Über das Buch:
Es passiert nicht alle Tage, dass sich ein Ex-Straftäter und eine Polizistin ineinander verlieben. Dennoch geschieht genau das, als Lexie Graham und Adam Stone sich dank der Einmischung des beliebten Tacoverkäufers von Hope Harbor näherkommen. Dabei hat Lexie mit der Erziehung ihres Sohnes und einer Serie von Straftaten in Hope Harbor eigentlich alle Hände voll zu tun. Und Adam steht der Sinn gerade überhaupt nicht danach, eine Frau kennenzulernen – schon gar keine Polizistin.

Doch die Funken beginnen rasch zu sprühen, als Lexie Adam bittet, einem Jungen zu helfen, der eine Karriere als Kleinkrimineller einzuschlagen droht …

Über die Autorin:
Irene Hannon studierte Psychologie und Journalistik. Sie kündigte ihren Job bei einem Weltunternehmen, um sich dem Schreiben zu widmen. In ihrer Freizeit spielt sie in Gemeindemusicals mit und unternimmt Reisen. Die Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann in Missouri.

Kapitel 7

11:45 Uhr. Und immer noch kein Anruf von Stone.

Lexie nahm ihr Handy und las ihre Nachrichten, um sicherzugehen, dass sie seinen Anruf nicht verpasst hatte.

Nichts.

Seufzend steckte sie das Handy wieder ein. Sie hielt sich die Hand als Schild gegen die Sonne an die Stirn und schaute von der Bank im Hafen aus zu, wie Matt versuchte, zwei scheue Möwen so dicht an sich heranzulocken, dass sie ihm das Brot aus der Hand fraßen.

Seine Bemühungen schienen genauso erfolglos zu sein wie ihre Bemühungen, Stone zu überreden, eine Beziehung zu einem jugendlichen Straftäter aufzubauen.

»Guten Morgen, Lexie.«

Sie fuhr herum. Charley hob zur Begrüßung eine Hand und kam auf sie zu. Er trug wie immer eine Jeans und hatte seine

Baseballkappe auf dem Kopf.

»Guten Morgen. Bitte sag, dass du deinen Stand aufmachst. Matt und ich haben uns auf Fisch-Tacos zum Mittagessen gefreut.«

»Das ist mein Plan. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich vorher ein paar Minuten zu dir setze?«

»Natürlich nicht.« Sie rutschte zur Seite, um dem großen, schlanken Mann, der eine Institution in der Stadt war, solange sie zurückdenken konnte, Platz zu machen. »Wie geht es dir?«

»Ich kann mich nicht beklagen.«

Das war seine Standardantwort. Charley nahm das Leben, wie es kam, machte aus allem das Beste und behielt immer die Ruhe.

»Du solltest einen Kurs anbieten, wie man inneren Frieden findet. Damit würdest du viel Geld verdienen.«

»Geld wird überbewertet. Und innerer Frieden ist kein Geheimnis.« Die Mittagssonne beschien die Falten in seinem wettergegerbten Gesicht, während er seinen Blick langsam über den ruhigen Hafen wandern ließ. »Man muss sich nur die richtigen Prioritäten setzen.«

Das war leichter gesagt als getan. Aber ihr stand der Sinn heute Morgen nicht nach einer philosophischen Diskussion.

»Woran arbeitest du gerade in deinem Studio?« Manchmal war es kaum zu glauben, dass der bescheidene, unscheinbare TacoKoch ein angesehener Künstler war, dessen Bilder landesweit zu hohen Preisen verkauft wurden.

»Ein Landschaftsbild. Es entwickelt sich allmählich. Aber ich hatte plötzlich den Wunsch zu kochen. Meine Großmutter hat immer gesagt: Hör auf deine innere Stimme. Sie wird dich nicht in die Irre führen. Also bin ich hier.« Er deutete auf Matt. »Der Kleine wächst schnell.«

»Das kannst du laut sagen.«

Sie schaute ihren Sohn an, der bei seinem Versuch, sich mit einem Seemöwenpaar anzufreunden, nicht lockerließ und erstaunliche Geduld zeigte. Vielleicht die Folge von Stones Rat, wie er sich gegenüber Clyde verhalten sollte?

Sehr gut möglich.

Matt schien von dem Mann, der gestern Abend mit ihnen gegessen hatte, begeistert zu sein. Trotz Stones unerfreulicher Familiensituation, die er gestern angedeutet hatte und in der wahrscheinlich ein guter Vater gefehlt hatte, war es ihm gelungen, eine Beziehung zu ihrem Sohn aufzubauen und …

»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, einen Jungen allein großzuziehen. Es ist immer besser, einen Vater im Haus zu haben.«

Sie blinzelte.

Seltsam, dass Charley dieses Thema ansprach, während sie noch Stones Bild vor Augen hatte.

»Meine Mutter ist mir dabei eine große Hilfe.«

»Das bezweifle ich nicht. Annette ist eine wunderbare Frau. Trotzdem … ist es nicht das Gleiche, wie einen Vater im Haus zu haben.«

Wenn diese Bemerkung von irgendjemand anderem gekommen wäre, würde sie sofort in die Defensive gehen. Aber irgendwie fühlte sie sich von Charleys freundlicher, mitfühlender Art nicht in die Enge getrieben.

»Es ist nun einmal so, wie es ist.«

»Die Dinge können sich ja auch ändern.«

»Hoffentlich nicht. Veränderungen bringen nur alles durcheinander. Ich bin mit der jetzigen Situation ganz zufrieden.«

»Nicht jede Veränderung ist schlecht. Einige Veränderungen tun gut. Aber wir erkennen Möglichkeiten erst, wenn wir für sie offen sind. Sie können oft auf unerwartete Weise kommen. Wie geht es Clyde?«

Sie brauchte einen Moment, um seinem abrupten Themenwechsel zu folgen.

»Gut, soweit ich weiß.« Sie legte den Kopf schief. »Woher weißt du, was mit ihm los ist?«

Er lächelte sie an, dass sie seine strahlend weißen Zähne sehen konnte. »In einer so kleinen Stadt gibt es nicht viele Geheimnisse.« Ein plötzliches Flügelschlagen erregte seine Aufmerksamkeit. Er beugte sich vor und schaute um sie herum. »Floyd und Gladys, das ist Matt. Er will euer Freund sein und tut euch nichts.«

Lexie verkniff sich ein Lächeln und betrachtete das Möwenpaar. Es war typisch Charley, dass er jedes Geschöpf in Hope Harbor mit Namen kannte, egal ob Mensch oder Tier. Natürlich interessierte die Möwen absolut nicht, was er …

Die Vögel legten die Flügel an, hüpften näher auf Matt zu und fraßen ihm die Brotstücke aus der Hand. Ihr Sohn war begeistert.

»Wie hast du sie dazu gebracht, das zu machen?« Lexie starrte die Möwen an.

»Wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt und beruhigende Worte zu ihnen sagt, kann das oft eine erstaunliche Wirkung auf das Verhalten von anderen haben. Jetzt erzähl mir von dem Vandalismus. Du hast den Fall gelöst?«

»Ähm … ich glaube schon. Wenigstens zum Teil.« Sie beobachtete immer noch die Vögel, die plötzlich ihre Scheu abgelegt hatten.

Sonderbar.

»Es ist wirklich schade, wenn ein junger Mensch einen falschen Weg einschlägt.«

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Charley. »Ich habe kein Alter erwähnt.«

»Stecken hinter Vandalismus nicht oft Jugendliche, die zu Hause Probleme haben?«

»Ja.«

»Dann liegt diese Vermutung doch nahe. Ich nehme an, Adam könnte unterstreichen, dass so etwas nicht gut endet.«

Dieses Gespräch wurde immer skurriler.

»Du meinst Stone?«

»Adam Stone, ja.«

»Du bist der Einzige, den ich kenne, der ihn mit seinem Vornamen anspricht.«

»Stone passt nicht zu ihm. Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Dieser Name ist zu hart. Zu gefühllos. Zu unnahbar. Er passt nicht zu einem Mann, dessen harte Kanten abgeschliffen wurden, und er verstärkt ein falsches Bild.«

»Findest du nicht, dass du einem Namen ein bisschen zu viel Bedeutung beimisst?«

»Findest du? Soweit ich mich erinnere, hat dir dein Spitzname als Kind auch nicht gefallen. Wie lautete er noch einmal?«

»Metallmund.« Selbst nach fast zwanzig Jahren wand sie sich bei dieser Erinnerung. Diese Zahnspange war zwei schmerzhafte Jahre lang wie ein Fluch gewesen.

»Ah, ja. Ich erinnere mich. Du hast eine tapfere Miene aufgesetzt und versucht, darüber zu lachen, wenn du und deine Freunde an meinen Taco-Stand gekommen seid, aber deine Augen verrieten, dass dir dieser Name wehtat. Ein Name ist etwas Mächtiges. Er hat die Macht, einen Menschen zu formen und zu verändern.«

»Das könnte stimmen.« Dieser Spitzname hatte trotz ihrer Beliebtheit und ihres gesunden Selbstvertrauens eindeutig ihrem Selbstbild geschadet. »Hat er dich gebeten, Adam zu ihm zu sagen?«

»Nein. Aber ein verletzter Mensch kann nicht immer um die Dinge bitten, die er braucht.«

Während sie über diese Worte nachdachte, vibrierte plötzlich ihr Handy. Sie holte es aus ihrer Schultertasche und warf einen Blick aufs Display.

Stone.

Es war knapp, aber er hielt sein Versprechen und rief sie am Vormittag an. Gerade noch.

»Dieser Anruf ist wichtig. Ich muss drangehen.«

»Und ich muss den Stand aufmachen. Eure Tacos sind bald fertig.«

»Drei Portionen bitte. Ich nehme meiner Mutter eine mit.«

»Wird gemacht.« Charley stand auf, wechselte ein paar Worte mit Matt und schlenderte zu seinem Stand.

Lexie hielt sich das Telefon ans Ohr. »Guten Morgen.«

»Zwei Minuten vor zwölf.« Seine wohlklingende Baritonstimme, die jetzt an ihr Ohr drang, weckte ein völlig anderes Bild als das der Hells Angels, das er der Welt zeigte. Zu dieser tiefen, einfühlsamen Stimme passte der Name Stone wirklich nicht. »Entschuldigung, dass ich erst so spät anrufe, aber die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen.«

»Das hatte ich mir schon gedacht.« Ihre Finger verkrampften sich um das Handy und sie hatte Mühe, sich zu beherrschen und ihn nicht unter Druck zu setzen. Wenn Stone – Adam – beschloss, dieses Projekt zu übernehmen, wollte sie, dass er freiwillig mitmachte, und nicht, weil er sich dazu gezwungen fühlte.

»Solange ich aussteigen kann, wenn es nicht gut läuft, will ich es versuchen.«

Gott sei Dank!

»Das ist eine gute Nachricht.«

»Ich hoffe, das sehen Sie auch später noch so.«

»Ich denke schon. Wie geht es Clyde heute Morgen?«

»Er benimmt sich, als wäre nichts gewesen.«

»Es freut mich, das zu hören. Matt hat die Zeit mit ihm gestern genossen. Er hat nicht aufgehört, davon zu erzählen, wie …«

»Mama!«

»Einen Moment bitte.« Sie drehte sich zu ihrem Sohn herum. Er hatte die leere Brottüte in der Hand und stand neben den zwei Möwen. »Was ist?«

»Ist das Mr Stone?«

»Ja.«

»Kann ich mit ihm sprechen?«

Sie hielt sich das Telefon wieder ans Ohr. »Das jüngste Mitglied meiner Familie möchte mit Ihnen sprechen, falls Sie Zeit haben.«

»Klar.«

Sie gab Matt das Telefon.

»Hallo, Mr Stone. Wie geht es Clyde?« Er schüttelte die Tüte auf den Boden, während er Stone aufmerksam zuhörte, und schaute zu, wie die Möwen die Krümel aufpickten. »Ich vermisse ihn auch. Was macht er gerade? … Ja, ich mache auch einen Mittagsschlaf … Wir sind im Hafen bei Charley. Ich habe Floyd und Gladys gefüttert … Nein, sie sind Möwen … Mhm. Charley hat mir gesagt, wie sie heißen … Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er sie gefragt.«

Lexie stand auf und bedeutete ihm, ihr das Handy zurückzugeben.

»Mama will das Telefon wiederhaben. Sind Sie morgen im Gottesdienst? … Ja …« Er warf einen Blick auf sie. »Ich glaube nicht … Okay, das wäre cool. Hier ist Mama wieder.«

Sie nahm das Handy, während sie in Richtung Taco-Stand gingen und die Möwen ihnen watschelnd folgten.

»Nochmals danke, dass Sie sich auf die Sache mit Brian einlassen. Ich melde mich wieder bei Ihnen, sobald wir grünes Licht vom Sozialarbeiter haben.«

»Ich habe es nicht eilig.«

»Danke, dass Sie so viel Geduld mit Matt haben. Nicht jeder gibt sich mit Kindern ab.«

»Er ist ein großartiger Junge. Und für sein Alter sehr redegewandt.«

»Er kann sich gut ausdrücken. Das ist manchmal ein Segen. Und manchmal nicht so sehr.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Ein tiefes Schmunzeln kam aus dem Telefon. Und ein spürbarer Stromstoß.

Sie tastete nach der Kante der Bank und setzte sich wieder.

»Chief Graham? Sind Sie noch dran?«

»Ähm … ja.« Schalte deinen Verstand wieder ein, Lexie! »Hören Sie … da wir wegen dieser Sache mit Brian viel miteinander zu tun haben werden, könnten wir doch … ähm … mit diesen Formalitäten aufhören und uns duzen. Sagen Sie einfach Lexie zu mir.«

Jetzt folgte auf seiner Seite der Leitung ein langes Schweigen.

Sie wartete.

»Okay. Ich denke, das kann ich machen. Aber ich bin es nicht gewohnt, Polizisten zu duzen.«

»Die Dinge können sich ändern.«

»Bis vor zwei Jahren hat sich in meinem Leben sehr wenig zum Guten verändert.« Die Belustigung verschwand aus seiner Stimme.

»Es besteht kein Grund, warum sich der positive Trend der letzten zwei Jahre nicht fortsetzen sollte. Nicht alle Veränderungen sind schlecht.«

Als diese ermutigenden Worte aus ihrem Mund kamen, runzelte sie die Stirn. Hatte Charley vor wenigen Minuten nicht genau das Gleiche zu ihr gesagt?

»Das wäre schön. Dann warte ich, bis du dich bei mir meldest und mir sagst, wie die nächsten Schritte mit Brian aussehen. Ein schönes Wochenende!«

»Danke. Dir auch.«

Lexie beendete das Gespräch und atmete die frische, salzige Luft tief ein. Und wieder aus.

Ihre Fingerspitzen kribbelten immer noch.

Das war doch verrückt.

Sie hatte Stone – Adam – seit Monaten immer wieder in der Stadt gesehen. Kein einziges Mal hatte sie ihn mehr als eines flüchtigen Blickes gewürdigt. Kein einziges Mal hatte sie einen Gedanken an ihn verschwendet. Kein einziges Mal hatte sie ihn und sich in einem anderen Kontext als in den Rollen Polizeichefin und Ex-Sträfling gesehen.

Und jetzt musste sie ständig an diesen Mann denken.

Das war bizarr.

Sie steckte das Handy in die Tasche, lehnte sich auf der Bank zurück und schaute zu, wie ein Boot den geschützten Hafen verließ und aufs offene Meer hinausfuhr, wo unbekannte Gefahren lauerten.

Wie lautete dieser alte Spruch? Schiffe sind im Hafen sicher, aber dafür wurden sie nicht gebaut.

Früher hatte sie das geglaubt. Sie war für jedes Abenteuer zu haben gewesen.

Aber das war vorbei.

Jetzt war allein schon der Gedanke, ihre Sicherheit aufzugeben und einen neuen Weg einzuschlagen …

»Mama!« Matt rannte auf sie zu. »Charley macht unsere Tacos. Essen wir sie gleich hier?«

Das war die perfekte Ablenkung.

»Nein, wir nehmen sie mit nach Hause.« Sie stand auf und nahm ihn an der Hand.

»Mr Stone hat gesagt, dass er Clyde morgen mit zum Gottesdienst bringt und ich ihn danach streicheln darf.«

»Pastor Baker erlaubt beim Gottesdienst Hunde?«

»Nein«, lachte Matt und hüpfte neben ihr her. »Clyde muss im Auto warten. Hey, Mama?«

Sein fragender Tonfall verriet ihr, dass gleich eine unangenehme Frage auf sie zukam. »Was ist?«

»Warum kommst du nicht zum Gottesdienst, wenn Oma und ich gehen?«

Ein altes, unangenehmes Thema.

»Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich arbeite sonntagvormittags.«

»Und warum musst du jeden Sonntag arbeiten?«

Weil das ein guter Vorwand ist, um nicht in die Kirche zu gehen.

Das war keine akzeptable Antwort.

»Wir leben in einer Kleinstadt. Hier gibt es nicht viele Polizisten. Es muss immer einer arbeiten.«

»Und warum wechselt ihr euch nicht ab? In der Vorschule machen wir das jedenfalls.«

Ihr Sohn konnte sich nicht nur gut mit Worten ausdrücken, auch seine analytischen Fähigkeiten wurden mit jedem Tag besser. Bald würden er und ihre Mutter gemeinsam darauf hinarbeiten, dass sie wieder mit in den Gottesdienst ging.

»Dafür gibt es viele Gründe.«

»Welche denn?«

»Hier sind wir, Charley.« Sie beschleunigte ihre Schritte und zog Matt mit sich an den Taco-Stand. »Ist unser Essen schon fertig?«

»Ja.« Er steckte die eingewickelten Tacos in eine braune Tüte.

»Charley, wenn ich dir ein Bild von Floyd und Gladys male, hängst du es dann auch dort auf?« Matt deutete auf die Rückwand, die mit Kinderzeichnungen bedeckt war.

»Es wäre mir eine Ehre.« Charley zwinkerte ihrem Sohn zu, während Lexie das Geld für die Tacos abzählte.

»Oh nein, ich habe nicht genug Bargeld dabei. Ich laufe schnell zum Geldautomaten.«

»Nicht nötig. Du kannst den Rest das nächste Mal bezahlen.«

»Es wäre wirklich hilfreich, wenn du Kreditkarten nehmen würdest.«

Er legte das Geld in eine Schachtel unter der Theke. »Ich mache es gern auf die altmodische Weise.«

»Hast du nicht gesagt, dass man für Veränderungen offen sein sollte?« Sie nahm ihre Tüte.

»Dabei ging es um konstruktive Veränderungen. Kreditkarten fallen nicht in diese Rubrik.« Mit einem Grinsen hob Charley zum Abschied die Hand und wandte sich an den nächsten Kunden in der Schlange, die sich gebildet hatte.

»Oma wird sich über die Tacos freuen, meinst du nicht auch?« Lexie nahm Matt wieder an die Hand und ging mit ihm zum Auto.

»Ja. Glaubst du, dass Mr Stone Tacos mag?«

»Adam war gestern Nachmittag hier und hat sich Tacos gekauft. Ich glaube, Sonntagstacos aus meiner bescheidenen Küche sind sein wöchentlicher Luxus.«

Während ihr Charleys Bemerkung, die er vor ein paar Tagen gemacht hatte, durch den Kopf ging, beschleunigte sie ihre Schritte. »Ich glaube schon.«

»Warum rufst du ihn dann nicht an und lädst ihn zum Mittagessen bei uns ein?«

»Heute nicht. Ich habe doch nur für uns drei Tacos gekauft.«

»Aber wir könnten sie doch mit ihm teilen.«

Ein weiteres Konzept, das er allmählich verstand und nachahmte.

»Heute nicht.«

»Und warum nicht?«

»Vielleicht hat Mr Stone ja gar keine Zeit.«

»Aber wir könnten ihn doch fragen, oder?«

Sie betätigte die Fernbedienung ihres Wagens. »Du siehst

Clyde doch morgen nach dem Gottesdienst.«

»Aber das Essen gestern Abend mit Mr Stone hat so viel Spaß gemacht. Das war fast so, als hätte ich einen Papa.« Matt seufzte wehmütig. »Die anderen Kinder im Kindergottesdienst haben alle einen Papa. Ich hätte auch gern einen.«

»Es ist immer besser, einen Vater im Haus zu haben.«

Als ihr ein weiterer Ausspruch aus Charleys Mund durch den Kopf ging, atmete sie tief aus. Der Mann hatte recht. Wenn sie nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland in San Francisco geblieben wäre, hätte sie vielleicht schon jemanden kennengelernt, der die Traurigkeit aus ihrem Herzen vertreiben könnte. Dort gab es sicher viel mehr Männer als in Hope Harbor, die dafür infrage kamen.

Aber sie hatte ihre Entscheidung, nach Hause zurückzukommen, nie bereut, auch wenn die überschaubare Menge an unverheirateten Männern ihre Chancen in puncto Liebe sehr einschränkte.

Der einzige Nachteil war der, dass ihr Sohn ohne Vater aufwachsen würde.

»Mama?«

»Ja?« Sie zog die Autotür auf, legte die Tüte mit den Tacos auf den Beifahrersitz und half ihm in den Kindersitz.

»Hat Mr Stone Kinder?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Warum denn nicht?«

»Weil er nicht verheiratet ist.« Das hinderte viele Menschen heutzutage nicht daran, eine Familie zu haben, aber wenigstens war Matt noch zu klein, um diese Antwort infrage zu stellen.

»Du bist auch nicht verheiratet.«

»Nicht mehr. Aber ich war verheiratet.« Sie zog seinen Gurt fest.

»Wäre mein Papa im Himmel sauer, wenn du wieder heiraten würdest?«

Ein melancholisches Lächeln spielte um ihre Lippen. Joe mit seiner »Genieße dein Leben und koste jeden Tag aus«-Einstellung sauer? Auf keinen Fall. Er hatte sie zu sehr geliebt, als dass er wollen würde, dass sie den Rest ihres Lebens allein bliebe. Egoismus war ihm völlig fremd gewesen.

Das hatte er an dem Tag, an dem er gestorben war, unter Beweis gestellt.

Sie biss die Zähne zusammen.

»Nein. Er wäre nicht sauer.«

»Bist du sicher?« Er schaute sie mit gerunzelter Stirn an. »Du siehst plötzlich sehr traurig aus.«

Sie kontrollierte noch einmal seinen Gurt und zwang sich zu einer fröhlichen Miene. »Warum sollte ich traurig sein? Ich bin doch mit meinem besten Freund zusammen.« Sie drückte ihm einen Kuss auf den Kopf und richtete sich auf. »Jetzt müssen wir aber heimfahren und die Tacos essen, bevor sie kalt werden.«

Während der kurzen Autofahrt erwähnte er Adam und die Frage, ob sie wieder heiraten könnte, nicht mehr. Danke, Herr! Stattdessen erzählte er von dem Spaß, den er gestern mit Clyde gehabt hatte, von seinen neuen Freunden, Floyd und Gladys, und von dem Bild, das er für Charleys Sammlung malen wollte.

Aber während sie das Auto durch die Kleinstadt steuerte und seinem begeisterten Redeschwall nur mit halbem Ohr zuhörte, kreisten ihre Gedanken um einen großen, schlanken Ex-Sträfling, der seit einiger Zeit in Hope Harbor wohnte.

Das war nicht gut. Selbst in einer Kleinstadt ließ sich eine Polizeichefin nicht mit Gesetzesbrechern ein. So etwas gehörte sich einfach nicht.

Sie musste vernünftig an die Sache herangehen. Einen professionellen Abstand wahren und warten, bis das Kribbeln nachließ. Das würde sicher bald geschehen. Ein Mann mit Kopftuch und langen Haaren war nicht ihr Typ. Bis vor fünf Tagen hatte sie nicht das geringste Interesse an ihm gehabt. Das war nur eine verrückte geistige Verwirrung, die bald wieder vergehen würde.

Jedenfalls hofft sie das.

Denn sie hatte schon genug Herausforderungen und brauchte nicht auch noch die Komplikationen, die ein Mann wie Adam Stone für ihr Leben bedeuten würde.

* * *

»Adam!«

Adam stand vor dem Schaufenster des Friseursalons. Er hatte eine Tüte mit Einkäufen aus dem Secondhandshop in Coos Bay in der Hand. Charley kam auf dem Gehweg auf ihn zu.

»Was machst du denn hier?« Adam fischte die Autoschlüssel aus seiner Tasche. »An einem so schönen Samstagnachmittag sind in Hope Harbor bestimmt viele enttäuscht, weil sie keinen Taco bekommen.«

»Ich hatte meinen Stand eine Weile offen, aber ich musste heute noch etwas anderes erledigen. Und du warst einkaufen?«

»Ja. Ich habe mich im letzten Augenblick entschieden, doch zu BJs Hochzeit zu gehen, und will dort nicht in Jeans erscheinen. Luis hat mir von einem Secondhandshop hier erzählt.«

»Wie es aussieht, warst du erfolgreich.« Charley warf einen vielsagenden Blick auf die ausgebeulte Tüte in seiner Hand.

»Ich brauchte eine komplette Ausstattung, da ich keine Klamotten für einen solchen Anlass hatte. Du gehst auch zu der Hochzeit, oder?«

»Diese Hochzeit lasse ich mir auf keinen Fall entgehen. BJ ist eine wunderbare Frau und Eric kannte ich schon, als er noch ein Kind war. Matt erinnert mich irgendwie an Eric, als er so alt war. Du bist Matt schon begegnet, nicht wahr?«

»Ja. Er und seine Großmutter haben gestern auf Clyde aufgepasst, während ich arbeiten war. Der Tierarzt hatte angeordnet, dass er 24 Stunden beobachtet werden soll.«

»Das haben die beiden sicher gern gemacht. Wo ist Clyde heute?«

»Er wartet im Auto auf mich.« Er deutete ein paar Häuser weiter die Straße hinauf.

»Ah. Dann gehst du also nicht hier hinein?« Er deutete auf den Friseursalon.

Adam zuckte gleichgültig die Achseln. »Das hatte ich eigentlich nicht vor.«

»Nein? Ich dachte, du überlegst dir, für die Hochzeit deinen Stil zu verändern, da du dir diese neuen Sachen gekauft hast.«

»Neue Kleidung und ein neuer Haarschnitt werden nichts daran ändern, wer ich bin.«

»Das stimmt. Aber sie könnten vielleicht besser widerspiegeln, wer du bist.«

Er schaute den Mann mit zusammengekniffenen Augen an. »Wie meinst du das?«

»Nimm zum Beispiel einen Anwalt. Wenn ein Anwalt neue Mandanten oder einen Richter beeindrucken will, ist er auf jeden Fall ordentlich frisiert und gut gekleidet. Er will Selbstachtung und Selbstvertrauen ausstrahlen. Denn wie will er erwarten, dass andere ihm vertrauen, wenn er selbst nicht an sich glaubt?«

Das klang logisch. Er hatte vielleicht nicht die beste Kindheit gehabt, aber er verstand, dass der äußere Eindruck viel ausmachte. Er verstand, warum die Leute in der Stadt meinten, er wäre ein Biker-Typ. Er wusste auch, was das implizierte.

Bis vor ein paar Tagen hatte es ihn jedoch nicht im Geringsten interessiert, was die Leute von ihm hielten.

Dann hatte er Lexie kennengelernt. Und alles hatte sich verändert. Es war gewesen, als hätte jemand ein Fenster aufgemacht und frischen Wind in einen lange verschlossenen Raum mit abgestandener Luft gelassen.

Was das für seine Zukunft bedeutete, konnte er jedoch beim besten Willen nicht sagen.

»Willst du damit sagen, dass ich zum Friseur muss?« Er bemühte sich um einen lockeren, scherzhaften Tonfall.

»Nein.« In Charleys Augenwinkeln bildeten sich Falten, als er jetzt schmunzelte. »Du siehst ja an meinem Pferdeschwanz, dass ich nicht oft zum Friseur gehe. Es kommt darauf an, dass das Bild, das du der Welt zeigst, das widerspiegelt, was hier drinnen ist.« Er deutete auf die linke Seite seines Brustkorbs. »Wenn das nicht zusammenpasst, sind andere verwirrt. Ich will damit nicht sagen, dass andere es nicht trotzdem schaffen, hinter das äußere Bild zu blicken.«

»Dir gefällt mein äußeres Bild nicht?« Adam fuhr mit der Hand an sich herunter und zwang sich zu einem Lächeln.

»Gefällt es dir denn?«

»So sehe ich seit fast zwanzig Jahren aus. Ich habe mich an mein Aussehen gewöhnt.«

»Gewohnheiten sind bequem und manchmal schwer zu überwinden. Aber du hast es geschafft, dir ein neues Leben aufzubauen. Ich glaube nicht, dass der Adam Stone, der vor anderthalb Jahren nach Hope Harbor gezogen ist, derselbe Mann ist, der wegen Raubüberfällen ins Gefängnis gekommen ist. Oder irre ich mich?«

»Nein, du irrst dich nicht.«

»Aber äußerlich sieht dieser Mann immer noch genauso aus.« Charley ließ ein paar Sekunden verstreichen und betrachtete den Himmel. »Einen schöneren Tag kann man sich an der Küste von Oregon nicht wünschen. Was hast du heute Nachmittag vor?«

»Ich wollte mir die Pflanzkästen im Hafen ansehen, um mir ein Bild davon zu machen, wie viel daran repariert werden muss.«

»Es ist nett von dir, dass du diese Arbeit übernimmst. Komm nach dem Gottesdienst zu einem Taco vorbei, falls ich den Stand offen habe. Und genieße den Rest des Tages.«

Er hob zum Abschied die Hand und schlenderte davon.

Adam schaute ihm einige Sekunden lang nach. Dann warf er einen letzten Blick auf den Friseursalon und ging schließlich zu seinem Wagen. Wenn er nicht zufällig an einem Friseursalon vorbeigekommen wäre, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass er sich die Haare schneiden lassen könnte.

Aber das, was Charley gesagt hatte, war nicht von der Hand zu weisen. Lange Haare und ein Kopftuch passten nicht ganz zu Anzug und Krawatte. Oder zu seinem Leben nach dem Gefängnis. Nach seinen zig amateurhaften Versuchen, sich selbst die Haare zu schneiden, sahen sie ziemlich wüst aus.

Aber heute hatte er andere Pläne.

Als er seine Einkäufe im Kofferraum verstaut hatte, setzte er sich hinters Steuer und streichelte Clyde, der sich neben ihm auf dem Beifahrersitz zusammengerollt hatte.

»Hey, Clyde. Hast du mich vermisst?«

Der Hund bellte kurz und schleckte dann seine Finger ab.

»Das verstehe ich als Ja.« Er ließ den Motor an und fädelte sich in den Verkehr ein.

Clyde rutschte näher und schaute ihn mit strahlenden, glücklichen Augen an. Er beurteilte ihn nicht nach seinem Aussehen oder seiner Vergangenheit, sondern nach seinem jetzigen Verhalten. So wie er heute war.

Es war wirklich schade, dass Menschen nicht genauso offen waren wie Hunde.

Natürlich war es nicht hilfreich, dass er mit seinem Aussehen bestimmte Klischees bediente. Wenn er glaubte, dass er ein anderer Mensch war als der Mann, der ins Gefängnis gekommen war, wie Charley angedeutet hatte, sollte er auch wie ein anderer Mensch aussehen, oder?

Das war definitiv eine Frage, über die er während der Rückfahrt nach Hope Harbor nachdenken sollte. Und auch an den kommenden Tagen.