Anke Höhl-Kayser

Die Schatten von Sev-Janar

 

 

Fantasy 12

 


Anke Höhl-Kayser

DIE SCHATTEN VON SEV-JANAR

 

Fantasy 12

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: Mai 2016

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Noëlle-Magali Wörheide

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 942533 95 9

 


Für Baloo – mit dem größten Stock von allen auf der Jahreszeitenwiese

 

Für Baloo –

mit dem größten Stock von allen auf der Jahreszeitenwiese

 


Over The Rainbow

 

 

Somewhere over the rainbow

Way up high,

There’s a land that I heard of

Once in a lullaby.

 

Somewhere over the rainbow

Skies are blue,

And the dreams that you dare to dream

Really do come true.

 

Someday I’ll wish upon a star

And wake up where the clouds are far

Behind me.

Where troubles melt like lemon drops

Away above the chimney tops

That’s where you’ll find me.

 

 

Text: E. Y. Harburg, Harold Arlen

 


Artie ist neu hier!

 

 

1.

 

Das erste, was Artie merkte, noch bevor er die Augen aufschlug, war, dass ihm nichts mehr wehtat. Der Bauch nicht, die Gelenke nicht. Und ihm war auch nicht mehr übel.

Toll, dachte Artie und rekelte sich wohlig. Das ist richtig toll, nun bin ich wieder gesund!

Er freute sich schon auf das Futter, das sein Herrchen Tom ihm zubereiten würde. Er hatte ordentlichen Hunger! Nach dem Verzehr dieser schmackhaften Fleischbrocken im Garten hatte er nur noch Bauchschmerzen gehabt. Und zusätzlich plagten ihn Schuldgefühle, denn Tom erlaubte ihm nie, Dinge zu fressen, die einfach herumlagen. Bei den Fleischstücken hatte Tom es aber nicht gesehen, und Artie war sich so großartig vorgekommen, so schlau, sein Herrchen überlistet zu haben – bis ihn die schlimmen Schmerzen packten.

Nun, das war vorbei! Wenn es wieder diese leckeren Hähncheninnereien gab, die er einfach nicht mehr hatte fressen können, obwohl sie so verführerisch dufteten … Hmmmmm! Und natürlich musste er unbedingt für Tom die Spezialshow veranstalten. War ja ganz selbstverständlich. Er würde so begeistert an den Napf rennen, als ob sein Magen ein schwarzes Loch sei. Genau so wie früher. Bei dem Gedanken daran lief ihm das Wasser in der Schnauze zusammen, und er begann zu sabbern.

Heute würde Herrchen nicht traurig sein, heute würde er nicht Arties vollen Napf seufzend in den Mülleimer entleeren! Heute war kein Gang zum Tierarzt fällig! Heute würde Artie alles auffressen, bis auf den letzten Krümel!

Er wollte Herrchen strahlen sehen. Artie wusste genau, wie Tom sich freuen würde, wenn sein Hundefreund endlich wieder sein Futter auffraß!

Behaglich blinzelte er, als Strahlen einer freundlichen Sonne seine Augenlider trafen. Das war mal ein außergewöhnlich heller Frühlingsmorgen. Schön, dann würde der Spaziergang gleich besonders viel Spaß machen.

Aber als Artie die Augen öffnete, merkte er, dass etwas nicht stimmte.

Er war nicht zu Hause, nicht in seinem Korb an Herrchens Bett.

Es war auch nicht Frühling.

Über ihm spannte sich ein beeindruckend weiter, tiefblauer Himmel. Weißkuglige Wolkengebirge wanderten majestätisch darüber. Hier und da spannten sich Regenbögen. Die große Sonne am Himmel schien mit besonders angenehmem, fremd wirkendem Licht, alles sah ein ganz klein wenig goldgelb aus. Ein bisschen süß und appetitlich, als ob man durch Honig schaute. Freundlich und vertrauenerweckend jedenfalls, genau so, wie Honig schmeckte: Wenn man ein Süßmaul wie Artie war, wusste man das.

Artie lag im Schatten unter einem Baum und schaute auf eine weite Landschaft, in der sich alle Jahreszeiten vereinigten: Die Wiese vor ihm war mit sommerlichem gelb leuchtendem Löwenzahn und weißen Pusteblumen übersät, aber an anderen Stellen lag sie unter tiefem, in der Sonne wie Diamanten glitzerndem Schnee. Unter den Sträuchern an ihren Rändern blühte es bunt: Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen.

Wilde hellrosa Heckenrosen rankten sich an verfallenen Mauern empor, sie verströmten einen würzigen sehnsuchtsvollen Duft.

Der Baum über Artie trug eine Fülle bunter Blätter in herbstlichen Feuerfarben.

Weit in der Ferne rauschte das Meer.

Artie reckte die Nase und schnupperte. Es roch fremd hier – und gleichzeitig vertraut. Auf keinen Fall roch es unangenehm. Irgendwo lag noch der Duft nach seinem Zuhause in der Luft, auch wenn er sich offensichtlich dort nicht mehr befand. Es roch auch nach anderen Tieren, nach Hunden und Katzen, nach Hasen, Hamstern und allem möglichen Kleingetier. Und es roch friedlich.

In der Ferne hörte er Hunde bellen. Es war ein wildes Spielgebell, kein aggressives Kläffen. Da ging irgendwo ganz mächtig eine Sause ab. Er hatte einen Moment lang den Wunsch, hinzulaufen und mitzumachen. Das hätte er glatt geschafft! Er wunderte sich über sich selbst. Nein, keine Bauchschmerzen mehr! So gut hatte er sich lange nicht mehr gefühlt.

Er stand langsam auf und reckte sich bedächtig. Auch seine Gelenke waren erfreulicherweise wieder in Ordnung – aber warum sollte er deshalb in Hast verfallen? Er war ein Berner Sennenhund, er ging die Dinge mit Ruhe an. Hektik war die Wurzel allen Übels, das wusste doch jeder – die kleinen kläffenden Hundehüpfbälle einmal ausgenommen. Hektik führte zu Verspannungen und zu Knoten im Gehirn.

Wo um alles in der Welt war er?

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung in den herbstlichen Zweigen über sich wahr.

»Na, Langschläfer, endlich wach geworden?«, sagte jemand.

Artie entdeckte einen riesigen Schwarm von Wellensittichen in allen Farben: Der Sprecher war quietschgrün mit schreiend gelbem Kopf. Ganz dicht neben ihm hockte ein anderer Wellensittich mit grauem Gefieder. Die beiden beäugten ihn belustigt, während ihn die anderen Vögel gar nicht beachteten.

Artie wunderte sich weder, dass der Wellensittich mit ihm redete, noch dass er ihn verstehen konnte. Er wunderte sich hier über gar nichts mehr.

Ein Rascheln ließ ihn herumfahren.

Ein kleiner weißer Hund mit schwarzen und braunen Flecken war in einiger Entfernung aufgetaucht, er näherte sich schnell. Sein Schwänzchen war abenteuerlich geringelt über den Rücken gelegt, die Ohren wippten bei jedem Galoppsprung.

Ein Drahthaar-Foxterrier.

Der Terrier hüpfte wie ein Gummiball durch den Schnee. Man sah ihm an, wie viel Spaß ihm das machte. Als er auf die blühenden Abschnitte gelangte, riss er übermütig große Büschel Gras aus, während er heranrannte.

Artie starrte ihn an.

Ein kleiner Kläfferköter, auch das noch, dachte er. Nirgendwo hat man Ruhe vor denen.

Er stand mit kleinen Hunden auf Kriegsfuß, seit einer zu seinen Jugendzeiten gemeint hatte, ihn ins Bein beißen zu müssen. In den Knöchel, genauer gesagt. Höher hinauf war der kleine Stänkerer gar nicht erst gekommen, aufgrund Arties alles überragender Größe. Eine Unverschämtheit war es dennoch gewesen – und das, wo Artie nie einer Fliege etwas zuleide getan hatte!

Tom pflegte zu sagen: »Artie, du bist der Ghandi unter den Hunden!« – und Artie wusste ziemlich genau, was Herrchen damit meinte, auch wenn er niemanden namens Ghandi kannte.

Kleine Hunde waren respektlos und bildeten sich Gott weiß was auf sich selber ein. Außerdem fehlte ihnen seiner Meinung nach die Würde. Sie waren immer so albern.

Der Foxterrier hechelte, und aus seinen Augen sprühte Übermut, als er ihm gegenüberstand.

»Hallo, Arthur«, sagte er. »Keine Bange, ich kläffe und beiße nicht und ich führe mich auch nicht albern auf.«

War das ein Zufall, oder konnte sein Gegenüber Gedanken lesen?

Artie stellte fest, dass es eine Hündin war, und eine ausgesprochen hübsche dazu. Sie hatte einen beigebraunen Kopf und einen weißen Körper mit braunen und schwarzen Flecken. Sie sah sehr elegant aus mit ihrem kurz getrimmten Haarkleid, den plüschigen weißen Fahnen an den Beinen und dem breit geschnittenen Bart an der Schnauze. Irgendwie kam ihm die Hündin bekannt vor, Artie erinnerte sich an etwas – aber er konnte die Erinnerung nicht festhalten.

»Ich bin Jenny«, sagte die Foxterrierhündin. »Ich heiße dich hier willkommen. Du wirst jede Menge Spaß haben, und du wirst gar nicht merken, wie schnell die Zeit vergeht, während wir alle warten.«

Angesichts all dieser unverständlichen Dinge war die einzige Frage, die Artie formulieren konnte: »Warten worauf?«

Jenny ließ sich auf ihr Hinterteil plumpsen. Ihre rosa Zunge hing seitlich aus dem Maul, und ihre Zähne blitzten. Sie sah aus, als ob sie lache.

Ja, jetzt – genau! Artie erinnerte sich, und diesmal konnte er das Bild in Gedanken greifen. Sein Herrchen hatte genau so ein Foto bei sich am Bett stehen. Es zeigte eine Foxterrierhündin mit demselben Gesichtsausdruck. Er hätte schwören können, dass der Hund auf dem Bild Jenny war.

»Das ist auch so«, antwortete Jenny. Anscheinend konnte sie seine Gedanken tatsächlich lesen. Artie, der ja eigentlich längst aufgehört hatte, sich hier über etwas zu wundern, war nun doch verblüfft.

»Was ist das hier?«, wollte er wissen.

Jenny wurde ernst.

»Es gibt viele Begriffe dafür«, sagte sie. »Früher nannten die Menschen das den Hundehimmel. Heute sagen viele, es ist das Land hinter der Regenbogenbrücke. Das trifft es alles nicht wirklich. Hier gibt es wohl manchmal Regenbögen, wie du siehst – aber sie sind für uns nicht besonders interessant, schließlich kann man daran nicht schnuppern. Ich glaube, sie sind mehr für die Menschen gedacht, die finden den Gedanken tröstlich, dass wir von Schönheit umgeben sind. Tatsächlich nennt man dieses Land übrigens Arcuria. – Und hier gibt es auch nicht nur Hunde. Das siehst du ja schon an denen da oben.«

»An denen da oben«, äffte der grüne Wellensittich sie nach. »Dir fehlt der Respekt, Fräulein. – Artie ist neu hier, was soll er für einen Eindruck von uns bekommen!«

»Bilde dir nur nichts ein, weil du eine Zeit lang vor mir hier hergekommen bist, Seamus«, antwortete Jenny vergnügt. »Weißt du noch, dass ich dich beinahe an der Schwanzfeder erwischt hätte? Tom hat es gerade noch verhindert. Eigentlich schade.«

»Du warst eben zu langsam«, sagte der Wellensittich und kicherte. Der zweite Wellensittich meinte: »Aber das Klacken ihrer Zähne tut mir heute noch in den Ohren weh.«

Dann lachten sie alle drei.

»Es gibt noch ein Foto«, sagte Artie versonnen und versuchte seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu sortieren. »Ein Foto mit Tom, wo er zwei Wellensittiche auf dem Finger hat und du, Jenny, stehst auf den Hinterbeinen davor und möchtest sie fressen.«

Die Wellensittiche und Jenny lachten erneut.

»Seamus und Billy-Bob waren schon immer ziemliche Scherzkekse«, sagte Jenny. »Sie wussten genau, dass ich sie niemals kriegen würde, aber sie haben mich immer denken lassen, ich schaffe es.«

»Und hat dir das etwa keinen Spaß gemacht?«, erkundigte sich der graue Sittich namens Billy-Bob.

»Moment mal.« Arties Gedanken, die in völligen Nebel getaucht waren, begannen sich zu klären. »Bedeutet das –«

»Ja«, sagte Jenny. »Dein irdisches Leben ist vorbei.«

Artie musste sich erst mal setzen.

»Na, das erklärt einiges«, sagte er schockiert.

Sein erster Gedanke galt Tom. Was würde der wohl machen?

»Tom wird schrecklich traurig sein«, sagte Jenny leise. Sie hatte wieder seine Gedanken gelesen. »Besonders in den ersten Wochen. Aber irgendwann wird er sich an die schönen Zeiten mit dir erinnern. So wie er es bei Seamus, Billy-Bob und mir macht. Es wird ihm besser gehen. Er wird Fotos anschauen und sich daran freuen können, dass du bei ihm warst. Er wird immer von dir erzählen. Und ein Teil von ihm spürt, dass er uns alle eines Tages wiedersieht.«

»Wie soll das gehen?«, fragte Artie mutlos.

»Nun, die Menschen kommen uns hier abholen«, sagte Jenny ruhig. »Weißt du, wenn sie selber das irdische Dasein verlassen. – Nicht alle. Zum Glück! Manche, die uns schlecht behandelt haben, werden uns nicht wiederfinden, und das ist gut so. Manche glauben nicht an dieses Wiedersehen, und diese finden auch den Weg zu uns nicht. Das ist wiederum traurig. Aber die anderen kommen. Jeden Tag werden hier welche von uns abgeholt. Das Wiedersehen ist immer am schönsten. Wir vermissen unsere Menschen, auch wenn es uns hier so gut geht. Wir warten auf sie.«

Seamus pfiff laut.

»Und in der Zwischenzeit haben wir jede Menge Spaß«, verkündete er und gab Billy-Bob einen heftigen Nasenstüber, sodass der beinahe vom Ast fiel. »Jede Menge, ich sag’s dir.«

»Ich mag nicht, wenn Tom traurig ist«, sagte Artie bedrückt. »Er war meinetwegen schon die ganze Zeit traurig, weil ich diese Bauchschmerzen hatte, nun ist er sicher noch trauriger. Ich will hier nicht sein. Ich will zu ihm und ihn trösten.«

Jenny erhob sich und baute sich mit ernster Miene vor ihm auf. Sie war viel kleiner als er, aber in diesem Moment wirkte sie beeindruckend.

»Artie, das ist Unsinn«, sagte sie. »Die Menschen kommen drüber weg. Wenn Zeit vergeht, lässt sie Erinnerungen in milderem Licht erscheinen. In solchem Licht wie diesem hier. Schau dir die Sonne über uns an, dann weißt du Bescheid. Mach dir keine Sorgen. Genieße dein Leben hier, Tom ist schneller bei uns, als du denkst. – Hast du eigentlich keinen Hunger? Dein Magen knurrt mich so böse an, als wolle er mich verschlingen. Komm mit, dort drüben gibt es das leckerste Futter, das du dir vorstellen kannst!«

Artie nickte. Klar hatte er Hunger. Das war sein Normalzustand.

Als er hinter Jenny her trabte, sah er schon unter Bäumen große silberne Näpfe aufgestellt, aus denen es köstlich herüber duftete.

Aber ganz war er mit seinen Gedanken nicht beim Fressen, auch wenn im Moment sein Magen eindeutig intensiver für ihn dachte als sein Kopf.

Irgendetwas in dem, was Jenny gesagt hatte, ließ Artie stutzig werden. Aber er konnte sich nicht konzentrieren wegen des appetitlichen Geruchs und Geschmacks seines Futters. Es gab tatsächlich diese köstlichen Hähncheninnereien mit Sahnesoße und Erbsen und Möhren, und man konnte fressen, soviel man wollte. Der Napf wurde erst leer, wenn der Magen randvoll war. Herrchen wäre begeistert gewesen und hätte sicher gleich wieder ein schlechtes Gewissen wegen Arties Gelenken gehabt. Artie war aber überzeugt, dass das hier nichts machte. Hier in Arcuria wurde man bestimmt nicht dick, und Gelenkschmerzen gab es auch nicht. Nachdem er gefressen hatte und pappsatt neben Jenny zu einem Verdauungsschläfchen die Augen schloss, fiel ihm endlich auf, was an Jennys Worten so besonders war: Jenny hatte nicht gesagt, dass Arties Vorhaben unmöglich war. Sie hatte nicht davon gesprochen, dass es keinen Weg zurück gab.

 

 

2.

 

Der Gedanke an Tom ließ Artie nicht los. In den nächsten Tagen begann er, seine Rückkehr zu planen. Für ihn stand fest: Er konnte sein Herrchen in seinem Kummer nicht allein lassen. Das hatte er in seinem ganzen Leben nicht getan, und er würde jetzt ganz sicher nicht damit anfangen. Er war immer für Tom da gewesen, so wie Tom für ihn. Wenn Herrchen traurig war, hatte Artie seinen Kopf in Toms Schoß gelegt, und sie hatten in der gegenseitigen Nähe Trost gefunden. Das war genau das, was Herrchen jetzt brauchte. Ganz eindeutig.

Und anschließend würde Artie wieder hierher zurückkommen. Sobald Tom ausreichend getröstet war. Artie freute sich schon darauf, in Ruhe Abschied nehmen zu können und seinem Menschen die Gewissheit zu geben, dass sie einander eines Tages wiedersahen. Denn er hatte sich ja so schnell aus seinem irdischen Dasein verabschiedet, dass dafür keine Zeit geblieben war.

Jenny konnte er aber nicht fragen, wie man zurückkam, das war klar. Jenny war clever, die merkte alles. Und außerdem besaß sie ja auch noch die unheimliche Fähigkeit des Gedankenlesens.

Aber das war nicht schlimm, denn er fand in Arcuria Gesprächspartner genug.

Jenny führte ihn in seinem neuen Zuhause herum und machte ihn mit allen anderen Bewohnern bekannt. Viele Hunde kannte er noch von früher aus der Menschenwelt – sie waren vor ihm hierhergekommen. Er begegnete geschätzten Freunden, die alt und respektabel gewesen waren, als er noch auf tapsigen Welpenbeinen die Gegend unsicher machte. Sie hatten ihm gezeigt, wie man sich als würdevoller Hund benimmt, und dafür war er dankbar. Für einen Berner Sennenhund war das wichtig. Die kleinen Hunde konnten albern sein, wie sie wollten, aber wenn man so groß war, musste man über Erhabenheit verfügen. Artie hatte das von diesen alten Hunden gelernt. Er hatte sich übrigens nie wirklich Gedanken darüber gemacht, was mit ihnen geschehen war, wenn sie auf einmal fort waren. Aber vermisst hatte er sie schon. Das Wiedersehen mit ihnen war sehr schön, und Jenny zog sich respektvoll zurück, damit die alten Freunde die Gelegenheit hatten, in Ruhe miteinander zu sprechen und zu spielen.

Er traf aber auch die kleinen, rauflustigen Kläffer, die ihn geärgert hatten und denen er in weitem Bogen aus dem Weg gegangen war. Hier waren sie ganz verändert. Sie hatten plötzlich ihre eigene Würde. Artie staunte, als manche ihm erklärten, warum sie so biestig gewesen waren. Anders als er hatten sie durch ihre Menschen wenig Rückhalt gehabt, doch hier in Arcuria waren sie frei von der Angst und den Selbstzweifeln ihres irdischen Lebens.

Artie begriff, dass seine riesige Statur ihnen Panik eingeflößt haben musste, und er leistete ihnen im Stillen Abbitte.

In solchen Momenten erforschte Artie die Geheimnisse Arcurias. Seine alten Freunde gaben meist bereitwillig Auskunft. Zum Glück durchschauten sie ihn nicht so wie Jenny. Manche merkten gar nicht, worauf er hinauswollte, wenn er sie aushorchte. Artie fühlte sich nicht immer wohl dabei, seine Freunde auszuspionieren, aber dann dachte er an Tom, und dass er ihn unbedingt trösten musste.

Nach und nach hatte Artie herausgefunden, dass es an einer der Grenzen Arcurias zum Meer irgendwo ein Tor für die Neuankömmlinge gab. Anders als er erinnerten sich manche tatsächlich an ihren Weg durch das Tor. Sie beschrieben es als eine Pforte aus reinem Licht.

Aber keiner konnte sich genau erinnern, wo dieses Tor war.

Bis auf den Schäferhundmischling Paddy, mit dem Artie in Welpenzeiten in der Hundeschule gespielt hatte.

Der wusste Bescheid! Er war schon damals ein ausgesprochen guter Spürhund mit einem enormen Gedächtnis gewesen, weshalb sein Frauchen und Herrchen ihn auch die Jagdhundebrauchbarkeitsprüfung hatten ablegen lassen, wovon er bereits während seines irdischen Daseins stets stolz berichtet hatte.

»Ich vergesse nichts«, sagte Paddy, während seine schwarze Nase sich sorgfältig schnuppernd hin- und herbewegte. »Keinen einzigen Weg, den ich je gegangen bin, habe ich vergessen. Frauchen und Herrchen waren immer begeistert, dass ich an Urlaubsorten nach einem Jahr noch das Ferienhaus wiederfand. Dabei ist das ganz leicht für mich. Die Wege haben alle einen ganz besonderen Geruch, der sich verändert, wenn ich einmal dort entlanggegangen bin. Und sie bekommen eine andere Farbe. Es ist wie eine Geruchskarte im Kopf. Gar kein Problem, alte Wege wiederzufinden!«

»Kannst du mir das Tor denn zeigen?«, bat Artie.

»Warum interessiert dich das so?«, fragte Paddy, während sie gemeinsam über die Wiesen und durch den Wald galoppierten. »Ich meine – wartest du auf jemanden? Oder was ist los?«

Artie hatte in seinem ganzen Leben noch nie jemanden belogen, und er fühlte sich mies, als er es jetzt zum ersten Mal tat.

»Nein«, antwortete er, »ich kann mich einfach nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin, und ich wollte es mir mal ansehen. Aus reiner Neugier.«

Paddy reichte diese Auskunft. Er packte übermütig einen Ast und hielt ihn Artie hin. Gemeinsam zogen und rissen sie daran, bis der Ast ihrer Spielbegeisterung unterlag und knirschend zerbrach.

Artie hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt, und nicht nur deshalb, weil er sich endlich wieder gut fühlte.

Wenn Tom nicht wäre, dachte er schuldbewusst, dann würde ich keinen Gedanken an die andere Welt verschwenden.

Ins Spiel vertieft tobten sie durch den Wald, und für eine Weile konnte Artie sogar seine Sehnsucht vergessen. Der verführerische Salzgeruch des Meeres kam immer näher, der Artie auch an sein Zuhause erinnerte, wenn der Wind von Brighton herüberwehte. Und dann nahm er aus den Augenwinkeln ein Licht wahr: Ein strahlend weißer Bogen stand vor ihnen, wie selbstverständlich zwischen den Bäumen, umkränzt von Efeuranken, deren Blätter zartgrün im hellen Licht schimmerten. Es roch verführerisch – so warm und liebevoll, wie nur richtige Freundschaft zwischen einem Tier und seinem Menschen in Hundenasen duftete.

»Wir sind da«, sagte Paddy fröhlich. »Siehst du, es war ganz leicht zu finden. – Da bin ich durchgelaufen, als ich hierher kam. Sieht toll aus, oder? Und hmmmmm – ich mag den Geruch!«

Artie setzte sich vor den Torbogen und hob die Pfote. Zu seiner Überraschung war das Licht so fest wie Metall. Das Tor war geschlossen.

»Was machst du da?«, wollte Paddy wissen. »Man kann es von dieser Seite nicht öffnen. Es geht nur auf, wenn neue Bewohner oder Menschen zum Abholen kommen.«

»Kann man zurückgehen?«, fragte Artie ganz unverblümt.

Paddy setzte sich neben ihn. Er sah Artie an, dann schaute er auf das Tor. Er hechelte leise, und er schwieg.

Artie wusste, dass er verstanden hatte.

Erst nach einer ganzen Weile sagte Paddy: »Warum willst du das tun, Artie? Ist es hier nicht schön? Gefällt es dir nicht?«

»Doch«, sagte Artie bedrückt. »Doch, es gefällt mir hier sehr gut. Ich habe keine Schmerzen mehr, ich fühle mich wohl. Ich mag es, mit euch zu spielen, ich freue mich, meine alten Freunde wiederzusehen. Und das Futter ist hier so lecker! – Aber zu Hause ist Tom allein, und Tom ist traurig. Ich weiß das.«

Paddy nickte verständnisvoll.

»Ich verstehe dich«, erwiderte er leise. »Natürlich, dein Herrchen ist allein. Meine Menschen haben immerhin einander, aber er hatte nur dich. Ich kann verstehen, wie du dich jetzt fühlst. Aber weißt du, Artie, es nützt gar nichts, zurückzugehen. Er kann dich nicht sehen und nicht hören. Er weiß gar nicht, dass du da bist. Und du siehst nur seinen Kummer und wirst selber immer trauriger, bis das Licht des Tores erlischt und du den Weg zurück nicht mehr findest. Dann werdet ihr einander niemals wiedersehen. Und das wäre wirklich schrecklich, Artie, denkst du nicht?«

So hatte Artie das noch nicht betrachtet.

»Passiert das wirklich auf diese Weise?«, wollte er erschrocken wissen. »Dass es irgendwann keinen Rückweg mehr gibt?«

»So ganz genau weiß ich das auch nicht, weil es nicht so oft passiert«, antwortete Paddy. »Aber so erzählen es sich die Alten hier.«

Nein, das wollte Artie natürlich nicht! Er wollte sich nicht in der alten Welt verlieren, in die er nicht mehr gehörte. Er wollte Tom unbedingt an diesem Tor hier empfangen, wenn er kam, um ihn abzuholen. Das war wichtig, darauf wollte er nicht verzichten.

So sehr er sich nach seinem Herrchen sehnte – er war nicht bereit, das Risiko einzugehen.

»Nein, du hast recht«, sagte er zu Paddy. »Das will ich wirklich nicht. – Komm, lass uns zur Jahreszeitenwiese zurücklaufen, es war eine dumme Idee.«

In diesem Moment veränderte sich das Licht des Tores. Es wurde heller, wärmer. Artie roch den Duft seiner alten Welt, seines Zuhauses, als sich die Torflügel öffneten. Seine Nasenflügel bebten, als er schnupperte.

Er hörte viele Stimmen. Sie riefen Namen, aber sie waren zu weit fort, als dass man sie hätte verstehen können. Nur eine Stimme kam immer näher.

Verschwommen sah er jemanden durch das Tor treten – es war ein Mann. Lockend und fordernd rief er einen Namen. Dann pfiff er. Artie hörte jubelndes Gebell aus den Tiefen Arcurias. Nach wenigen Augenblicken flog ein struppiger kleiner Mischling nur so zwischen den Bäumen heran und warf sich dem Mann in die Arme. Er winselte und juchzte und leckte ihm das Gesicht, und der Mann drückte ihn fest an sich.

Die beiden freuten sich so sehr, einander zu sehen!

Artie dachte wieder an Tom, und er sehnte sich nach ihm. Er sehnte sich in diesem Moment wirklich sehr schlimm nach ihm.

War da nicht eine Stimme? Ja, er hörte es genau! Sie war fern, aber der Klang war unverwechselbar.

»Artie!«, rief diese Stimme traurig. »Artie! Warum musstest du nur fortgehen?«

Tom rief ihn! Wenn Tom rief, gehorchte Artie ganz automatisch.

Ohne zu überlegen, setzte Artie seine Pfote in das Licht. Er hörte nicht mehr, wie Paddy »Halt!« rief. Er ging durch die Pforte, spürte das freundliche Licht auf seinem Körper, das ihn leitete. Er lief dem Klang der Stimme nach, durch einen dunklen Gang, bis er am anderen Ende einen Schimmer sah.

Der Gang war abschüssig und glatt, Artie kam ins Rutschen, er kullerte hinunter, plumpste unelegant auf seinen Popo – und saß in der Diele seines alten Hauses.

Er hörte Tom, der seinen Namen sagte – mit Tränen in der Stimme.

Artie stand auf und rannte ins Wohnzimmer: Da saß Tom auf der Couch, Arties Leine an die Brust gedrückt. Sein feines, schmales Künstlergesicht unter der wie immer wild verwuschelten braunen Mähne war von Kummer zerfurcht. Er hatte Ringe unter seinen sonst so aufmerksamen hellbraunen Augen und wirkte viel älter, als er war. Er sah aus wie ein ganz alter Mann, mit seinen gebeugten Schultern und dem krummen Rücken. Wenn man ihn so sah, hätte man ihn für weit jenseits der siebzig halten können, dabei hatte er im vergangenen Jahr gerade erst seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert.

Artie machte einen Satz neben ihn aufs Sofa. Er durfte das!

»Natürlich darf er das!«, hatte Tom schon zu Arties Lebzeiten jedem Besucher gesagt, der fragend den großen Hund auf der Couch anschaute. Und jetzt hatte Artie erst recht einen Grund und definitiv keine schmutzigen Pfoten! Er wollte sich an Tom kuscheln und ihn trösten … Aber da stimmte doch was nicht. Er konnte Tom gar nicht spüren. Er tatzte mit der Pfote nach ihm, wie er es immer getan hatte, wenn er seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, bis es ihm schlagartig klar wurde: Sie beide befanden sich in zwei verschiedenen Welten. Die Pfote glitt durch Herrchens Arm einfach hindurch.

Es war eigentlich kein Wunder, und nach Paddys Erklärung hätte Artie damit rechnen müssen, aber es war trotzdem ganz, ganz schlimm: Tom bemerkte Artie überhaupt nicht.

 

 

3.

 

So hatte sich Artie das aber nun wirklich nicht vorgestellt.

So ein Mist!

Jetzt war Artie hier, in seinem alten Zuhause, bei seinem Tom, aber es war genau so, als sei er nicht da. Er konnte seinen Menschen nicht erreichen. Tom war untröstlich, obwohl sein Hund geradewegs neben ihm saß.

Artie hatte immer wieder versucht, Tom zu berühren, aber jedes Mal vergebens. Er streckte sich neben ihm auf der Couch aus und versuchte ihm seinen Kopf auf den Schoß zu legen, aber auch das funktionierte nicht. Er konnte zwar auf dem Sofa sitzen, ohne durchzurutschen, aber Tom schien aus einem anderen Material zu sein. Beinahe wie Luft. Oder lag es – an Artie?

Er begann, sich zu ärgern. Das war doch wohl nicht möglich. Das sollte alles gewesen sein? Sein ganzer schöner Plan – für die Katz?

Artie wusste jetzt nicht genau, warum etwas, was nicht klappte, für Katzen war. Tom sagte das immer. Arties Meinung nach hatten die Stubentiger das eigentlich nicht verdient. Die meisten Katzen, die Artie kannte, fand er sympathisch, und das hatte immer auf Gegenseitigkeit beruht. Aber er hatte gerade auch keine Zeit, sich über dumme Sprichwörter Gedanken zu machen.

Irgendwas musste jetzt geschehen.

Er sprang von der Couch und machte einen Rundgang durch das Haus.

In der Diele betrachtete er sich in dem großen Wandspiegel: In diesem Moment verstand er besser als zuvor, warum Tom ihn nicht sehen konnte. Artie wirkte auf eine seltsame Weise transparent. Seine stattliche Statur hatte sich nicht verändert, sein mächtiger schwarzer Kopf mit der weißen Schnauze, der weißen Blesse und den braunen Augenbrauen, seine bärentatzengleichen weißbraunen Pfoten, sein massiger schwarzer Körper mit dem buschigen Schwanz, der an der Spitze mit seinem Stückchen Weiß aussah, als habe man ihn in einen Farbeimer getaucht – alles war genauso wie immer. Aber um seinen Körper herum flimmerte das Licht, wie tausend Sterne in einer klaren Nacht über dem Meer. Nein, er war nicht aus dieser Welt, daran konnte kein Zweifel bestehen.

Betrübt ging Artie weiter.

Alles stand noch an seinem Platz. Sein Korb, seine Näpfe, sein Spielzeug. Er wusste nicht, wie lange es her war, dass er nach Arcuria gegangen war, aber bisher hatte Tom nicht das Geringste verändert. Das fand Artie sehr rücksichtsvoll von ihm. Andererseits bedeuteten Artie diese Dinge auf einmal gar nichts mehr, und er sah, dass sie Tom traurig machten.

»Du kannst ruhig alles fortgeben«, sagte er, als er wieder im Wohnzimmer angekommen war. »Ich brauche es nicht mehr. In Arcuria haben wir alles, was wir uns wünschen! Schenk doch das Grunzeschwein meinem besten Freund Victor, dem Mops. Er wollte es immer schon haben, und ich habe es ihm nie gegeben. Weißt du noch, wie ich ihn angeknurrt habe, wenn er damit spielen wollte? – Wie egoistisch ich war, ist das nicht seltsam? Da, wo ich jetzt bin, teilen wir alles, und niemand beansprucht etwas für sich ganz allein. Das ist viel schöner. – Victor wird sich an mich erinnern, wenn du es ihm gibst, und sich freuen. Tom! Du sollst nicht immer traurig sein! Hör doch, Tom, mir geht es so wunderbar, wie du dir gar nicht denken kannst! Bald sehen wir uns wieder, ich warte dort auf dich!«

Aber Tom reagierte nicht. Er drückte das Grunzeschwein an sich, statt darüber nachzudenken, es Victor zu geben.

Artie war allmählich ziemlich verunsichert. Was war das hier nur für ein Blödsinn? Wie kam er aus dieser Sache wieder heraus?

Ich habe einen Fehler gemacht, dachte er. Ich muss wieder zurück nach Arcuria. Oh weia, hoffentlich passiert jetzt nicht das, was Paddy gesagt hat, und ich finde den Rückweg nicht mehr!

»Hallo«, sagte da jemand sehr Kleines von unten.

Artie machte einen Riesensatz vor Schreck. Dann war ihm das peinlich, denn vor ihm stand nichts weiter als ein Meerschweinchen.

Es war dreifarbig, so wie er: rotbraun, schwarz und weiß. Es hatte einen lustigen Haarwirbel genau auf der Stirn und riesige Schlappohren, die beim Laufen auf- und abwippten. Es drehte sich um, und dabei sah Artie, dass es auf seinem Popo einen schwarzen Fleck hatte, der wie das »Echt Leder«-Zeichen in der Menschenwelt aussah.

»Wo kommst du denn her?«, fragte Artie perplex.

»Sei so freundlich und begleite mich, du Sturkopf«, sagte das Meerschweinchen. »Du hast es ja gerade zum Glück schon selber gedacht: Du möchtest wieder zurück. Jetzt hast du endlich gemerkt, dass du nicht hierher gehörst. Und ich bin dein Reisebegleiter – sozusagen. Ich sorge dafür, dass du sicher heimkommst.«

Er machte eine Pause und seine runden Augen fixierten Artie – nicht unfreundlich, obwohl er so energisch sprach.

»Du wirst deinem Herrchen jede Menge Kummer machen, wenn wir dich nicht rechtzeitig wieder rüberkriegen«, fuhr das Meerschweinchen fort. »Wie kann man nur so blöd sein, nun sag mal ehrlich. Hat es dir nicht gefallen in Arcuria? Musstest du so einen Stress machen, du Riesenfellknäuel? Berner Sennenhunde – sie sind so dusslig, wie sie groß sind. Und du bist ein besonders großes Exemplar. – Wenn ich fair wäre, würde ich natürlich sagen, es sind nicht immer nur die Berner Sennenhunde, die Schwierigkeiten machen. Eigentlich hat bisher noch kein einziger Berner Sennenhund Schwierigkeiten gemacht, außer dir. Aber ich bin nicht fair. Nicht heute, verstehst du? Das ist mal wieder so ein Montag, wie ich ihn liebe. Montags sind ausschließlich haarige Idioten um mich herum.«

In dieser Weise weitersprechend lief das Meerschweinchen durch die Diele und die Treppe hinunter in den Hausflur.

Ob der noch mal aufhört zu reden?, fragte sich Artie, während er ihm folgte.

»Ich hoffe, du bist nicht allzu begriffsstutzig«, sagte das Meerschweinchen und blieb vor der Gartentür stehen.

Artie riss die Augen auf.

»Keine Ahnung, was du meinst«, erwiderte er.

Das Meerschweinchen nahm Anlauf auf die Gartenpforte, als wolle es sie einrennen. Doch dann veränderte es seine Gestalt, wurde größer und durchscheinend, umgeben von einem blauen Leuchten. Mit einem kleinen blauen Lichtblitz durchdrang es die Tür und war fort.

»Das meine ich«, hörte Artie seine Stimme von draußen aus dem Garten. »Es kostet ein bisschen Überwindung, zu wissen, dass einem alle Wege offenstehen. Na, Großer, zeig mal, was du kannst. – Denn hinter dieser Tür liegt dein Rückweg.«

Arties Unterkiefer klappte herunter. Das Meerschweinchen erwartete doch jetzt nicht ernsthaft, dass er durch diese Tür ging?

»Doch, du Riesenblödian«, ertönte die Stimme von draußen. »Genau das erwarte ich. Nun mal flott. Die Zeit drängt. Dein Tor öffnet sich in wenigen Minuten. Ich habe schon telepathischen Kontakt zu den anderen Wächtern hergestellt. Du wirst erwartet.«

Artie schluckte. Also gut. Er hatte es ja bei dem Meerschweinchen gesehen. Man musste einfach hindurchlaufen. Konnte doch so schwierig nicht sein, wenn so ein Knirps das schon schaffte.

Er nahm also auch Anlauf und galoppierte los. Die Marmorfliesen rutschten unangenehm unter seinen Pfoten. Das kam von dem Leuchten und Flirren um seinen Körper, die Sterne waren nämlich auch unter seinen Füßen. Es fühlte sich so ungewohnt an. Und dann gab es diesen komischen weißen Blitz, der irgendwo auf seiner Nase einschlug. Artie geriet ins Schlittern und versuchte zu springen, aber dabei machte er beinahe einen Kopfstand. Die Gartentür erzitterte in ihrem Rahmen, als er polternd dagegen flog und liegen blieb.

»Ach, klasse«, kommentierte die Stimme des Meerschweinchens von draußen sarkastisch. »War ja klar. Das kann nur an diesem Wochentag liegen. Sagte ich das schon? Ich hasse Montage. Und Berner Sennenhunde sind auch nicht meine Lieblingshunderasse, ich glaube, auch das sagte ich schon. Sie sind so – plump.«

»Kannst du mal mit dem Gejammer aufhören?«, erkundigte sich Artie und rappelte sich auf. Zum Glück hatte er sich nicht verletzt. Konnte er sich in diesem Zustand überhaupt verletzen? Wahrscheinlich nicht.

»Es hat eben geblitzt, als ich versuchte durchzuspringen«, sagte er.