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Für Dagmar

HAGEN RUDOLPH

CRAFT-BIER

Brauen und Genießen

Haftungsausschluss

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

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Verlag Hans Carl

© 2019 Fachverlag Hans Carl GmbH, Nürnberg

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

Gestaltung: Wildner+Designer GmbH, Fürth

Alle Fotos: Hagen Rudolph (außer Porträt: Dagmar Petermann)

ISBN: 978-3-418-00922-3

eISBN: 978-3-418-00921-6

INHALT

Vorwort

Was ist Craft-Bier?

Craft-Bier in den USA

Viele Meinungen

Wo sind die Grenzen?

Die Craft-Bier-Szene

Brauer

Gastronomie

Läden

Spirit

Marketing

Kosten, Preise & Projekte

Biergenuss

Biergläser

Das Experiment

Glasform

Bierverkostung

Biere und Speisen

Der Schluck

Getreide, Malz und Maischen

Malze

Rohfrucht

Das Maltaseverfahren

Vor dem Schroten

Hopfen und neue Aromen

Neue Hopfensorten

Hopfenstopfen (Kalthopfung)

Viele Möglichkeiten

Die Lernkurve

Dosierung

Aromaverluste

Mikrobiologische Aspekte

Dies & Das

Exkurs: Hopfen als Heilpflanze

Hefe und Gärung

Die Gärung

Hefemenge

Propagation

Hefevermehrungsrate

Gärgeschwindigkeit und Temperaturführung

Nachgärung

Mineralstoffe

Der Zoo um uns

Alkoholfreies Bier: Saccharomycodes ludwigii

Alkoholarmes Bier: nochmal Saccharomycodes ludwigii

Weizenbier: Nelke versus Banane

Milchsäuregärung: Lactobazillen

Lambic und Berliner Weiße: Brettanomyces bruxellensis

Farmhouse Ales: Kveik-Hefen

Hefestopfen

Rauchbier ohne Rauchmalz

Weitere Rohstoffe und Zutaten

Wasser

Gewürze

Kräuter

Früchte und Blüten

Alternative Stärkequellen

Kaffee, Kakao und Süßholz

Zucker und Honig

Holz: Whiskyfässer & Co.

Biersorten oder Bierstile

Ale

Altbier

Barley Wine

Belgisches Bier

Bockbier

India Pale Ale (IPA)

Kölsch

Lager

Pale Ale

Pils

Porter/Stout

Rauchbier

Weißbier

Kein Reinheitsverbot

Bier im Namen des Gesetzes

Die Bierverordnung

Das Vorläufige Biergesetz

Die Verordnung zur Durchführung des Vorläufigen Biergesetzes

Craft-Bier und kreative Lösungen

Kein Etikettenschwindel

Hygiene beim Brauen

Nachwort

Anhang

Tabelle Neue Hopfensorten (seit 2000) im Überblick

Literatur

DVD

Danksagung

Register

Vita

VORWORT

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Malz, obergärige Hefe und Hopfenpellets

Selbst ein Wirtschaftsnobelpreisträger aus dem Jahr 2017 doziert mit Wohlgefallen über Craft-Bier und macht sich überhaupt nichts daraus, wenn es seine Pläne völlig durcheinander bringt: „Wenn wir uns in einem kühlen, reflektierten Gemütszustand befinden — zum Beispiel darüber nachdenken, was wir am Mittwochabend essen wollen, nachdem wir gerade einen sättigenden Brunch am Sonntag beendet haben —, denken wir, dass es uns nicht schwerfallen wird, an unserem Plan festzuhalten, während der Woche abends gesunde, kalorienarme Speisen zu essen. Aber wenn dann der Mittwochabend kommt und Freunde vorschlagen, in eine neue Pizzeria zu gehen, in der Craft-Biere — von unabhängigen kleinen Brauereien handwerklich hergestellte Biere — angeboten werden, essen und trinken wir schließlich mehr, als wir am Sonntag oder auch noch am Mittwoch erwartet hätten, bevor wir im Restaurant mit seinen verführerischen Düften, die aus dem Holzofen aufstiegen, eintrafen, ganz zu schweigen von einer verlockenden Liste von Spezialbieren, die zum Probieren einluden“1.

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Hagen Rudolph

Wie wir sehen, liefert Craft-Bier ein appetitanregendes Beispiel zur Verhaltensökonomik, die Richard Thaler uns hier näherbringen möchte. Als gelernter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler lese ich aus beruflichen Gründen zwischendurch jenes Buch, während ich dieses über Craft-Bier schreibe. Und da gerade Mittwoch ist und ich an diesem Tag bislang nur gesunde, kalorienarme Speisen zu mir genommen habe, dämmert mir, dass heute möglicherweise etwas nicht optimal lief. Wo ist die Holzofen-Pizza? Wo sind die Craft-Biere?

Sie sind doch allzu verlockend. Zumindest wecken sie Neugier, auch wenn nicht jedes jedem schmeckt. Aber das weiß man erst, nachdem man es gekostet hat.

Beispielsweise ein mit Marshmallows, Tonkabohnen und Torfmalz gebrautes Bier. Klingt ja eher nach Süßspeise. Wird aber Bier genannt. Ist das zulässig? Und was sind Tonkabohnen? Ich schlage nach. Sie stammen aus Südamerika, Trinidad und dem tropischen Afrika und sollen süßlich, leicht bitter und etwas nach Vanille schmecken. Für die Zubereitung von Lebensmitteln waren Tonkabohnen in den 1980er-Jahren in Deutschland verboten (das macht sie natürlich gleich interessant), weil sie zwei bis drei Prozent Cumarin enthalten. Cumarin kommt ebenso in Datteln und im Waldmeister vor. Sind die auch verboten? Erinnert das Bier an Maibowle? Ich werde es nie erfahren.

Es war ausverkauft.

Eines schönen Wintertages fragte mein Verlag an, ob ich neben meinen beiden dort bereits veröffentlichten und immer wieder neu aufgelegten Büchern „Heimbrauen“ und „Heimbrauen für Fortgeschrittene“ womöglich ein weiteres Bierbuch „in petto“ habe, vielleicht über Craft-Biere oder so. Ich hatte nicht. Aber ab dem nächsten Moment, als der Vorschlag Wirkung entfaltete, hatte ich. Also vertiefte ich mich in die Materie und ging auf die Suche …

Und stieß ziemlich schnell auf kuriose Namen wie New Beer Generation „Crazy Lazy Hazy“, Yankee&Kraut „Dry Humor“ oder Sudden Death Brewing „Pils Brosnan“ (auf dem Etikett das unverkennbare Gesicht eines James-Bond-Darstellers in Form einer Hopfendolde, dessen typisch gehaltene Wasserpistole einen Tropfen Bier verkleckert). Die Botschaft ist klar: Wir sind anders. Wir sind frech und kreativ. Wir trauen uns was und gehen neue Wege. Damit sprechen Craft-Biere vor allem junge und neugierige Menschen an. Aber natürlich sind auch ältere Bierfreunde wie ich für Innovationen und pfiffige Ideen zu haben. Und für ungewöhnliche, wohlschmeckende Biere sowieso. Denn was sich da an neuen Aromen bietet, ist wahrhaft beeindruckend und ein echter Gewinn. So entstand allmählich dieses Buch zum Bier.

Alles in allem möchte ich in diesem Buch …

imagezeigen, was die Craft-Bier-Bewegung ausmacht und welche Veränderungen sie in relativ wenigen Jahren bewirkt hat;

imageCraft-Bier-Freunden und Genießern Informationen über Craft-Bier, Rohstoffe und Brauverfahren anbieten, damit sie besser nachvollziehen können, wie Craft-Bier gebraut wird und wieviel Kreativität, Hingabe und Experimentierfreude oftmals dahinterstecken;

imageHobbybrauern und Craft-Bier-Brauern Anregungen für ihre eigenen Biere liefern, die in vielen Fällen direkt von erfahrenen Praktikern stammen.

Ein Buch über Craft-Bier ist nur möglich, wenn Brauereien und deren Biere beispielhaft genannt werden dürfen. Das kann natürlich immer nur eine mehr oder weniger subjektive Auswahl sein. Dasselbe gilt für andere Unternehmen und Produkte. Deren Erwähnungen in diesem Buch sind allesamt nicht als Werbung gedacht, sondern dienen lediglich der Information, was alles möglich ist.

Zur Beruhigung etwaiger Bierschützer unter meinen Lesern möchte ich abschließend versichern, dass sämtliche auf meinen Fotos gezeigten Biere zum Zeitpunkt der Aufnahme echt und frisch eingeschenkt waren und dass keins von ihnen nicht getrunken und dabei genossen wurde — wie es Brauch ist im Land …

Hagen Rudolph, Bardowick, im Juni 2019

1 Richard Thaler (2018), S. 155 f.

WAS IST CRAFT-BIER?

Die Zahl der Brauereien in Deutschland steigt seit Jahren. Der Bierausstoß hingegen sinkt. Geht das? Ja. Denn während einige große Brauereien schließen, kommen viele kleine hinzu. Die Kleinen brauen deutlich geringere Mengen, diese aber zumeist mit Kreativität und Liebe zum Detail. Viele von ihnen wenden sich nicht an den Massenmarkt, sondern an Genießer, die besondere Biere zu schätzen wissen. Es sind Craft-Brauereien, die Craft-Biere brauen.

Wir haben immerhin über 1.400 Brauereien in Deutschland. „Über 1.500!“ korrigiert mich der Brauer Carsten Nolte. Es ist Herbst 2018 und meine Zahl (1.492) stammt aus dem Vorjahr. „Die Lille-Brauerei in Kiel — mit den Jungs sind wir auch ein bisschen befreundet — die hatten sich erst irgendwo eingemietet, haben Kuckucksbrauer gespielt, und jetzt haben sie in Kiel endlich ein Grundstück gekauft und eine Brauerei dort hingesetzt und sind gleich Brauerei Nummer drei in Schleswig-Holstein geworden. Und die sind ganz stolz, dass sie zu dem Zeitpunkt die exakt eintausendfünfhundertste Brauerei in Deutschland waren. Also, wir haben jetzt die Eins-Fünf vollgemacht. 2015 waren es noch unter Eins-Vier. Es hat also einen richtigen Boom gegeben.“ Nach neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes gab es Ende 2018 in Deutschland 1.539 Brauereien.

Craft-Bier-Boom, schön und gut. Aber warum müssen wir unbedingt den englischen Begriff „craft“ vor unser Bier setzen? Und wenn schon „Craftbier“ oder „Craft Bier“ oder „Craft-Bier“ — welche Schreibweise ist korrekt? Der Duden kennt das Wort jedenfalls noch nicht. Und so habe ich mich wegen der Englisch-Deutsch-Kombination für Variante drei mit zwei Wörtern und Bindestrich entschieden. Das gilt analog für „Craft-Brauer“, „Craft-Brauerei“ und so weiter. Bei rein englischen Varianten wie „Craft Beer“ entfällt der Strich.

Das englische Substantiv „craft“ steht unter anderem für Handwerk, Geschick, Gewerk, Fertigkeit oder Kunst, aber auch für Zunft oder Handwerkerinnung. Das Verb „to craft“ bedeutet etwas anfertigen, etwas (kunsthandwerklich) gestalten, etwas von Hand fertigen. Das Substantiv „craft beer“ oder „craftbeer“ wird als Craft-Bier übersetzt und die „craft brewery“ heißt zu deutsch Gasthausbrauerei, Hausbrauerei, Kleinbrauerei, Kleinstbrauerei, Minibrauerei, Wirtshausbrauerei oder Mikrobrauerei.

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Craft-Pils (ungefiltert) im passenden Glas

Davon gibt es in Deutschland seit jeher viele. Vor allem im Frankenland finden sich Hunderte von Brauereien — gefühlt mindestens eine in jedem Dorf. Sie haben Tradition und halten sich oft seit Generationen im Besitz einer stolzen Brauerfamilie. Sie brauen ihr Bier handwerklich in Anlagen von überschaubarer Größe. Ist das nicht Craft-Bier?

Craft-Bier in den USA

Ortswechsel. Die Vereinigten Staaten von Amerika — Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Auch Bier floss dort praktisch unbegrenzt. Freilich nur in begrenzter Auswahl. „Budweiser“ hat einen guten Klang in europäischen Ohren, war (und ist) in den USA aber ein Erzeugnis von Anheuser-Busch InBev. Der Streit um die Namensrechte mit der tschechischen Brauerei aus Budweis zog sich jahrelang hin und führte dazu, dass das US-„Budweiser“ in Europa aus markenrechtlichen Gründen lediglich „Bud“ genannt werden darf — aber das nur am Rande. Wer in den USA kein „Budweiser“ mochte, trank „Miller“ von SABMiller (heute MillerCoors, LLC). Und wer dies nicht mochte, kaufte „Michelob“, wiederum von Anheuser-Busch. Das war es dann so ziemlich. Hinzu kamen Importbiere wie „Beck’s“ und „Heineken“. Die große Mehrheit war zufrieden damit.

Doch Neil Young erklärte „Ain’t singing for Miller, don’t sing for Bud …” (in „This Note’s For You”).

Hier und da muss es wohl Menschen gegeben haben, die Bier nicht nur trinken, sondern besondere und vielfältige Biere genießen wollten. Sie verspürten gewissermaßen den Wunsch, ihre eigenen Zaubertränke zu kreieren. Aber sie durften nicht. Das Hausbrauen war illegal — ein Relikt aus der Zeit der Prohibition (1919—33). Für einen Lichtblick sorgte im Oktober 1976 Jack McAuliffe mit der Eröffnung seiner New Albion Brewing Company in Sonoma, Kalifornien. Sie gilt als erste amerikanische Craft-Brauerei seit der Prohibition, wurde aber mangels Wirtschaftlichkeit im November 1982 wieder geschlossen (ihre Markenrechte erwarb später die Boston Beer Company)2.

Dann kam ein historischer Tag. Am 14. Oktober 1978 unterzeichnete Präsident Jimmy Carter die vom kalifornischen Senator Alan Cranston vorgelegte Gesetzesänderung „H.R. 1337“3. Sie gestattete das Brauen von 100 Gallonen4 Bier pro Jahr (379 Liter) für den Eigenbedarf in Haushalten mit einem (oder 200 Gallonen bei mindestens zwei) Erwachsenen. Sie befreite Hobbybrauer von der Biersteuer und schaffte die Hinterlegung einer hohen Sicherheitsleistung (penal bond) für die Ausübung der Brautätigkeit ab — allerdings nur auf Bundesebene. Staaten konnten eigene Regelungen treffen. Alabama und Mississippi machten davon Gebrauch. Dort blieb das Heimbrauen bis 2013 verboten.

Damit durfte der Geist des Heimbrauens endlich aus der Flasche und wuchs schnell zu einer kreativen Bewegung. Binnen weniger Monate nach Inkrafttreten von Bill H.R. 1337 legte der Kernphysiker Charlie Papazian gewaltig los. Er gründete noch 1978 zunächst die American Homebrewers Association5, die für ihre Mitglieder das Heimbrauer-Magazin Zymurgy herausgibt. 1979 gründete Papazian die Association of Brewers, aus der 2005 nach dem Zusammenschluss mit der 63 Jahre alten Brewers’ Association of America die heutige Brewers Association6 hervorging. Er organisierte 1982 in Boulder, Colorado auch das erste Great American Beer Festival, ein dreitägiges, jährlich stattfindendes Spektakel. Es wurde später nach Denver, Colorado verlegt und hatte zuletzt (2018) mehr als 60.000 Teilnehmer. Die Zahl der mitwirkenden Brauereien stieg von 22 (1982) auf rund 800 (2018)7.

Viele Bierfreunde hatten vom American Light Lager die Nase voll. Mit einer gewissen Verzögerung — schließlich mussten sie zunächst Erfahrungen mit dem endlich legalen Bierbrauen sammeln, bevor sie eigene Brauereien aufmachen konnten — starteten Hobbybrauer durch und brachten frischen Wind und eine gewaltige Dynamik in den langweiligen Biermarkt.

Die Zahl der Brauereien (siehe die folgende Tabelle)8 war von 857 (1941), dem vorläufigen Höhepunkt nach der Prohibition, auf 89 (1978) gesunken. Doch nun bildeten sich Craft-Brauereien in zunächst langsam, dann schnell wachsender und zuletzt regelrecht explodierender Zahl. 1979 entstand eine neue Brauerei — die Sierra Nevada Brewing Company in Chico, Kalifornien durch Ken Grossman und Paul Camusi. Sie ist aktuell die zehntgrößte Brauerei in den Vereinigten Staaten. 1980 wurden zwei neue Brauereien gegründet. 1990 existierten bereits 284 Brauereien, soviel wie seit 1952 (285) nicht mehr. 1996 wurde die Tausender-Marke geknackt. Ende 2018 waren es 7.450 Braustätten, die meisten von Hobbybrauern gegründet.

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Tabelle 1: Entwicklung der Zahl der Brauereien in den USA von 1873 bis 2018

Mindestens 90 Prozent aller professionellen Brauer haben als Hobbybrauer angefangen9 — was allerdings kein Wunder ist, da laut Bill H.R. 1337 jede Person als Brauer gilt, die Bier zum Zweck des Verkaufs braut. Eine formale Ausbildung ist danach nicht erforderlich, lediglich einige Genehmigungen müssen eingeholt werden. Es mag wohl so ein ehemaliger Hobbybrauer gewesen sein, der seine Erfahrungen in den bissigen Spruch packte: „A Craft Brewer is just a Home Brewer that got tired of his friends drinking for free“ (Ein Craft-Brauer ist einfach ein Heimbrauer, der es müde wurde, seine Freunde kostenlos trinken zu lassen).

Einer der Craft-Pioniere, Jim Koch, gründete 1984 die Boston Beer Company. Sein „Samuel Adams Boston Lager“ wurde kurz nach der Einführung beim Great American Beer Festival 1985 zum „Best Beer in America“ gewählt und konnte diesen Erfolg noch dreimal wiederholen10. Das Festival und die vielen Brauereien mit ihren kreativen Bieren bescherten der Craft-Bier-Szene gewaltiges Interesse und enormen Zulauf.

Die Brewers Association legte als Definition fest, dass ein amerikanischer Craft-Brauer „small, independent, and traditional“, also klein, unabhängig und traditionell sein soll — jedenfalls bislang. Als ich Anfang Mai 2019 — kurz vor Fertigstellung dieses Buches — vorsichtshalber noch einmal nachschaute, hatte sich die Definition im dritten Punkt plötzlich geändert. Das „traditional” war verschwunden. Die Definition lautete nun schlicht: „An American craft brewer is a small and independent brewer“11.

imageKlein: Der zurechenbare Jahresausstoß beläuft sich auf maximal 6 Millionen Barrel12.

imageUnabhängig: Weniger als 25 Prozent der Craft-Brauerei gehören oder werden kontrolliert von einem Unternehmen der Alkoholgetränke-Industrie, sofern dies nicht seinerseits eine Craft-Brauerei ist.

imageBrauer (neu): „Has a TTB Brewer’s Notice and makes beer“. Also etwa: Ist vom Tax and Trade Bureau (TTB) als Brauer bestätigt und stellt Bier her13.

Die Boston Beer Company mit einem zuletzt etwas gesunkenen Jahresausstoß von 2,0 Millionen Barrel (2017) ist eine Ikone der Craft-Szene. Sie ist mit ihr groß geworden und hat sie geprägt. Inzwischen ist die BBC freilich so stark gewachsen, dass sie als neuntgrößte Brauerei der USA nicht wirklich mehr klein genannt werden kann. Nur eine Craft-Brauerei ist größer und liegt vor ihr auf Rang sechs: D.G. Yuengling and Son (kurz: Yuengling — gesprochen: Jüngling) in Pottsville, Pennsylvania, gegründet 1829. Es ist die älteste produzierende Brauerei der Vereinigten Staaten. Ihr Jahresausstoß lag 2017 bei rund 2,7 Millionen Barrel. Vermutlich hat die Brewers Association das Kriterium der Größe so weit gefasst, dass Boston Beer und Yuengling auch bei weiterem Wachstum nicht um ihr Prädikat als Craft-Brauereien bangen müssen. Damit verliert das Kriterium jedoch seine Trennschärfe und ist eigentlich überflüssig.

Die größten 15 US-Brauereien brauten 2017 zusammen 124 Millionen Barrel Bier — 72,6 Prozent des Gesamtausstoßes von 170,8 Millionen Barrel. Dass Yuengling und Boston Beer nicht unter diesen Top-15, dennoch aber auf den Rängen sechs und neun zu finden sind, dürfte damit zu erklären sein, dass die Marktführer jeweils mehrere große Braustätten besitzen. Am unteren Ende der Skala erzeugten 4.199 Brauereien — also drei Viertel von ihnen — zusammen gerade mal 1,1 Millionen Barrel und damit 0,7 Prozent der Gesamtmenge. Der Ausstoß der als Craft Breweries zusammengefassten Kontrakt-, Gasthaus-, Mikro- und Regionalen Brauereien ist von 2004 bis 2017 von 6 auf über 25 Millionen Barrel gestiegen. Trotzdem lag der Marktanteil der Craft-Brauereien bei lediglich 12,7 Prozent14. Marktführer Anheuser-Busch InBev hingegen erreichte 2018 allein schon 40,8 Prozent15. Fazit: Craft-Bier hat gewaltig zugelegt — ist aber immer noch eine Nische im Revier der industriellen Platzhirsche:

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Tabelle 2: Marktanteile der größten Brauereien in den USA — * = Hinter „All Other Domestic“ verbergen sich alle kleineren Brauereien sowie sämtliche Craft-Brauereien (2017: zusammen 12,7 Prozent).

Craft-Bier in Deutschland und Europa

Zurück nach Deutschland. Hier wird aufgrund des Reinheitsgebots (Details und Diskussion folgen später) sowieso traditionell gebraut (heißt es). Unabhängig sind wohl die meisten der über 1.500 Brauereien, auch wenn die größten von ihnen — die ohnehin niemand als Craft-Brauereien einstufen würde — häufig einer Gruppe angehören. Der Aspekt der Größe (im Vergleich zu den USA) relativiert sich, wenn man bedenkt, dass die führende Radeberger-Gruppe 2017 einen Inlandsabsatz von 10,8 Millionen Hektoliter erreichte, der sich aber auf mehrere Brauhäuser und Biermarken verteilte. Die Top-Ten in Deutschland16:

Brauerei-Gruppe

Mio hl

1. Radeberger-Gruppe (inkl. Jever, DAB, Berliner Pilsner)

10,8

2. Anheuser-Busch InBev (Beck’s, Diebels, Hasseröder, Franziskaner, Löwenbräu)

6,6

3. Bitburger-Gruppe (inkl. König, Köstritzer, Licher, Wernesgrüner)

6,3

4. Oettinger-Gruppe (Oettinger, 5.0)

6,0

5. Krombacher-Gruppe (inkl. Eichner, Rhenania Alt, Rolinck)

5,8

6. Paulaner-Gruppe (inkl. Kulmbacher, Fürstenberg, Hoepfner, Schmucker)

4,5

7. TCB-Gruppe (Frankfurter Brauhaus, Feldschlösschen, Gilde)

4,1

8. Warsteiner-Gruppe (inkl. Frankenheim, Herforder, König Ludwig, Paderborner)

3,3

9. Veltins/Grevensteiner

2,7

10. Carlsberg-Gruppe (inkl. Lübzer, Astra, Duckstein, Holsten)

2,4

Tabelle 3: Die größten Brauereigruppen in Deutschland nach Inlandsabsatz 2017 in Millionen Hektoliter

Selbst wenn man die US-Vorgabe von 6 Millionen Barrel (ca. 7 Millionen Hektoliter) proportional zur Bevölkerung auf ein Viertel reduziert, liegen nur sehr wenige Brauereien in Deutschland über diesem Wert. Die Kriterien der Brewers Association gelten also auch hierzulande (wie schon in den USA) für nahezu sämtliche Brauereien, was nicht ihr Sinn sein kann, weil Größe dann auch in Deutschland kein echtes Unterscheidungsmerkmal mehr ist. Vor diesem Hintergrund sei die Frage wiederholt, was in Deutschland und analog dazu in anderen Ländern wie Österreich oder der Schweiz als Craft-Brauerei gelten kann. Hierzu bietet das Craft-Bier-Online-Magazin Hopfenhelden eine Definition17 an, nach der eine Craft-Brauerei mindestens vier der folgenden fünf Punkte erfüllen muss. Das Schema gefällt mir grundsätzlich, aber einige Modifikationen möchte ich dennoch vorschlagen. Vor allem möchte ich die Merkmale nicht auf Craft-Bier, sondern auf Personen — nämlich die Craft-Brauerin oder den Craft-Brauer — beziehen, wie es bereits die Brewers Association getan hat. Denn das Bier an sich sollte zwar schmecken, kann für sich aber weder unabhängig, noch kreativ sein:

1. „Craft Beer zeigt Gesicht: Es gibt bei Craft Beer immer einen Menschen, einen Gründer, Brauer, Macher, der für die Marke und das Produkt einsteht.“ — Ich möchte dies als Individualität bezeichnen und im Kontrast zu Bieren sehen, die unter einer anonymen Marke laufen.

2. „Craft Beer ist unabhängig: Ähnlich wie die Brewers Association denken auch wir, dass Craft-Brauereien nicht Teil großer Konzerne sein sollten.“ — Im Prinzip ja. Allerdings wankt dieses Kriterium, weil große Konzerne kleine Ableger in das Biotop der Craft-Brauereien pflanzen. So ist Craftwerk Brewing18 eine Versuchs- und Spezialitätenbrauerei mit 20-Hektoliter-Anlage von Bitburger. Sie ging 1991 an den Start und produzierte zunächst überwiegend Bock- und Weizenbiere für spezielle Anlässe wie firmeninterne Weihnachtsfeiern und Jubiläen. In der Pilotbrauerei liefen und laufen allerdings auch Forschungsprogramme. 2003 begann man, mit den neuen Hopfensorten zu experimentieren, landete 2009 mit einem India Pale Ale endgültig beim Craft-Bier und gab sich schließlich den aktuellen Namen. Callista und Ariana, einige der jüngsten Hopfensorten (2016 zugelassen) mit markanten Fruchtaromen, erhalten hier große Aufmerksamkeit. Die Vermarktung der Bierstile — ein Blick auf die Website lohnt sich — finde ich pfiffig und gelungen. Wie soll man dies einordnen? Ist es nun Craft-Bier, oder nicht? Ich meine ja. Zwar steht ein großer Konzern mit tiefen Taschen hinter Craftwerk Brewing. Aber der Ableger ist, ebenso wie gute Craft-Brauereien, mit kreativen Ideen und hochwertigen Produkten ein Botschafter für Bier-Vielfalt. Dasselbe gilt für Braufactum, eine Tochter von Radeberger. Ihr Gründer Marc Rauschmann gehört zu den Pionieren, die Craft-Bier überhaupt nach Deutschland gebracht haben. Daher möchte ich den Aspekt der Unabhängigkeit eher auf die ideelle Ebene beziehen — auf Kreativität und Innovationsfreude — als auf die rechtlich-finanzielle Nicht-Zugehörigkeit zu einem Konzern.

3. „Craft Beer ist kreativ: Wer immer nur ein Helles braut, weil sich das so gut verkauft, der ist nicht kreativ. Es ist aber auch nicht kreativ, nur ein IPA zu brauen. Kreativ heißt, besondere Biere zu wagen, zu variieren, neu zu denken.“ — Dem kann ich so zustimmen und möchte in Gedanken die Begriffe Innovationsfreude und Inspiration mitschwingen lassen.

4. „Craft Beer ist ‚Handwerk‘: Natürlich arbeiten Craft-Brauer mit modernster Technik und ‚Handwerk‘ soll sich nicht auf das Rühren von Hand beziehen, sondern auf die Verwendung natürlicher Zutaten.“ — Dann ist der Handwerksbegriff aber irreführend und kann entfallen. Ich möchte lieber betonen, dass sie „ausschließlich (!) natürliche Zutaten verwenden“. Zum Craft-Bier gehört offenbar, neue Wege zu gehen; gerne auch unvermälzte Getreide wie Gerste, Hafer, Reis oder Mais zu verwenden; unübliche, neu gezüchtete Hopfensorten und spezielle Hefen auszuprobieren; Gewürze oder Früchte einzusetzen, auch Teile von ihnen wie Orangenschalen und einiges mehr — aber eben keine Chemie, keine künstlichen Enzyme und dergleichen.

5. „Craft Beer schmeckt: Nicht immer jedem. Aber grundsätzlich müssen die Produkte einer Craft-Brauerei schon überzeugen, damit wir sie in unserem Sinne als Craft-Brauerei wahrnehmen.“ — Richtig. Und sie müssen sortentypisch ausfallen, wenn sie schon einer Biersorte zugeordnet werden.

Somit wage ich folgende Definition und meine, dass nach Möglichkeit alle fünf Punkte zutreffen sollten, wobei es im Einzelfall Gründe geben kann, etwas großzügiger zu sein:

Definition:

Craft-Brauer brauen individuell, unabhängig, kreativ, verwenden ausschließlich natürliche Zutaten und überzeugen mit Geschmack und Qualität.

Ich gebe aber zu bedenken, dass man Definitionen nicht zum Dogma machen sollte. Meine Definition ist eher der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. Mit Blick in die Zukunft — wenn sich die Trennung zwischen Craft und Nicht-Craft zunehmend schwieriger gestaltet, wenn Craft-Bier kein hipper Trend mehr, sondern normal geworden ist — stellt sich ohnehin die Frage, ob eine Unterscheidung überhaupt noch sinnvoll und nötig sein wird. Dann sind Craft-Biere womöglich einfach nur etwas kreativer gebraute Biere.

Erfreulich ist jedenfalls, dass frischer Wind in eine zuletzt etwas verstaubte und konservative Branche weht, der uns ungeahnte Kreativität und Vielfalt beschert und Bier auch für jüngere Menschen wieder interessant macht. Dieses neue Bewusstsein und diese Begeisterung erkennt auch Holger Eichele vom Deutschen Brauer-Bund an: „Wir sehen zum einen die wirtschaftlichen Kennzahlen des Craft-Segments. Craft stand 2017 laut einer Nielsen-Studie mit rund 78.000 Hektoliter Absatz für etwa 0,4 Prozent des Umsatzes im deutschen Biermarkt. Auf der anderen Seite muss man feststellen, dass Craft trotz der geringen wirtschaftlichen Bedeutung für 60 Prozent der Medienwirkung steht. In mehr als der Hälfte aller Berichte über Bier ging es in den letzten Jahren um Craft, Rohstoffe, Start-up und die Renaissance des Brauhandwerks. Das ist natürlich ein Riesengewinn und mit Geld nicht zu bezahlen. Craft-Bier ist und bleibt ein Riesengeschenk für die gesamte deutsche Brauwirtschaft. Durch Existenzgründer, Sommeliers und Hobbybrauer, eine neue Bar- und Restaurant-Szene ist ein völlig neuer Blick auf Bier als Genussmittel entstanden. Das ist der eigentliche Ertrag der Craft-Bewegung. Der andere, der umsatzrelevante Ertrag ist hingegen eher bescheiden und wird auch in Zukunft klein bleiben. Ich fürchte sogar, dass viele Betriebe in diesem Bereich noch hart werden kämpfen müssen, um nicht unterzugehen.“19

Biersommelier Thomas Vogel hat „die Craft-Entwicklung in Deutschland von Anfang an mitverfolgt. Wir haben also auch schon so 2008, 2009 zusammengesessen mit vereinzelten Leuten in der Branche, als sich abzeichnete, dass sich besondere Biere entwickeln. Man kann die Verhältnisse in den USA aber nicht eins zu eins übertragen. Zwar wird sich viel auf die USA bezogen. Die waren schließlich der Motor der Craft-Bier-Industrie, weil diese besonderen Bierstile und die Idee hinter dem Craft-Bier letztendlich aus den USA kommen. Jetzt ist es aber so, dass man in Deutschland immer schon eine große Dichte an handwerklichen, kleinen Brauereien hatte. So gab es am Anfang der Entwicklung auch hier die Diskussion: Was ist denn Craft-Bier eigentlich? Denn wenn man das übersetzt, ist es handwerklich gebrautes Bier. ‚Crafted‘ heißt handwerklich hergestellt. Und wenn man sich manche Craft-Bier-Brauer in den USA anschaut, dann ist das keineswegs mehr Craft-Bier. Das wird dann schon in der mittelständischen industriellen Größenordnung produziert und die USA definieren das etwas anders als wir das hier tun. Hier gibt es ja mittlerweile verschiedene Strömungen, die einfach sagen: Wir finden, dass Craft nicht mehr Craft ist, wenn es zum Beispiel in größeren Töpfen hergestellt wird. Da scheiden sich die Gemüter.“

Viele Meinungen

Bamberg, die Stadt der Biere. Hier beginne ich meine Recherchen über Craft-Biere. Im Reiseführer nimmt das Thema Bier breiten Raum ein, denn viele Touristen kommen wegen des Gerstensafts in das Weltkulturerbe. Elf kleine bis mittelständische Brauereien bieten zumeist traditionelle Biere an, und schon befindet man sich im Spannungsfeld zwischen Craft und Nicht-Craft. Am bekanntesten ist vielleicht das „Schlenkerla“ Rauchbier der Brauerei Heller20 und hier wiederum unter mehreren Sorten das Märzen, welches in vierzig Länder exportiert wird. „Schlenkerla“ ist eigentlich die Marke, aber der Einfachheit halber benutze ich den Namen als Synonym für die Brauerei. Auch die Brauerei Spezial braut Rauchbier. Beide stellen ihr Rauchmalz selbst her.

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Rauchbier mit Leberkäse und Spiegelei

Innovativ ist vor allem der Kronprinz, der sich ausdrücklich als „Craft-Beer-Restaurant mit eigener Brauerei“21 bezeichnet. Dort findet der Bierfreund im Sommer 2018 unter anderem „American Pale Ale“, „Ebony Smoke Touch“, „Habemus Papam“, „Bunnahabhain Whisky Ale“ (Bunnahabhain ist ein schottischer Malt Whisky von der Insel Islay) und „Hazelnut Porter“. Bei ihnen erkennt man schon an den Namen, dass es sich um Craft-Biere handelt.

Die Meinungen, was ein Craft-Bier ist, driften in der Praxis allemal erheblich auseinander. Ob er die Bamberger Brauereien mit ihrer Vielfalt als Craft-Brauereien bezeichnen würde, frage ich den Verkäufer in einem örtlichen Craft-Bier-Geschäft. Nein, sagt er. Die machen doch nichts Neues, sondern nur das, was sie immer schon getan haben. Keine Experimente mit Hopfen oder so. Eine Ausnahme bilde lediglich der Kronprinz.

Der Kronprinz passt nicht zu Bamberg, finden Einheimische, mit denen wir in einem Biergarten ins Gespräch kommen. Wie sich zeigt, verstehen sie zwar durchaus etwas von Craft-Bier, aber wer braucht diese neumodischen Getränke? Bamberg hat eine genügend große Bier-Vielfalt, meinen sie. Und seit Jahrhunderten handwerklich in kleinen Brauereien hergestellt seien das doch sowieso alles schon Craft-Biere.

Michael Hanreich, Braumeister beim Schlenkerla, antwortet auf meine Frage, ob sein Bier — auch wenn das Schlenkerla die Bezeichnung Craft-Bier offiziell nicht verwendet — zur Szene zu rechnen ist: „Wenn man den Zusammenhang sieht zum Rauchbier und dass mit der Craft-Bier-Bewegung auch das Rauchbier einen Boom erlebt — also nicht nur unseres, sondern auch aus anderen Brauereien — da kann man auf jeden Fall davon sprechen.“

Was ist denn in seinen Augen ein Craft-Bier? „Diese Bewegung mit den Spezialitäten-Bieren, wie sie in Amerika begann, ist nicht auf ausländische Sorten beschränkt wie jetzt meinetwegen schottisches Ale oder West-Coast IPA oder ähnliches. Die sind halt ungewöhnlich und beispielsweise mit speziellen Hopfensorten eingebraut, die es vorher in Deutschland nicht gab oder die keine Verwendung gefunden haben. Die Craft-Bier-Bewegung, wie sie in Amerika Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger losgegangen ist, das waren Hobbybrauer oder Neugründungen irgendwo im Hinterhof. Sie stellten dem ganzen Mainstream-Bier etwas entgegen — Mainstream-Bier in dem Sinne, dass es Konzern-Biere oder Großbrauereien-Biere waren, die einen sehr einheitlichen Geschmack hatten. Craft-Bier war und ist eine geschmackliche Gegenbewegung. Für mich ist eine Craft-Bier-Brauerei — und in dem Sinne sind wir auch eine — eine kleine oder mittelständische, vor allem aber unabhängige Brauerei.“

„Man sieht ja auch die Großbrauereien, die jetzt auf diesen Zug aufspringen“, fährt er fort. „Für mich ist das nur ein Marketing-Gag, wenn die Brauerei XY, die man aus der Fernsehwerbung kennt, irgendwelche IPAs braut, die ich auch schon alle probiert habe, mit denen man einfach nur eine Nische füllen will, was mit dem Grundgedanken als solchem aber nichts zu tun hat. Man hat das halt für sich entdeckt, wie das oft so ist, wenn etwas in Mode kommt. Und dann sagen die Großen, wir machen da auch mit. Grundsätzlich denke ich, dass dieses Unabhängige, die Experimentierfreude dahinter und eben die Spezialität ein Craft—Bier ausmachen.“

Großbrauereien wollen verständlicherweise am Craft-Bier-Trend mitverdienen. Andererseits nimmt nicht jede Brauerei, die alle Kriterien für „Craft“ erfüllt, dieses Etikett für sich in Anspruch. Es ist nämlich auch eine Frage der Positionierung, der Zielgruppe und der Geschäftsphilosophie. Im eher konservativen ländlichen Raum tut eine Brauerei sich vielleicht gar keinen Gefallen damit, ihr Bier „Craft“ zu nennen, auch wenn es dies in jeder Hinsicht ist. Man würde damit nur unnötig seine konservative Kundschaft verschrecken, die einfach nur Bier wünscht und keinen „neumodischen Kram“. Marc Brammer aus dem beschaulichen Klein Sommerbeck (Kreis Lüneburg) möchte sein Dachs22 trotz aller Craft-Affinität vor allem als regionales Bier verkaufen.

Was ist Craft-Bier für den Braumeister beim Bamberger Kronprinz Tobias Seidel? „Das ist ein bisschen schwierig. Craft-Bier kommt ja ganz allgemein aus Amerika — da gab’s zuvor nur Einheitsbier. Dann kam diese Craft-Bier-Welle, durch die viele kleine Brauereien relativ schnell ganz groß geworden sind, mittlerweile fast genauso groß wie industrielle Brauereien etc., aber noch immer als Craft-Brauereien zählen. Nach deren Maßstäben macht jede Brauerei in Deutschland Craft-Bier, gerade hier im fränkischen Raum und auch in der Fränkischen Schweiz. Da sind ja so viele alte Brauereien und Wirtschaften, die ein super Bier machen und das ist für mich genauso Craft-Bier, weil es Handwerk ist. Für mich ist Craft-Bier, wenn ich mit guten regionalen Produkten — kann aber auch der Hopfen aus Neuseeland dabei sein oder wie auch immer — hochwertiges Premium-Bier braue und nicht auf Masse geh' wie in der Industrie, wo der Kasten für acht Euro verkauft wird.“

Tatsächlich ist Craft-Bier kein (oder jedenfalls nicht das typische) Kastenbier. Gewiss erhält man es auch in Kästen. Aber in der Regel kaufen und verkosten Bierfreunde es flaschenweise. Bei Preisen von zwei bis fünfzig Euro pro Flasche ist das auch kein Wunder. Und das sind zumeist kleine Drittelliterflaschen. Es gibt sogar noch exklusivere Spezialitäten wie den „Schorschbock“ von Schorschbräu mit 57 Prozent Alkohol — nach Angaben der Brauerei das stärkste Bier der Welt — für etwa 200 Euro pro 0,33 Liter. Preislich hat Bier damit also die Liga besserer Weine erreicht. Dennoch greifen Craft-Bier-Fans für derlei Besonderheiten gerne tiefer in die Tasche. Die hohen Preise haben mehrere Ursachen. Zum einen können kleine Brauereien einfach nicht so kostengünstig brauen wie große — bei fast der gleichen Arbeit fällt die produzierte Menge wesentlich geringer aus. Die Folge sind höhere Stückkosten (Kosten pro Liter). Auch der Vertrieb kleiner Mengen gestaltet sich aufwendiger. Zum anderen ist Hopfen in der Regel die teuerste Zutat und insbesondere für die Erzielung der besonderen Hopfenaromen werden gerne größere Mengen exotischer und seltener Sorten eingesetzt und treiben die Rohstoffkosten beträchtlich in die Höhe. Ich komme darauf zurück.

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Eine Bierverkostung wird vorbereitet

„Craft-Bier heißt immer extrem viel Hopfen oder extrem viel in irgendeine Richtung und da muss man vorsichtig sein“, weiß Tobias Seidel. „Ich kenne ja die Zahlen vom Kronprinz. Wir bieten vom Hahn zehn verschiedene Biere an plus ein paar von der Flasche. Gerade die Bamberger Biertrinker sind da etwas schwierig, weil die ihr Kellerbier und ihr Rauchbier haben. Was am meisten geht, ist halt das etwas stärker gehopfte Kellerbier und das Helle, also die Standardbiere. Es trinkt zwar gerne mal einer ein American Pale Ale, aber gefragt ist vor allem das Kellerbier.“ Was jetzt also noch fehlt und vielleicht ein wenig in die Richtung erzogen werden muss, ist das Publikum, welches die Künste des Craft-Brauers auch zu schätzen weiß. Was in den USA Jahrzehnte gebraucht hat, ist in Deutschland nicht in gerade mal sieben Jahren zu schaffen.

Vorsichtige Worte kommen von Marc Brammer, dessen Marketing den Craft-Begriff meidet. „Craft ist für uns auch eine Modeerscheinung. Wir glauben, dass Craft irgendwann weniger wird, vielleicht schon am Abebben ist. Zwar zieht der Begriff Craft-Brauerei noch in Städten. Aber gemeint sind vielleicht sogar eher Kleinbrauereien, wie es auch einige in Bamberg gibt.“

Holger Eichele, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Brauer-Bundes, haut in dieselbe Kerbe. Er nimmt „aus vielen Gesprächen mit, dass viele Craft-Brauer sich aktuell überlegen, wie sie vom Begriff ‚craft‘ wegkommen. Manche empfinden ihn sogar schon als etwas geschäftsschädigend. Sie brauen Craft und können sich damit identifizieren, aber bei vielen Konsumenten hat sich leider der Eindruck eingeschlichen, man würde einmal im Leben ein Craft-Bier probieren und hätte damit schon das ganze Spektrum erlebt. Nach dem Motto: ‚Craft? — Ach, das hatte ich schon mal …‘ Viele Menschen erkennen noch nicht, welche große Vielfalt dahintersteht.“23

Rudolf Eisemann, Hopfenhändler in der fünften Generation, sieht die Zukunftschancen von Craft-Bier recht skeptisch: „Also hierzu möchte ich nur (m)eine Markteinschätzung abgeben. Sowohl in den USA als auch in Deutschland konsolidiert sich der Markt. Einige große US Craft Brewer haben massive Absatzprobleme und mussten bereits Personal entlassen oder haben ihre Brauerei an Global Player verkauft. In Deutschland wird das Segment Craft-Bier nicht über einen Marktanteil von 0,5 Prozent hinauskommen. Dem Großteil der ‚Start-ups‘ fehlen die Vertriebswege. Ein Verkauf über Online-Plattformen bringt nicht den erhofften Erfolg. Bestehen werden nur einige Wenige — oder die Brauereien, die bereits seit vielen Jahren mit ‚konventionellem‘ Bier am Markt sind und Craft Beer nur als Abrundung ihres Portfolios sehen wie Riegele, Maisel‘s, Störtebeker, Eichbaum (solange Lidl damit beliefert wird), Schneider usw.“

Craft-Brauer müssen sich von dieser Einschätzung nicht entmutigen lassen. Aber sie sollten sie als Mahnung nehmen, sich ihr Geschäftsmodell sehr genau zu überlegen, bevor sie nennenswerte Investitionen tätigen.

Wo sind die Grenzen?