Über das Buch:
Südafrika in den 1920er- bis 1970er-Jahren

Es ist eine heile Welt, in der Lettie Louw aufwächst – und doch fehlt ihr ein Stück zum Glück. Zu sehr fühlt sie sich als das hässliche Entlein zwischen all ihren hübschen Freundinnen. Umso eifriger kniet sie sich ins Studium der Medizin; sie will als würdige Nachfolgerin die Arztpraxis ihres Vaters übernehmen. Zu ihren ersten Patienten gehört ein außergewöhnlicher Mann. Er kommt aus Italien. Was er dort in den 30er- und 40er-Jahren erlebt hat, sprengt Letties Vorstellungskraft. Doch je mehr sie über die faszinierende Lebensgeschichte ihres herausfordernden »Falls« erfährt, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckt sie … und desto entschlossener ist sie, ihm zu helfen.

Über die Autorin:
Irma Joubert lebt in Südafrika. Sie studierte Geschichte an der Universität von Pretoria und war fünfunddreißig Jahre lang Lehrerin an einem Gymnasium. Nach ihrer Pensionierung begann sie mit dem Schreiben. Die Historikerin liebt es, gründlich zu recherchieren und ihre Romane mit detailreichen Fakten zu untermauern. In ihrer Heimat und den Niederlanden haben sich ihre historischen Romane zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

5. Kapitel

Dürfen wir noch schnell unsere Sachen holen gehen? Unsere Mäntel und so?«, fragt Marco, sobald sie bei den Soldaten angekommen sind. Es sind drei blutjunge Kerle, bemerkt er, sie sehen aus, als sollten sie lieber die Schulbank drücken.

Der Soldat mit dem dünnen Hitlerbärtchen presst den Lauf seines Gewehrs gegen Marcos Brust und der zweite Soldat, der ein ziemlich rotes Gesicht hat, stößt sein Gewehr Rachel von hinten über der Hüfte in den Rücken. »Hände hoch!«, brüllt er nervös.

»Wir lassen die Hände oben«, entgegnet Marco so ruhig wie möglich auf Deutsch. »Lassen Sie nur eines von den Mädchen unsere Sachen holen gehen. Oder den alten Mann. Ohne unsere Mäntel überleben wir es nicht.«

Die Soldaten werfen sich einen etwas unsicheren Blick zu. Schließlich macht einer von ihnen eine Kopfbewegung in Esters Richtung. »Los, geh die Mäntel holen!«, befiehlt er. »Aber nur die Mäntel!«

»Bring auch die Mützen, Handschuhe und Pullover mit«, fügt Marco auf Italienisch hinzu.

»Was sagst du da?«, schreit der eine Soldat. »Hier wird nur Deutsch gesprochen, kapiert?«

»Sie versteht kein Deutsch«, erklärt Marco. »Ich habe gesagt, dass sie unsere Mäntel und Mützen holen soll.«

»Wage es ja nicht, irgendetwas zu versuchen! Wenn einer von euch irgendwelche krummen Dinger macht, schießen wir die anderen drei über den Haufen, und zwar auf der Stelle! Los, sag ihr das!«, schreit der Schnurbartmann.

Wie eine verschreckte Bergziege rennt Ester auf ihren spindeldürren Beinchen den Abhang hinauf. Als sie Hals über Kopf wieder herunterschliddert, ist sie mit Mänteln beladen. »Ich habe auch noch die beiden gerösteten Kuchen mitgebracht, die Rachel gestern Abend gemacht hat«, verkündet sie leise, während sie sich auf den Weg machen. »Und die Becher und die Teller. Ansonsten konnte ich nichts mitnehmen.«

»Schlau gemacht«, bemerkt Marco.

Zwei Tage lang stolpern sie den Berg hinunter. Am zweiten Tag kann Herr Rosenfeld nicht mehr. »Lasst mich hier zurück, Marco«, äußert er tonlos.

»Wir sind fast unten«, entgegnet Marco und greift ihm fest unter den Arm.

»Und was ist, wenn wir unten sind?«, will der alte Mann wissen.

Darauf hat Marco keine Antwort. Was sollte er auch sagen?

Im erstbesten Dorf werden sie auf die Ladefläche eines Armeelastwagens gestoßen. Danach geht es ratternd weiter den Berg hinunter. »Wo bringen sie uns nur hin?«, fragt Rachel mit kleinlauter Stimme.

»Ich weiß es nicht«, antwortet Marco. »Wahrscheinlich in irgendein Lager.«

Herr Rosenfeld sitzt wie ein Vögelchen tief in seinem Mantel eingehüllt, mit hängendem Kopf und hängenden Schultern. Ester hat sich eng an Rachel gelehnt. Mit der einen Hand klammert sie sich an ihrer Schwester fest, in der anderen hält sie das letzte Stück gerösteten Kuchen. Sie beißt in den steinharten, trockenen Kuchen und ruckt mit ihrem Kopf hin und her, um ein Stückchen davon abzureißen.

Schauen wir uns doch einmal an, denkt Marco: Habenichtse, schmutzig, ausgemergelt. Und wie wir essen! Der unbarmherzige Kampf ums Überleben hat Tiere aus uns gemacht.

Eine Zeit lang werden sie in einem Armeezelt untergebracht, zusammen mit einer jüdischen Familie aus Mailand. Jeden Tag kommen neue Ladungen Juden aus dem Norden und Nordwesten Italiens bei ihnen an.

Im Lager hören sie zum ersten Mal seit Monaten wieder Nachrichten aus der Außenwelt. Es ist jetzt Ende Oktober, entdecken sie. Mussolini ist schon Anfang August gestürzt worden.

Marco schaut den Mann, der das berichtet, völlig verdutzt an. »Mussolini ist gar nicht mehr an der Macht?«, will er noch einmal zur Sicherheit wissen.

»Nun ja, jedenfalls nicht im größten Teil von Italien«, antwortet der Mann.

»Wissen Sie, dass sich die Armee in Nordafrika schon im Mai ergeben hat?«

»Alles, was seit April passiert ist, davon haben wir keine Ahnung«, entgegnet Marco.

»Nun, die Deutschen haben sich zurückziehen müssen, die haben da in der Wüste ganz schön die Hucke vollbekommen«, erklärt der Mann zufrieden. »Und dann sind die Alliierten einfach übers Meer gefahren und in Sizilien gelandet.«

»Die englischen Truppen? Auf italienischem Boden?«, wiederholt Marco.

»Engländer und Amerikaner«, bekräftigt der Mann. »Und dann hat die Regierung Mussolini abgedankt – Ende Juli hat König Victor Emmanuel ihn ins Gefängnis gesteckt und Marschall Badoglio zum Premierminister ernannt.«

»Badoglio? Wer ist das denn?«, fragt Marco stirnrunzelnd.

»Na, das sagt er doch, der neue Premier«, fällt Ester ein.

»Er hat in der Armee gedient, es ist also einfach ein Faschist der alten Garde«, antwortet ein junger Mann, der dabeisitzt und zuhört. Marco hat ihn schon früher kennengelernt – er heißt Josef.

»Wie dem auch sei«, fährt der ältere Mann fort, »Badoglio hat heimlich mit den Alliierten verhandelt und äh … irgendwann im September hat Italien sich dann ergeben …«

»Am 8. September haben wir bedingungslos kapituliert«, verbessert Josef ihn.

»… und jetzt sitzen die Alliierten schon in Süditalien«, schließt der ältere Mann seine Erzählung ab.

»Ergeben?«, fragt Marco. »Dann ist jetzt also Frieden?«

»Das haben Sie sich so gedacht«, erwidert Josef in einem besserwisserischen Tonfall. »Als die Engländer in Süditalien gelandet sind, haben die Deutschen wie der Blitz den Norden besetzt. Mussolini ist durch SS-Fallschirmjäger aus dem Gefängnis befreit worden und zum Oberhaupt der prodeutschen Repubblica Sociale Italiana gemacht worden.«

Marco schüttelt den Kopf. »Wenn ich es also richtig verstehe, sind wir hier in Norditalien jetzt in einer sozialistischen Republik, aber immer noch unter der Herrschaft von Mussolini?«

»Eigentlich unter deutscher Herrschaft«, antwortet Josef. »Mussolini ist nur eine Marionette.«

»Der war doch nie etwas anderes«, entgegnet Marco.

»Dadurch hat sich das Los der Juden jedenfalls radikal verändert«, ergänzt der ältere Mann. »Vor der deutschen Besetzung, also bis vor einem Monat oder so, ist kein einziger Jude in ein Lager gesperrt worden. Doch seitdem wurden die SS-Leute und die anderen Nazihunde von der Kette gelassen, um uns aufzuspüren und anzuhalten. Und jetzt müssen wir uns wie die Ratten in Löchern und Spalten verstecken.«

»Dann ist es also völlig umsonst gewesen, dass wir uns all die Jahre in einer Höhle versteckt haben?«, bemerkt Marco niedergeschlagen.

»Und dann ist auch Mamas Tod unnötig gewesen?«, ergänzt Ester zögernd.

»Nein«, erwidert Herr Rosenfeld leise. »Eurer Mutter ist diese Erniedrigung erspart geblieben – sie hätte es nicht überlebt. Sie ruht jetzt in Frieden.«

Abends, während sie dicht aneinandergeschlungen auf den dünnen Matratzen unter den rauen Decken liegen, verkündet Rachel leise: »Unsere Jahre in der Höhle sind nicht umsonst gewesen, Marco. Ich war bei dir, jeden Tag. Es ist eine schwierige Zeit gewesen, das ist wahr, aber es ist trotzdem die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen.«

Jeden Tag kommen mehr Juden ins Lager. Nach einer Woche in den Zelten werden alle in vollgepferchten Armeelastwagen zum Bahnhof gebracht. Dort steigen sie in einen wartenden Zug, gut zwanzig Personen in ein Abteil für sechs.

»Ich habe gehört, dass sie uns nach Triest bringen, wo die meisten norditalienischen Juden wohnen«, behauptet ein Mann.

»Wo liegt das?«, will Rahel flüsternd wissen.

»Das ist eine Hafenstadt, die sehr weit weg von hier im Nordosten liegt«, antwortet Marco und legt ihr den Arm um die ausgemergelten Schultern.

»Ich denke, sie bringen uns nach La Risiera di San Sabba in der Gegend von Triest«, erklärt ein anderer Mann.

»Ist das auch ein Armeelager?«, fragt Marco.

»Nein, das ist ein großes Gebäude, das ursprünglich als Fabrik gebaut worden ist, schon vor dem Weltkrieg«, erläutert Josef von der Seite. »Zu Beginn des Krieges hat die deutsche Wehrmacht es offensichtlich als Lager eingerichtet, eigentlich als eine Art Polizeihaftlager – Baracken, in denen Verhaftete hausen.«

»Und woher wissen Sie das alles?«, fragt eine ältere Frau scharf.

»Ein Freund von mir arbeitet in Triest in dem Industriegebiet, in dem sich das Lager befindet«, antwortet Josef ein bisschen ungeduldig.

»Dieser junge Mann behandelt uns ganz schön von oben herab, meinst du nicht auch?«, flüstert Rachel zu Marco.

»Pass bloß auf, was du sagst«, antwortet der mit einem Lachen. »Hast du gesehen, wie er und Ester sich die ganze Zeit über schöne Augen machen?«

»Bloß nicht!«, ruft Rachel entsetzt.

Marco grinst. »Deine Schwester wird groß – sie ist schon lange kein kleines Mädchen mehr.«

Doch Rachel schüttelt weiterhin mit gerunzelter Stirn den Kopf. »Sie ist sechzehn – das ist noch viel zu jung«, widerspricht sie ihm.

»Ich habe gehört, dass dort vor Kurzem dreitausend italienische Soldaten durch SS-Offiziere und ukrainische Wachmänner ermordet worden sind«, berichtet ein dritter Mann.

Marco spürt, wie Rachel der Atem stockt. Er streicht ihr über den Arm und sagt laut und deutlich: »Meiner Meinung nach sollten wir solche Geschichten nicht einfach glauben, sondern müssen uns erst selbst ein Bild davon machen, wie es dort ist.«

»Da stimme ich Ihnen zu«, äußert die Frau mit der scharfen Stimme. »Von solchen Geschichten gibt es nur Albträume, und von denen haben wir doch schon mehr als uns lieb ist, würde ich sagen.«

La Risiera di San Sabba ist ein unauffälliges Gebäude bei den Docks mitten in einem Industriegebiet. Wie eine Herde Schafe marschieren sie durch einen langen Gang und stehen plötzlich auf einem großen Innenhof. »Antreten!«, brüllt ein dicker Mann. »Familien zusammen!«

»Antreten, die Familien sollen zusammenbleiben«, übersetzt Marco schnell ins Italienische.

Erschrocken versuchen die Menschen etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Männer laufen völlig durcheinander, Frauen greifen hier und da und lassen wieder los, Kinder fangen an zu weinen und irgendwo fängt ein Hund an, hysterisch zu bellen.

»Wo ist der Mann, der übersetzen kann?«, will der Offizier durch das Megafon wissen.

»Das sind Sie.« Josef gibt Marco einen Stoß. »Übersetzen Sie.«

Schließlich bekommen Marco und die Familie Rosenfeld eine Zimmernummer. Das Räumchen ist klein und dunkel und hat keine Fenster. In einer Ecke stehen fünf Betten und ebenso viele dünne Matratzen liegen aufeinandergestapelt. An den rauen Wänden sind verblasste Zeichnungen zu erkennen, ein Überbleibsel der Menschen, die vorher hier gehaust haben.

Sie richten sich das winzig kleine Zimmerchen so gut wie möglich ein. »Wir können das überflüssige Bett als Ablagefläche nutzen«, erklärt Rachel.

»Nicht, dass wir viel zum Ablegen hätten«, entgegnet Ester, während sie die vier Teller und Becher aus der Tasche holt.

Dann zieht allerdings noch ein junges Ehepaar mit einem Baby bei ihnen ein und sie müssen alles neu organisieren – die Rosenfelds stellen für sich drei Betten an die eine Wand und die Neuankömmlinge bekommen zwei Betten an der anderen Wand. Dazwischen ist ein schmaler Gang.

Eine Stunde später müssen sie erneut antreten. Stundenlang stehen sie in der bitteren Kälte. Nach einer Weile bricht Herr Rosenfeld beinahe zusammen. Marco und Rachel stützen ihn gemeinsam, sodass er stehen bleibt. »Ich kann nicht mehr«, flüstert er heiser mit aufgesprungenen Lippen.

Schließlich bekommen sie alle jeweils einen Overall aus grobem, gestreiftem Stoff mit einem großen, gelben Davidsstern auf dem Ärmel. »Das ist unsere Arbeitskleidung«, übersetzt Marco der Gruppe niedergeschlagener Menschen. Selbst die Kinder müssen solch einen Overall anziehen.

»Die sehen aus wie die Männerschlafanzüge, die man immer im Kino sieht«, kichert Ester, nachdem sie wieder in ihrem Zimmer sind. »Sie kratzen übrigens furchtbar. Zum Glück hat Papa jetzt ein Nachthemd und eine Schlafmütze für die Nacht.«

»Das ist dann aber auch alles, was ich noch besitze«, erklärt Herr Rosenfeld gelassen.

Sie werden in Schichten eingeteilt. Die Männer arbeiten in der Gummifabrik in der Nähe, Rachel muss in der Kleiderfabrik Hand anlegen und Ester wird in der Lagerküche eingeteilt. Die Lageraufseher, das entdecken sie schnell, sind gewöhnliche Kriminelle, die sich gegenüber den Gefangenen herzlos verhalten.

Im Lager sitzen nicht nur Juden, sondern auch eine Gruppe Kommunisten, Zigeuner und Menschen aus den Balkanstaaten.

Das Leben innerhalb der hohen Mauern rundum Risiera di San Sabba fängt an, seinem eigenen Rhythmus zu folgen. Noch vor Sonnenaufgang ertönt eine Trompete und dann begeben sich die Gefangenen schweigend in kerzengeraden Reihen zum Morgenappell. Alle Namen auf der Liste werden haarklein abgehakt. Wer am vorherigen Tag oder im Laufe der vergangenen Nacht krank geworden ist, wird von der Liste gestrichen und der Rest bekommt seinen Löffel schlappen Brei für diesen Morgen.

Morgens und abends ist es schneidend kalt. Die Männer reiben sich fest die Hände, um ein bisschen wärmer zu werden, und die Frauen hüllen sich enger in ihre Mäntel. Marco ist sehr glücklich über die warmen russischen Mäntel und Mützen, die die Rosenfelds aus Litauen mitgebracht haben. Essen gibt es nur wenig, doch nach den Jahren in der Höhle sind sie schließlich nicht mehr an viel zu essen gewöhnt. Sie müssen lange und hart arbeiten, abends liegen sie allerdings zusammen auf ihren drei schmalen Betten und plaudern leise miteinander. Nur wenn das Baby nachts schreit, bleibt der Schlaf aus.

Und Esters Augen strahlen wieder. Früh am Morgen setzt sie sich neben Josef an die Wand im Innenhof und isst dort ihren Brei und abends ist sie nirgendwo zu finden. Erst wenn die Trompete ertönt, kommt sie schnell in ihr Zimmer gerannt. Fünf Minuten nach dem Trompetensignal gehen die Wachmänner mit Taschenlampen auf Streife, und wer dann noch umherläuft, wird bestraft.

Eines Abends kommt Ester nicht zurück. Rachel macht die ganze Nacht über kein Auge zu und Marco muss sie buchstäblich festhalten, damit sie den Raum nicht verlässt – sie will mit aller Gewalt ihre Schwester suchen gehen. »Sie ist bei Josef«, behauptet Marco, um sie zu beruhigen.

»So etwas sollte sie nicht tun!«, entgegnet Rachel entsetzt. »So sind wir überhaupt nicht erzogen worden, wir …«

In der Dunkelheit streicht Marco mit seinem Zeigefinger über ihre Wange. »Wir machen doch genau dasselbe, Rachel«, erwidert er sanft.

Er spürt, wie sie sich anspannt. »Nein, das ist etwas ganz anderes!«, erklärt sie bestimmt. »Wir sind erwachsen, wir sind verlobt, wir kennen uns schon seit Jahren. Sie hat den Mann doch erst vor weniger als einem Monat kennengelernt, sie …«

»Lass sie doch«, brummt Herr Rosenfeld in dem Bett neben ihrem. »Vielleicht ist es das letzte bisschen Freude, das sie in ihrem jungen Leben haben wird. Morgen sterben wir alle.«

Rachels Atem stockt. »So etwas darfst du nicht sagen!«, flüstert sie entsetzt.

»Für mich hat der Tod inzwischen allen Schrecken verloren, er ist nur noch eine Erlösung«, erklärt Herr Rosenfeld ruhig. »Dann bin ich wieder bei Mama.«

Regungslos liegen sie auf ihrem Bettgestell. Die Worte schweben erstickend über ihnen wie Decken, die zu schwer sind.

»Ich wollte, Ester wäre hier, ich mache mir solche Sorgen um sie«, flüstert Rachel später Marco leise ins Ohr. »Und auch um Papa. Es sieht so aus, als hätte er allen Lebensmut verloren.«

Marco nimmt sie in die Arme. »Ester wird schon nichts passieren«, flüstert er zurück. »Gönn ihr einfach ihr Glück.«

Seine eigenen Sorgen reichen weit über Herrn Rosenfeld hinaus, doch das sagt er Rachel lieber nicht. Josef platzt mit allem heraus und hat einen aufbrausenden Charakter. Erst heute ist so ein junges, brutales Kerlchen durch die Wachmänner auseinandergenommen worden und dieser Junge hat heute Abend beim Appell gefehlt. Morgen wird sein Name von der Kontrollliste verschwunden sein, das weiß Marco jetzt schon.

Im Lager kommen immer mehr Menschen an, die in alle möglichen Ecken und Winkel gestopft werden. San Sabba kann höchstens dreitausend Gefangene aufnehmen, aber mittlerweile sind es mehr als fünftausend.

Schließlich fängt die Lagerleitung damit an, die Juden gruppenweise mit der Eisenbahn wegzuschicken. »Nach Polen«, berichtet einer der Männer, während sie im Kreis sitzen und ihre Abendsuppe löffeln. Wenn man sehr langsam isst, kommt es einem mehr vor.

»Ich habe gehört, wie die Wachmänner über Auschwitz gesprochen haben«, bemerkt ein anderer.

»Auschwitz? Hast du davon schon einmal gehört?«, will Josef skeptisch von Marco wissen.

Der schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bezweifle, dass das ein Ortsname ist, wahrscheinlich ist es nur der Name eines Lagers.«

»Was macht es schon aus, wie ein Lager heißt«, bemerkt Rachel. »Alle Lager werden ähnlich sein.«

Josef zuckt mit den Schultern. »Schlimmer als hier kann es nicht werden«, behauptet er.

»Nun, es ist viel schlimmer«, entgegnet der erste Mann. »Ich habe gehört, dass die Juden dort im großen Maßstab umgebracht werden. Man sagt, dass sie von den Nazis in Lastwagen gesteckt und dann mit den Auspuffgasen vergast werden, so viele wie möglich gleichzeitig.«

»Und danach werden sie in Massengräbern verscharrt, das habe ich auch gehört«, bekräftigt der zweite Mann.

»Wenn ihr mich fragt, ist das hanebüchener Unsinn«, widerspricht Marco resolut. »Nach dem Weltkrieg haben die westlichen Länder gerade deswegen den Völkerbund errichtet, um damit ein gewisses Maß an Ordnung, an … an Zivilisation sicherzustellen, auch während eines Krieges. Selbst die Nazis können das nicht so einfach umgehen.«

»Weil ihnen sonst die ganze Welt den Krieg erklären würde?«, fragt Josef sarkastisch.

»Ich glaube jedes Wort, das diese Schweine uns erzählen«, erklärt der erste Mann. »Und ich sage euch eins: Kurz nachdem im September die italienische Kapitulation bekannt geworden ist« – er beugt sich vor und dämpft seine Stimme –, »haben die Nazis ein komplettes Kommando von diesen SS-Hunden zum Lago Maggiore geschickt und dieses Kommando hat in Licino, Stresa, Baveno und Palanza eine ganze Reihe von unseren Leuten verhaftet. Die sind alle spurlos verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Nach einer Weile haben allerdings eine Menge Fischer im See eine große Anzahl Leichen entdeckt. Stinkt das nun oder stinkt das nicht?«

Die Menschen in der kleinen Runde schauen nicht auf. Sie schlürfen ihr letztes bisschen Suppe aus ihren Tellern und verschwinden anschließend schweigend in ihren Zimmern, einer nach dem anderen.

Josef steht auf und macht eine Kopfbewegung in Richtung seines Zimmers. »Komm mit«, fordert er Ester beherzt auf und geht weg.

Rachel blickt ihm besorgt hinterher. »Ich mag diesen Kerl nicht«, offenbart sie Marco leise.

Doch Marco schüttelt nur seinen Kopf.

Anfang 1944 bekommt San Sabba einen Lagerkommandanten, SS-Sturmbannführer Christian Wirth. Das ist ein Mann mit einer Brüllstimme, der keine Gnade kennt und sehr schnell den Beinamen »Christian der Schreckliche« bekommt.

Marco bemerkt sofort, dass die Wachmänner vor Wirth ebensolche Angst haben wie die Lagerinsassen. »Ihr solltet lieber auf der Hut sein«, warnt sie einer der Wachmänner, der die Aufsicht über eine Reihe Männer hat, die sich früh am Morgen durch den dichten Nebel zur Fabrik schleppen. »Wirth hat im November vorigen Jahres die ›Operation Erntefest‹ bei Lublin geleitet. Dort hat er in zwei Tagen mehr als vierzigtausend Juden niedermähen lassen, alles nur, weil einer von ihnen etwas verkehrt gemacht hat.«

»Ich glaube, der bindet uns einen Bären auf«, beschwert sich Josef laut bei Marco.

»An deiner Stelle würde ich lieber aufpassen«, erwidert der leise. »Wirth sieht nämlich tatsächlich aus wie einer, dem so etwas zuzutrauen wäre.«

Von dem unaufhörlichen Strom an Neuzugängen erfahren sie, dass die Alliierten in ganz Europa sehr viel Boden gutmachen – zunächst in der Sowjetunion, nun ist allerdings sogar die Rede davon, dass England und Amerika in Frankreich landen und es befreien wollen.

»Italien wird jedoch weiterhin zusammengeschossen und zerstört, von Süden her durch die Alliierten und von Norden her durch die Nazis«, erzählen die Menschen mit nüchternen Gesichtern. »Unsere Wohnungen sind zu Ruinen geworden, unsere Synagogen zu verbrannten Trümmerhaufen, und die uralten Kathedralen sind in Schutt und Asche gelegt worden.«

Jede Woche werden es mehr Züge, die abfahren, immer nach Polen.

Alle treten morgens früh an zum Appell – dann werden Namen vorgelesen und die Menschen verlassen den Innenhof durch den langen Gang und verschwinden.

Eines Morgens gegen Ende des Winters ertönen auch die Namen von Marco Romanelli, Rachel Rosenfeld und Ester Rosenfeld …

Josefs Name wird nicht aufgerufen. Der von Herrn Rosenfeld auch nicht.

Aus dem Augenwinkel sieht Marco, dass Ester in Bewegung kommt. Blitzartig packt er sie mit festem Griff und presst ihr die Hand auf den Mund. »Bleib stehen und halt die Klappe!«, flüstert er ihr eindringlich zu. »Mach mit. Sonst erschießen sie dich, ohne mit der Wimper zu zucken.«

So marschieren Marco, Rachel und Ester, ohne Abschied zu nehmen und ohne Reisedokumente zum Bahnhof. Sie sind nur drei Nummern auf einer maschinengeschriebenen Liste. Ihr Bestimmungsort ist unklar, vermutlich ist es Polen.

Auf dem Bahnsteig warten kräftige Männer mit breiten Schultern auf sie, in Nazi-Uniformen mit Hunden, die bellend an ihren Leinen zerren. »Antreten!«, brüllt der Kommandant.

Marco muss nichts mehr übersetzen, mittlerweile kennen die Menschen die Befehle genau. »Wo ihr hingeht, werdet ihr eine besondere Behandlung bekommen«, brüllt der Mann. »Das ist ein gutes Arbeitslager, sogar eins von den besten, mit vielen Entspannungsmöglichkeiten. Ihr habt also Glück gehabt.«

»Das klingt gut«, flüstert Rachel. »Marco, warum darf Papa nicht mit, was meinst du?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht, Rachel. Er … er macht eine wichtige Arbeit in den Büros bei der Fabrik …« Das glaubt er selbst nicht. Genausowenig glaubt er das, was der Nazi-Offizier ihnen verkündet hat.

Mit schmerzender Genauigkeit liest der Offizier die Namen auf der Liste vor. Danach schaut er auf und fragt: »Wie viel Stück?« Und der Gefreite antwortet ihm bestimmt: »512 Stück. Alles in Ordnung!«

Am Gleis stehen zehn Güterwaggons bereit. Hastig werden die Menschen hineingetrieben. Hinter ihnen werden die Türen geschlossen und von außen verriegelt. Drinnen stehen die Menschen dicht aneinandergepresst.

Der Zug bleibt regungslos stehen. Nach ein paar Minuten flüstert jemand: »Was ist denn los?«

Es passiert nichts.

Relativ geräuschlos fangen die Menschen im überfüllten Waggon damit an, sich so etwas wie ein Plätzchen einzurichten. Sie sitzen wie Ratten in einer Falle aus hölzernen Brettern mit kleinen Schlitzen dazwischen. Mehr Aussicht gibt es nicht.

Erst gegen Abend beginnt die Lokomotive zu puffen und zu blasen und schließlich setzen sie sich langsam in Bewegung. Mit sehr niedriger Geschwindigkeit rollt der Zug durch die dunkle Nacht.

Draußen scheint der Mond hell. Marco sitzt an die raue Holzwand gepresst und Rachel und Ester hängen halb auf ihm, steif aneinandergedrückt. Nach einer Weile schlafen sie ein, doch er kann kein Auge zumachen.

Im Mondschein sieht er die silberne Landschaft langsam vorbeigleiten. Was wird sie wohl am Ende dieses Weges erwarten?

Manchmal steht der Zug für längere Zeit still, in der Regel mitten auf der Strecke und nur selten in einem Bahnhof. Durch die Schlitze zwischen den Brettern sieht Marco hohe, schwarze Bergrücken in den Himmel ragen. Woher kommt mir Hilfe, denkt er plötzlich. Er schaut in die dunkle Tiefe des Etsch-Tals – auf den Bergen und in den Tälern, ja, überall ist Gott …

Die letzten italienischen Städtenamen verschwinden hinter ihnen, während sie an einem erleuchteten Bahnhof nach dem anderen vorbeifahren. »Ich habe solchen Durst«, jammert Ester. »Marco, gibt es hier irgendwo Wasser?«

Marco streicht ihr über den Kopf. »Versuche lieber, etwas zu schlafen, Ester.«

Sie rollt sich ganz zusammen und fängt leise an zu weinen. Um Wasser bittet sie nicht noch einmal.

Bei Sonnenaufgang, am Morgen des zweiten Tages, stampft der Zug über den sich schlängelnden Brennerpass, den Jahrhunderte alten Übergang über die Alpen an der Grenze zwischen Italien und Österreich. »Ich muss Wasser haben«, flüstert Rachel.

Marco seufzt. »Schau einmal nach draußen«, erwidert er dann und zeigt auf eine Ritze. »Das ist der Brenner. Diesen Pass haben schon die Römer im zweiten Jahrhundert nach Christus angelegt.« Er muss sie ablenken – Ester hat die ganze Nacht über geweint, während Rachel sich verzweifelt an ihm festgeklammert hat. »Zunächst war er natürlich nicht mehr als nur ein Pfad für Pferde und Maultiere und später dann für Eselskarren. Diese Eisenbahnlinie ist erst um 1860 herum gebaut worden.«

»Oh«, macht Rachel.

In der Tiefe erkennen sie grüne Hügel mit grasenden Kühen – ein Bild der Ruhe. Auf einer grünen Aue … zum frischen Wasser …

»Das ist auch der Ort, an dem sich Mussolini und Hitler Anfang 1940 getroffen haben, um den sogenannten ›Stahlpakt‹ zu schließen«, erzählt Marco zielgerichtet weiter.

»Was spielt das jetzt für eine Rolle?«, will Ester aufmüpfig wissen. »Gibt es denn hier nirgendwo Wasser?«

Doch der einzige Eimer Wasser, der am Anfang der Reise im Waggon gestanden hat, ist innerhalb von einer Stunde leer gewesen.

»Sie werden uns sicher bald noch etwas Wasser bringen«, behauptet Marco.

»Wer? Etwa die Wachmänner?«, fragt Ester verbittert.

Sie hat recht. Während in der ersten Nacht die eisige Kälte ihr größter Feind gewesen ist, schlägt nun der Durst in den Waggons zu. Bei jedem Halt flehen die Menschen um Wasser. Die Frauen und Kinder stecken ihre Hände zwischen den Brettern hindurch und betteln um eine Handvoll Schnee, doch es gibt niemanden, der sie hört. Die Soldaten auf den Bahnsteigen jagen jeden weg, der es wagt, in die Nähe der Waggons zu kommen.

Kinder jammern, alte Leute zerbrechen, die schwächsten Menschen sinken wie verzweifelte Häufchen in sich zusammen. Die Waggons werden immer leerer.

Am Ende der zweiten Nacht wird es still. Manchmal stöhnt noch jemand oder weint leise, ohne Tränen. Die Angst darüber, was ihnen bevorsteht, nagt an den Gedanken derer, die noch am Leben sind, allen ist schlecht vor Hunger, ihre Zungen sind geschwollen vor Durst, ihr ganzer Leib schreit nach Wasser. Schlafen kann niemand.

Durch die Ritzen sehen sie nun österreichische Namen: Salzburg und Wien. Dann tschechische Städte und schließlich die seltsamen Buchstabenkombinationen polnischer Ortsnamen. In der vierten Nacht wird die Kälte unerträglich. Inzwischen ist die Außenwelt unter einer weißen Schneedecke verschwunden.

Die Menschen versuchen schon lange nicht mehr, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Dafür haben sie keine Kraft mehr. Vier Tage und vier Nächte lang haben sie weder Essen noch Trinken bekommen.

»Möglicherweise werden wir getrennt, Männer und Frauen jeweils für sich«, versucht Marco die anderen vorzubereiten. »Sorgt dafür, dass ihr überlebt, das ist das Wichtigste.«

Rachel schaut ihn ernst an. »Du auch, Marco Romanelli«, flüstert sie mit ihrer knochentrockenen Zunge.

»Das werde ich tun«, verspricht er. »Ich werde auf dich warten, Rachel. Sobald der Krieg vorbei ist – und das dauert nicht mehr lange, denn die Alliierten haben an allen Fronten die Oberhand –, sobald der Krieg vorbei ist, wirst du meine Frau.«

Sie nickt langsam. Dann zeigt sie nach oben durch einen Schlitz über ihrem Kopf. »Marco, schau dir doch einmal die Sterne an.«

Er blickt nach oben. Der Himmel ist aus schwarzem Samt und die Sterne funkeln wie Diamanten – unveränderlich, schon seit Jahrhunderten.

»König David hat gesagt: ›Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?‹ Und doch ist Gott immer nahe.« Er schweigt für einen Augenblick. Schließlich fügt er hinzu: »So steht es doch auch in eurer Bibel, oder?«

Rachel nickt wieder. »Ich glaube das«, bestätigt sie ein bisschen zögernd. »Das sind unsere Sterne, Marco. Sie sind die ganze Zeit über mit uns gegangen, egal wie sehr sich die Pfade gewunden haben.«

Regungslos sitzen sie beieinander, geborgen in der Nähe des anderen.

In den frühen Morgenstunden verlangsamt der Zug immer mehr seine Fahrt, bis er endlich ganz zum Stehen kommt. Marco schaut nach draußen. Sie sind mitten auf der Strecke auf einem offenen Feld. So weit das Auge reicht, erstreckt sich eine dicke Schneedecke. Wie finstere Skelette ragen hier und da ein paar knorrige Bäume in die Höhe.

Nach einer ganzen Weile setzt sich der Zug wieder schnaufend in Bewegung, doch niemand achtet darauf.

Beim ersten Licht beginnt der Zug zu pfeifen und dann bleibt er mit einem Ruck stehen. Sie sind durch ein großes Tor gefahren und stehen nun mitten auf einem Platz. »Birkenau« steht auf einem Schild.

»Ich glaube, unsere Reise ist vorbei«, bemerkt Marco leise.