Über das Buch:
Nach einem Zugunglück sind drei Waisenkinder plötzlich auf sich allein gestellt: Evangeline, die mit zwei unterschiedlichen Augenfarben geboren wurde und durch das Unglück ihren leiblichen Bruder verliert; Seth, der unter Asthma leidet; und der Herumtreiber Zach, der im Waisenhaus als unvermittelbar gilt. Um zu überleben und einander zu unterstützen, schließen sich die Kinder zusammen und gründen eine neue kleine Familie.

15 Jahre später zieht Logan Fowler auf das Nachbargrundstück des außergewöhnlichen Trios. Er hat eine Mission: Rache an dem Mann, der seinem Vater einst beim Pokerspiel Haus und Grund abnahm. Doch dieser Mann ist niemand anderes als Zach Hamilton. Und dessen Ziehschwester Evangeline droht Logan mit ihrer fröhlichen Art einen gehörigen Strich durch die Rechnung zu machen …

Über die Autorin:
Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy End-Garantie und einem überzeugenden Bezug zum christlichen Glauben. Nach dem Studium der Psychologie begann sie mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.

Kapitel 7

Logan stützte einen Ellbogen auf sein Knie, als er sich vorbeugte, um die Kreuzacht, die er gerade gezogen hatte, an die Karoneun zu legen, die mit anderen Karten einen Stapel seines Solitärspieles bildete. Er warf einen kurzen Blick auf den Nachmittagshimmel, an dem die Sonne schon sank, dann nahm er eine weitere Karte von dem Zugstapel in seiner Hand.

Herzdame. Nutzlos. Die konnte er nirgendwo anlegen. Nicht ohne schwarzen König, der auf sie wartete. Anders als der lächerliche Bube, der hier auf seinem Schlafsack saß und jedes Mal zusammenzuckte, wenn es im Gebüsch raschelte.

Logan warf die Dame mit Wut auf den Ablagestapel.

Sie würde nicht kommen. Natürlich nicht. Warum auch? Er hatte sie mit seiner schroffen Art vertrieben. Blödes Gewissen. Warum hatte er auch das Gefühl gehabt, sie warnen zu müssen? Evangeline Hamilton war die perfekte Beute. Naiv, weichherzig und seinem Feind vertraut.

Das Schicksal spielte ihm ein Ass zu und er warf es weg wie ein Idiot.

Vielleicht sollte er froh sein, dass sie ihrem Versprechen nicht folgte und wieder hierherkam. Sie mochte eine perfekte Schachfigur sein, doch sie war vor allem auch eine große Ablenkung. Er musste sich auf das Endspiel seines Planes konzentrieren, darauf, Gerechtigkeit zu erreichen. Was er nicht brauchte, war eine draufgängerische Waldelfe, die ihn mit Rührseligkeit überschüttete, lächerliche Klischees von Hoffnung und Freude zitierte und ihm sagte, dass er mit seinem Pessimismus anderswohin gehen sollte.

Logans Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er sich an ihre Worte erinnerte. Sie mochte eine romantische Idealistin sein, doch sie besaß die Entschlossenheit eines Generals, wenn es darum ging, ihre Meinung zu vertreten. Kein Wunder, dass sein Pferd sie sympathisch gefunden hatte.

Ein leises Wiehern erklang hinter ihm.

Apropos Pferd …

Logan erhob sich und seine Augen suchten den Wald ringsherum ab. Sein Herz schlug in seltsamer Vorfreude, während er den Hals reckte und durch das Dickicht zu blicken versuchte. Eine Hand hielt er locker auf dem Kolben seines Revolvers, um sich noch ein letztes bisschen Würde zu bewahren. Doch dann hörte er die leichten Schritte, die sich näherten und die Schamgar schon über ihren sich nähernden Besuch informiert hatten.

Etwas Rotes blitzte durch die Bäume. Dunkelrot wie Wein. Sein Magen spannte sich an und das Herz schlug höher in seiner Brust. Da trat sie zwischen den Bäumen hervor. Ihr Rock schwang weit wegen ihrer entschlossenen Schritte. Die elfenbeinfarbene Bluse mit den zarten roten Streifen passte perfekt zu ihrem Rock und betonte ihre leichten Kurven, die er nur schwer ignorieren konnte. Der hohe Kragen und die hochgesteckten Haare betonten ihren zarten Hals, der ihm gestern, während ihres Zusammenstoßes, gar nicht aufgefallen war.

Sie war wirklich eine beeindruckende Schönheit. Das war ihm natürlich schon gestern bewusst gewesen, aber heute, so ganz ohne Schmutz im Gesicht und Blätter in den Haaren … Heute wirkte sie … frisch. Strahlend. Als hätte sie sich Gedanken um ihr Aussehen gemacht. Seinetwegen.

Ein Hauch Männlichkeit löste seine Gliedmaßen. Er stolzierte auf sie zu, lockerte den Griff an seinem Revolver und streckte stattdessen die Hand nach dem Korb aus, den sie bei sich trug. »Heute ohne Schwein?«

Evangeline schüttelte den Kopf und ihre mysteriösen Augen funkelten. »Das wäre wegen des Essens keine gute Idee gewesen.«

Er hob das Tuch, das den Korb bedeckte, und das köstliche Aroma traf ihn wie ein Schlag. Brot. Frisches Brot. Es war sogar noch warm.

Logans Mund wurde wässrig und sein Magen knurrte peinlich laut. Er hatte kein frisches Brot mehr gegessen seit … er wusste gar nicht mehr genau, seit wann. Seit dem letzten Mal, als er seine Mutter bei seiner Tante besucht hatte. Wie lange war das jetzt her? Fünf Monate? Sechs?

Der Koch im Holzfällercamp in Ost-Texas, wo er die letzten drei Jahre gewesen war, hatte trockene, krümelige Kekse serviert, die man nur mit Soße hatte herunterwürgen können. Und in den Saloons, die er besucht hatte, um seine spielerischen Fähigkeiten weiter auszubauen, war man eher daran interessiert gewesen, die männliche Lust an Whiskey, Frauen und Gewinnen zu stillen, als an gutem Essen. Jetzt plötzlich mit diesem Duft konfrontiert zu sein, den er anscheinend so schmerzlich vermisst hatte, erregte einen überraschenden Hunger in ihm.

Seine Besucherin kicherte. »Ich sehe, wie Ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft. Keine Sorge, ich lasse Sie nicht warten. Es gibt kaum einen größeren Genuss als warmes Brot mit Butter.«

Logan sah sie fassungslos an. »Es gibt auch Butter?«

Die kleine Elfe lachte. »Natürlich. In einem kleinen Tontopf, den Sie im Fluss kühlen können.«

Logan streckte ihr eine Hand entgegen, als sie unwegsameres Gelände erreichten. Rosa zierte ihre Wangen, doch sie legte ihre Hand in die seine und gestattete ihm, ihr über einen kleinen Graben hinwegzuhelfen, der ihren Weg kreuzte. Nicht dass sie seine Hilfe gebraucht hätte – ihre Flucht gestern hatte ihre Trittsicherheit bewiesen –, doch er hatte die Manieren, die seine Mutter ihm beigebracht hatte, nicht vergessen.

Ein Picknickkorb, eine junge Frau in hübschen Kleidern, ein Kerl mit leerem Magen und ein gegenseitiges, unausgesprochenes Verständnis für stichelnde Kommentare – auf einen außenstehenden Beobachter hätte dieser Ausflug wie ein Spaziergang zweier Frischverliebter gewirkt. Doch so unschuldig waren Logans Absichten nicht. Natürlich hätte er dieser jungen Dame oder ihrem guten Ruf niemals geschadet, aber er würde ihr Informationen entlocken. Alle Informationen, die er brauchte, um Gerechtigkeit zu erlangen. Er wollte herausfinden, wie Hamilton arbeitete, was er schätzte, welche Geheimnisse er hatte. Eben alles, was Logan nutzen konnte. Er plante, Evangeline bis ins kleinste Detail auszuhorchen.

Und sie trotzdem nicht zu verletzen.

Das war wahrscheinlich nicht möglich, aber er würde es versuchen. Wenn sein Glück anhielt, würde ihr weiches Herz aufgrund seines eigenen schlimmen Schicksals vielleicht so stark bluten, dass er sie auf seine Seite ziehen konnte. Dann würde sie ihm eventuell sogar helfen, ihren Bruder zur Strecke zu bringen.

Sich mit der zarten Elfe zu verbünden, schien ihm plötzlich ein sehr angenehmer Gedanke. Leider waren die Chancen eines Trolls, eine Elfe für sich zu gewinnen, kleiner als die Kante einer Spielkarte. Aber lieber schlechte Chancen als überhaupt keine. Er hatte noch nie aufgegeben, bevor nicht alle Karten ausgespielt waren. Logan wusste, dass er sich Zeit lassen konnte, um seinen Vorteil auszubauen und ihn schließlich bestmöglich nutzen zu können. Er wusste, wie man gewann, und er hatte auch keine Angst davor, alles dafür zu tun.

»Ich war mir nicht sicher, ob Ihre Brüder Sie überhaupt herkommen lassen würden«, sagte er. »Einen Fremden im Wald treffen und so weiter.« Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. »So, wie Sie sie beschrieben haben, sind sie ja doch recht beschützerisch.«

»Das sind sie«, versicherte sie ihm mit funkelnden Augen. »Aber nachdem ich ihnen von Ihrem beherzten Versuch erzählt habe, mich vor einem angreifenden Wildschwein zu retten, haben sie zugestimmt, dass ich Ihnen einen Essenskorb als Willkommensgeschenk bringe.« Sie grinste ihn an und er hatte das Gefühl, ein Geheimnis mit ihr zu teilen. »Die beiden sind nicht gerade begeistert davon, dass ich ein Wildschwein als Haustier halte, also hat Sie Ihr Versuch, Hessy zu erschießen, gleich in ihrem Ansehen steigen lassen.«

Diese Frau war einfach herrlich. Durch ihre tanzenden Augen und das schelmische Lächeln, das seinen Verstand schier betäubte, brauchte Logan einen Moment, bis ihm wieder einfiel, warum er diese Frage eigentlich gestellt hatte. Natürlich: Er musste wissen, was sie ihren Brüdern über ihn erzählt hatte. Sie wussten, dass er hier war, aber was noch?

»Ich bin trotzdem überrascht, dass keiner der beiden Sie hierherbegleitet hat.«

Sie hob ihr Kinn leicht an. »Die Frauen in der Stadt machen doch oft Nachbarschaftsbesuche ohne männliche Begleitung. Warum sollte ich es anders machen?« Sie verlangsamte ihren Schritt und sah ihn skeptisch an. »Es sei denn, Sie sind nicht der Gentleman, den Sie mir gestern vorgespielt haben.« Sie beugte sich etwas zurück und ihr Lächeln verschwand. »In diesem Falle sollten Sie wissen, dass ich niemals unbewaffnet unterwegs bin. Ich trage ein Messer im Stiefel und Sie können mir glauben, dass ich auch ganz genau weiß, wie ich es zu benutzen habe.«

Wunderbar. Jetzt machte er ihr also Angst. Du hast noch einen langen Weg vor dir, Logan. Er trat zurück und versuchte, seinen Charme spielen zu lassen. Seine rechte Hand legte er aufs Herz und verstärkte seinen Südstaatenakzent. »Ich schwöre Ihnen, Ma’am, dass Sie in meiner Begleitung nichts zu befürchten haben. Meine Mutter hat mir beigebracht, Frauen und ihre Tugenden gleichermaßen zu schützen. Ich wundere mich lediglich über das Vertrauen Ihrer Brüder in einen Mann, dem sie noch nie begegnet sind. Wenn Sie meine Schwester wären, wäre ich nicht so vertrauensselig.«

Ein paar Funken kehrten in ihre Augen zurück. »Wenn ich Ihre Schwester wäre, würde ich Ihrem übervorsichtigen Schutz genauso oft entkommen wie dem meiner Brüder.«

Er lachte kurz auf. »Das bezweifle ich nicht.«

Evangeline Hamilton liebte die Freiheit und hatte einen leicht rebellischen Charakterzug. Das ließ sich noch nutzen.

»Außerdem«, sagte sie und zuckte mit den Schultern, »habe ich ihnen genau gesagt, wohin ich gehe und wenn ich in einer Stunde nicht wieder zu Hause bin, wird Zach hierherkommen und Sie erschießen, weil er sich Ihretwegen Sorgen machen musste. Er ist immer sehr vorsichtig, wenn es um mich geht. Das ist süß, aber auch sehr einengend.«

Sie formulierte die Drohung so sachlich, dass Logan nicht sagen konnte, ob sie ernst gemeint war oder nicht. Hamilton hatte schon bewiesen, dass er andere ohne Rücksicht verletzte. Karten, Pistolen – einfach eine andere Art Waffe. Doch jetzt wusste Logan, dass der Mann eine große Schwäche hatte: seine Schwester.

»Dann sollten wir uns lieber beeilen, was?« Er führte sie zu seinem Lager und half ihr, sich auf seinen Schlafsack zu setzen. »Also, was ist da noch drin? Es fühlt sich nach mehr als nur einem Laib Brot an.« Er hob das Tuch und blickte in den Korb, dann stellte er ihn ab und setzte sich ihr gegenüber.

»Räumen Sie ihn ruhig aus«, sagte sie mit leichter Stimme. »Ich wusste ja nicht, was Sie mögen, also habe ich einfach eine Auswahl mitgebracht.«

Eine Auswahl an wahren Schätzen! Verblüfft über ihre Großzügigkeit staunte Logan innerlich, als er eine Köstlichkeit nach der anderen hervorholte. Äußerlich ließ er sich natürlich nichts anmerken. Zusätzlich zu dem Brot und dem Buttertöpfchen hatte sie auch eine rote Marmelade eingepackt. Erdbeere? Er hoffte es, denn das war seine Lieblingsmarmelade. Ein dicker Streifen geräucherter Schinken, eingepackt in braunes Papier. Ein Bund Buschbohnen.

Dann war noch ein Glas übrig. Er griff danach und hielt plötzlich inne. Ehrfürchtig nahm er diesen Schatz aus dem Korb. Pfirsiche. Süße, saftige gelbe Pfirsiche.

Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Die geben Sie mir?« Pfirsiche waren ein Luxus. Ein Geschenk für besondere Anlässe.

Evangeline zuckte die Schultern und senkte ihren Blick in den Schoß. »Wir haben ein paar Bäume neben dem Haus stehen. Ich mache jeden Herbst einige Gläser ein. Ganz bestimmt können wir eins abgeben, um unseren neuen Nachbarn zu begrüßen.«

Bäume neben dem Haus? Logan barg das Glas in seinem Arm, während er versuchte, sich die Emotionen nicht anmerken zu lassen, die gerade in seinem Inneren aufwallten. Seine Mutter hatte ein paar Bäumchen neben der Veranda gepflanzt. Das hatte er vollkommen vergessen. Sie hatte die Pflanzen mit viel Liebe gegossen, damit ihre Wurzeln sich tief in den Boden graben konnten. Er selbst hatte ihnen damals keine Aufmerksamkeit geschenkt und war viel zu beschäftigt damit gewesen, das Land zu erkunden. Was das für Obstbäume waren, hatte er nicht einmal gewusst, da sie gezwungen gewesen waren, das Land zu verlassen, bevor sie Früchte getragen hatten. Doch wenn diese Bäume tatsächlich die Bäume seiner Mutter waren …

Logans Hals schnürte sich zu. Er räusperte sich und zwang sich dazu, das Glas beiseitezustellen, als wäre es nicht das wertvollste Geschenk, das er in den letzten sieben Jahren bekommen hatte. Dann setzte er ein Lächeln auf. »Danke.«

Sie erwiderte sein Lächeln, doch ihre Augen blickten ihn forschend an und er spürte, dass sie sich nicht von seiner aufgesetzten Nonchalance narren ließ.

Logan wandte sich ab und werkelte an dem leeren Korb herum. Bleib achtsam, Mann. Er konnte es sich nicht leisten, ihr seine Schwächen zu zeigen. Sie würde dieses Wissen gegen ihn verwenden. Er musste seine Gefühle kontrollieren. Das Spiel in seine Richtung drehen. Alles andere war unwichtig.

Er fand noch zwei weitere Utensilien unten im Korb. Messer – eins, um das Brot zu schneiden, das andere, um die Butter zu verstreichen. Beide nahm er heraus, legte sie auf sein Bein und ergriff den Brotlaib.

»Leisten Sie mir Gesellschaft?«, fragte er und warf ihr einen verstohlenen Blick zu. »Dieser Schatz ist zu groß für mich alleine.«

Sie beugte sich vor, als wolle sie ein Geheimnis mit ihm teilen und flüsterte: »Warum glauben Sie, habe ich die Messer eingepackt?«

Er gluckste. »Eine Mitverschwörerin, ich verstehe.« Dann zwinkerte er ihr zu. »Eine Frau ganz nach meinem Geschmack.«

* * *

Evangeline grinste über seinen Scherz, aber seine seltsame Wortwahl fiel ihr dennoch auf. Mitverschwörerin. Was meinte er damit? Oder wollte er einfach nur flirten?

Sie ließ den Blick sinken. Himmel, wie sehr wünschte sie sich, dass er flirtete! Sie war noch nie Empfängerin einer solchen Aufmerksamkeit gewesen und ihr Magen flatterte bei dem Gedanken, dass dieser heldenhafte Retter, der sich mit wilden Tieren anlegte, sie attraktiv finden könnte. Oder vielleicht gar ihre Gesellschaft genoss.

Während das Messer sich durch die knackige Kruste des Brotes arbeitete, sah Evangeline auf und genoss die Möglichkeit, Logan genauer zu betrachten.

Er hatte seinen Bart gestutzt. Ihr Herz schlug schneller bei dieser Erkenntnis. Gestern noch hatte er etwas zerzaust und ungepflegt gewirkt. Irgendwie zottelig.

Heute waren die Zotteln verschwunden und die kurzen Haare betonten seinen kantigen Kiefer. Hatte er das ihretwegen getan? Weil er gut aussehen wollte für sie, wenn sie ihm das Essen brachte? Auch sein Hemd war frisch. Und obwohl seine Stiefel natürlich genauso abgewetzt waren wie gestern, klebte doch kein Schmutz mehr daran.

Evangeline richtete sich etwas gerader auf und strich ihren Rock glatt.

Natürlich konnte es auch sein, dass das alles gar nichts mit ihr zu tun hatte. Vielleicht hatte er einfach heute seinen Waschtag gehabt.

Und doch bestand die Möglichkeit, dass er es für sie getan hatte, um einen guten Eindruck auf sie zu machen. Sie knabberte an ihrer Lippe. Das würde sie jetzt einfach mal so glauben, bis das Gegenteil bewiesen war.

Logan blickte von dem Brotlaib auf, als spüre er ihre Blicke. Evangeline schaute weg. Ihr Blick fiel auf die Butter. »Wenn Sie mir eine Scheibe geben, schmiere ich sie schon mal für Sie.«

»Danke.« In seinen Augen lag nichts als Wärme, als sie ihm die erste, recht ungleichmäßige Schnitte abnahm.

Sie bestrich sie großzügig mit Butter, dann reichte sie sie ihm. »Hier. Ich schneide den Rest.«

»Gute Idee«, sagte er und schüttelte den Kopf über die vier Scheiben, die auf dem Brottuch lagen. Die Oberkante war einen Zentimeter dick, während die Scheiben nach unten hin nicht breiter waren als ein Zahnstocher. »Ich kann das offensichtlich nicht ganz so gut.«

Er reichte ihr das Messer mit dem Griff voran, und ihre Finger berührten sich dabei. Ihre Haut prickelte dort, wo er sie berührte, und ihr stockte der Atem. Er schien gar nicht in Eile, das Messer loszulassen, obwohl sie ihm das frische, warme Brot direkt unter die Nase hielt.

Evangeline verstärkte ihren Griff um das Messer und entzog es ihm. Logan mochte ihr Herz schneller schlagen und ihren Magen flattern lassen, doch sie war klug genug, sich ihren Verstand nicht von diesen flattrigen Gefühlen vernebeln zu lassen. Er war ein Mysterium, das es erst zu entschlüsseln galt, bevor sich zwischen ihnen irgendetwas entwickeln konnte.

Dankbarerweise schien er ihre stumme Botschaft zu verstehen und nahm ihr ohne weiteren Körperkontakt das Brot aus der Hand. Darauf bedacht, sich nicht mehr auf den Mann vor sich, sondern auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, machte sich Evangeline daran, den Rest des Brotes in solch symmetrische Scheiben zu schneiden, dass sie einem Architekten zur Ehre gereicht hätten.

Als sie an der zweiten Scheibe war, biss Logan in sein Brot und fing an, mehr als ablenkende Geräusche von sich zu geben. Er stöhnte richtiggehend und stieß wohlige Laute aus, die keine Bäckerin mit einem Funken Stolz hätte ignorieren können.

Sie blickte auf und wurde sofort von dem seligen Ausdruck auf seinem Gesicht gefangen genommen. Mit geschlossenen Augen hatte er den Blick gen Himmel gewandt, und kaute und genoss, als hätte er eine köstliche französische Pastete auf der Zunge anstatt einer herkömmlichen Scheibe Brot.

»Oh … mmmmh …«, brachte er hervor, bevor er sich den Rest der Scheibe in den Mund schob. »Das ist so köstlich.«

Zumindest glaubte sie, das verstanden zu haben. Es war schwer das festzustellen bei seinem vollen Mund.

Sie beeilte sich, ihm eine zweite Scheibe zu schmieren. Sein Genuss war ihr eine absolute Freude, sodass sie ihm wahrscheinlich den ganzen Laib überlassen hätte, wenn er nach der dritten Scheibe nicht darauf bestanden hätte, dass sie auch etwas aß.

Der Mann schüttelte den Kopf und musste erst noch einmal schlucken, bevor er sprechen konnte. »Sie müssen denken, ich wäre von Wölfen aufgezogen worden.« Er legte seine Hand an ihre und führte die ihm angebotene Scheibe in Richtung ihres Mundes. »Bitte. Sie müssen auch etwas essen.«

»Sind Sie sich da sicher?«, neckte sie ihn, während sie versuchte, die Gefühle zu ignorieren, die seine Berührung in ihr auslöste. »Ich glaube nicht, dass ich dieses Brot auch nur halb so intensiv genießen kann wie Sie. Es wäre eine Schande, es an meinen undankbaren Gaumen zu verschwenden.«

»Ich bestehe aber darauf.« Endlich ließ er ihre Hand wieder los und ballte sie zur Faust, um sich gegen die Brust zu schlagen. »Ich schwöre, dass ich keinen weiteren Bissen essen werde, bevor Sie nicht an diesem Festmahl teilnehmen.«

»Nun, das können wir nicht zulassen. Immerhin ist es ein Geschenk. Es wäre schrecklich, wenn ich alles wieder mitnehmen und an Hesekiel verfüttern müsste.«

Logans schockierter Blick wanderte zwischen ihr und dem Brot hin und her, als fürchte er, sie könne wirklich etwas so Schreckliches tun.

Evangeline lachte. »Hier.« Sie reichte ihm das Buttermesser und biss ein herzhaftes Stück von ihrem Brot ab.

»Das ist mein Mädchen.« Logan grinste und machte sich sofort daran, die fünfte Scheibe zu schmieren, ohne zu bemerken, welche Wirkung seine unbedacht dahingesagten Worte auf sie hatten.

Mein Mädchen.

Sie drangen in ihr Herz, das sich schon seit ihrer Kindheit nach genau dieser Zuneigung gesehnt hatte, und in ihre unerfüllten Träume nach Zugehörigkeit.

Eine ganze Weile lang waren ihr ihre beiden Brüder genug gewesen. Und natürlich liebte sie sie immer noch über alles in der Welt. Doch seitdem sie bemerkt hatte, dass Frauen in ihrem Alter oder sogar noch jünger, sich Männer suchten, mit ihnen zusammenkamen, Familien gründeten und glücklich wurden, war in ihr auch diese Sehnsucht entfacht. Die Sehnsucht nach einem Mann, einem ganz besonderen Mann. Einem, der an ihrem Äußeren vorbeiblickte und ihr Innerstes erkannte. Der ihre zusammengewürfelte Familie akzeptierte und ein Teil davon wurde. Der ihr die Chance geben würde, Mutter zu werden, damit sie ihren Kindern die Liebe und Annahme geben konnte, die sie selbst so schmerzlich vermisst hatte.

Ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken nahmen sie dermaßen in Beschlag, dass sie immer langsamer kaute und erst fertig war, als Logan schon zwei weitere Scheiben Brot vertilgt hatte. Schließlich schien er gesättigt zu sein und wickelte den Rest des Brotes in das Tuch ein.

Während er die Enden des Tuches verknotete, suchten seine Augen die ihren. »Das war das beste Brot, das ich jemals gegessen habe, Evangeline Hamilton.« Seine Aufrichtigkeit umspülte sie wohlig und drang in die Risse ihrer Seele, die sich nach Anerkennung und Annahme sehnten. »Sie haben mich an einem Ort willkommen geheißen, der mir in der Vergangenheit nicht viel Freundlichkeit entgegengebracht hat.«

»Gern geschehen.« Was auch immer ihn belastete, sie hätte nichts lieber getan, als seine Wunden zu verarzten und ihn zu heilen.

Evangeline traf eine Entscheidung. Nein, sie legte vielmehr einen feierlichen Schwur ab. Sie würde für diesen Mann ohne Nachnamen beten, der belastende Geheimnisse und mysteriöse Absichten mit sich herumtrug. Sie würde jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen nach dem Aufwachen für ihn beten. Sie würde um Heilung beten, um Segen und für Gottes Weisung auf seinen Wegen.

Als Logan schließlich aufsprang und ihr seine Hand reichte, damit sie sich ebenfalls erheben konnte, erkannte sie, dass sie am besten noch ein weiteres Gebetsanliegen auf ihre Liste setzte: Nämlich dass Gott ihr Herz schützte. Denn sie war auf dem besten Wege, sich innerlich auf ein Drahtseil zu begeben. Und Evangeline fürchtete, dass es kein Netz geben würde, welches ihren Sturz auffangen könnte.

Kapitel 8

Langsam liefen die Dinge aus dem Ruder.

Logan blieb zurück und beobachtete Evangeline, die ähnlich einem Blatt im Herbstwind über den Grund wirbelte, den er in den letzten Wochen gerodet hatte. Seine Brust schmerzte, als er die Freude auf ihrem Gesicht sah.

»Es ist perfekt!« Sie hörte auf, sich um die eigene Achse zu drehen, und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Oh Logan, es ist wunderschön. Mit Blick auf den Fluss im Norden und die Wälder im Süden und Westen. Und den Bachlauf immer in der Nähe, bis Sie einen Brunnen anlegen können. Einen besseren Ort hätten Sie nicht finden können.«

Und genau deshalb liefen die Dinge ja momentan so aus dem Ruder. Er hatte zwei Tage damit zugebracht, auf seinem Land hin und her zu reiten und den Ort zu finden, den sie am schönsten finden würde. Dann hatte er die letzten fünf Tage darauf verwendet, das Gestrüpp zu entfernen, Wurzeln auszureißen und den Boden zu ebnen, sodass er eine Hütte darauf bauen konnte. Und das alles nicht, um sein Land wertvoller und damit zu einer lukrativeren Beute für Zacharias zu machen, sondern, weil er sich genau das erhofft hatte: ihre Reaktion. Ihre Freude über seine Anstrengungen. Ihren Stolz über das, was er erreicht hatte.

Er hatte es einfach nur getan, um sie glücklich zu machen.

Nun ja, und um eine Ausrede zu haben, sie länger als nur die paar Minuten zu sehen, die er ihr abringen konnte, wenn sie Hesekiel auf seinen Abendspaziergang ausführte. Offensichtlich waren ihre Brüder nicht allzu begeistert darüber, dass sie Zeit mit dem neuen Nachbarn verbrachte und sie hatte das Gefühl, ihre täglichen Besuche auf eine Viertelstunde begrenzen zu müssen, um nicht den Verdacht ihrer Geschwister zu erregen.

Logan hatte nichts dagegen gesagt, doch er hatte sich eine Strategie überlegt, wie er ihr mehr Zeit abringen konnte. Sich selbst sagte er, dass das alles Teil seines Planes war, ihr Informationen zu entlocken, die er dann gegen ihren Bruder verwenden konnte. Doch sie jetzt so zu beobachten, hatte nichts mit seinem nächsten Schritt oder irgendwelchen Racheplänen zu tun. Er genoss einfach ihren Anblick.

»Sie sollten eine Veranda bauen«, verkündete sie und schritt den vorbereiteten Grund ab, dann streckte sie die Arme. »Genau hier.« Ihre Augen funkelten vor Aufregung. »Stellen Sie sich vor, wie wunderschön es wäre, hier auf der Veranda zu sitzen und den Sonnenuntergang zu beobachten.« Sie schlang die Arme um ihre Taille, während sie das Gesicht gen Himmel hob. »Mit einer Tasse Tee in der Hand. Und einem Hund neben sich, der seinen Kopf in Ihren Schoß legt.«

Warum musste sie solch ein Bild zeichnen? Vor allem mit dieser verträumten Stimme, als könne sie in die Zukunft schauen. Er hatte keinen Hund. Und Tee? Er verdrehte die Augen. Ein Mann trank Kaffee. Tee war etwas für Frauen.

Bei dem Gedanken an Frauen änderte sich das Bild vor seinem geistigen Auge. Die Veranda wurde breiter, sodass ein zweiter Stuhl Platz fand. Nein, eine Schaukel. Lang genug für zwei Personen, einen Mann und eine Frau. Und da war auch kein Hundekopf auf seinem Schoß. Nein, eine Frau legte ihren Kopf an seine Schulter und er seinen Arm um ihren Rücken. Seine Finger streichelten die ihren, während der Himmel sich grau und orange färbte. Eine Frau mit Feuer und Liebe in den Augen.

»Logan?«

Er zuckte zusammen, als das Bild plötzlich verschwand. »Entschuldigung.« Er räusperte sich und richtete sich auf. »Haben Sie etwas gesagt?«

Ein seltsamer Ausdruck trat auf ihr Gesicht, doch dann erhellte wieder das Lächeln ihre Züge. »Ich habe gefragt, ob Sie sich eine Veranda an Ihrem Haus vorstellen könnten.«

»Es ist nicht mein Haus, Eva. Haben Sie das schon vergessen?« Sein Haus war momentan besetzt. Von den Hamiltons, um genau zu sein. »Dieses Land ist nur eine Investition.«

Er erwartete, dass sie dagegen argumentierte oder seine trübsinnige Aussage mit einem Achselzucken abtat, wie sie es in den letzten Tagen oft getan hatte, und einfach weiter über die Raumaufteilung des Hauses reden würde. Stattdessen trat sie an den Rand der imaginären Veranda und starrte ihn an.

»Haben Sie mich gerade Eva genannt?«

Logan zuckte zusammen. »Mögen Sie das nicht?«

»Das ist es nicht. Mich … nennt einfach niemand so.« Sie hob das Kinn, als sei sie zu einer Entscheidung gekommen. »Aber es gefällt mir. Viel schicker als Evie.«

»So nennen Sie Ihre Brüder?« Er kam zu ihr herüber. Wenn er es schaffte, dass sie über ihre Brüder sprach, konnte er für heute wenigstens noch einen Erfolg für sich verbuchen. Und all das Roden und Landbegradigen wäre den schmerzenden Rücken und die Blasen an den Händen wert.

Sie lächelte liebevoll. »Ja. Es sei denn, sie sind sauer auf mich.« Sie verknautschte ihr Gesicht, um es ihm vor Augen zu malen, doch sie wirkte nicht verärgerter als ein Katzenjunges. »Dann nennen sie mich E-van-ge-line.«

Er lachte. Sie schaffte es vielleicht nicht, einen ärgerlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen, doch sie imitierte perfekt die Stimme eines gereizten Bruders.

Vergnügt lachte sie mit ihm zusammen, nahm den ihr angebotenen Arm und ließ sich in Richtung des Baches führen. »Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn sie mich anders nennen würden als Evie. Seit der Kindheit ist das mein Name.« Sie blickte ihn scheu von der Seite her an. »Aber Sie können mich Eva nennen.«

Sein Puls beschleunigte sich, als sie ihm diese spezielle Intimität gestattete, doch bevor er sich selbst deshalb rügen konnte, wirbelte Evangeline an seiner Seite voller Freude um die eigene Achse. Dann blieb sie stehen und strahlte ihn an.

»Vielleicht könnte ich Sie Gan nennen. Oder Lo.«

Er verzog angewidert das Gesicht, was ihm ein Kichern einbrachte.

»Oh, ich weiß!«, rief sie aufgeregt und stellte sich dicht vor ihn. »Log. Sehr stark und männlich, finden Sie nicht?«

Er verdrehte die Augen. »Trommeln Sie ein paar von uns zusammen und Sie haben im Nu ein Haus vor sich stehen.«

Sie lachte tief und laut, bis sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen musste. Aus dem des blauen Auges. Das lebhafte, funkelnde Blau strahlte Freude aus, ebenso wie ihr braunes Auge Wärme. Eine perfekte Kombination, die ihn in den letzten Tagen mehr und mehr angezogen hatte.

»Vielleicht sollten wir einfach bei Logan bleiben.« Nach diesem mürrischen Kommentar zog er sie weiter in Richtung Bachlauf, und starrte dabei auf den Boden vor sich anstatt auf die Waldelfe an seiner Seite.

»Das wäre wahrscheinlich am besten«, stimmte sie zu und immer noch färbte das Lachen ihre Stimme. »Obwohl es wirklich unsportlich von Ihnen ist, einen Namen zu haben, den man nicht abkürzen kann. Zacharias heißt Zach. Hesekiel Hessy. Obwohl, Seth können wir ja auch nur Seth nennen, also sind Sie doch in guter Gesellschaft.«

Eine angenehme Stille entstand zwischen ihnen, als die Bäume um sie herum dichter wurden und das Plätschern des Baches sie näher an ihr Ziel zog. Logan hatte heute Morgen nach dem perfekten Ort für eine Unterhaltung gesucht. Abgeschieden sollte er sein, vielleicht sogar ein wenig romantisch. Ein typischer Ort, an dem sich eine Frau wohlfühlte und aller Wahrscheinlichkeit nach ihren inneren Schutzschild sinken lassen würde. Diese Kurve im Bachlauf nun hatte alles, was er sich wünschte: einen malerischen Blick auf die Stelle, wo das Wasser zwischen Steinen entlangplätscherte und sich dann in einem kleinen Wasserfall einen Felsen hinunterstürzte, zudem Eichen und Pekannuss-Bäume, die Schatten spendeten. Und darüber hinaus hatte er selbst einen dicken Baumstamm näher ans Ufer gezogen, wo dieser als Bank diente.

Als sie um die Kurve gegangen waren und Eva den Atem anhielt, stieg die Aufregung in ihm. »Ich hatte gehofft, dass es Ihnen gefallen würde.«

»Es ist wunderschön.« Sie wandte ihm ihr strahlendes Gesicht zu und sein Herz zog sich vor Freude über die Wertschätzung seines Geschenkes zusammen. »So etwas haben wir auf unserem Land nicht. Es gibt einen kleinen Teich, der sehr hübsch anzuschauen ist«, sagte sie, während sie sich wieder dem Bachlauf zuwandte, »aber nichts, das hiermit zu vergleichen wäre. Ich könnte stundenlang hier sitzen.«

»Tja, wir haben vielleicht keine Stunden«, sagte Logan, als er auf den Baumstamm zu ihrer Linken zeigte, »aber ich kann Ihnen einen handverlesenen Sitzplatz und eine nur wenig fragwürdige Gesellschaft anbieten, wenn Sie sich vor Ihrem Rückweg noch mal ein wenig ausruhen wollen.«

»Tja, mein Lieber. Bei der fragwürdigen Gesellschaft bin ich mir nicht sicher.« Ihre Augen tanzten. »Ich muss an meinen guten Ruf denken.«

Logan spielte mit. Natürlich nur, um ihr zu schmeicheln. Es war alles Teil seiner Verführungsstrategie und auf keinen Fall hatte es etwas damit zu tun, dass sich sein Herz so viel leichter anfühlte, wenn sie sich neckten.

»Ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Ich meinte fragende Gesellschaft.« Er beugte sich zu ihr und schenkte ihr sein gaunerhaftestes Grinsen. Obwohl er keine Zeit gehabt hatte, es zu üben, da er in den letzten Jahren stets darauf bedacht gewesen war, sein Pokerface zu wahren, errötete sie. Teil eins seines Planes war damit erfolgreich gemeistert. »Ich werde Sie gnadenlos ausfragen, meine Dame.«

»Mich ausfragen? Aus welchem Grund, mein Herr?« Ihr Lächeln blieb bestehen, doch ein vorsichtiger Ausdruck erschien in ihren Augen.

»Natürlich, damit ich Sie besser kennenlerne.« Er wackelte mit den Augenbrauen. »Sie sind die faszinierendste Nachbarin, die ich jemals getroffen habe.«

Evas Blick wanderte zum Wasser hin, bevor sie ihn schüchtern anblickte. »Das bezweifle ich.«

»Es stimmt aber.« Und das tat es tatsächlich. Wieder beugte er sich zu ihr und senkte seine Stimme zu einem rauen Flüstern. »Bei meiner letzten Wohnstätte lebte links ein Apotheker mit Hakennase, der sich ständig bei meiner Mutter beschwerte, dass ihre Blumen sich in seinem Garten ausgebreitet hatten. Anscheinend reagierte er allergisch darauf.«

Eva hob argwöhnisch eine Augenbraue, doch Logan nickte und hob die rechte Hand, um seine Aufrichtigkeit zu bezeugen. Mr Pickwick war ein sehr unangenehmer, aber auch sehr realer Nachbar gewesen. Aber nichts im Vergleich mit Mrs Abernathy. »Auf unserer rechten Seite lebte eine sechzigjährige Witwe, die jedes Wort so laut schrie, als wäre nicht sie die Taube, sondern alle anderen um sie herum.«

Eva kicherte leise und die Vorsicht verschwand aus ihren Augen.

Logan führte sie zu seiner improvisierten Bank. »Sie sehen also, dass Sie all meine Nachbarn überstrahlen.«

»Tja, in diesem Fall kann ich wohl schlecht ablehnen.« Sie richtete ihren dunkelgrünen Rock, denselben, den sie am Tag ihres Kennenlernens getragen hatte, und setzte sich. Sein Baumstamm war etwas tiefer als eine normale Bank, also ergriff er ihren Ellbogen und half ihr. Sie lächelte dankbar und wartete darauf, dass er sich zu ihr setzte.

»Dann erzählen Sie mir doch mal von Ihrer Familie«, wagte er sich vor. »Unabhängig von der Tatsache, dass Sie jedes Mal unversehrt zurück nach Hause gekommen sind, bin ich doch erstaunt, dass keiner Ihrer Brüder hierhergekommen ist, um mir zu drohen, dass ich Sie in Ruhe lassen soll.«

»Zach hat drüber nachgedacht.« Sie grinste. »Aber nach unserem ersten Treffen und dem Willkommensessen, das ich Ihnen gebracht habe, war ich eher verschwiegen, was unsere Treffen angeht, deshalb sieht er wohl keinen Grund.« Sie ließ ihre Augen über den Bach wandern und legte die Arme um die Knie. »Er ist es gewohnt, dass Männer Abstand zu mir halten. Und ich zu ihnen.«

Wenn Arnold Dunn aus der Lucky Lady ein Beispiel dafür war, wie die Männer hier in der Gegend über Evangeline Hamilton dachten, war das der Beweis, dass diese Stadt voller Idioten war.

»Was ist mit Seth?«, fragte Logan weiter, da er die Unterhaltung zurück auf ihre Brüder lenken wollte. Wenn er zu lange über die verletzten Gefühle dieser wunderschönen Frau an seiner Seite nachdachte, würde ihn das nur von seinen Plänen abbringen. »Ist er denn kein Beschützertyp?«

»Er ist mehr der Scheltende.« Man hätte nach dieser Aussage ein entnervtes Seufzen erwartet, doch Evangelines Stimme war weiterhin voller Zuneigung. »Da wir in so jungen Jahren zu Waisen geworden sind, haben Seth und Zach mich großgezogen. Zach war der ältere, also hat er sich um unseren Lebensunterhalt gekümmert. Er war manchmal tagelang unterwegs und hat jede Arbeit angenommen, um genug Essen nach Hause zu bringen, damit wir überleben konnten. Eine große Verantwortung für so einen jungen Menschen.«

Logans Kiefer spannte sich an. Ihre Anerkennung für die Taten ihres Bruders war für ihn nur schwer zu ertragen. Vielleicht hatten sie wirklich schwere Zeiten hinter sich, aber das entschuldigte nicht, was Hamilton später Logans Familie angetan hatte. Wenn er genug Geld gehabt hatte, um sich in Kartenspiele mit hohen Einsätzen einzukaufen, hatte er auch genug Geld zu Verfügung gehabt, mit dem er seine Familie hätte versorgen können, ohne die Existenzgrundlage eines anderen Mannes zu stehlen.

Eva schwieg eine Weile und ließ den Blick über den Bachlauf schweifen. »Er mag damals wie ein Mann ausgesehen haben, weil er groß war und schon Bartflaum hatte. Aber Tatsache ist, dass er erst dreizehn Jahre alt war, als er sich dazu entschieden hat, sich um unsere kleine Familie zu kümmern.«

Ihre Mundwinkel spannten sich an und Falten entstanden auf ihrer Stirn. Als sie fortfuhr, lag eine Heftigkeit in ihrer Stimme, die vorher nicht da gewesen war. »Er hätte das nicht tun müssen. Sich um uns kümmern, wissen Sie.« Sie warf Logan einen schnellen Seitenblick zu, bevor sie sich wieder abwandte. Die Verbindung zwischen ihnen dauerte nur einen Herzschlag, und doch versengte sie ihn in ihrer Leidenschaft. »Er hätte sich auf einer Farm anstellen lassen und dort einen guten Lohn bekommen können. Er hätte ein Zuhause haben können und Sicherheit. Aber er hat geschworen, uns zusammenzuhalten und genau das hat er auch getan.« Ihre Stimme wurde wieder weicher. »Manchmal frage ich mich, was er wirklich dafür tun musste, um uns zu ernähren, ob er vielleicht schlecht behandelt oder ausgebeutet wurde. Aber er hat sich nie beschwert. Er hat einfach getan, was getan werden musste. Hat uns zusammen und am Leben gehalten.«

Logan wusste ganz genau, was Hamilton getan hatte. Er war zu einem Betrüger und zu einem Dieb geworden.

Da zupfte ein unangenehmes Gefühl an Logans Gewissen. Was war denn aus ihm geworden? Was hatte er getan, um den rechtmäßigen Besitz seiner Familie wieder zurückzubekommen? Viele Menschen sahen Spieler nicht anders an als Diebe. War er nicht genauso geworden wie der Mann, der den ganzen Schaden angerichtet hatte?

Wütend biss er die Zähne zusammen. Das war etwas vollkommen anderes, denn er war vollkommen anders. Er hatte niemals betrogen und niemals einen Gewinn von Männern genommen, die sich einen Verlust nicht leisten konnten. Jedenfalls nicht, dass er wüsste. Wieder zog sich sein Herz zusammen. Er mochte Gesichter lesen können, Gedanken aber nicht. Im Endeffekt war es nicht seine Schuld, wenn Leute mehr setzten, als sie sich leisten konnten.

Eine bleierne Schwere senkte sich über ihn. Zacharias Hamilton hatte wahrscheinlich genauso argumentiert, als er sich das Fowler-Land unter den Nagel gerissen hatte.

Er wollte sich nicht in seinem Feind widerspiegeln. Oder sich den kaltherzigen Mann, der das Leben seines Vaters gestohlen hatte, als einen Not leidenden jungen Mann vorstellen, der sich nur um das Wohl seiner Familie gesorgt hatte. Mitgefühl hatte er nicht für seinen Erzfeind empfinden wollen − sein Plan war gewesen, ihn besser kennenzulernen.

»Hört sich an, als wäre Ihr Bruder ein guter Mann.« Logan zwang die Worte über seine Lippen, obwohl sie ihm fast im Halse stecken blieben. Er musste Evas Vertrauen gewinnen. Nur darum ging es doch.

»Das ist er«, sagte sie mit unerschütterlicher Überzeugung. Diese arme, verblendete Frau.

»Und Seth?« Logan wechselte das Thema, da er Angst hatte, sich verdächtig zu machen, wenn er weiter nach Zacharias fragte.

Eva lehnte sich leicht zurück. »Seth hat eine schwache Lunge. Asthma, sagt der Arzt. Was bedeutete, dass er bei mir bleiben musste, als wir noch klein waren und sich um mich gekümmert hat.« Sie lachte leise. »Der Arme. Genau das wünscht sich doch jeder Junge – mit der kleinen, quengeligen Schwester daheim bleiben zu müssen und auf sie Acht zu geben.«

Logan schnaubte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie jemals quengelig waren.«

Das Lächeln, welches er schon richtig vermisst hatte, erblühte von Neuem auf ihrem Gesicht. »Ich hatte meine Momente. Ich kann ein regelrechter Quälgeist sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe.«

»Das glaube ich sofort.« Er rieb sich mit der Hand über den Unterkiefer. »Ich kann mich noch gut an den Schlag erinnern, den Sie mir verpasst haben.«

»Wenn wir ehrlich sind, haben Sie doch angefangen.« Sie stupste ihn mit der Schuler an und ihre Augen funkelten.

Wer hätte gedacht, dass es einen Mann so glücklich machen konnte, eine Frau zum Lächeln zu bringen?

»Seth ist mein bester Freund«, sagte Eva jetzt mit ernstem Blick. »Er ist der klügste Mensch, den ich kenne. Verbringt die ganze Zeit mit Lesen und vollbringt wahre Wunder mit unseren Finanzen. Zach war unser Versorger, aber Seth hat dafür gesorgt, dass wir von dem leben konnten, was Zach nach Hause gebracht hat.«

Wie falsch hatte er damit gelegen, dass Evas fröhliche Natur einem unbefangenen Leben entsprang. Sie hatte gelitten, vielleicht sogar mehr als er selbst. Sie hatte ihre Eltern verloren und in Armut gelebt. Trotzdem hatte die Dunkelheit der Not keinen Schatten auf ihre Seele geworfen. Diese strahlte immer noch mit einer Brillanz, die ihm den Atem raubte.

»Jahre haben wir gebraucht, um herauszufinden, wie wir Seths Leiden in den Griff bekommen. Jedes Mal, wenn Zach es geschafft hatte, ein paar Münzen extra zu verdienen, hat er Seth zu einem Arzt geschleppt. Er hat alles ausprobiert, was man ihm dort geraten hat. Räucherstäbchen, Asthmazigaretten und alle Mittelchen, die die Apotheke zu bieten hatte, aber nichts hat geholfen. Schließlich hat Zach das alles für Quacksalberei erklärt und Seth dazu gebracht, all seine täglichen Aktivitäten aufzuschreiben – was er aß, wohin er ging, was er tat. Und vor allem, wann er seine Anfälle hatte. Irgendwann haben sich dann Muster ergeben. Das war eine brillante Idee, und irgendwo auch sehr wissenschaftlich. Es hat Jahre gedauert und ich glaube, Seth führt sein Buch immer noch, aber irgendwann hat sich herausgestellt, dass Staub, Rauch und Katzen seinen Gesundheitszustand verschlechtern. Kaffeetrinken, leichte Bewegung und Fischessen verhindern Anfälle.«

Logan kämpfte gegen ein Kopfschütteln an. Wieder einmal war Hamilton der Held. Der Beschützer der Kranken und Schwachen. Der Recke in ihrer Geschichte wollte nicht recht zu dem Bösewicht in seiner eigenen passen. Hamilton verdiente Evas Loyalität nicht, diese Verehrung. Er war doch ein Dieb. Und ein Mörder.

Eva zuckte die Schultern und hatte dank seines Pokertrainings keine Ahnung von Logans Gedanken. »Ich weiß zwar nicht, wie die Ernährung die Lunge beeinflussen kann«, sagte sie, »aber ich merke, dass es so ist. Seth geht heute jeden Tag angeln und er hat keine Anfälle mehr, es sei denn, er überanstrengt sich. Und wir haben ein System. Gleich am Morgen geht er in den Garten und arbeitet. Wenn der Wind noch nicht auffrischt, kommt er sehr gut zurecht. Ich übernehme dann später, wenn er merkt, dass es anstrengend für seine Lunge wird. Die meiste Zeit des Tages verbringt er im Haus, wo er seine Umgebung kontrollieren kann, dann geht er nachmittags an den Fluss, um sein Abendessen zu fangen.«

Endlich etwas, das Logan nutzen konnte. Er speicherte die Information in seinem Kopf ab. Es war immer gut zu wissen, wann die Leute sich wo aufhielten. Dann war es leichter, sich genauer umzuschauen, ohne erwischt zu werden.

»Ich verdanke meinen Brüdern mein Leben«, erklärte Eva und wandte sich so weit um, dass sie Logan fest in die Augen schauen konnte. »Vor allem Zach. Er hat seine Zukunft geopfert, um meine zu sichern. Es gibt nichts, was ich nicht für ihn tun würde.«

Logan nickte freundlich, auch wenn ihm die Warnung, die in ihren Worten mitschwang, in den Ohren klingelte. Ihre Loyalität lag ganz klar bei ihren Brüdern. Und auch wenn Logan es hasste, musste er zugeben, dass Zach bei seiner Schwester alles richtig gemacht hatte. Obwohl sie nicht einmal wirklich mit ihm verwandt war, wenn man den Gerüchten in der Stadt Glauben schenken konnte.

Eva auf seine Seite zu ziehen, würde ein schwerer Kampf werden, das war ihm nun klar. Hamiltons Perfidität ans Licht zu bringen, würde nicht ausreichen. Er musste seine Chance nutzen. Er würde weiter hier sitzen und ihren Lobhudeleien auf ihren Bruder lauschen, wenn sich ihm auch der Magen dabei umdrehte. Eva war ein zu großer Pluspunkt in seinem Spiel und er durfte es sich mit ihr nicht verscherzen.