„Es hält die Polizei in der Regel davon ab, dich anzuhalten, weil das Nummernschild ja genau genommen nicht fehlt. Aber es ist schwieriger zu lesen, wenn man erwischt wird und abhauen muss“, fuhr sie fort und holte ihn damit wieder in die Gegenwart zurück. „Aber Sky und ich waren schlau genug, oder rückblickend dumm genug, das restliche Auto auch zu verdrecken, sodass es plausibel wirkte. Der Fiat vorhin war aber bis auf das Nummernschild blitzblank.“

„Stimmt.“ Interessant. Ein Fiat war nicht die Art Fahrzeug, in dem er sich Lennie oder irgendeinen anderen von Max’ Schlägertypen vorstellte. Aber wenn Lennie bei Skylar war, hatte sie wahrscheinlich Schulden bei ihm. Gary vielleicht auch. Vielleicht hatte er sich deshalb an Skylars Schmuckschatulle vergriffen. Vielleicht war er deshalb auf der Flucht.

Anderthalb Stunden später beobachteten sie, wie Gary vor dem Haus hielt, das Avery zufolge seinem Bruder gehörte.

Nach nur zweieinhalb gemeinsamen Stunden im Auto kam es ihm vor, als würde er Avery besser kennen als je zuvor. Dies war das erste Mal, dass sie offen über ihre Vergangenheit gesprochen hatte. Dass sie wieder in ihrer alten Umgebung war, löste offensichtlich Erinnerungen aus. Und auch wenn ihr diese Erinnerungen vielleicht unangenehm waren, hatte er endlich das Gefühl, Avery ganz zu sehen – mit ihren Narben. Und umso mehr würdigte er ihre Widerstandsfähigkeit und ihr Kämpferherz. Sie war eine bemerkenswert starke Frau.

Er sah zu, wie Gary aus dem Auto stieg und zum Haus ging. Er konnte nicht fassen, dass der Typ seine Verfolger nicht bemerkt hatte. Zugegeben, sie hatten Abstand gehalten, aber trotzdem … allerdings war Gary nicht gerade der Hellste.

Avery hielt vor der Auffahrt. „Wie willst du vorgehen?“

„Hat Gary schon mal mehr als einen Schlagstock als Waffe bei sich gehabt?“

„Manchmal ein Messer. Keine Schusswaffe, jedenfalls habe ich nie eine gesehen, aber das ist Jahre her.“

„Was ist mit seinem Bruder?“ Parker ließ den Blick über das Grundstück schweifen. Er erkannte in der ersten Morgendämmerung ein zweigeschossiges Bauernhaus, eine Scheune, ein Silo und ausgedehnte Ländereien.

„Billy geht auf die Jagd, also vermute ich, dass er zumindest ein Gewehr hat.“

„Tu mir einen Gefallen. Warte im Auto. Ich gehe hinein und sehe nach, ob ich mich mit ihm unterhalten kann.“

„Ich werde nicht tatenlos hier herumsitzen.“

„Er ist offensichtlich nicht gut auf dich zu sprechen. Lass es mich versuchen.“ Er betete, sie möge auf ihn hören. Nur dieses eine Mal. Sie war zu kostbar, als dass er sie verlieren wollte. Es würde ihn umbringen.

Nachdem sie einen Moment überlegt hatte, seufzte sie. „Also gut, aber sei vorsichtig. Wenn du in zehn Minuten nicht wieder da bist, komme ich rein.“

„Nein. Wenn ich in zehn Minuten nicht wieder draußen bin, rufst du die Polizei.“

9. Kapitel

Avery saß in ihrem Wagen und starrte Billy Boyds Farmhaus an, während die Sonne über dem Horizont erschien. Sie machte sich viel mehr Sorgen darüber, was Gary und Billy Parker über ihre Vergangenheit erzählen könnten, als darüber, was Billy tat oder nicht. Die Lampen auf der Veranda und im Wohnzimmer waren an und die Silhouetten von auf und ab gehenden Personen waren durch die mit dünnen Gardinen verhangenen Fenster zu sehen.

Immer noch in ihrem Cocktailkleid, fuhr sie sich mit einer Hand durch die Haare. Was für eine Nacht.

Als sie mit den Fingern die Beule an ihrem Hinterkopf berührte, zuckte sie zusammen. Vielleicht hätte sie den Sanitätern doch einen Blick darauf gestatten sollen, aber dafür war jetzt keine Zeit. Sobald sie mit Gary fertig waren, würden sie zu Sebastian Chadwyck fahren.

Scheinwerfer kamen näher und Avery rutschte auf ihrem Sitz nach unten. Aus dieser Position sah sie, wie der aufgemotzte Pontiac von Crystal Lewis vorbeifuhr.

Was in aller Welt machte Crystal hier bei Billy, erst recht so früh am Morgen? Was ging da drinnen vor sich?

Crystal stieg aus und betrat gleich darauf das Haus, nachdem sie nicht einmal an die Tür geklopft hatte.

Avery holte tief Luft und stieg aus dem Wagen. Diese Wendung der Ereignisse war einfach zu interessant, um sie zu ignorieren, selbst wenn die zehn Minuten noch nicht um waren, um die Parker sie gebeten hatte. Und sie würde auch nicht die Polizei rufen. Noch nicht. Nicht, bis sie sich einen Eindruck von der Situation verschafft hatte.

Im Gegensatz zu Crystal klopfte sie an die Tür und einen Moment lang verschlug es ihr den Atem, als Billys Frau Carol öffnete.

„Avery Tate, bist du das? Ha!“ In einen roten Seidenpyjama und einen verschlissenen weißen Frotteebademantel gekleidet und mit vom Schlafen zerzausten rotblonden Haaren stand sie da, eine Hand in die Hüfte gestemmt. „Ich kann nicht fassen, dass du die Dreistigkeit besitzt, bei mir zu Hause aufzutauchen, und dazu noch in so einem Outfit. Ist das hier der Abschluss einer durchzechten Nacht?“

Avery ignorierte die Bemerkung. Ihre Beziehung zu Carol damals konnte man kaum als freundschaftlich bezeichnen und es hatte keinen Sinn, Zeit mit Erklärungen zu verschwenden, dass sie nicht mehr das Partygirl war, die Carol von früher kannte.

„Avery?“ Parker streckte den Kopf um die Ecke. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Sorry.“ Weil ich nicht auf dich gehört habe. „Ich sah Crystal kommen und –“

„Und da musstest du natürlich die Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken.“ Carol schüttelte den Kopf.

„Was macht die denn hier?“, drang Crystals Stimme aus dem Zimmer rechts von Avery.

Carol starrte Avery an, den Bademantel zugeknotet, die Miene grimmig. Und dann schockierte sie Avery, indem sie einen Schritt zurückmachte und Avery hereinließ. „Aber mach schnell. Ich will nicht, dass meine Jungs aufwachen oder irgendeine Szene mitkriegen, wenn du weißt, was ich meine.“

Ihre Jungs – die Höllenzwillinge, wie alle im Trailerpark sie nannten – würden sich wohl kaum von einer Unterhaltung zwischen ihr und Crystal beeindrucken lassen. Und mehr würde es nicht sein – eine Unterhaltung. Sie führte keine Zickenkriege mehr.

„Was machst du hier?“, wiederholte Crystal ihre Frage, als sie in den Flur trat. Sie trug hautenge Leggings, die jede Rundung ihrer üppigen Figur zeigten und auch sonst keine Fragen offen ließen. Ihre weiße kurzärmelige Bluse, die deutlich enger anlag als vom Designer beabsichtigt, hatte sie über der Taille zu einem Knoten gebunden. Schwarze Stiefel mit Kreuzschnürung vervollständigten das Ensemble.

„Hallo?“, sagte Crystal, sichtlich verärgert, weil sie noch keine Antwort erhalten hatte.

Avery holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Sie würde sich nicht von Crystals theatralischem Auftreten beeindrucken lassen. „Dasselbe könnte ich dich ja wohl auch fragen: Was machst du hier?“

Crystal warf ihre blonden Locken mit einer trotzigen Kopfbewegung über die Schultern zurück. „Nur zu deiner Information: Hier wohnt der Bruder meines Freundes. Ich habe also alles Recht der Welt, hier zu sein.“ Sie warf einen Blick zu Parker hinüber, der im Türrahmen lehnte, und Avery bemerkte den kurzen Anflug von Bewunderung in Crystals braunen Augen. „Wer ist er eigentlich?“

„Parker Mitchell.“ Er streckte die Hand aus.

„Oh.“ Crystal kicherte und gab ihm die Hand. „Süßer Akzent.“

„Danke.“ Parker zwinkerte. „Hab ich schon mein ganzes Leben.“

Natürlich nutzte er die Gelegenheit, sich gut mit Crystal zu stellen. Es war ein strategischer Schachzug im Sinne der Ermittlungen, aber warum machte ihr das so viel aus? Sie wusste genau, warum. „Warte mal.“ Sie machte gedanklich einen Schritt zurück. „Hast du gerade gesagt, dass du Garys Freundin bist?“

In diesem Moment erschien Gary an Crystals Seite, die ihren Arm um seine massige Taille schob. Ihr orangefarbener Neon-Nagellack bildete einen ausgeprägten Kontrast zu seinem schwarzen T-Shirt. „Stimmt genau.“

Avery warf Gary einen fragenden Blick zu. „Aber ich dachte, du und Sky …?“

Crystal straffte die Schultern. „Das ist vorbei.“ Sie tätschelte Garys Bauch. „Sag es ihnen, Bärchen.“

Er räusperte sich. „Sky und ich, das war einmal.“

In Skys Trailer hatte er aber etwas anderes angedeutet.

„Das heißt, wenn du nicht mehr mit Skylar zusammen bist …“ Also im Ernst. Die beiden hatten die dysfunktionalste Beziehung aller Zeiten. Und Avery musste leider bezweifeln, dass sie jemals ganz „vorbei“ sein würde. „Und warum warst du dann in ihrem Wohnwagen, Gary? Und an ihrer Schmuckschatulle?“

Crystal wirkte kein bisschen überrascht. Wenn sie mit Gary zusammen war und glaubte, dass die Sache zwischen ihm und Skylar Geschichte war, warum protestierte sie dann nicht angesichts der Tatsache, dass er bei seiner angeblichen Ex-Freundin zu Hause gewesen war? Weil sie wusste, dass er dort gewesen war – ebenso wie sie.

„Und wenn du und Gary ein Paar seid, warum warst du dann in Skylars Trailer, Crystal?“, fragte Avery.

Crystals runde Wangen röteten sich. „Was?“

„Ihre Fingerabdrücke waren in Skylars Wohnzimmer und Küche“, erklärte Parker.

Crystal warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Wer bist du denn? Magnum?“

„Ich bin Tatortermittler.“

Jetzt runzelte Crystal die Stirn. „Tatort? Was für eine Tat?“

Gary drückte Crystals Schulter. „Sie glauben, dass Skylar verschwunden ist.“

„Was? Warum das denn?“

Parker erklärte genügend Details, damit Crystal wusste, worum es ging.

Als er fertig war, ließ Crystal sich aufs Sofa fallen. „Das ist doch lächerlich. Komm schon, Av … Du weißt, dass Skylar sich gerne mal absetzt. Wahrscheinlich zieht sie diese Nummer ab, um die Aufmerksamkeit meines Bärchens zu bekommen, weil er jetzt mit mir zusammen ist.“

So wie Gary höchstwahrscheinlich Crystal benutzte, um Skylar eifersüchtig zu machen.

„Da bin ich mir nicht so sicher. Sie geht nicht an ihr Handy. Und wir können es nicht mal orten.“

„Orten?“ Crystal starrte sie mit großen Augen an. „Ihr macht euch also echt Sorgen, was?“

„Ich fürchte, ja“, sagte Avery seufzend. Sich wieder in der Kunstszene zu bewegen, war schon schlimm genug, aber dass sie jetzt auch noch gezwungen war, ihrer Vergangenheit ins Auge zu sehen …

Sie sah Gary an. Schon bei dem Gedanken an diese Vergangenheit überlief sie ein kalter Schauer.

„Okay“, sagte Crystal. „Nehmen wir an, ihr habt recht – was hat das alles mit uns zu tun?“

Parker verschränkte die Arme vor seinem breiten Brustkorb. „Sagen Sie es uns.“

„Ich habe doch gesagt, dass ich nichts gemacht hab“, grunzte Gary.

„Wo ist dann der Ring von Skys Mutter?“, wollte Avery wissen.

„Weiß ich nicht.“ Gary zuckte mit den Schultern. „War nicht in dem Schmuckkasten, als ich nachgesehen hab.“

„Hmpf“, schnaubte Carol – ihre erste Bemerkung, seit sie sich alle beinahe unmerklich ins Wohnzimmer bewegt hatten. Ihr Mann Billy hatte überhaupt noch nichts gesagt. Er saß nur in seinem bequemen Fernsehsessel mit einem Kaffeebecher in der Hand und sah sich das Schauspiel an. Vielleicht war es ihm auch einfach egal. Avery vermutete Letzteres. Sie konzentrierte sich wieder auf Gary. „Warum warst du überhaupt an ihrer Schmuckschatulle?“

„Weil …“ Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und straffte die Schultern. „Ich … ich … habe ihr vor einer Weile einen Ring geschenkt, und den wollte ich zurück.“

„Einen Ring?“, wiederholte Crystal und starrte ihn mit geschürzten Lippen an. „Du hast gar nichts davon gesagt, dass du ihr einen Ring geschenkt hast.“

„Das ist ja auch schon eine Weile her. Jedenfalls bin ich hin, um ihn mir zurückzuholen, damit ich ihn verticken und Crystal einen kaufen kann, jetzt wo wir zusammen sind.“

„Oooh. Das ist wirklich süß von dir, Bärchen.“ Sie drückte einen Kuss auf seine unrasierte Wange.

„Wo ist der Ring?“, fragte Avery.

„Was?“ Gary wurde ein wenig blasser.

„Wo ist der Ring, den du Crystal gekauft hast?“

„Den habe ich noch nicht.“ Er zog Crystal näher an sich. „Sie hat den perfekten Ring verdient, und den hab ich noch nicht gefunden.“

Avery schüttelte den Kopf. Und Crystal in ihrer blauäugigen Verliebtheit glaubte dem Typen auch noch.

„Gut. Wo hast du den Ring versetzt?“

„W…was?“, stotterte Gary.

„Wo du den Ring versetzt hast, den du für Skylar gekauft hast?“

„Äh … Bei Vinnie Modell, glaube ich.“

„Glaubst du?“

„An dem Tag war viel los. Ich war in verschiedenen Läden, um den neuen Ring zu suchen. Ich weiß nicht mehr, wo ich angefangen habe. Außerdem, wieso spielt das überhaupt eine Rolle?“

Es spielte eine Rolle, weil sie seiner Behauptung auf jeden Fall nachgehen würde. Sie wandte sich an Crystal. „Wann hast du Skylar das letzte Mal gesehen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht vor einer Woche.“

„Wo war das?“

„Bei ihr.“

Ja, klar. Als ob Crystal und Skylar, die beide eine Beziehung mit Gary am Laufen hatten, auch noch dicke Freundinnen wären. Avery hatte ernsthafte Zweifel daran. „Wozu?“

„Wir haben abgehangen, Bier getrunken, einen Film geguckt. Das, was wir alle immer gemacht haben.“

Erinnerungen, die Avery lieber vergaß.

„Welchen?“, fragte Parker.

„Welchen was?“, erwiderte Crystal stirnrunzelnd.

„Welchen Film haben Sie angesehen?“, wollte Parker wissen.

Avery lächelte. Der Teufel steckte im Detail und Parker war in seinem Job einfach unschlagbar.

„Oh.“ Crystal wickelte eine blonde Strähne um ihren Finger. „Die Schadenfreundinnen.“

„Das ist wirklich ironisch“, sagte Avery. „In dem Film geht es doch um eine Frau, die herausfindet, dass ihr Liebhaber noch andere Freundinnen hat. War das nicht unangenehm, wenn man bedenkt, dass du mit Skylars Freund schläfst?“

„Ex-Freund.“ Crystal funkelte sie böse an. „Ich habe nichts Böses getan. Bärchen und sie waren kein Paar mehr.“

Avery sah Parker an. Das kauften sie ihr beide nicht ab.

„Haben Sie irgendeine Ahnung, warum jemand Ihnen gefolgt sein könnte?“ Mit der Frage an Gary änderte Parker jetzt seine Taktik.

„Mir?“ Gary sah ihn verblüfft an. „Wovon reden Sie?“

„Während wir Ihnen hierher gefolgt sind, hat jemand anders es auch getan.“

Gary schluckte und ein Schatten der Angst legte sich über seine dunkelbraunen Augen. „Sind Sie sicher?“

„Absolut.“

„Vielleicht sind die Ihnen gefolgt“, schlug Crystal vor.

„Wir haben nichts getan“, wandte Avery ein.

„Wir auch nicht“, protestierte Crystal.

„Abgesehen von dem Einbruch und dem Stehlen eines Rings.“ Avery durchbohrte Gary mit ihrem Blick.

„Ich bin nicht eingebrochen. Ich habe einen Schlüssel, und wie gesagt, hat der Ring mir gehört. Und, wie Crystal gesagt hat, Sky und ich sind nicht mehr zusammen.“

Er hat noch immer einen Schlüssel. Vielleicht war er der Eindringling von gestern Abend. Die richtige Größe und Figur hatte er, und wenn er den Schlüssel benutzt hatte, waren natürlich keine Einbruchspuren zu sehen. Vielleicht hatten Sky und er sich tatsächlich wieder einmal getrennt und Gary hatte sich gerächt, indem er den Ring genommen hatte. Wenn er Skylar einen Ring gestohlen hatte, dann den ihrer Mutter. Nie im Leben hatte Gary Geld lockergemacht, um Sky einen Ring zu kaufen. Selbst wenn diese höchst unwahrscheinliche Behauptung wahr sein sollte, wäre Sky dieser Ring niemals so wichtig gewesen, dass sie ihn in ihrer Geheimfachschatulle aufbewahrt hätte. Avery holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie kam sich albern vor, weil sie immer noch ihr Cocktailkleid trug. „Wo warst du, bevor du zu Sky gefahren bist?“

„Bei McDougalls. Wie ich gesagt habe.“

„Wann bist du dorthin gegangen?“

„Ich weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Halb neun?“

Sie sah ihn misstrauisch an. „Komm schon, Gary. Du gehst nie so früh in die Kneipe, sondern immer erst gegen zehn.“

„Was soll ich sagen?“ Er ließ sich in einen weinroten Relaxsessel fallen, der von Billys Sessel durch einen kleinen Tisch getrennt war. Darauf standen immer noch leere Bierdosen. Gary zog Crystal auf seinen Schoß. „Ich hatte halt früher Lust auf einen Drink.“

„Aha.“ Auch diese Behauptung würden sie mühelos überprüfen können. Avery sah zu Parker hinüber und er nickte. Es war an der Zeit, Gary und Crystal in Ruhe zu lassen, damit sie darüber nachgrübeln konnten, wer ihnen gefolgt war. Ein bisschen Panik tat ihnen ganz gut, denn dann unternahmen sie vielleicht etwas Unüberlegtes. Etwas, was Avery und Parker einen Hinweis geben würde, was wirklich los war. Hier ging es um mehr als ein angebliches Schmuckgeschenk.

„Ich rufe Kate an und bitte sie, jemanden zu schicken, der Gary und Crystal im Auge behält“, sagte Parker, als sie das Haus verließen und in Averys Wagen stiegen.

Orangefarbenes Sonnenlicht strömte durch die Windschutzscheibe. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hoch am Himmel stand und die Temperaturen ebenso in die Höhe schossen.

„Also“, sagte sie, als sie den Motor anließ. „Die lügen beide wie gedruckt.“

„Ach was!“ Er zog seine schwarze Windjacke aus, die er bei Ermittlungen trug. Darunter kam ein kobaltblaues T-Shirt zum Vorschein, das einen gut trainierten Oberkörper erkennen ließ.

Schnell wandte sie den Blick ab und sah zum Fenster hinaus.

„Alles in Ordnung?“

Es war lästig, wie aufmerksam der Mann war.

„Ja. Ich denke nur nach.“ Und zwar genau über das, was sie eigentlich ignorieren sollte. „Und was machen wir jetzt?“

„Wir fahren zu Vinnie Modell und holen uns eine Bestätigung für Garys Geschichte oder wir finden Sebastian Chadwyck.“ Er zögerte. „Obwohl, am dringendsten ist wahrscheinlich, dass ich dieses Porträt ins Büro bringe und untersuche. Dann können wir mit den anderen besprechen, wer was macht, das ist effektiver.“

„Klingt gut. Dann machen wir uns auf den Weg.“

Die lange Fahrt zu Charm City Investigations – der Privatdetektei, die Kate Maxwell führte – gab Avery jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, was Gary zu Parker gesagt haben könnte, bevor sie an Billys Haustür erschienen war.

„Also …“ Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. „Was war mit Gary, bevor ich dazugekommen bin? Hast du etwas aus ihm herausbekommen?“

„Ich habe ihn nur aufgefordert, mir die Wahrheit zu sagen. Von Mann zu Mann.“

Na super. „Und?“

„Er hat einen auf Angeber gemacht. Er sagt, er hätte mit Skylar Schluss gemacht.“

„Aber du glaubst, dass er lügt?“ Sie konnte es in seiner Stimme hören.

„Ich glaube, sie hat mit ihm Schluss gemacht.“

„Und deshalb hat er beschlossen, ihr das Liebste wegzunehmen, was sie hatte, also den Ring ihrer Mutter, und ihn zu versetzen? Ich wette, das ist der Ring, den er zu Geld gemacht hat, nicht irgendein Ring, den er angeblich für Sky gekauft hat. Gary ist nicht der Typ, der Frauen Schmuck kauft. Seine Vorstellung von einem Geschenk ist ein Satz neue Reifen.“

„Also praktisch veranlagt.“ Parker lächelte, fragte aber immer noch nicht nach ihrer früheren Beziehung zu Gary.

Das Warten zehrte an ihren Nerven. Wann würde er das Thema denn nun ansprechen? Oder hatte er tatsächlich vor, nichts dazu zu sagen?

Aber konnte sie die Sache auf sich beruhen lassen? Es fühlte sich an wie ein Geheimnis, das ihr ein Loch ins Herz brannte; etwas, was sie herauslassen musste, bevor es sie verzehrte.

Die Vergangenheit war vergangen – wenigstens sagte sie sich selbst das immer wieder und bis heute hatte sie es auch tatsächlich geglaubt.

Aber jetzt war sie wieder mitten in dieser Vergangenheit angekommen und der eine Mann, von dem sie gehofft hatte, er würde nie etwas davon erfahren, war mit ihr dort gelandet.

Auch wenn sie es genoss, ihn an ihrer Seite zu haben – und zwar weitaus mehr genoss, als sie sollte –, war ihre Vergangenheit der letzte Ort, an dem sie ihn sehen wollte. Es war der reinste Albtraum, der da lebendig geworden war.

Sie war nicht mehr dieselbe wie früher, aber dieses Leben, ihr altes Leben, würde immer zu ihr gehören, auch wenn sie sich davon nicht mehr bestimmen ließ. Es war eine vergrabene Erinnerung, die jetzt leider an die Oberfläche gekommen war, und der Mann, den sie liebte, würde alles darüber erfahren. Er war einfach ein zu guter Ermittler und diesmal war sie die Leidtragende.

Sie schüttelte den Kopf.

„Was ist?“ Er zog eine Augenbraue hoch.

„Nichts. Ich habe nur nachgedacht.“

Die ganze Zeit hatte sie gedacht, dass seine Vergangenheit der Grund dafür war, dass sie nicht zusammenkommen konnten. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.