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Inhalt

Vorwort: Schatten und Licht

Ich will weg ...

Der nächste Tag

Der perfekte Welpe

Erste Begegnung

Das große Reinemachen

Alles pflanzlich

Peety gibt den Ton an

Wasser!

Veränderungen

Sechs Monate später

Moppel

Golden Gate Bridge

Ran an den Herd

Meilensteine

Sarahs Lächeln

Neue Kontakte

Zu Diensten

Melissa

Unterwegs

Ab nach Hause

Eine neue Hoffnung

Nachwort

Danksagung

Zwei Jahre später ...

Für Peety

Vorwort

Schatten und Licht

Wenn man spät nachts allein in einer Stadt spazieren geht, haben die Straßenlaternen und blinkenden Neonschilder nicht gerade eine beruhigende Wirkung. Ihr Licht macht die dunklen Flecken nur dunkler und erzeugt tiefe Schatten, in denen sich wer weiß was verstecken könnte.

Ich glaube, es gibt zwi Möglichkeiten, um der Dunkelheit entgegenzuwirken: Entweder man trägt ein großes Licht mit sich, wo immer man auch hingeht – oder man ist nicht allein unterwegs.

Ich bin nie allein irgendwo hingegangen.

Peety war immer bei mir.

Dieser verlotterte alte Hund hatte mich auf eine Reise mitgenommen, die viel weiter reichte als all die Ausflüge und Abenteuer, die ich in den letzten fünf Jahren mit ihm unternommen hatte. Ich war mir voll und ganz bewusst, dass ich nur dank Peety meinen neuen Weg ging – den Weg, auf dem ich hoffentlich den Rest meines Lebens bleiben würde. Und genauso hatte ich Peety dabei geholfen, einen neuen Weg einzuschlagen. Umso schwerer fiel es mir in dieser Nacht, ihn bei unserem Spaziergang zu beobachten. Obwohl sein Schwanz wedelte und er den gleichen hellen Blick in den Augen hatte wie sonst auch, erkannte ich, dass er etwas langsamer ging als üblich. Ich dachte nicht, dass es etwas Ernstes war. Für jeden anderen sah er wahrscheinlich aus wie ein ganz normaler, gesunder Hund. Aber von dem Moment an, als wir unser Haus verließen, konnte ich erkennen, dass es ihm schwerfiel, unser gewohntes Tempo beizubehalten.

Ich überschlug, dass wir fast zweitausend Spaziergänge zusammen gemacht hatten, seit alles begonnen hatte. Wir waren jeden Morgen, jeden Abend und viele Male dazwischen für mindestens dreißig Minuten draußen unterwegs gewesen. Jeden Tag. Das sind eine Menge Pfotenabdrücke auf dem Bürgersteig.

Mir war klar, dass die durchschnittliche Lebensdauer eines mittelgroßen Hundes statistisch gesehen nur zehn bis dreizehn Jahre beträgt. Ich wusste auch, wie alt Peety ungefähr war und dass er sich altersmäßig irgendwo zwischen diesen beiden Zahlen bewegte. Trotzdem konnte ich nicht glauben, dass es Peetys Alter war, das seine Geschwindigkeit drosselte. Er war zu fröhlich, zu aufgeregt, zu liebevoll und hatte viel zu viel Leben in sich, als dass ich mir hätte vorstellen können, dass er sich bereits seinem Lebensabend näherte. Nein, wir waren beide zu glücklich für solche unsinnigen Gedanken.

»Dein Hund ist so süß«, sagte eine junge Frau auf der Straße.

»Danke«, antwortete ich. Wir gingen weiter. Peety und ich waren diese Art von Aufmerksamkeit gewöhnt. Er war bezaubernd mit seinem schwarz-weiß gefleckten Fell und seiner kniehohen Statur. Er war ein Frauenmagnet, und alle wollten ihn streicheln.

Wir beschlossen, nach Osten zu gehen, weg von dem hell erleuchteten, touristischen Teil der Pike Street. Als wir die Second Avenue überquerten, trat ein ziemlich ungepflegt aussehender Mann aus der Dunkelheit auf uns zu.

In der Innenstadt von Seattle gibt es einige Bettler. Manche sind obdachlos, andere sind Kids im College-Alter auf der Suche nach Geld für Drogen. Die meisten sind harmlos. Dieser Typ war es nicht. Er war riesig und high, und ich spürte sofort, dass er auf mehr aus war als nur auf ein wenig Kleingeld.

»Hast du bisschen Geld?«, fragte er.

Peety blieb abrupt stehen, senkte seinen Kopf, starrte den Mann an und knurrte.

»Sorry, Mann«, sagte ich. »Ich hab nichts dabei. Komm schon, Junge.«

Ich zerrte an Peetys Leine, aber er rührte sich nicht. Er stand da wie erstarrt, die Haare an seinem Hals waren gesträubt. Sein Knurren wurde lauter.

»Scheiße, wird der Hund mir was tun?« Der Mann erhob seine Stimme und trat mit einem bedrohlichen Blick in seinen Augen auf mich zu, sodass auch ich gezwungen war, stehen zu bleiben. Peety und ich waren diese Route schon hundertmal ohne Zwischenfälle gegangen. Warum passierte das gerade jetzt? Instinktiv verkrampfte sich mein Körper, und der Griff meiner Hand um Peetys Leine wurde fester. Ich bereitete mich auf einen Kampf vor. Ich war stark, vielleicht stärker als je zuvor, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich unter normalen Bedingungen in einem Kampf behaupten könnte. Aber dieser Typ hatte was genommen, er war unberechenbar.

»Komm schon«, schrie er. »Gib mir ’n bisschen Geld!« Er streckte die Hand aus, um nach mir zu greifen, und Peety gab den bösartigsten Laut von sich, den ich je gehört hatte. Er sprang vom Bürgersteig – fast zwei Meter in die Höhe – und stürzte sich mit offenem Maul auf die Kehle des Mannes. Mit aller Kraft zog ich an seiner Leine und stoppte ihn nur wenige Zentimeter, bevor seine Zähne sich in das Fleisch des Typen bohren konnten. Dieser schwankte und viel fast um. Auf allen vieren robbte er davon, bevor er sich wieder in die Senkrechte aufrappelte und zurück in die Dunkelheit rannte.

Peety bellte laut, er wollte ihm nachlaufen und zog an seiner Leine. Ich starrte in die Dunkelheit und versuchte zu erkennen, ob der Mann noch da war. Würde er so dumm sein, zurückzukommen und sich Peetys Zorn zu stellen?

Aber es bleib ruhig. Als ich mir sicher war, dass der Spuk vorbei war, sah ich Peety an und lachte. Ich konnte nicht anders. Woher hatte Peety die Kraft und Furchtlosigkeit gefunden, so hoch zu springen, nur um mich zu beschützen? Er war durch die Luft geflogen wie eine Art Superhund! Das Einzige, was gefehlt hatte, waren ein rotes Cape und eine Superheldenbrille.

Als ich noch einmal in die Dunkelheit zurückblickte, spürte ich dann aber doch den Schock. Ich hatte Tränen in den Augen. Plötzlich erkannte ich, dass wir gerade nur sehr knapp davongekommen waren. Das Ganze war so plötzlich geschehen. Es hatte keine Warnung gegeben. Wer weiß, was dieser Mann mit mir hätte machen können? Was, wenn er ein Messer oder eine Waffe gehabt hätte? Ich atmete tief durch und war dankbar, dass es uns gut ging.

Ich verlagerte mein Gewicht auf mein Knie und streichelte Peetys Nacken. »Guter Junge, Peety. Guter Junge«, sagte ich. »Es ist alles okay. Jetzt ist alles okay.«

Als Peetys Haltung sich entspannte, stand ich wieder auf.

»Lass uns nach Hause gehen«, sagte ich zu ihm, und meine Stimme brach.

Ich schüttelte den Kopf und wischte mir mit meinem Ärmel über die Wange.

Ich war mir sicher, dass dieser Hund mir gerade das Leben gerettet hatte. Wirklich. Und das bedeutete, dass Peety mich jetzt in so vielerlei Hinsicht gerettet hatte, wie ein Mann gerettet werden kann.

Sonst waren die Leute immer von der Tatsache berührt, dass ich Peety aus dem Tierheim gerettet hatte. Das schien sie zu beeindrucken, so als ob dieser einfache Akt der Freundlichkeit irgendwie bedeutete, dass ich ein guter Mensch war. Was ich jedem von ihnen erklären wollte, war allerdings: »Nein, du hast das falsch verstanden. Dieser Hund hat mich gerettet.«

Ich schaute zu Peety, und als er seinen Kopf nach oben reckte und meinen Blick erwiderte, spürte ich, dass unsere Verbindung nicht tiefer sein könnte, was mich zum Lächeln brachte. Und Peety lächelte zurück.

Mann. Gibt es etwas Besseres als das?

Dieser Blick in Peetys Augen. Dieses Vertrauen. Dieser Beschützerinstinkt. Diese Bindung. Diese Liebe. Diese bedingungslose Liebe.

Es war dieser Blick, der für mich den großen Unterschied ausmachte. Der mich gerettet hat – und ich meine nicht vor einem wütenden Schnorrer.

Dieser Blick hat mich vor mir selbst gerettet.

Ich will weg ...

Reisen ist scheiße.

Flughäfen sind am schlimmsten.

Nein, vergessen Sie das. Am allerschlimmsten sind Flugzeuge.

Damals war einfach alles scheiße. Meine Arbeit. Meine Tage. Meine Nächte. Mein Leben. Ich war unglücklich.

Ich arbeitete in einem Job, der nicht gerade ganz oben auf der Liste mit Traumjobs steht, die man sich als Kind so vorstellt. Astronaut! Cowboy! Rockstar! Baseballspieler! Mitarbeiter im Außendienst für einen Hersteller von Haushaltsgeräten? Ähm, nicht wirklich. Dabei beschwere ich mich nicht mal. Ich war dankbar, dass ich überhaupt einen Job hatte.

Also zurück zum Flughafen: Jeder Tag, an dem ich zum Flughafen musste, war der schlimmste Tag meines Lebens. Und dieser Tag im Speziellen sollte schnell zum absolut allerschlimmsten dieser schlimmsten Tage werden.

Warum ist man, wenn man am Flughafen parkt, immer eine Million Meilen Fußmarsch von dort entfernt sind, wo man eigentlich hinmuss? Ich schnaufte und pustete schon, bevor ich den halben Weg zum Eingang zurückgelegt hatte, und als ich es endlich ins Terminal geschafft hatte, pulsierten meine Knie und Knöchel. Und das trotz der Tatsache, dass ich seit dem Aufstehen abwechselnd Tylenol und Advil eingeworfen hatte, um mich darauf vorzubereiten, dass ich mich an diesem Tag überhaupt zu Fuß vorwärtsbewegen musste.

Auf der Rolltreppe versuchte ein nerviges Kind (es gab immer ein nerviges Kind am Flughafen), sich an mir vorbeizudrängen, nur um festzustellen, dass es nicht genug Platz hatte. Bei dem Versuch, sich zwischen mir und der Edelstahlwand des beweglichen Geländers hindurchzudrücken, fiel es fast um, worauf seine Eltern schrien: »Tommy, hör auf! Du tust dir noch weh! Sag Entschuldigung zu dem Mann!« Und an mich gerichtet: »Meine Güte, es tut mir so leid …« Und das, während sie und alle um sie herum entsetzt auf den fetten Mann blickten, der fast die gesamte Breite der Rolltreppe einnahm.

Ja. Das war ich. Der fette Typ am Flughafen auf dem Rückweg von einer Geschäftsreise, der sein Hemd nass schwitzte und allen Reisenden um ihn herum Unbehagen bereitete.

An diesem Tag im Jahr 2010 wog ich irgendwas um die 160 Kilo. Das genaue Gewicht hing davon ab, ob ich mich vor oder nach einer meiner gigantischen Mahlzeiten auf die Waage stellte.

Ich bin einen Meter achtzig groß, und mein Taillenumfang betrug über 130 Zentimeter. Wenn Sie jetzt kein Bild vor Augen haben, stellen Sie sich Folgendes vor: Meine »Rettungsringe« waren eher so was wie tödliche Speckberge, die mich nach unten zogen – sie rieben sich an beiden Seiten des Metalldetektors, als ich mich durch die Sicherheitskontrolle quetschte.

2010 gab es in den USA an den meisten Flughäfen keine Bänke, und natürlich auch nicht an diesem. Für die meisten Menschen ist es kein Problem, sich die Schuhe im Stehen wieder anzuziehen. Aber ich konnte wegen meines Gewichts meine Füße nicht berühren, geschweige denn meine Schuhe binden, es sei denn, ich saß dabei. Also sammelte ich meine Sachen zusammen und lief in meinen Socken über den kalten Fliesenboden, bis ich unten in der Halle irgendwo eine Bank fand – und selbst dort brauchte es dann noch mal ein Maximum an Kraft und Willen, um mein Mittelteil so stark zu komprimieren, dass ich meine Schuhe wieder anziehen konnte. Allein diese Anstrengung ließ mich atemlos zurück, und ich musste mich danach gut zehn Minuten auf der Bank ausruhen.

Als ich wieder aufstand, strahlten der Schmerz und die Taubheit in meinen Füßen, Beinen und Knien bis in meinen Rücken aus. Ich sah mir meine Bordkarte an und schaute dann zu den Gate-Nummern hoch. Sofort wollte ich mich übergeben. Warum musste sich mein Gate immer am äußersten Ende des Terminals befinden?

Als ich es schließlich zum Gate geschafft hatte, war der gesamte Bereich überfüllt mit Passagieren, und es gab keinen Platz zum Sitzen. Ein weiterer voller Flug. Fliegen hatte heutzutage wirklich nichts mehr mit Luxus zu tun.

Selbst für dünne Menschen waren die Flugzeugsitze in den letzten Jahren unangenehm eng geworden. Für mich gab es keinen Sitz, in den ich gepasst hätte, ohne dass mein Fett auf beiden Seiten herausquoll. Wenn ich das Glück hatte, einen Fenster- oder Gangsitz zu ergattern, drückte ich zumindest nur gegen eine andere Person. (Allerdings war es auch nicht gerade schön, vom Getränkewagen angerempelt zu werden.) Um meinen ganzen Körper unterzubringen, brauchte ich ehrlich gesagt zwei Sitze, aber mein Arbeitgeber weigerte sich, das Doppelte zu zahlen, nur damit ich reisen konnte, und das Bundesgericht hatte entschieden, dass Fettleibigkeit keine »Behinderung« im Sinne des ADA, des Americans with Disabilities Act, war. Daher waren weder die Fluggesellschaften noch mein Arbeitgeber dazu verpflichtet, irgendwelche Vorkehrungen zu treffen, um das Leiden von Menschen wie mir zu lindern.

An diesem Tag, auf diesem ausverkauften Flug, bekam ich einen Mittelsitz zugeteilt. Natürlich.

In der Boarding-Schlange lehnte ich eine Schulter gegen die Wand, um den Druck auf meine Knie zu mildern. Als ich zum Flugzeug kam, wurde mir klar, dass es sich um eines der neuen Modelle mit einem superschmalen Gang handelte. Ich konnte ihn nicht vorwärts entlanggehen. Also bewegte ich meinen Körper seitwärts, wie eine Krabbe, und beobachtete die entsetzten Gesichter der anderen Passagiere, wenn ich mich ihren Reihen näherte. In ihren Augen konnte ich die Angst sehen: »Bitte, Gott, lass diesen fetten Kerl nicht neben mir sitzen!«

Als ich schließlich die unglücklichsten Passagiere des Flugzeugs erreichte – einen großzügig dimensionierten weißen Mann auf dem Sitz am Gang und einen schlankeren Koreaner am Fenster –, sagte ich: »Entschuldigen Sie bitte, ich bin auf dem Mittelsitz.«

Sie erwiderten nichts. Das mussten sie nicht.

Ich klemmte mich zwischen die Armlehnen meines Sitzes und wusste, dass ich nach dem vierstündigen Flug körperliche Spuren von dieser Tortur davontragen würde. Doch in meinem Innern war ich mir sicher, dass ich den beiden Männern in meiner Reihe mehr Unbehagen bereitete, als ich selbst jemals hätte empfinden können.

Der Sicherheitsgurt war nicht lang genug, um ihn um meine übergroße Taille zu schnallen. Das waren sie nie. So hob ich wie immer meinen rechten Arm, hoffte verzweifelt, dass mein Deodorant noch funktionierte, und drückte den Service-Knopf, um eine Flugbegleiterin zu rufen.

Die nette Dame besah sich die Situation und eröffnete mir, dass »leider« an diesem Tag noch einige andere Passagiere mit Übergewicht auf unserem Flug dabei seien, weshalb der Crew »anscheinend« die Gurtverlängerungen ausgegangen waren. Ohne durfte ich nicht fliegen. Das Flugzeug durfte nicht starten, bevor alle Passagiere angeschnallt waren. Also klemmte sich die Flugbegleiterin diesen altmodisch aussehenden Telefonhörer an der Kabinenwand ans Ohr und rief beim Gate an, um zu sehen, ob sie dort noch irgendwelche Extras herumliegen hatten.

Hatten sie aber nicht. Auch am Gate gab es keine zusätzlichen Sicherheitsgurtverlängerungen. Um eine für mich zu bekommen, mussten sie eine aus einem anderen Flugzeug holen.

»Wie lange wird das dauern?«, fragte der Koreaner neben mir.

»Wir kümmern uns so schnell wie möglich darum«, sagte die Flugbegleiterin.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mich noch schlechter fühlen könnte, als ich es bereits tat. Wir saßen da und warteten. Mehr als dreißig Minuten vergingen. Alle waren bereits an Bord, und jeder war genervt. Unsere Abflugzeit hatten wir schon längst verpasst, als die Flugbegleiterin schließlich zurückkam und mir mitteilte, dass sie eine Sicherheitsgurtverlängerung gefunden hätten und wir in Kürze auf dem Weg sein sollten.

Als sie ging, sagte der koreanische Mann ziemlich laut: »Super. Ich werde meinen Anschlussflug verpassen, weil du so fett bist!«

Ich wollte sterben. Genau da, auf diesem Sitz, wünschte ich mir, dass mein Leben einfach vorbei wäre.

»Es tut mir leid«, sagte ich. Ich konnte meinen riesigen Hals nicht drehen, um ihn tatsächlich anzusehen, und selbst wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich nicht die Kraft gehabt, ihm in die Augen zu schauen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mehr als die Hälfte meines Lebens krankhaft fettleibig gewesen, und ich hatte gelernt, dass es am einfachsten ist, nicht zu reagieren. Es war besser so. Also sagte ich nur noch eines: »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.«

Das Flugzeug verließ das Gate 45 Minuten zu spät. So lächerlich es auch klingen mag, ich tat mein Bestes, um mich kleinzumachen – damit ich während des gesamten vierstündigen Fluges nicht gesehen, gehört oder gefühlt werden müsste. Ich musste auf die Toilette, aber ich ging nicht. Ich wollte niemanden dazu bringen, sich meinetwegen bewegen zu müssen. Ich wollte mich nicht noch einmal durch den engen Gang quälen.

Als wir endlich gelandet waren, ließ ich den Koreaner das Flugzeug vor mir verlassen. Er schaute immer noch grimmig drein. Ich bin mir sicher, dass er an diesem Tag seinen Flug verpasst hat. So wie andere Leute wahrscheinlich auch. Ich hatte es im Alleingang geschafft, ein ganzes Flugzeug voller Menschen zu verärgern.

Meine Seiten schmerzten schrecklich durch den Druck der Armlehnen. Jedes Gelenk in meinem Körper tat mir weh, als ich mich auf den langen Weg zu meinem Auto machte. Auf dem Fahrersitz brach ich zusammen und schlief vor Erschöpfung fast im Parkhaus ein.

Zu Hause ließ ich meinen Koffer im Kofferraum liegen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn den ganzen Weg bis in die Wohnung zu tragen. Ich war am Verhungern. Ich ließ mich auf meine Couch fallen und rief bei Domino’s an, wo ich eine extra große Pizza mit Fleisch bestellte, und weil es Wochenende war, bestellte ich gleich noch eine zweite, um mir am nächsten Tag den Anruf fürs Mittagessen zu sparen.

Noch auf der Couch verschlang ich die erste Pizza. Das ganze Ding. Und danach war ich immer noch hungrig. »Nur eine Scheibe«, sagte ich zu mir. Dann, nachdem ich diese Scheibe verdrückt hatte, aß ich noch eine. Und noch eine. Und noch eine, bis alles, was übrig blieb, zwei leere, in Fett getränkte Pizzakartons waren.

Ich hatte beide Pizzen in einer einzigen Sitzung gegessen.

Eine extragroße Pizza mit Fleisch ist 15 Zentimeter breit. Sie ist nicht dazu bestimmt, von einer oder sogar zwei Personen gegessen zu werden. Es ist eine Pizza in Partygröße. Die Zutaten in so einem Teil summieren sich auf etwa fünftausend Kalorien. Das bedeutet, dass ich etwa zehntausend Kalorien auf einmal gegessen hatte. Nicht, dass ich diese Zahlen zu diesem Zeitpunkt gekannt hätte. Ich achtete auf solche Dinge nicht. Ich hatte Hunger, also aß ich.

Und das war nicht mein erstes Mal gewesen. Tatsächlich war die Sache mit den zwei Pizzen zu meiner Freitagabend-Routine geworden. Ich sagte mir jedes Mal, ich würde eine essen und mir die andere für den nächsten Tag aufsparen. Aber ich aß immer beide. Es war eine von unzähligen Angewohnheiten, wegen denen ich mich jedes Mal schämte – aber trotzdem wusste ich nicht, wie ich damit aufhören sollte.

Ich hatte 25 Jahre damit verbracht, jede Diät und jedes Diätprodukt auszuprobieren, von denen ich jemals im Fernsehen oder in Magazinen gehört hatte. Ich hatte sogar einige nicht kommerziell erhältliche Diätprodukte ausprobiert, die mich fast umbrachten. Kein einziges von ihnen hatte funktioniert. Sicher, manchmal verlor ich durch eines dieser Gimmicks etwas an Gewicht. Ich fühlte mich für ein paar Wochen oder sogar Monate besser. Aber letztendlich schummelte ich. Und dann fühlte ich mich unglücklich deswegen und gab einfach auf. Die Diät war vorbei, und ich kehrte zu meiner normalen »American Diet« bestehend aus fettigem Fast Food vom Lieferservice zurück.

Es dauerte nur wenige Wochen, bis das ganze Gewicht wieder da war – und einiges mehr obendrauf.

Ich weiß, dass ich damit nicht allein war. Ich weiß, dass halb Amerika die gleiche Erfahrung macht. Ich tat es nur im Extrem.

Als ich an diesem Abend endlich damit fertig war, die zwei Pizzen zu vernichten, stand ich auf, um ins Bett zu gehen. Das war der Moment, als mein Blick auf den Haufen schmutziger Unterwäsche in meinem Gästeschlafzimmer fiel, und ich erkannte, wie kaputt ich wirklich war.

Meine dreckige Unterwäsche hatte sich zu so einem großen Berg gehäuft, dass ich seine Spitze über die Kante des Bettes hinweg sehen konnte. Ich rechnete zurück und schätzte, dass es mehr als tausend Paar Unterwäsche und Socken sein mussten. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, Wäsche zu waschen. Es war einfach eine zu große Tortur für mich, die Münzwaschanlage in meinem Gebäude aufzusuchen. Also engagierte ich einen Reinigungsservice, der meine Wäsche abholte und wieder zurückbrachte, und anstatt den Aufwand aufzubringen, meine Unterwäsche zu waschen und wiederzuverwenden, beschloss ich, einfach alle paar Wochen neue Unterwäsche und Socken bei Amazon zu bestellen. Ich ließ sie mir an die Tür liefern, genau wie meine Pizzen. Die dreckigen warf ich ins Gästezimmer, wo ich sie nicht sehen konnte und wusste, dass auch sonst niemand sie sehen würde.

Denn niemand kam jemals in meine Wohnung. Ich ging auch nicht mehr in die Häuser anderer Leute. Im Grunde hatte ich es aufgegeben, Freundschaften zu pflegen. Es war einfach zu viel für mich. Alles, was außerhalb meiner Wohnung stattfand, war zu viel für mich. Ich hatte mich so eingerichtet, dass ich die meiste Arbeit von zu Hause, am Telefon und am Computer, erledigen konnte. Persönliche Verkaufsgespräche und Geschäftsreisen waren so ziemlich die einzigen Gründe, warum ich jemals meine Wohnung verließ, und das tat ich nur, weil ich es musste.

Ungefähr ein Jahr vorher hatte ich mich zu einer von der Firma vorgeschriebenen körperlichen Untersuchung geschleppt, bei der der Arzt mir nach einem Blick auf meine Blutwerte vorschlug, mir einen Grabplatz zu beschaffen.

»Was?«, sagte ich.

»Wenn Sie Ihr Gewicht nicht unter Kontrolle bringen, werden Sie ihn in den nächsten fünf Jahren brauchen.«

Was glaubt der, wer er ist?, dachte ich. Ich war wütend, weil er so unhöflich gewesen war, und verließ die Praxis mit dem Vorsatz, einen anderen Arzt zu finden.

Dennoch können die Worte eines schonungslos ehrlichen Menschen mächtig sein. Ich nahm sie mir zu Herzen. Aber nicht auf eine gute Art und Weise. Nicht auf eine motivierende Art. Sondern eher fatalistisch.

In der Nacht nach dem schrecklichen Flug wurde mir bewusst, dass ich bereits ein Fünftel von diesem Rest meines Lebens vergeudet hatte. In diesem letzten Jahr hatte ich nichts zum Besseren verändert. Tatsächlich war alles noch schlimmer geworden. Alles. Ich hatte Typ-2-Diabetes, und die Krankheit war außer Kontrolle. Ich hatte alle Warnungen gelesen. Ich wusste, wenn ich den Diabetes nicht bald unter Kontrolle bringen würde, könnte ich erblinden oder ein Glied verlieren. Und doch schien nichts, was ich tat, zu helfen. Einer der Gründe, warum ich so hart arbeitete, war, um genug Geld zu verdienen, damit ich mir meine Medikamente leisten konnte. Sogar mit Versicherung kostete es mich bis zu tausend Dollar jeden Monat, nur um die verschreibungspflichtigen Medikamente zu bekommen, die ich zum Überleben brauchte – die meinen Insulinspiegel unter Kontrolle hielten und meinen Bluthochdruck und lebensbedrohlich hohen Cholesterinspiegel senkten. Darüber hinaus brauchte ich Medikamente, um schlafen zu können, Medikamente für meine Angst und Depressionen und noch mehr Medikamente, um die Nebenwirkungen der anderen Medikamente zu bekämpfen. Dabei half mir keine dieser Pillen, mich besser zu fühlen. Keine von ihnen. Ich war unglücklich. Die ganze Zeit.

Wie war das alles passiert? Warum konnte ich nicht aufhören zu essen?

Nach diesem furchtbaren Tag wusste ich, was ich wollte. Ich wusste, was passieren musste. Ich besaß keine Waffe. Ich hatte keine Pillen, die stark genug waren, um den Job zu erledigen. Vielleicht könnte ich mich einfach vor einen Zug werfen? Ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen würde, aber ich wusste, es musste passieren. Ich wünschte nur, ich wäre dem Rat meines Arztes gefolgt und hätte mir ein Grundstück auf dem örtlichen Friedhof gekauft.

Nicht einmal das habe ich richtig gemacht, dachte ich.

Als ich ins Bett fiel, schmerzte jedes einzelne Teil meines Körpers. Mein Magen verkrampfte sich wegen all dem Fett und Käse. Die körperliche Qual war kaum zum Aushalten. Ich schaltete das Licht aus, und mit Tränen in den Augen tat ich etwas, was ich zuvor noch nie getan hatte.

Ich betete.

»Lieber Gott«, sagte ich in die Dunkelheit meines Zimmers hinein, »ich flehe dich an. Bitte töte mich. Bitte nimm mir das Leben. Bitte.«

Der nächste Tag

Was als Nächstes geschah, hört sich für Sie wahrscheinlich ziemlich seltsam an. Das tut’s für mich ehrlich gesagt auch.

Ich bin nicht gestorben.

Stattdessen wurde ich ohnmächtig.

Vielleicht wollen Sie es einen Traum oder eine Illusion nennen, aber ich wurde in einen Wirbel aus weißem Licht gezogen. Es fühlte sich an, als würde ich fallen und gleichzeitig fliegen, aber es war nicht beängstigend. Ich fühlte mich friedlich. Ich sah kein göttliches Wesen, stand nicht an der Himmelspforte, und es erklang nicht mal eine dröhnende Stimme. Tatsächlich wurden überhaupt keine Worte gesprochen. Alles, was ich wusste, war, dass ich mich plötzlich voller Hoffnung fühlte – und ich war mir sicher, dass ich nicht mehr allein war. Gott war bei mir. Und obwohl er nicht in Worten zu mir sprach, hörte ich seine Botschaft laut und deutlich. Er sagte mir, ich solle nicht verzweifeln. Diese schöne und eindringliche Präsenz bat mich, meine Sünden zu bereuen, mich ihr hinzugeben und ihr mein Leben anzuvertrauen.

Und weil ich nichts mehr zu verlieren hatte, sagte ich: »Ja.«

Daraufhin sagte Gott mir, dass ich nie wieder Angst haben müsste, weil er mich bis zum Ende meiner Tage vor dem Bösen beschützen würde. Stattdessen sollte ich in Frieden in die Welt hinausziehen und nach den Zeichen Ausschau halten, die sich mir offenbaren würden. So würde ich schließlich meine Bestimmung finden.

Ich war in meinem Leben noch nie in die Kirche gegangen, außer zu Hochzeiten und Beerdigungen. Ich war ohne Religion aufgewachsen. Die Tatsache, dass ich in diesem Moment zu Gott gebetet hatte, kam auch für mich völlig überraschend. Und doch war Gott das, was ich fand. Das mag für einige da draußen vielleicht verrückt klingen. Bevor es mir selbst passiert ist, hätte ich das vielleicht auch gedacht. Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich anders. Kraftvoller. Die Morgensonne strömte durch die Jalousien, und es war anders als jedes Licht, das ich je gesehen hatte. Meine ganze Wohnung schien zu glühen. Jedes Objekt leuchtete geradezu. Ich sah mich um und fühlte mich, als würde ich zum ersten Mal alles in diesem Raum tatsächlich sehen. Es war seltsam und schön zugleich. Aber woran ich mich am besten erinnere, ist das überwältigende Gefühl, das ich hatte – das genaue Gegenteil von dem Gefühl, das ich am Vorabend empfunden hatte, als ich unter Tränen zu Gott gebetet hatte.

Ich wollte nicht mehr sterben.

Ich wollte leben.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten fühlte ich mich wieder motiviert. Wozu, da war ich mir nicht ganz sicher. Immerhin hatte ich bereits jede Diät unter der Sonne ausprobiert. Aber die Motivation, die ich dieses Mal empfand, war etwas anderes. Ich spürte, dass ich die Dinge jetzt auf eine völlig neue Art und Weise sah und dass mein Wunsch zu leben jedes Hindernis überwinden würde, das sich mir in den Weg stellte.

Ich öffnete meine Augen und begann aktiv nach Zeichen zu suchen, die mich zu einem besseren Leben führen könnten – und sofort tauchte ein Zeichen auf. Nachdem ich es geschafft hatte, mich aus dem Bett zu wälzen und ins Wohnzimmer zu gehen, schaltete ich den Fernseher ein. Über den Bildschirm flimmerte ein Interview mit dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton – nicht gerade die Person, von der ich ein Zeichen erwartet hätte. Der Moderator sagte dem ehemaligen Präsidenten, wie toll er aussähe – und ich musste zugeben, dass er tatsächlich ziemlich gut aussah. Ich erinnerte mich an Bilder von Bill Clinton am Ende seiner Amtszeit, auf denen er erschöpft, alt, müde und irgendwie aufgebläht ausgesehen hatte. Jetzt saß er hier bei CNN und wirkte total fit und energiegeladen. Er sah wirklich nur halb so füllig aus wie früher. Es war atemberaubend. Sein Gesicht war oval statt rund, und die schweren Säcke unter seinen Augen waren verschwunden. Er wirkte wie ein ganz neuer Mensch. Als der Interviewer ihn fragte, wie er das angestellt habe, erwiderte Clinton, dass sein Arzt seine Ernährung auf pflanzliche Vollwertkost umgestellt hätte. Das war alles, was nötig gewesen war, damit sein Körpergefühl sich komplett veränderte. Er verlor Gewicht, ohne sich hungrig zu fühlen, und war so gesund und stark, wie er sich zuletzt in seinen Zwanzigern gefühlt hatte.

Ich hatte keine Ahnung, was »pflanzliche Vollwertkost« sein sollte, aber ich akzeptierte die Worte als das Zeichen, nach dem ich gesucht hatte, und machte von da an weiter. Online suchte ich nach »pflanzliche Diäten« und fand ein paar Namen direkt in meiner Nähe. Das war nicht überraschend: Ich lebte in San José, Kalifornien, im Silicon Valley südlich von San Francisco. Es gab keinen Mangel an Ernährungswissenschaftlern und anderen Gesundheitsfachleuten. Aber vor diesem Moment hatte ich mich nie für diesen für die Ostküste typischen New-Age-Yoga-Krempel (wie ich es damals vielleicht genannt hätte) interessiert. Ich bin in der Gegend aufgewachsen, sicher, aber ich wurde nicht von Hippies aufgezogen. Direkt nach der Highschool ging ich zur Armee und verbrachte danach mehrere Jahre in Atlanta, wo ich Brathähnchen oder Pfirsichpastete – und manchmal beides – zum Frühstück aß. Dieses ganze »Wir umarmen Bäume und retten die Welt und leben dabei noch furchtbar gesund«-Ding in San Francisco hatte mich nie auch nur im Geringsten gereizt.

Dennoch konnte ich nun das überwältigende Gefühl nicht abschütteln, dass ich diesem Stichwort folgen musste.

Trotzdem war ich natürlich kein Idiot. Ich ging das Ganze nicht blind an. Auf keinen Fall wollte ich einer weiteren Modeerscheinung zum Opfer fallen. Also bemühte ich mich, einen richtigen Arzt zu finden – jemand, der zertifiziert war und alle Abschlüsse hatte, die ein »echter« Arzt haben sollte –, aber die pflanzliche Ernährung, über die Bill Clinton im Fernsehen gesprochen hatte, zu seinem Spezialgebiet gemacht hatte.

Innerhalb einer Stunde hatte ich ein paar naturheilkundliche Ärzte gefunden, die vertrauenswürdig schienen. Ich rief sie an, fragte, ob sie sofort einen Termin frei hätten, und natürlich hatten sie keinen frei. Ich glaube nicht, dass Ernährungswissenschaftler es gewohnt sind, Notrufe zu erhalten, denn trotz meiner verzweifelten Bitten waren die frühestmöglichen Termine erst in ein oder zwei Monaten verfügbar. So lange konnte ich nicht warten. In mir brannte jetzt ein Feuer. Es fühlte sich ehrlich so an, als würde ich nicht überleben, wenn ich die ganze Sache auf einen anderen Tag verschob. Also versuchte ich es weiter.

Schließlich stieß ich auf Dr. Preeti Kulkarni, eine Frau mit den gesuchten Qualifikationen, die darüber hinaus wunderbare Rezensionen von einer Vielzahl von Patienten vorzuweisen hatte. Ich kam zu ihr durch, schilderte ihr meine Situation, und sie stimmte zu, mich schon in der nächsten Woche zu empfangen. Es fühlte sich wie Schicksal an.

Ein paar Tage später schwebte ich in meinem Auto geradezu zu ihrem Büro. Die ganze Welt schien etwas heller zu sein. Das Gefühl, dass ich leben wollte, und ich meine wirklich leben, war genauso stark wie zuvor. Also beschloss ich noch im Auto, etwas Neues auszuprobieren: Ich beschloss, genau das zu tun, was diese Frau mir sagte. Ich würde ihre Worte nicht infrage stellen. Ich würde nicht nur einen Teil ihres Rates annehmen und dann mein eigenes Ding machen, weil ich es »besser wusste«. Denn mir war klar, dass ich das nicht tat. Ich hatte es immerhin schon Dutzende Male versucht. Nein, diesmal würde ich die Dinge anders machen. Wirklich anders. Ich würde alle Anweisungen dieser Ärztin strikt befolgen. Ich würde alles tun, was sie mir sagte.

Dr. Preeti (wie sie gern genannt wurde) war jünger, als ich erwartet hatte. Das Gefühl kennen wahrscheinlich alle Menschen im mittleren Alter – plötzlich sehen unsere Ärzte so aus, als könnten sie unsere erwachsenen Kinder sein. Es fühlt sich irgendwie falsch an, so als ob die Welt auf dem Kopf stünde. Aber in diesem Fall war es genau richtig. Es war anders, und anders war gut. Sie hatte außerdem etwas Beruhigendes an sich, eine Ruhe, die sie konzentriert und professionell wirken ließ. Selbstbewusst schaute sie mir in die Augen und sah dabei aus wie jemand, der genau weiß, was er tut.

Und: Sie schien nicht von meinem Gewicht angewidert zu sein.

Lange konnte ich den Augenkontakt mit ihr allerdings nicht aufrechterhalten. Das konnte ich nie. Als wir uns in ihrem Büro hinsetzten, schweifte mein Blick ab und bohrte sich in den grauen Teppichboden neben ihren Schuhen.

»Also, erzählen Sie mir von sich«, sagte sie. »Sind Sie verheiratet? Single?«

»Ich bin Single«, sagte ich.

»Dating?«

»Ähm, nein. Seit vielen Jahren nicht mehr.«

Dating? Mich hatte noch nie ein Arzt gefragt, ob ich mich mit jemandem treffe. Das kam mir wirklich seltsam vor.

»Okay, was machen Sie gern in ihrer Freizeit?«

Ich sah in ihr Gesicht, nur um sicherzugehen, dass ich noch im richtigen Büro war.

»Ich … ähm … na ja, ich lese gern, schätze ich.«

»Irgendwelche sozialen Aktivitäten?«

»Nein. Nicht wirklich.«

Das ging gut eine halbe Stunde lang so. Sie wollte wissen, wo ich wohne, was ich beruflich mache und ob ich jemals Sport getrieben hätte.

Schließlich unterbrach ich sie und fragte: »Warum fragen Sie das alles? Ich meine, ich glaube nicht, dass jemals ein Arzt mehr als zehn Minuten mit mir geredet hat, bevor er mir ein Rezept in die Hand drückte und mich wegschickte.«

»Na ja, ich weiß ja den Grund, warum Sie hier sind – Sie wollen Hilfe beim Abnehmen. Ich sage meinen Patienten immer ganz gern, dass es nicht darum geht, Gewicht zu verlieren. Diäten und Abnehmen um des Abnehmens willen funktionieren nicht wirklich, oder? Ich nehme an, Sie haben es mit einer Diät versucht?«

»Ja, natürlich. Ich habe jede Diät ausprobiert, die es gibt.«

»Genau. Viele meiner Patienten sagen das. Und natürlich sollten wir diese Diäten zusammen durchgehen, damit ich weiß, was Sie alles versucht haben. Aber was ich vor allen Dingen will, ist, dass Sie gesund werden, damit Ihr Körper für Sie arbeitet und nicht gegen Sie. Und deshalb versuche ich, so wie alle naturheilkundlichen Ärzte, nicht nur die Symptome zu behandeln, die Sie haben – und Ihr Gewicht ist tatsächlich nichts anderes als ein Symptom –, sondern Sie als ganze Person zu behandeln, um so zur Ursache einer jeden Krankheit zu gelangen, die Sie vielleicht haben, einschließlich Ihres Gewichts. Ergibt das einen Sinn?«

»Ja«, sagte ich. »Ja. Das ist sinnvoll.«

»Also«, sagte sie, »jetzt, wo ich ein wenig über Sie weiß, warum erzählen Sie mir nicht von Ihrer Diät?«

»Na ja, ich bin gerade nicht auf Diät.«

»Nein, ich meine, was essen Sie täglich? Kochen Sie gern?«

»Ha!« Ich lachte.

»Was ist so lustig?«

»Ich bin ein Geräteverkäufer, der nie seinen eigenen Herd einschaltet.«

»Niemals? Sie müssen doch manchmal kochen.«

»Ich kann Wasser kochen, also mache ich ab und zu Instant-Ramen. Zählt das?«

Ihr war nicht gerade zum Lachen zumute, schien es.

»Ich habe ein paarmal ein gegrilltes Käse-Sandwich gemacht.«

»Und wo bekommen Sie dann das meiste von Ihrem Essen her?«

»Lieferservice meistens«, sagte ich. Ich erzählte ihr von den Pizzen, und sie machte sich Notizen. »Ich gehe auch nur zu Drive-throughs, damit ich nicht aus dem Auto steigen muss.«

»Also McDonald’s? Fast Food? Was bestellen Sie da?«

»Ja. Zum Frühstück bestelle ich fünf oder sechs Egg McMuffins. Zum Mittagessen normalerweise drei oder vier Big Macs und eine Portion große Pommes.«

»Und andere Restaurants? Essen Sie Obst oder Gemüse?«

»Manchmal trinke ich Orangensaft. Aber nein. Ich bin nicht wirklich ein Gemüse-Esser.«

»Okay, und Ihre Egg McMuffins, die sind mit Speck, Schinken …«

»Ja.«

»Immer Fleisch?«

»Ja, genau.«

»Käse?«

»Jep.«

»Trinken Sie viel Milch?«

»Nein. Das habe ich als Kind aufgegeben. Ich hatte schlimme Akne und bemerkte, dass sie wegging, wenn ich aufhörte, Milch zu trinken.«

»Oh. Das ist gut. Gibt es noch andere Veränderungen, die Sie bemerkt haben, als Sie bestimmte Lebensmittel aufgegeben haben?«

Ich dachte darüber nach, aber mir fiel kein einziges Essen ein, das ich in all den Jahren aufgegeben hatte. Auf diese Idee war ich schlicht und einfach nicht gekommen.

Am Ende unseres Gesprächs wusste Dr. Preeti jede Menge über mein Leben und meine Gewohnheiten. Sie orderte eine Blutprobe an und wollte eine ganze Reihe an Tests vornehmen, um sich ein Bild von meinem »allgemeinen Gesundheitszustand« zu machen, sagte sie. Dann erzählte sie mir, was ihrer Meinung nach passieren würde, wenn sie mich unter ihrer Aufsicht auf eine pflanzenbasierte Vollwertkost-Diät setzen würde.

»Der Grund, warum ich Ihre Nebennieren testen und die Blutanalyse machen will, ist, um nach Ernährungsmängeln zu suchen. Wenn Sie mit bestimmten Nährstoffen unzureichend versorgt sind, wird es schwer für Sie, gesund zu werden, ohne das zu korrigieren. Also könnten wir mit einigen Ergänzungspräparaten beginnen, um Ihr System anzukurbeln und die Dinge wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Aber sobald Ihr Nährstoffbedarf durch die Umstellung auf eine pflanzliche Ernährung gedeckt ist und Ihre Verdauung wieder funktioniert, brauchen Sie dann keine Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel mehr, um gesund zu bleiben«, sagte sie.

Ich erinnerte sie daran, dass ich Typ-2-Diabetes und außerdem hohe Cholesterol- und Blutdruckwerte hatte. Allein dagegen musste ich alle möglichen Medikamente einnehmen.

»Im Moment, ja. Aber wenn Sie sich an das halten, was ich Ihnen sage, gibt es eine gute Chance, dass Sie in ein paar Monaten keine davon mehr brauchen.«

»Wollen Sie mir damit sagen, dass alle meine gesundheitlichen Probleme einfach über meine Ernährung gelöst werden können?«

»Ja und nein. Was ich Ihnen sage, ist, dass unser Körper Nahrung und Energie braucht und es wichtig ist, was Sie ihm zuführen. Viel wichtiger, als die meisten Menschen denken. Aber es ist nicht kompliziert. Das verspreche ich Ihnen. Stellen Sie für den Anfang einfach sicher, dass bei jeder Mahlzeit mindestens die Hälfte Ihres Tellers mit Obst und Gemüse gefüllt ist und der Rest aus Bohnen und Reis oder jedem anderen Nahrungsmittel besteht, das nicht von einem Tier stammt«, sagte sie. »Wenn Sie das tun, werden Sie sich besser fühlen. Dann noch ein wenig Bewegung, und Sie werden überrascht sein, wie schnell sich die Dinge ändern können.«

»Bewegung?«, sagte ich.

Ich wusste, dass dieser letzte Teil mein Verderben sein würde. Mir fehlte die Kraft, um mich zu bewegen. Ich hatte es versucht. Im Laufe der Jahre hatte ich Unmengen an Geld für Mitgliedschaften im Fitnessstudio verschwendet und es einfach nur gehasst. Alles daran. Ich hasste den Geruch, die Qualen, den Schmerz, wenn man sich auf diese winzigen, harten, klebrigen Gummisitze der Fahrradmaschinen setzte. Ich hasste das Stigma, wenn ich ohne Klamotten in der Umkleidekabine stand, und fühlte die Blicke und das Geflüster hinter meinem Rücken. Alles, nur das nicht!

»Was ich empfehle, sind lediglich zwanzig Minuten leichte Bewegung zweimal täglich. Etwas, was Sie genießen können, wie einen Spaziergang«, sagte sie. »Und in Ihrem Fall empfehle ich Ihnen, in ein Tierheim zu gehen und einen Hund zu adoptieren«, fügte sie hinzu.

Wieder einmal veranlassten mich ihre Worte, meinen Blick vom Boden zu heben.

»Ein Hund?«

»Ja. Ein Hund ist ein guter Begleiter. Ich denke, das wird Ihnen guttun. Außerdem wohnen Sie in einer Wohnung, was bedeutet, dass der Hund ausgeführt werden muss. Also gehen Sie mit Ihrem Hund zweimal täglich spazieren, und das ist dann die nötige Bewegung für Sie. Ziemlich einfach.«

»Ich habe noch nie einen Hund besessen. Was ist mit einer Katze?«, fragte ich.

»Haben Sie jemals jemanden gesehen, der mit einer Katze Gassi geht?«

»Ich glaube, ein Mal im Fernsehen«, sagte ich.

Sie sah mich streng an.

Ich fühlte mich ein bisschen dämlich.

»Eine Katze ist ein nettes Haustier, aber Sie brauchen was anderes. Wirklich, gehen Sie ins Tierheim. Ich habe gerade einen Artikel über die Humane Society hier im Silicon Valley gelesen. Es gibt dort so viele Hunde, die ein Zuhause suchen. Ein Hund wird Ihnen Gesellschaft leisten, Ihre Aufmerksamkeit verlangen und sie regelmäßig nach draußen bringen. Er wird Ihnen helfen, glauben Sie mir.«

Würde ich mich um einen Hund kümmern können? In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie ein Haustier gehabt. Ich konnte mir kaum vorzustellen, was das für ein Aufwand sein würde: Hundefutter kaufen und sich ständig bücken müssen, um Hundescheiße aufzuheben. Außerdem musste ich geschäftlich öfter reisen. Was sollte ich da mit einem Hund machen? Ich war mir sicher, dass ich kein Hunde-Typ war.

Aber dann erinnerte ich mich an meinen Vorsatz aus dem Auto: Tu, was immer diese Frau sagt.

Bei diesem ersten Termin hatte Dr. Preeti mehr als anderthalb Stunden mit mir verbracht. Ich war ein wenig geschockt und fragte mich, ob ich mir alles würde merken können, was sie mir gesagt hatte.

Auf dem Weg nach draußen gab sie mir einen Stapel mit Rezepten und eine Liste mit Zutaten für vegetarische Gerichte und gesunde Snacks mit, die ich einkaufen sollte. Ich konnte nicht anders, als zu denken: Ich hasse Gemüse, und doch kam ich immer wieder auf meinen Vorsatz zurück: Tu einfach, was sie sagt.

Sie kündigte außerdem an, dass sie mir, sobald meine Blutwerte zurückgekommen waren, viel genauer sagen würde, welche Lebensmittel ich essen sollte, aber in der Zwischenzeit bat sie mich, unbedingt zu versuchen, kein Fleisch und keine Milchprodukte mehr zu essen. Sie sagte, am ehesten würde ich das schaffen, indem ich diese Produkte rationierte: »Kaufen Sie sich zum Beispiel für die nächsten zwei Wochen sechs Dosen Thunfisch und essen Sie ihn nur, wenn Sie ihn wirklich, wirklich wollen. Wenn die sechs Dosen dann weg sind, sind sie weg.«

Ich nickte und stimmte allem zu. Ich fühlte mich ein wenig benommen.

»Und ich hoffe wirklich, dass Sie sich einen Hund holen. Es ist eine große Verpflichtung, aber Sie werden es nicht bereuen«, sagte sie. »Passen Sie auf sich auf. Es war sehr schön, Sie kennenzulernen.«

Ich sah ihr in die Augen und sagte: »Okay.«