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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Maria Hellstern

Lektorat: Dorothea Steinbacher

Bildredaktion: Natascha Klebl

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, Antonia Bares, Hassân Al Mohtasib, München

eBook-Herstellung: Gabriel Mlesnite

impressum ISBN 978-3-8338-7207-5

2. Auflage 2019

Bildnachweis

Coverabbildung: Rolf Brenner

Fotos: Rolf Brenner; gettyimages: (Kristian Papp),(Westend 61), (Thomas Grunow-Lietz), (Steffen Egly), (Michael Moeller), (Nico Kaiser), (Hayami Yanagisawa); mauritius images: (Nadja Jacke), plainpicture: (Christopher Civitillo), Stocksy: (Luke Mattson), (Greg Schmigel); unsplash: (Lora Ninova), (Annie Spratt), (Alexandre Godreau)

Syndication: www.seasons.agency

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Aktualisierung 2019/003

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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ICH BIN EIN BAUM

Ich bin ein Baum …
Ein frisch grüner Spross im ersten Sonnenstrahl.
Ein modriger Zweig mit Moos benetzt.

Ich bin ein Baum …
Der Wurzeltrieb in tiefster Tiefe.
Der Blütenduft im Himmel hoch.

Ich bin ein Baum …
Die Frucht in deinen Händen.
Der Samen, der mein Leben trägt.

Ich bin ein Baum …
Das Gerippe deines Hauses.
Die Hitze deiner Glut.

Ich bin ein Baum …
Der Atem, der dich belebt, und die Kiste,
in der man dich mir zu Füßen legt.

Ich bin ein Baum …
Für dich ein kühlender Schatten in der Glut der Sonne.
Ein lichtes, warmes Feuer in dunkler, kalter Nacht.

Ich bin ein Baum …
Wachse zum Zentrum der Erde und
zu den Sternen des Himmels.

Ich bin die Welt und das Universum.
Ich bin ein Baum.

Mark Störkel, Naturpoet

DOKTOR WALD

Wenn ich an Kopfweh leide und Neurosen,
mich unverstanden fühle oder alt,
und mich die holden Musen nicht liebkosen,
dann konsultiere ich den Doktor Wald.

Er ist mein Augenarzt und Psychiater,
mein Orthopäde und mein Internist.
Er hilft mir sicher über jeden Kater,
ob er von Kummer oder Cognac ist.

Er hält nicht viel von Pülverchen und Pille,
doch umso mehr von Luft und Sonnenschein.
Und kaum umfängt mich angenehme Stille,
raunt er mir zu: »Nun atme mal tief ein!«

Ist seine Praxis oft auch überlaufen,
in seiner Obhut läuft man sich gesund.
Und Kreislaufkranke, die noch heute schnaufen,
sind morgen ohne klinischen Befund.

Er bringt uns immer wieder auf die Beine,
das Seelische ins Gleichgewicht,
verhindert Fettansatz und Gallensteine,
nur – Hausbesuche macht er leider nicht.

Helmut Dagenbach, Förster, (1986)

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Da wirst du mehr in den Wäldern findenals in den Büchern.

Die Bäume und die Steine werden dich Dinge lehren,die dir kein Mensch sagen wird.

Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153), Mystiker

DU KANNST DEN WALD VERLASSEN, …

… der Wald aber verlässt dich nie! Der Wald ist nicht nur ein biologischer Gegenstand, ein »Ökosystem« irgendwo da draußen außerhalb von uns; der Wald ist auch in uns, ist Teil unserer Seelenlandschaft. Die innige Verbindung unserer Spezies mit der Baumwelt entstand vor 65 Millionen Jahren, als die Riesenechsen, die Dinosaurier, gerade ausgestorben waren und wir als winzige, blatt- und früchtefressende Primaten, nicht unähnlich den heutigen Mausmakis in Madagaskar, durch das Geäst der tropischen Urwälder Afrikas huschten. So klein waren unsere entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren damals, dass wir sie – wie Mäuschen – locker in unserer heutigen Hand hätten halten können.

Unsere Verbundenheit mit den Bäumen hat also tiefe und innige evolutionäre Wurzeln. Wir entwickelten uns im und mit dem Wald. Über Millionen Jahre hinweg waren die Bäume unsere Welt; sie prägten uns physisch, seelisch und geistig. Viele Millionen Jahre später streiften wir als Jäger und Sammler noch immer durch die Wälder, den Dschungel, durch savannenartige Baumsteppen oder die mit Koniferen und Birken bewachsene Taiga.

VOM ABGESONDERTSEIN UND DER MACHT DER MAYA

Heutzutage haben wir diese Verbindung mit dem Wald (fast) vergessen. Die meisten Zeitgenossen leben in Megastädten, umgeben von Menschenmachwerk aller Art, von summenden, surrenden, blinkenden oder auch stummen Maschinen, die das Leben angeblich leichter machen, aber zugleich auch stressvoller und komplizierter. Mit Beton statt Moos und Humuserde unter den Füßen, mit elektronischer Musik statt Vogelgesang und Insektensummen in den Ohren und einem Bewusstsein, das von virtuellen, fiktiven Inhalten besetzt ist, gehen die meisten von uns durchs Leben. Bildschirme, sei es TV, PC oder iPhone, saugen unsere Seelen in Scheinwelten hinein. Dabei rückt die wahre Natur in die Ferne. Wer kennt überhaupt noch die Bäume im Wald, die Kräuter, die da unter der Hecke am Haus oder in den Ritzen der Mauern und Gehsteige wachsen? Was wissen wir noch über ihre Heilkraft, ihren Duft, ihre Eigenschaft als nahrhaftes Wildgemüse? Wer kennt noch den Falter oder das Kerbtierchen im Hinterhof, und wer nimmt sich Zeit, dem Gesang eines Vogels zu lauschen? Und wenn man dem doch näher kommen will, dann geschieht das meist mit dem Kopf, der einem ständig eine Unmenge Fakten und Daten zuschnattert, der sie als Objekte definiert, als Dinge, die einem gegenüberstehen, als etwas, was man analysiert, und nicht etwas, mit dem man mit dem lauschenden, mitfühlenden Herzen in Resonanz geht.

Zunehmend verlieren wir nicht nur die Verbindung mit der Natur, sondern auch mit den Mitmenschen und schließlich mit unserem Seelenkern. Ich komme aus einer Zeit, in der man – auf der Straße, in der Bahn, dem Bus, der Kantine und in der Kneipe – noch miteinander redete. Heute starren die meisten auf die kleinen viereckigen Handydisplays oder Laptops. Viele sind davon derart absorbiert, dass man meinen könnte, man hätte es mit lauter Autisten zu tun. Auch der Zugang zur Natur besteht für viele aus einer App: Falls einen das in der Mauerritze wachsende Unkraut überhaupt interessiert, hält man das Smartphone darüber und – zack! – hat man den Namen und braucht es nicht länger anzuschauen. Und die Sterne am Himmel? Da braucht man nicht lange hinzuschauen, mit der richtigen App kann man in Sekundenschnelle die Konstellation scannen.

Auf diese Weise besteht die Gefahr, dass sich die Menschheit allmählich von ihrem Nährboden, von ihrer schönen Heimat, der Erde, löst. Schon jetzt träumen einige tonangebende Wissenschaftler vom Terraforming, von der Bewohnbarmachung und Besiedlung des Mars und anderer Himmelskörper als »zweiter Erde«. Dabei wissen wir noch nicht einmal, wie man auf dieser Erde richtig lebt. Es war und ist diese Erde, die uns zu dem formte, was wir sind. Diejenigen, die sich da auf andere Planeten oder Galaxien wegbeamen lassen wollen – falls so etwas überhaupt gelingt –, werden keine Menschen mehr sein.

Eine Ikone der modernen Zeiten ist die »blaue Murmel« (blue marble), das Foto unseres Planeten, das 1972 vom Apollo-17-Raumschiff aus einer Entfernung von 45 000 Kilometern aufgenommen wurde. Zart und zerbrechlich, wie eine Seifenblase, wirkt der blaue Globus, dieses »Raumschiff«, das durch das endlose schwarze All navigiert. Es war der Konstrukteur Buckminster Fuller, der in seinem Buch »Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde« (1973) unseren Planeten so nannte. Das Bild soll eine Aufforderung an die Menschheit sein, endlich zu begreifen, dass wir alle in demselben Boot sitzen und dass es Wartungspersonal braucht, Ingenieure und Techniker, um es zu steuern. Ein Freibrief für globales Geo-Engineering!

Was damit gesagt werden soll, klingt einsichtsvoll und weise. Die »blaue Murmel« ist eine Ikone des neuen, säkularen Weltbildes, für das sich die idealistische Jugend – verständlicherweise – begeistert. Aber eigentlich ist sie ein Zeichen der absoluten Entfremdung, der Entfernung von der unmittelbaren Erde, vom Duft der Blumen und des feuchten Humusbodens, dem Gesang der Vögel und Grillen, dem Rauschen des Windes, dem Gefühl der warmen Sonne oder des Regens auf der Haut, den Reizen und Eindrücken des Hier und Jetzt. Außerdem gleicht die Erde – wie es auch der Biophysiker James Lovelock erkannte – eher einem lebenden Organismus als einem Mechanismus, wie es ein Raumschiff ist. Dieser Erdorganismus – James Lovelock benannte ihn nach der altgriechischen Erdgöttin Gaia – ist fähig zur Selbstorganisation und steckt voller Rückkopplungseffekte, welche die fließenden Lebensprozesse im Gleichgewicht halten. Diese Prozesse sind dermaßen kompliziert, dass wir sie trotz elegantester Computersimulationen nicht vollkommen verstehen und sie wohl auch nie verstehen werden.

Ich legte einem indianischen Medizinmann das berühmte Foto der blauen Murmel vor und erklärte ihm, mit dem Finger darauf zeigend: »Da wohnen wir!« Er schüttelte den Kopf: »Da wohne ich nicht, sondern hier, mit dem blauen Himmel über mir und der Erde, unserer Mutter, unter den Füßen. Hier wohne ich mit allen meinen Verwandten, den Pflanzen und den Tieren!«

 

Die Vegetation lebt noch harmonisch, im völligen Einklang mit den natürlichen Rhythmen der Jahreszeiten, mit Mond, Sonne, Planeteneinflüssen und dem Puls der Elemente. Auch unsere tierischen Geschwister sind noch eingebettet im Hier und Jetzt ihrer Lebenswelt. Sie reagieren auf ihre Umwelt mit angeborenen Naturtrieben. Auch wir Menschen haben Instinkte, die in unseren ältesten Hirnarealen verankert sind und mit dem Fortpflanzungstrieb, dem Fresstrieb und mit Dominanz und Unterwerfung zu tun haben. Diese Urtriebe aber werden von erlerntem kulturellem Verhalten überlagert. Verschiedene Kulturen gehen mit diesen Trieben unterschiedlich um. Menschen können die Nacht zum Tag machen, der Sexualität entsagen oder sie zur kultivierten Erotik steigern, ihre Aggression in Sport oder Krieg ausleben, sie können fasten oder sich der Völlerei hingeben. Zwar gibt es noch Instinkte beim Homo sapiens, etwa das sogenannte »Bauchgefühl« oder »den richtigen Riecher«, aber allgemein wird unser Verhalten durch erlernte gesellschaftliche und kulturelle Muster bestimmt.

Mit anderen Worten: Wir haben die Fähigkeit – und die Freiheit –, uns von den natürlichen Vorgaben und Bestimmungen zu lösen. Uns fehlt die animalische Instinktsicherheit. Wir sind emanzipiert vom Diktat der Natur. Daher können wir uns immer wieder verirren. Wir können dem Wahn anheimfallen wie kaum eine andere Kreatur. Nicht nur der Einzelne, ganze Kulturen und Epochen können sich sozial sanktionierten Trugbildern, Einbildungen, Illusionen, Täuschungen und falschen Vorstellungen hingeben und sich darin verlieren. Dieser Zustand des Abgetrenntseins von der Wirklichkeit – oder, anders gesagt, vom göttlichen Urgrund – gehört zur menschlichen Natur, zur conditio humana. Die christliche Mystik bezeichnet das als »Erbsünde«; sie geht einher mit der Menschwerdung und ist Vorbedingung für den freien Willen. Diese »Sünde« hat wenig mit entgleister Sexualität oder mit den alltäglichen kleinen Gemeinheiten zu tun, wegen derer wir uns schuldig fühlen, sondern Sünde bedeutet schlicht Trennung und Absonderung (mittelhochdeutsch sündern = trennen, zerschneiden; schwedisch sönder = zerbrechen, zerreißen). Bekanntlich erklärt die jüdisch-christlich-islamische Mythologie diesen Zustand des Abgesondertseins mit dem Ungehorsam des Ur-Menschenpaars gegenüber dem göttlichen Gebot. Adam und Eva aßen von der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis und mussten das Paradies, den blühenden, grünen Garten, verlassen. Der Weg zurück in den Garten erfordert peinliche Gesetzestreue (Judentum), vollkommene Unterwerfung (Islam) oder die Akzeptanz der göttlichen Gnade durch das Selbst­opfer des Gottessohnes. Aber auch diese Vorstellungen sind kulturell bedingt.

Auch in der ostasiatischen Sichtweise steht der Wahn, die magische Kraft der Illusion (Maya), im Mittelpunkt. Für Buddhisten, Jainas und Hindus ist es die eigentliche Aufgabe des Menschen im Leben, die betörenden Täuschungen und Trugbilder, die uns vom Urgrund des Seins und unserem wahren Wesen trennen, zu durchschauen, heil zu werden und die »Erleuchtung« zu finden.

Um die Macht der leidbringenden Täuschung zu brechen – so die Hindus und auch die Taoisten im alten China – suchte man die Hilfe der Natur, denn diese ist noch ganz; sie ist im Einklang, in ihr leben keine falschen Vorstellungen. Vor allem der Wald, seine Bäume, Kräuter und Tiere, sind unmittelbarer Ausdruck des göttlichen Urgrundes. Die Bäume wesen im Einklang mit Erde und Kosmos; sie sind heil, nicht gebrochen, deshalb können sie heilen, nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Aus diesem Grund zogen sich die Weisen in den Wald, in die Wildnis zurück. Für die keltischen, germanischen, baltischen und slawischen Völker waren heilige Haine – nicht von Menschenhand gebaute Tempel – Orte der Begegnung mit den schicksalswaltenden Göttern. Die keltischen Druiden lernten ihre Weisheiten in der Obhut des Waldes. Die altchinesischen Meister reinigten ihre Sinne in der Waldeinsamkeit. In Indien gab es heilige Haine, in die sich die Rishis und Weisheitssucher zurückzogen, wo sie die Illusionen mithilfe der Askese und der Meditation verbrannten.1 Es ist kein Zufall, dass Siddhartha Gautama, der der künftige Buddha (»der Erleuchtete«) werden sollte, in einem heiligen Wald (Lumbini) das Licht dieser Welt erblickte. Seine Mutter Mahamaya hielt sich mit einer Hand an einem Ast des Sal-Baumes (Shorea robusta) oder eines Ashoka-Baumes (Saraca asoca) fest, als sie ihn gebar. Dabei brach der Baum in lauter Blüten aus. Nach langen Wanderungen setzte sich Siddharta unter eine riesige Pappelfeige (Ficus religiosa; Bo-Baum; Hindi: Pipal) und erlangte darunter die »Erleuchtung«. Als seine Zeit gekommen war, die Welt zu verlassen, begab er sich in einen Wald, bestehend aus Sal-Bäumen. Auch Mahavira, der Tirthankara (»Furt-Macher«), dessen Nachfolger als Jainas bekannt sind, soll seine Erleuchtung unter einem Feigenbaum gefunden haben.

Immer wieder sind es der Wald und die Bäume, die des Menschen Geist und Seele wieder in Einklang bringen. Odin, der nordgermanische Schamanengott zum Beispiel, findet die Runen-Weisheit, indem er neun Tage in einem Baum hängt. Und auch das Kreuz des christlichen Heilands ist im Grunde genommen ein stilisierter Baum.

DER BEDRÄNGTE WALD

In diesen Zeiten, in denen wir das Gespür für das Heilige fast verloren haben, geht es den Wäldern schlecht. Der Wald gilt als Rohstoffquelle für die globale Industrie. Trotz des »papierlosen Büros«, das der PC bei seiner Einführung in Aussicht stellte, werden weltweit riesige Waldflächen abgeholzt. Allein schon das Packmaterial für den Versand der zahllosen im Internet bestellten Waren, etwa durch Amazon, verschlingt ganze Wälder. Schon seit Jahrzehnten sind das Gebiete so groß wie Frankreich, die den Kettensägen und Baggern jährlich zum Opfer fallen. Tropische Wälder müssen Ölpalm-Monokulturen weichen, aus denen Öko-Sprit erzeugt wird; sie werden abgeholzt für den Anbau von genverändertem Soja, das ebenfalls zu Bio-Diesel verarbeitet wird oder zu Futtermittel für die Massentierhaltung der weltweit agierenden Agrarkonzerne. Die Waldbrände, die bei den Rodungen gelegt werden, sind so groß, dass sie von Satelliten im All aus sichtbar sind. Weite Strecken der russischen Taiga werden zu Zellstofftextilien, Papiertüten, Klopapier, Küchenpapier, Kartonage für den Versandhandel und Pellets fürs »nachhaltige« Heizen; ein Konzern wie Ikea hinterlässt riesige Kahlschläge in den schwedischen Wäldern, in einem Klima, in dem Bäume sowieso sehr langsam wachsen.

Uralte Wälder wie der Reinhardswald im Weserbergland, durch den die Deutsche Märchenstraße führt und den Spuren der Märchen der Gebrüder Grimm nachgeht und in dem sich das älteste Naturschutzgebiet Hessens, der Urwald in Sababurg, befindet, opfert man der Windindustrie. Dabei werden riesige Schneisen in diese alten Wälder geschlagen und Tausende Tonnen Beton in den Waldboden gepresst. Auch in anderen Wäldern wüten Holzerntemaschinen (Harvester), die im Minutentakt Bäume fällen und zurechtsägen. Entlang der Waldwege und Autobahnen sind Häckselmaschinen im Einsatz, die Bäume und Sträucher in Pellets für Holzkraftwerke und Heizöfen verwandeln – all das soll klimaneutral und nachhaltig sein. Es gibt kaum mehr Bäume in deutschen Wäldern, die älter als hundert Jahre sind.

Diese Bäume sind die Opfer einer lebensentfremdeten Geisteshaltung. Sie sind Opfer der von internationalen Konzernen gesteuerten Ideologie des Konsums, wo nicht nach wirklichem Bedarf gewirtschaftet wird, sondern ausschließlich zur Maximierung des Profits.

WIEDERENTDECKUNG DES WALDES

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die den Wald nicht alleine als Rohstoffquelle bezeichnen. Ökologen haben erkannt, was die Alten schon lange wussten, nämlich dass die Wälder

Heute steht – dank Internet, Google, dem öffentlichen Schulsystem und so weiter – der Menschheit so viel Wissen zur Verfügung wie nie zuvor. Und in Zukunft wird es noch mehr sein, wie es der Direktor des Oxford Future of Humanity Institute vorhersagt: Da werden ganze Bibliotheken auf einem Chip gespeichert und ins Gehirn gepflanzt; grenzenloses Faktenwissen und perfekte Erinnerung werden möglich sein. Es gibt jedoch Wissen, das sich nicht mit dem Binärsystem eines Rechners erfassen lässt: Inspirationen, Intuitionen, wahre Visionen kommen aus tieferen Quellen. Und zwar aus der Natur, aus der wir selber hervorgegangen sind, aus dem Wald – gemeint ist der natürliche Wald und weniger die forstwirtschaftlichen Baumplantagen, wo die Fichten in Reih und Glied stehen wie Paradesoldaten. Der Wald kann eine Offenbarung des göttlichen Urgrundes sein und für das Auge der Seele ein Heimatort für Zwerge, Baumelfen, Faune und andere magische Wesenheiten, die wir mit unserer heutigen beschränkten (reduktionistischen) Mentalität nicht mehr oder kaum mehr wahrnehmen.

In dieser Zeit, in der sich der Wald und die Wildnis in arger Bedrängnis befinden, ist es begrüßenswert, dass man sich wieder auf sie besinnt, dass die Bäume wieder interessant werden. Zu dieser Neubesinnung hat zum Beispiel der Bestseller des Försters Peter Wohlleben, Das geheime Leben der Bäume, viel beigetragen. Plötzlich wird plausibel, dass Bäume über Duftvokabeln, die den Blättern und Blüten entströmen, miteinander »reden« und zugleich unterirdisch über ein weites Netz, bestehend aus filigranen Pilzfäden (Mykorrhizen) – sozusagen ein eigenes w. w.w., ein Wood Wide Web – kommunizieren. Das macht den Wald zu einem interaktiven Organismus, der unserem Hirn an Komplexität keineswegs nachsteht.

Förster Wohlleben erzählt von den kleinen »Baum-Babys«, die im Schatten des Laubdaches dahindarben und eingehen würden, würden sie nicht von den älteren Bäumen mit Nahrung versorgt. Er erzählt auch von alten, kranken Bäumen oder gar von den Stümpfen abgesägter Bäume, die über das Wurzelnetzwerk von den Nachbarbäumen gepflegt, gefüttert und am Leben gehalten werden. Peter Wohlleben wurde kritisiert: Er vermenschliche die Bäume zu sehr und er würde keinen wirklichen Wald beschreiben, sondern eher einen »Bambi-Wald«, in dem alle Bewohner lieb zueinander sind. In der heutigen Zeit ist diese Verniedlichung jedoch vielleicht notwendig, damit man überhaupt Gehör findet.

Ein weiterer Pionier der Erforschung der Kommunikationsfähigkeit der Vegetation ist Stephano Mancuso, Leiter des International Laboratory of Plant Neurobiology. Pflanzliche Neurobiologie? Was soll das sein, Pflanzen haben doch keine Nerven! Professor Mancuso antwortet: Das Verhalten der Pflanzen kann durchaus als intelligent bezeichnet werden. Sie sind die ältesten und die erfolgreichsten Lebewesen auf Erden, eine halbe Milliarde Jahre Erfahrung haben sie hinter sich. Vielleicht ist es der Wald selber, der mit den tiefsten Schichten unseres Bewusstseins kommuniziert und versucht, uns wieder zur Vernunft zu bringen. Das mag esoterisch klingen, doch für unsere Ahnen und für die Schamanen, denen ich als Ethnologe begegnet bin, wäre das keine Unmöglichkeit. Auch die Basler Wissenschaftlerin Florianne Koechlin sollte in diesem Zusammenhang erwähnt werden; in ihren Büchern zeigt sie, dass Pflanzen, auch Bäume, untereinander mittels Duftstoffen palavern, dass sie Lichtstärke und -intensität genau messen, Berührungen wahrnehmen und auf Töne reagieren. Sie sind keineswegs die passiven, dumpfen Geschöpfe, als die sie uns allgemein erscheinen.

Waldkindergärten, Waldfriedhöfe und Waldwanderungen werden zurzeit immer beliebter. Die Bücher von Wladimir Megre erzählen von der Waldfrau Anastasia, die wie eine Elfe in einer Waldlichtung tief in der sibirischen Taiga in Eintracht mit Bären, Wölfen, Eichhörnchen und anderen Waldbewohnern lebt und sich von Nüssen, Wildobst, Beeren und Pilzen ernährt. Man könnte das als romantische Träumerei abtun, aber dass sich Megres Bücher zwölf Millionen Mal verkauft haben und in ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, zeugt von der Sehnsucht der modernen, zivilisationsgeschädigten Menschheit nach Ursprünglichkeit und Natürlichkeit.