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Klaus theweleit

männerphantasien

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1. frauen, fluten, körper, geschichte
2. männerkörper
zur psychoanalyse des weißen terrors

Stroemfeld Roter Stern

Klaus Theweleit

Männerphantasien

Inhalt

Vorbemerkung

1. Band

1. Kapitel: Männer und Frauen

Sieben Ehen // Zur Zeitgeschichte und zur Art des behandelten Stoffes // Biografie-Tradition // Aufbrüche // Bräute // Entwirklichung // Nicht anfassen! // Visionen // Tilgung des Makels // Abwehrformen // Was die Soldaten lieben // Zwischenbemerkung zur »Homosexualität« und zum weiteren Verfahren // Was die Soldaten lieben (Fortsetzung) // Die Frau als Aggressor // Flintenweiber. Die kastrierende Frau // Die rote Krankenschwester // Schloss Sythen – gut für Mythen // Die Gräfin von Schloss Sythen. Die weiße Krankenschwester // Mütter // Schwestern // Heirat. Die Kameradenschwester // The Lady with the Light // Einschub über proletarische Wirklichkeit. Proletarische Frau und linker Mann. Der Realanteil der Projektionen // Attacken gegen Frauen // Lustmord // Zwischenergebnis

2. Kapitel: Fluten * Körper * Geschichte

Aggregatzustände des Körperinneren

Die rote Flut // Straße des Blutes // Kochen // Berstende Erde. Lava // Abwehr der roten Fluten

Ströme

Was da fließt … // Sehr frühe Geschichte. Die Menschin aus dem Wasser // Wunschterritorium Frau

Die Entstehung des Panzers gegen die Frau

Frühe bürgerliche Geschichte: Entgrenzung/Begrenzung der Welt und der Leiber // Entgrenzung/Begrenzung um 1500: Der weite Ozean und der »Gott innen« // Monogamisierung // Zentralisierung und »weiße Frau«. Die Geometrisierung der Leiber // Solo mit Begleitung: Falke und Medusa – oder »Es werde Ich« // Einige Hauptzüge der Reterritorialisierung über Frauen/Frauenbilder // Die »Einzige« und der Zweifel am Wesen der Wirklichkeit. Zweifrontenpanzer // Die Sexualisierung der bürgerlichen Frau im 17./18. Jahrhundert // Die Reduzierung der Frau auf die Vagina und deren Erweiterung zum Meer der Meere // Deutsche Klassik: »Neue Sittlichkeit« als neue Landnahme an den Küsten der Weib-Natur und die Weib-Maschine // Ins 19. Jahrhundert: Kristallene Woge – verheimlichte Frau. Vom Wasser zum Blut // Nachbemerkung

Einige Züge der künstlichen Aufrechterhaltung des Mangels in der Beziehung der Geschlechter

Vorbemerkung // Der Körper der Frauen als Objekt der »neuen Sittlichkeit« // Eine Form des Frauenopfers // Inzestgebot // Das Meer in der Frau. Die Flucht aus dem Doublebind. Inzestverbot/Inzestgebot // Liebesfluten in der Arbeiterlyrik – ergänzender Nachtrag

Vermischungszustände der Körperränder

Schmutz // Schlamm // Sumpf // Schleim // Brei // »Hinten« // Scheiße // »am eigenen Leibe« // Regen // Abwehr der Sümpfe, Schleime, Breie // Zusammenfassung. Republik/Revolution/Krieg

Der Körper als Schmutz

Damm und Fluss. Das Ritual der Massenaufmärsche

2. Band

3. Kapitel: Die Masse und ihre Gegenbildungen

Die Masse als Verkörperung des eigenen Unbewussten // Lustseuche // Innen: das Fremde als »Urmensch« // Aspekte der wirklichen Masse // Frauen vorneweg … // Die Unheimlichen // Ohnmacht und Entfleischung. Der Zerfall in der Masse // Masse und Kultur. Der »hochstehende Einzelne« // Kultur und Heer // Im Felde unbesiegt // Masse und Rasse // Die Nation // Das Volk // Das Ganze // Einschub: Sexualisierte Sprache // Ein Vorläufer auf dem Weg ins Reich // Die Rede // Augen

4. Kapitel: Männerkörper und weißer Terror

Sexualität und Drill

Der Umbau des Leibs in der Kadettenanstalt // Ganzheitsmaschine Truppe // Die Einzelteilganzheit. »Stahlgestalt« // Zwischenbemerkung zur Instanz des Ich // Ohnmachten // Die Absorption des sexuellen Verlangens // »Preußischer Sozialismus«

Kampf und Körper

Geschwindigkeit und Explosion. Berührung mit dem »Objekt« // Der Ort des Krieges // Soldatischer Körper, technische Maschine und faschistische Ästhetik

Das Ich des soldatischen Mannes

Fragmentpanzer // Das Ich und die Erhaltungsmechanismen // Ich-Zerfall und Arbeit

Allerlei Einzelnes, das mit dem Ich des Nicht-zu-Ende-Geborenen zu tun hat

Faschismus und Familie // Regression // Analysefähigkeit // Bewusstsein // Gedächtnis // Etwas in der Hand haben // Projektion // Geburtshilfe // Die »aggressive Natur« des Menschen // Leichenberge

Weißer Terror als Selbstbegrenzung/Selbsterhaltung

Drei Wahrnehmungsidentitäten in der Vereinigung mit dem »undifferenzierten Triebobjekt« // Schwarz Weiß Rot // Prügel // Prügelritual und Schauen

»Homosexualität« und weißer Terror

Homosexualität und Sadismus/Masochismus // Das homosexuelle Verlangen // Kontroverse // Socarides’ Der offen Homosexuelle // Der Analverkehr als Erhaltungsakt // Homosexualität in der Kadettenanstalt // Geregeltes Spiel Geschlechtswechsel // Die Attraktion des Mannes als gesellschaftliches Wesen // Freud und Geschichte // Machtkampf als homosexueller/anti-homosexueller Kampf // Double Doublebind // Zerfleischung

Schluss

Von Innen // Frieden

Anhang

Anmerkungen // Eine Art Nachbemerkung (zur Erstauflage) // Literaturverzeichnis // Zu den Bildern // Die letzte Seite (1978) // Männerphantasien. Nachwort 2018/19

Über den Hindenburgdamm, der auf dem Umschlagbild nicht zu sehen ist, fahren die Züge von der Insel Sylt zum schleswig-holsteinischen Festland, und umgekehrt.

Das Postkartenfoto vom Zug auf dem Damm bei Hochwasser habe ich beim Ansehen von Fotoalben meiner Mutter gefunden, im Frühjahr dieses Jahres. Sie war von einem Schlaganfall bewusstlos und schon auf der Reise, die keine ist. Wenn jemand gestorben ist, schaut man seine Fotoalben an und hört die Stimmen, die zu den Bildern gehörten.

Käte, geb. Minuth, elftes Kind eines Schneiders aus Cranz, wohin die Leute aus Königsberg an die Ostsee kamen, 1901–1977, hätte gern noch den Abschluss dieser (mit einem Promotionsdiplom verbundenen) Arbeit erlebt und ihren Wunsch, hundert Jahre alt zu werden, erfüllt gesehen, den sie allerdings in ihren letzten Jahren seltener äußerte.

Die Postkarte mit dem Foto lag lose im Album mit den Bildern der engsten Familie. Hindenburg, einer der Helden meiner frühesten Jugend, hatte über dem Schreibtisch meines Vaters, des Eisenbahners, gehangen, versehen mit einer faksimilierten Unterschrift, die ich lange für echt gehalten habe. Paul von Hindenburg, der Generalfeldmarschall, hat für meinen Vater ein Bild unterschrieben, das gefiel mir. Außer Hindenburg (der selber ein Damm war, Soldatendamm von Reich zu Reich durch die roten Fluten der »Republik« von Weimar) hingen Bismarck und Friedrich der Große da (wo vorher das Führerbild gehangen haben muss).

Es war 1955, als mein Vater meiner Schwester Helga und mir stolz den Hindenburgdamm vorführte. Nicht, als wäre er sein Eigentum, aber als wäre er selber die EISENBAHN, in der wir saßen und unter die der Damm gehörte. Ich war 13 und es war das einzige Mal, dass ich mich erinnere, mit meinem Vater am Meer gewesen zu sein. Ins Wasser auf Sylt ging er nicht. Es war ihm zu stürmisch und er war auch »kein großer Freund davon«.

Als der unlegalisierte Sohn eines ostpreußischen Hofbesitzers von einer Tante aufgezogen, war mein Vater als Vater immer sehr für eine richtige Familie. Aber zuallererst war er Eisenbahner, mit Leib und Seele, wie er sagte, und dann erst Mensch. Er war auch ein guter Mensch und ein ziemlich guter Faschist. Die Schläge, die er reichlich und brutal verteilte im Rahmen des Üblichen und in der guten Absicht des Affekts, waren die ersten Belehrungen, die mir eines Tages als Belehrungen über den Faschismus bewusst aufgegangen sind. Die Zwiespältigkeit meiner Mutter, die fand, dass so etwas sein musste, es aber milderte, die zweiten.

Er, der ehrliche Beamte, schummelte nicht einmal beim Kartenspielen (Doppelkopf und Skat), wie sie es tat (oft zu meinen Gunsten, und ich ließ es mir gefallen), und er ging, ein schließlich enttäuschter Beamter (denn wer lohnte den lebenslangen Dienst, nicht einmal sein letzter Chef), »am Alkohol« zu Grunde und an der deutschen Geschichte. Bruno, 1901–1966.

Keiner von uns Söhnen wollte Eisenbahner werden. Der jüngste meiner drei älteren Brüder wurde es schließlich doch. Molkereimeister, was er gelernt hatte, war ein Beruf »ohne Zukunft«, also ohne Gegenwart, geworden. Eisenbahner mit Leib und Seele ist er nicht.

Sie sind für das kommende Reich, das irgendwie nicht kam, geboren worden, meine älteren Geschwister. Reinhold – Siegfried – Brunhilde – Günter - - - - - Nibelungen, 1929–1935. Die beiden Nachkömmlinge bekamen die Namen der Niederlage: Klaus und Helga, 1942 und 1944 - - - - - Stalingradkinder.

Aus Stalingrad kam Elvis, das Kino und das übrige Amerika von Leinwänden und aus Lautsprechern über den großen Teich.

Über den Damm, der auf dem Bild nicht zu sehen ist, ist auch Monika Kubale an Land gekommen, als sie von der Insel, auf der sie 18 Jahre gelebt hatte, in die Stadt fuhr, in die auch mich die Universität gelockt hatte: Kiel, wie das, was die Schiffe unten haben.

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Für Spellbound versicherte sich Hitchcock der Mitarbeit Dalís, der ihm die Träume machen sollte; spitz, zackig, hart sollten sie eindringen in die alltägliche Welt. So sind in diesem Film die Berge – festgefügt –, an denen der Zug vorbeigleitet. Ein dynamisierter Raum, der sich durch einen anderen bewegt. Die Eisenbahn und das Kino haben bestimmt gemeinsame Wurzeln. Freud hat leider nur über die Eisenbahn geschrieben. Und darüber, wie das Unbewußte die mühsam zusammengebrachten Vorstellungen von der eigenen Person belagert. Iris Henderson trägt auf Taschen und Schals und Tüchern ihr Monogramm, als könnten sie ihr helfen, ihre Identität zu schützen. [ … ]

Sollte die Wahrscheinlichkeit wagen, ihr häßliches Haupt zu heben, sollten Sie meine Sicht von diesem Film »als phantastisch zurückweisen, dann bin ich natürlich wehrlos«.

Frieda Grafe zu »The Lady
Vanishes« in Filmkritik 12/1971

Jimi: … After you’ve gone thru all of the hell of dying, you’ve got to find out – and face – the facts to start a nationwide rebirth. But I’m not a politician, you see. All I can say is what I’ve been seeing: common sense.

But the masses are saying just the opposite.

You know who is REALLY living in fantasy land? It’s the damned masses. The masses. The point is, WHO is wrong and WHO is right? That’s what the point is – not how many people … What I’m trying to say is that somebody, has got to make a move. The others are just waiting around until you run to jelly. Then, they tick you off.

Jimi Hendrix in einem Interview in Circus, März 1969

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Wenn ich Monika aus der Klinik erzählen höre, kommen mir nicht nur die universitären Faschismus-Theorien albern vor, auch schon der Versuch sie zu kritisieren, erscheint dann banal. Wie überflüssig wäre das alles, wenn es eine Konvention des Verstehens und Verhaltens gäbe, eine Art des Zuhörens, in der ein Gefühl davon existierte, was dies für unsere theoretisierende, aufklärerische Rede bedeutet: eingelieferte Kinder, die in ihrer »auffällig« gewordenen oder verstummten Rede, das ganze System von Behinderungen, das das Leben hier ist, zur Sprache bringen, es in ihrem hilflos-revoltierenden Körper herumtragen, es in Bilder bringen, bei deren Ansehen den Betrachter die Krankheit überfällt als eine überlegene Form des Unversehrtseins – und doch sind ihre Träger »kaputt« –, wenn ich erzählen höre, wie sich ein Kontakt herstellt (wirklicher Kontakt mit Funkenschlag und Blitzen), wie eine Nähe hergestellt wird, indem man Distanzen erfühlt und ausprobiert, eine Nähe, die nicht verschlingend, eine Distanz, die nicht fern ist; wo Vorsicht ein schönes Wort wird, und mit Voraussicht zusammenhängt, mit einem Gefühl für die Wirklichkeit des Leidens, das seinen Zustand verändern möchte, aber in Sackgassen und Doublebinds steckt; – und mir dann die sorgenvolle oder hektische Unbekümmertheit so vieler (und auch die eigene) einfällt, die hier den Faschismus bekämpfen wollen, aber selber stumpf sind für die Erfahrung des Nicht-Faschistischen; – dann, so würde der Satz sich fortsetzen wollen, »könnte man verzweifeln« … (Realität einer erstarrten Semantik, aber dann doch nicht die eines Gefühls, das ich hätte).

Monika hat mich ständig konfrontiert mit ihrer anderen Art zu lesen. Wenn ich ihr Zitate, halbfertige Teile, Überarbeitetes oder auch Fertiges zu lesen gab und sie selten so reagierte, wie ich es mir gedacht oder auch gewünscht hatte. Gerade solche Züge der Texte, die ich übergangen hatte, sagten ihr oft am meisten, und ungerührt sagte sie »Ambivalenz«, wo ich schöne Eindeutigkeiten entdecken wollte, die zu glänzenden Formulierungen geführt hatten, die dann fallengelassen wurden (sodass ich jetzt ein ganz ambivalentes Verhältnis zu diesem Wort habe).

Monika und Margret Berger, beide im klinischen Umgang mit Kindern erfahren*, haben mir auch den stärksten Rückhalt gegeben, wenn ich, ohne eigene klinische Arbeit, mich getraut habe, einige der verbreiteten psychoanalytischen Ansichten über den faschistischen Typ umzuformulieren. Ich hatte nur Krankenberichte: die Form, die soldatische Männer ihren Lebenserzählungen gegeben haben, ohne es zu wissen, und ihren Terror. Besonders die Überlegungen zur Ich-Struktur des Nicht-zu-Ende-Geborenen, die im 2. Band stehen, verdanken sehr viel der generellen Zustimmung Margret Bergers, aber auch ihren Literaturhinweisen.

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Ab und zu lag im Briefkasten ein DIN A4-Umschlag mit einem oder zwei Stenorettenbändern, auf denen Erhard Lucas, präzise und freundlich, wie es seine Art ist, und scharf, wenn ihm etwas missfiel, mir erzählte, was er an den Manuskripten gefunden hatte, die ich ihm immer wenn ein Packen fertig war, nach Oldenburg geschickt habe. Dieses Buch hat angefangen als ein Kapitel zum »Weißen Terror« für seine »Märzrevolution 1920«; als es mehr wurde, hat er sein weiteres Wachstum ungefähr so begleitet, wie ich es mir von einem Leser/Kritiker/Helfer gewünscht hätte, hätte ich einen Wunsch frei gehabt. Erhard, ohne den sie nicht entstanden wäre, ist diese Arbeit gewidmet.**

*Der Zustand einiger dieser Kinder hat eine Menge mit dem erwachsener Faschisten zu tun, wie gezeigt werden wird.

**Erhard Lucas – später, nach seiner zweiten Heirat, Erhard Busemann Lucas – ist 1993, 56-jährig, verstorben. Immer noch schwer begreiflich.

Hoffentlich fällt die Macht eines Tages

allen Menschen auf den Wecker.

Schrieb Vlado Kristl in seinen Sekundenfilmen

Klaus Theweleit

Männerphantasien

1. Band

1. KAPITEL

Männer und Frauen

Sieben Ehen

Als junger Kapitänleutnant verheiratete ich mich. Da ich zur Nordseestation gehörte, glaubte ich damit rechnen zu können, in der Hauptsache in Wilhelmshaven stationiert zu sein. Ich war daher sehr froh, als mir mein Hamburger Schwiegervater draußen in Rüstringen ein kleines Häuschen baute.1

»Mir«, nicht »uns«, sagt der Mann. Damit hat er, der Kapitän Ehrhardt, Führer der Marinebrigade Ehrhardt, des berüchtigsten aller Freikorps in den ersten Jahren der Weimarer Republik, die Tatsache seiner Heirat und deren erste Folge, das Geschenk eines kleinen Häuschens, vor den Leser gerückt. Nicht einmal die Frau; über sie kein Wort, auch nicht der Name. Der Schwiegervater scheint Geld zu haben. Das Verhältnis zu Wilhelmshaven scheint bedeutender als das zu der Namenlosen.

Der Absatz, mit dem Ehrhardt seinen Bericht fortsetzt, hält die Reaktion seiner Kameraden fest: auf die »Villa«, nicht auf die Heirat. Wider Erwarten wird der Kapitän aber nach Kiel versetzt, wo es viel Arbeit gibt:

Kam ich abends nach Hause, fand ich die dicke Mappe vor und setzte mich nach dem Abendbrot bis zwölf und ein Uhr nachts an die Arbeit. Meine Frau hat sich über diese Zeit oft beklagt und gesagt: »Ich kenne von meinem Mann überhaupt nur den Rücken.«2

So viel über die ersten Ehejahre.

Trotzdem war das Leben für Frau und Kinder in dem schönen Kiel heiterer, offener und froher als in dem ewig diesigen Wilhelmshaven, der eigentlichen deutschen Marinestadt.3

Das ist die erste und einzige längere Erwähnung der Kinder und der Frau, sämtliche auf derselben Seite des Buches. Mehr als das, was das Kieler Wetter gewährt, haben Frau und Kinder nicht zu erwarten. Kiel, das Schöne, und Wilhelmshaven, das ewig Diesige, eigentlich Deutsche, vermögen das Interesse des Kapitäns stärker zu fesseln als Frau und Kinder; auch noch in dem einzigen Absatz, der ihnen überhaupt gilt. Der Kapitän Ehrhardt hat nicht völlig verschwiegen, dass es Zeitpunkte in seinem Leben gab, zu denen erst eine Frau, dann auch Kinder in sein Soldatenleben traten. Aber sie sind namenlos geblieben.

Es gibt noch eine Frau in dem Buch, die Prinzessin Hohenlohe. Dass er gerade bei ihr in München Unterschlupf fand, als er nach dem Kapp-Putsch als einer der Anführer gesucht wurde, stellt er als Zufall dar. Sie saß dafür ein halbes Jahr im Gefängnis. Er lobt an ihr »das fürstliche Gefühl der Treue gegen den Schützling«4, aber nichts deutet daraufhin, dass sie später seine zweite Frau wurde.5

Zum Verschwinden der ersten aus seinem Leben wird auch nichts gesagt.

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Der Freikorpskommandant Gerhard Roßbach, Oberleutnant, verdankt der Abneigung seiner Frau gegen Tapetentüren sein Leben; sie hängte einen Wandteppich über eine solche. So fand die Gestapo Roßbachs Arbeitszimmer nicht, in dem seine Korrespondenz mit dem SA-Stabschef Röhm lagerte, deren Entdeckung er nicht überlebt hätte. So entkam Roßbach der mit der Entmachtung der SA im Juni/Juli 1934 verbundenen Ermordung prominenter NS-Parteigenossen – (hinter der immer noch fälschlich Röhm-Putsch benannten Aktion stand wesentlich die Reichswehrführung)6 – und dieser glückliche Umstand bringt ihn dazu, seine Frau zu erwähnen. Eine vorübergehende Verhaftung war dennoch nicht zu vermeiden.

Daheim fand ich meine Frau an einem schweren Nervenleiden erkrankt. Sie lebte nur noch kurze Zeit.7

Auch sie bleibt namenlos. Keine weitere Erwähnung. Zwei Seiten später:

Die Hochzeitsreise mit meiner zweiten Frau, einer Schauspielerin an Heinrich Georges Schillertheater, gab mir Gelegenheit hierzu.

Gemeint ist die Gelegenheit, ins Ausland zu reisen. Als Anlass und Nebensache zu diesem Hauptzweck führt Roßbach seine zweite Frau ein. Auch sie hat keinen Namen. Ein Name aber dominiert den Satz: Heinrich George, der Name eines Mannes, durch den die unbekannte Frau immerhin ein gewisses Gewicht erhält. Dann blitzt ihre Silhouette nur noch einmal in der Erzählung von Roßbachs ereignisreichem Leben auf: Mit einem Kind auf dem Arm versucht sie, Einlass in das amerikanische Internierungslager zu finden, in dem Roßbach 1945 festsitzt und überlegt, wie er den Amerikanern begreiflich machen soll, dass er schon seit 1923 ein Gegner Hitlers gewesen ist (obwohl er an dessen Putschversuch am 9. November 1923 in München teilnahm). Aber er hat damit Erfolg – und in der Tat: Er war Hitlergegner im Kulissenkampf um die Führung der »völkischen Bewegung«.

Die Frau wird nicht eingelassen. Roßbach sieht sie nur von Weitem.8

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Kapitänleutnant Martin Niemöller gehörte zu Beginn des Jahres 1919 zu einem Kieler Offizierskreis, in dem der spätere Freikorpskommandant von Loewenfeld die zentrale und von Niemöller sehr bewunderte Figur abgab. Niemöller trat nur deswegen nicht in seine Marinebrigade ein, weil er es nicht über sich brachte, seine Kaisertreue durch einen Eid auf die Revolutionsregierung Ebert-Scheidemann zu entweihen.9

Er ist jungverheiratet. Von der Entstehung der Ehe erfährt man:

In Berlin studierte dazumal die älteste Schwester meines Kameraden und Schulfreundes Hermann Bremer; und es ergab sich eigentlich von selbst, daß wir uns des öfteren trafen und die dienstfreie Hälfte des Sonntags gemeinsam auf Wannsee und Havel im Segelboot verbrachten, zumal wir beide in Berlin wenig Bekannte hatten. Und der Frühsommer 1917 war voller Sonne und Wärme! Aus dieser Erneuerung einer Kinderbekanntschaft entwickelte sich zunächst ein reger Briefwechsel und dann im nächsten Jahr eine Verlobung.10

»Die älteste Schwester meines Kameraden und Schulfreundes Hermann Bremer« – das ist Name genug für die Zukünftige. Im Übrigen ging alles »wie von selbst« und auch etwas notgedrungen, da die beiden Freunde in Berlin »wenig Bekannte hatten«. Zudem handelt es sich um die »Erneuerung einer Kinderbekanntschaft« – der Entschuldigungen wahrlich genug, dass es zu der Angelegenheit mit der Frau kommen konnte. Das hinter »Sonne und Wärme« macht zwar deutlich, dass auch eine Körperempfindung im Spiel war, aber sie wird dem Frühsommer zugeschrieben. Die »Wärme« kommt nicht von der »Schwester«.

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Es kann ihnen kaum unbekannt sein, dass Sonne und Mond keine gute Ehe führen.

Im nächsten Jahr gönnt ihm der Krieg eine Pause:

Und so tat ich etwas, was seit Jahr und Tag bereits getan sein wollte: Ich fuhr am 18. Juli nach Wien und von dort weiter nach Berlin, aber nicht, um alte Fäden zum Admiralstab neu zu knüpfen, sondern um mir das Jawort meiner Braut zu holen und ihr das meine zu geben.11

Wien – Berlin – aber nicht zum Admiralstab: eine lange Vorlust um den heißen Brei, um bei der denkbar unpersönlichsten Formulierung zu enden: »Jawort austauschen«. Immer noch kein Name, dafür aber ein präzises Datum: 18. Juli 1918. (Es ist also wirklich kein Traum!)

Und von Berlin ging es nach 24 Stunden weiter zu Eltern und Schwiegereltern nach Elberfeld, wo wir unsere Verlobung feierten; und wir wußten dabei, daß die Zukunft völlig ungewiß war und dunkel genug werden könnte. Aber das eine hatten wir beide in den Jahren des Krieges gelernt, und das war mir eben jetzt ganz deutlich und lebendig geworden: Leben ist nicht das, was wir wissen und berechnen, sondern das, was wir vertrauen und wagen!12

Die Charakterisierung der Zukunft als »ungewiß und dunkel« bezieht sich sicherlich auch auf die Kriegsniederlage und deren Folgen, die Niemöller, als er sein Buch schrieb, bekannt waren, aber unbewusst wohl auch auf den Kontext der Ehe, denn bis zu dieser Stelle fehlen solche Andeutungen in der Biografie. Erst die Heirat gibt ihm Formulierungen wie »vertrauen und wagen« ein; durch das Auftreten der Frau scheint das Leben viel von seiner Berechenbarkeit verloren zu haben. Es geht jetzt nicht mehr darum, was man »wissen« kann, denn was »weiß« man von der Frau?

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Heute ist großer Festtag am Himmel.

Niemöller ging nicht ins Freikorps. Er nahm seinen Abschied von der Marine und lernte Landwirt; von seiner Ehefrau lebte er getrennt. Nur sonntags sehen sie sich:

Diese Sonntage hatten ihr besonderes Gepräge: Morgens gingen wir in Kappeln zum Gottesdienst in die Kirche, in der meine Mutter getauft, konfirmiert und getraut worden ist, oder wir wanderten über den Gabelin eine Stunde weit zum Heimatdorf meines Vaters, wo Tante Johanna, seine älteste Schwester, als Bäuerin auf Schabergs Hof ihres Amtes waltete, und besuchten dort das Kirchlein, in dem mein Großvater bis zu seinem frühen Tod die Orgel gespielt hatte. Nachmittags blieben wir zu Hause, lesend und musizierend; und die Abende wurden in der Regel mit Verwandten und Bekannten zugebracht: dann drehte sich das Gespräch häufig um die Frage des künftigen Hofes, wenn nicht eben, wie das im Frühsommer 1919 natürlich war, die großen Sorgen der politischen Entwicklung das Feld beherrschten.13

Nur er und seine Familie existieren in diesen Sätzen. Sie scheinen wie unter dem Druck eines inneren Aufpassers geschrieben zu sein. Wem will er eigentlich beweisen, dass es kaum Gelegenheit gab zu sexuellen Beziehungen? Denn auch die Nacht war sehr kurz: Um 5.30 Uhr morgens bricht Niemöller schon wieder auf zu einem Sieben-Kilometer-Fußmarsch, der ihn für eine Woche an seinen Arbeitsplatz zurückbringt.

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Rudolf Höß lief 1917 aus einem katholischen Kaufmannshaus davon, weil er es nicht mehr aushielt, dem Krieg nur zuzusehen. Er war 16 Jahre alt. Als er aus dem Krieg zurückkam, lebten seine Eltern nicht mehr. Das enthob ihn seinem Gelöbnis, Priester zu werden, kostete ihn aber sein Erbe, dessen Erhalt an die Erfüllung des Gelöbnisses gebunden war. Ein Onkel achtete streng darauf, dass die Bestimmungen erfüllt wurden. Höß fuhr nach Osten. Mit dem Freikorps Roßbach ging es (illegal) ins Baltikum. Im Umkreis dieses Freikorps blieb er bis 1923; dann wurde er wegen Beteiligung an einem Fememord zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. (Später wurde er Kommandant des KZ Auschwitz.14) Als er 1928 aus dem Zuchthaus entlassen wurde, schloss er sich dem »Artamanenbund« an, um die Landwirtschaft zu erlernen.

Schon in den ersten Tagen lernte ich da meine zukünftige Frau kennen, die, von den gleichen Idealen beseelt, mit ihrem Bruder den Weg zu den Artamanen gefunden hatte. Schon beim ersten Sehen stand unsere Zusammengehörigkeit beiderseits unverbrüchlich fest. Wir fanden uns in einem Gleichklang des Vertrauens und Verstehens, als ob wir von Jugend auf zusammen gelebt hätten. Unsere Lebensanschauung auf allen Gebieten war die gleiche. Wir ergänzten uns in jeder Hinsicht. Ich hatte die Frau gefunden, die ich mir in den langen Jahren der Einsamkeit ersehnt. Durch all die Jahre unseres gemeinsamen Lebens hindurch blieb der innere Gleichklang bis auf den heutigen Tag bestehen, unbeirrt durch all die Zufälligkeiten des Tagesgeschehens, durch Glück und Unglück, durch all die äußeren Einwirkungen. Doch eines war und blieb zu ihrem steten Kummer: All das, was mich zutiefst bewegte, mußte ich mit mir selbst abmachen, konnte ich auch ihr nicht offenbaren.15

Dieser Absatz, eine Serenade der Beziehungslosigkeit, scheint vor allem von dem Impuls bestimmt, kein konkretes Wort über die wirkliche Frau zu verraten. Wenn ein »Gleichklang« durch nichts, nicht »durch Glück und Unglück« verändert werden kann, ist an ihm nichts Veränderbares: Er existiert nicht, außer in der Vorstellung. Diese Vorstellung scheint eine von »Einheit« zu sein: »Gleichklang«, »Zusammengehörigkeit«, »Unsere Lebensanschauung war auf allen Gebieten die gleiche«, »Wir ergänzten uns in jeder Hinsicht« – es handelt sich wohl um den Versuch, eine Phantasie zu benennen, in der Höß und seine Frau (auch sie eine Namenlose) ein Wesen sind.

Dass seine Namenlose »die Frau« sei, die er sich »in all den langen Jahren der Einsamkeit ersehnt«, weist darauf hin, dass es sich bei ihr um das Abbild einer anderen handelt, die früher »die« Frau für ihn war. Diese, die Mutter, wird von Höß an anderer Stelle seine »Heimat« genannt.

Von der realen Ehefrau spricht nur der letzte Satz des Zitats, und da in schroffster Distanz. Alles, was Höß »zutiefst bewegte«, »musste« er verbergen, »konnte« er ihr nicht offenbaren. Und eben dies »blieb zu ihrem steten Kummer«.

Die vorausgehende Hymne von der Einheit gilt also der Vorstellung einer bestimmten Beziehung zur Frau, in der das Bild der Ehefrau mit einem anderen (verborgenen) Bild zur Deckung gebracht wird.*

Die Instanz eines Bruders an der Seite der Erwählten, die schon bei Niemöller auffiel, ist auch hier zu finden und offenbar in der gleichen Funktion. Der Bruder an der Seite der Schwester scheint die besondere Eignung dieser zur Ehefrau zu attestieren, sprich: Von Schwestern, die mit ihren Brüdern Boot fahren oder den Artamanen beitreten, kann man erwarten, dass sie Jungfern sind.

Wenn Höß betont, seine Frau habe »mit ihrem Bruder« den Weg dorthin »gefunden«, spürt man, wie er damit die mögliche Unterstellung abwehren will, er sei vielleicht an eine mit Männern erfahrene Frau (eine »Hure«) geraten. Es war ein Mädchen! Darauf legt er Wert.

Wie Ernst von Salomon zu seiner Ersten und Einzigen kam:

Ich fiel in Liebe. Ich fiel in die tiefste Schlucht wilder Todessehnsucht und wurde im gleichen Augenblick an die glühende Sonne der äußersten Lebensbejahung geschleudert. Auf einen Wink von IHR war ich bereit, mich, das Haus, die Stadt, die Welt in die Luft zu sprengen. Dann kaufte ich das Büchlein im Streichholzschachtelformat »Mozart auf der Reise nach Prag« und wickelte es in zwölf Folioseiten enggeschriebenen Gedichts von mir an SIE. Ich erwog, daß ich bald eine zahlreiche Familie zu ernähren haben werde, und beschloß, Überstunden im Prämienquittungenschreiben zu machen – und Gott allein weiß, wie schwer mir das fiel. Die Kollegen auf dem Büro wunderten sich, daß ich nun jeden Tag rasiert war. IHR schenkte ich vom ersten Überstundengeld ein goldenes Kettchen; dann ließ ich mir ein Wunderwerk von Anzug bauen. Übrigens wurde SIE zehn Jahre später meine Frau.16

Auch SIE bleibt namenlos. Salomons Erzählung geht dann – von diesem Einschub unberührt – weiter wie bisher, d. h., sie kreist im Wesentlichen um seine fast symbiotische Freundschaft zu Kern, einem der Mörder Rathenaus. Er vergisst Kern erst in der fünfjährigen Haft, die er der Beteiligung an der Vorbereitung des Attentats verdankt. Nach seiner Entlassung geht Salomon zu IHRER Wohnung:

Sie öffnete, erschrak, und zog mich schweigend durch den Gang ins Zimmer. Sie deckte den Teetisch. [ … ]

Als sie einmal zu mir hinsah, verbat ich mir bitter jedes Mitleid.17

Das ist alles über SIE. Am Abend des Tages geht er aus mit seinem Bruder, der sich wie selbstverständlich (d. h. unbenachrichtigt) bei ihr einfindet, in ein Café. Ohne sie.

Die »Liebe« zu IHR hatte ihm Gewaltbilder eingegeben: »die tiefste Schlucht wilder Todessehnsucht« geöffnet und ihn an »die glühende Sonne der äußersten Lebensbejahung geworfen«. Der Impuls, der daraus folgte, war, »alles in die Luft zu sprengen«. Die Gefahr der Zerstörung anderer und der Selbstauflösung geht von dieser »Liebe« aus.

Die Gedanken scheinen dabei um eine Vorstellung zu kreisen, die er »Frau« nennt, die aber etwas anderes meint. Das fällt auch an der Beobachtung auf, die er mitteilt, nachdem er die Zelle verlassen hat:

Das merkwürdigste aber waren die Frauen. Sie hatten nichts gemein mit den Frauen aus den Träumen der Zelle. Ihre Gesichter schienen eintönig und nackt und waren von derselben Monotonie wie die hohen, langweiligen Beine. Einzig die Fältchen, die leuchtende Seidenstrümpfe an den Knien warfen, erinnerten an die wüsten Qualen der Zelle, denn einzig sie schienen lebendig.18

Einzig ein fetischartiges Objekt, die Fältchen der Seidenstrümpfe an den Knien, vermag ihn zu erregen, aber nicht in lustvoller Weise: Es ist die Erinnerung an »Qualen«, die ihn dabei reizt; die »Nacktheit« dagegen erscheint ihm als »eintönig«, die »hohen« Beine als »langweilig« – zwei Attribute, die sonst als sexuell stimulierend gelten.

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Ich war Ende der dreißig Jahre alt, Junggeselle, und manches wertvolle Mädchen war mir begegnet. Aber wenn ich mich ehrlich fragte, so fand ich immer, daß in mir eine alte Jugendneigung lebte, auf deren Erfüllung ich hoffte. Wirtschaftliche Gründe standen nicht mehr im Wege, aber leider hatte ich aus anderen Gründen einen so ernsten Konflikt mit meinem Vater, daß ich kein Mädchen in unsere Familie einführen mochte.19

So beginnt General von Lettow-Vorbeck in seiner Lebenserinnerung erstmals das Problem »Frau« anzugehen. Und dieser Vorstoß muss seine Kräfte so sehr erschöpft haben, dass er gleich wieder abschweift, acht Seiten lang militärische Erörterungen einstreut, bis er fortfährt:

Auch im persönlichen Leben hatte ich Enttäuschungen. Nach der Versöhnung mit meinem Vater wollte ich mit meinem Antrag an das Mädchen herantreten, das seit meiner Leutnantszeit mein Inneres erfüllt hatte. Ich hatte mich absichtlich ganz von ihr zurückgezogen, um ihr volle Freiheit zu lassen. Und nun erfuhr ich, daß soeben ihre Hochzeit stattfand. Ich fiel aus allen Wolken. Auch bei der Bewerbung um eine andere hatte ich keinen Erfolg. Ihr Herz war nicht mehr frei. So war ich bei aller Schärfe meines militärischen Dienstes innerlich zeitweise recht geknickt.20

Worin der »ernste Konflikt« mit dem Vater bestand, wie dieser gelöst wurde, verrät er nicht. Was es für ihn heißt, »innerlich zeitweise recht geknickt« gewesen zu sein – das »zeitweise« und »recht« vor »geknickt« stellen selbst die Tatsache des »Geknicktseins« schon wieder in Zweifel –, verschweigt er; wer die erwähnten Frauen sind, auch. Als hätte er immer schon zu viel gesagt, bricht Lettow ab, sobald er eine kleine Andeutung gemacht hat.

Andererseits sagt Lettow sehr viel, zum Beispiel, dass die Schärfe seines militärischen Dienstes als eine Fassade betrachtet werden darf, oder dass er im Grunde der Ansicht sei, eine Frau, die zwanzig Jahre lang »sein Inneres erfüllt« habe, brauche nicht auch noch an anderem Ort zu existieren. Die Formel »um ihr volle Freiheit zu lassen« bezeichnet das Gegenteil: In seiner Vorstellung hatte sie ja nicht die geringste. Man darf den Satz wohl umkehren in »um mir die volle Freiheit zu lassen«: nicht für andere Frauen aber von der Verinnerlichten.

In Wilhelmshaven lernte ich aber eine Frau kennen, zu der ich mich von Anfang an hingezogen fühlte. Doch sie war verheiratet – also ein unlösbarer Knoten. Und wie wunderbar hat sich alles entwickelt.21

An diesem Köder zappelt man sechzig Seiten lang, bis endlich im Kapitel »Heirat – In der Reichswehr und Kapp-Putsch« der Fisch an Land gezogen wird:

Aber eines fiel mir auf. Eine Frau, mit der ich befreundet gewesen, hatte keinen Gruß geschickt. Ich erfuhr aber, daß sie seit Jahren geschieden war und in der Not der Kriegsjahre andauernd rührend für meine alten Eltern in Berlin gesorgt hatte. Sie hatte mich also nicht vergessen. Ich war jetzt neunundvierzig Jahre alt und hielt es für an der Zeit, dem Junggesellenleben Lebewohl zu sagen. Es war der 2. März. Am 6. März hatte ich mich bei Feldmarschall v. Hindenburg in Kolberg zu melden und rechnete damit, dann sofort im Baltikum verwandt zu werden. Zum Heiraten blieb also nicht allzuviel Zeit. So schickte ich an meine zukünftige Frau ein übermütiges Telegramm nach Flensburg, daß ich sie sofort bei meinen Eltern in Berlin erwarte. Kapitän Christiansen, der uns 1915 ein Hilfsschiff mit Kriegsmaterial nach Ostafrika gebracht hatte, war gerade bei ihr; – sie zeigte ihm entgeistert das Telegramm. Er küßte ihr bewegt die Hand. [ … ]

Dann begab ich mich zu meinen Eltern und eröffnete ihnen meine Absicht zu heiraten. Als dann von meiner zukünftigen Frau ein Telegramm eintraf, daß sie am 4. März nach Berlin käme, setzte ich die Hochzeit auf den 5. März fest. Mitgeteilt habe ich ihr meine Absicht, sie zu heiraten, nicht, um ihre Reise nach Berlin nicht etwa zu verzögern [ … ]

Als ich am 4. März abends meine Frau auf dem Lehrter Bahnhof mit der Mitteilung empfing, daß ich sie am 5. März um 11 Uhr heiraten würde, war sie mehr als sprachlos und weigerte sich entschieden.22

Der Weg in das Bett dieses Generals schien unbedingt durch das Wohnzimmer seiner Eltern zu führen. Als »rührende« Sorge um diese Eltern formuliert sich der Antrag an Lettow, er möge an sie denken, sollte er an Ehe denken. Er versteht das sofort: »Sie hatte mich also nicht vergessen.« Sein Telegramm lautet dann nicht, dass er sie in Berlin, sondern bei seinen Eltern in Berlin »erwarte« (»das ist ein Befehl!«). Die Eltern werden im Gegensatz zur Frau (Wer ist sie? Die Jugendliebe? Die aus Wilhelmshaven?) von Lettows Absichten unterrichtet. Die Trauung findet selbstverständlich statt, aber nicht in der Kirche. Wenn die Lettows nicht zur Kirche können, kommt die Kirche zu den Lettows …

Am 5. März fand die Trauung, wie vorgesehen, um 11 Uhr am Bett meines Vaters statt, der mit EK I von 1870 aufrecht saß, neben ihm, im Rollstuhl, meine Mutter.23

Das Opfer dieser preußischen Gruselhochzeit ist die Frau. Er verfügt über sie in der gleichen Weise wie über die, die zwanzig Jahre lang sein »Inneres erfüllt« hatte. Es zieht ihn auch nicht sonderlich zu ihr hin: Die Kämpfe im Baltikum rufen stärker.*

Von ihr wird dabei erwartet, dass sie mit einem Bild zu leben beginnt, und mit einem Mythos. Sie, Madame Namenlos, jetzt die Gattin von Lettow-Vorbeck, dem »Afrikaner«, dem Helden von Ostafrika, der unbesiegt aus dem großen verlorenen Krieg zurückgekehrt ist. Der, als sein Name fällt in Verbindung mit einer Frau, den Kapitän Christiansen dazu bringt, dieser »bewegt« die Hand zu küssen. Der Kapitän Christiansen ist übrigens ein ehrenwerter Mann, den Lettow aus dem Krieg kennt und der sich bei Damen nur aufhält, um sie daran zu hindern, ihre Zeit in schlechter Gesellschaft zu verbringen.

Einen eigenen Namen bekommt die Dame auch weiterhin nicht; das ist umso auffälliger, als Lettow-Vorbeck sonst permanent mit Namen und Daten nur so bei der Hand ist. Er hat eine Unmenge Leute kennengelernt und die meisten erwähnt er namentlich. Sogar das Mädchen, das dazu ausersehen wurde, ihm bei seiner Rückkehr aus Afrika die offiziellen Blumen zu überreichen, hat einen Namen: Lotte Heckscher.

Und die Daten: Der Kapitän Christiansen: 1915; Telegramm nach Flensburg: 2. März; 6. März: zu Hindenburg; 5. März, 11 Uhr: Hochzeitstermin; 4. März abends: Empfang der Frau auf dem Lehrter Bahnhof; die Mitteilung an sie, dass er sie am 5. März um 11 Uhr heiraten werde; und das EK I von 1870.

All das macht den Eindruck eines verselbstständigten Generalstabsticks: geplantes, überschautes Leben – zu konstruieren wie eine Schlacht. (»Knapper, präziser Lagebericht. Hervorragend! Stein im Brett!«) Aber sie bleibt namenlos, datenlos, gehört nicht zur Geschichte.

Dass sie aus erster Ehe eine Tochter und Zwillingssöhne hat, erfährt man beiläufig zwanzig Seiten später. Als der erste eigene Sohn geboren wird, schreibt Lettow: »[ … ] bei der Taufe meines kleinen Rüdigers«.24 Diese Betonung der eigenen Vaterschaft gibt es nur beim Sohn. Bei der Geburt eines Mädchens hat »die Familie« sich »im November 1923 [ … ] um ein Töchterchen vermehrt«.25

Dann stirbt die Frau. Lettow schreibt ihr einen langen Nachruf. Für die Tote findet er Worte. Es ist der längste sie betreffende Abschnitt im Buch. Es ist ein vernichtender Nachruf:

Der Tod meiner Frau ist mir im Grunde unfaßbar geblieben. Sie war so lebensbejahend, fröhlich und warmherzig, daß sie niemandem, der mit ihr in Berührung kam, gleichgültig bleiben konnte. Fast ohne Ausnahme fühlten sich die Menschen zu ihr hingezogen und wärmten sich in der Sonne, die sie ausstrahlte. So war es in der regen Geselligkeit, die sie so sehr liebte; in den Zusammenkünften der Kolonialdeutschen, in den zahlreichen Tees, die sie in ihrem geliebten Wintergarten in Bremen gab, oder wenn Angestellte von Karstadt oder einer anderen Firma sie besuchten. Sie war der selbstverständliche und dabei ungewollte Mittelpunkt. Auch in Waterneverstorff war es ähnlich, wenn sie die zahlreichen Ostflüchtlinge mit Kaffee und Kuchen in unserem Zimmer herzlich bewirtete. [ … ] In Hamburg, wo wir unseren Lebensabend gemeinsam zu verleben gedachten, hatte sie der neuen Wohnung ganz den Stempel ihrer Persönlichkeit und des auserlesenen Geschmacks aufgedrückt, den sie als Nachkomme des Goethe-Malers Tischbein geerbt hatte. Als sie von uns geschieden war, war es immer, als ob sie noch lebte und jeden Moment zur Tür hereintreten könnte.26

»Sie liebte die Geselligkeit«, das ist alles. Der Rest heißt: Sie repräsentierte hervorragend. Das sieht der Mann gern, denn es erhöht die ihm ohnehin gebührende Achtung seiner Mitwelt. Und sie hatte einen »auserlesenen Geschmack«, der aber – da ererbt – nur teilweise ihr persönlich angerechnet werden kann. Mit den Männernamen Goethe und Tischbein schmückt er nachträglich die Tote, wie Roßbach seine zweite Frau mit Schiller und Heinrich George.

Die Beziehungslosigkeit Lettows zu seiner Frau äußert sich verstärkt darin, dass er erst nach ihrem Tod den Versuch unternimmt, ausführlicher von ihr zu sprechen. (Das gilt nicht nur von seiner Frau. Auch seine beiden Söhne werden erst umfassend gewürdigt, nachdem sie gefallen sind.) Das hat zur Folge, dass man beim Lesen sogleich unangenehm berührt ist, wenn die lobende Rede Lettows länger als einen Satz lang auf einem seiner Familienangehörigen verweilt: Gleich ist er tot, denkt man. Und so ist es.

Eine massive unterdrückte Aggression scheint sich in solchen Nachrufen zu äußern: ein Zu-Tode-Wünschen. »Als sie von uns geschieden war, war es immer, als ob sie noch lebte …«: Man kann den Satz lesen als Bestätigung, dass das wirklich wenig Unterschied macht.

Hat Lettow-Vorbeck sich der vornehmen Pflicht des Nachrufs entledigt, geht er meistens zur Beschreibung einer Jagd über. (Aber auch nach allen anderen Geschehnissen gibt es Jagden.) Worüber man wirklich informiert ist, hat man seine Lebenserzählung gelesen: wo und wann Lettow was geschossen hat.

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Kapitänleutnant Manfred von Killinger, Bauernsohn, nach 1933 Ministerpräsident von Sachsen, erwählte seine Zukünftige heimlich am Festtag der Auferstehung; er nennt sich in seiner Lebenserzählung »Klabautermann« oder »Peter«:

Bevor er an Bord ging, verlebte er seinen Osterurlaub auf dem Lindenhof. Dort hatte sich manches geändert: Es war nur noch eine Schwester zu Hause. Die eine hatte den Beruf einer Lehrerin ergriffen und war in der Hauptstadt, zwei hatten geheiratet. Die noch allein zu Hause gebliebene Schwester hatte sich über die Feiertage ihre Freundin Gertrud eingeladen. Vor Jahren einmal hatte Peter ein paar Tage bei Gertruds Eltern im Erzgebirge verbracht, wo diese ein Landhaus besaßen.

Schon damals hatte sie ihm gefallen.

Donnerwetter, war das ein hübsches Mädel geworden! Wo hatte er denn früher seine Augen gehabt?

Peter war begeistert. Klug und unverbildet war sie, praktisch, tadelloses Auftreten, nicht zimperlich, aber ohne sich etwas zu vergeben. Es war nichts Halbes an ihr. In ihrer Auffassung gab es keine Kompromisse, entweder war eben etwas anständig bei ihr oder nicht. Danach richtete sie ihr Leben ein und danach beurteilte sie auch die Menschen.

Das wäre mal eine für dich, dachte Peter. Das würde sicher eine tapfere Soldatenfrau geben.

Aber das hatte ja alles noch Zeit.27

An einer Frau, die kompromisslos über zwei Kriterien die Wirklichkeit erfasst: »anständig« oder nicht, dabei nicht zimperlich, kann man nicht vorbeigehen. Es fehlt schließlich nur noch der rechte Moment, es ihr mitzuteilen. Er kommt:

Der Kursus wurde plötzlich abgebrochen. Peter hatte noch einige Tage Zeit, er war nicht zurückgerufen worden. Was sollte er tun?

Er wußte selbst nicht warum: Er hatte plötzlich das Verlangen, das Mädchen wiederzusehen, an das er damals sein Herz verloren hatte.

Kurz entschlossen meldete er sich bei ihren Eltern an und fuhr los. In dem schönen Erzgebirge verbrachte er bei herrlichem Sommerwetter einige glückliche Tage mit Gertrud.

Da rief eines Vormittags Gertruds Bruder aus der Hauptstadt an; er teilte mit, daß er als Arzt seinen Gestellungsbefehl bekommen habe. Am Abend wurde bekannt, daß der Kaiser die allgemeine Mobilmachung angeordnet hatte.

Das war eine schöne Geschichte, jetzt hatte Klabautermann beinahe den Krieg verpaßt.

Als sich Klabautermann von Gertrud verabschiedete, sagte er:

»Und was nun?«

Sie sah ihm nur tief in die Augen.

Da nahm er ihren Kopf in beide Hände und küßte sie auf den Mund.

»Was nun?« sagte sie. »Wenn du heil aus dem Kriege zurückkommst, Klabautermann, dann heiraten wir.«

Peter zog seinen Siegelring vom Finger, reichte ihn ihr und sagte:

»Und wenn nicht – dann trag ihn zur Erinnerung an mich.« Keine Träne. Nicht einmal mit der Wimper zuckte sie, obgleich er fühlte, wie sie innerlich kämpfte.

Peter freute sich, einmal eine so tapfere deutsche Frau zu bekommen.28

Er selbst schien so tapfer dagegen nicht: Jedenfalls passt er den letzten Moment ab, »sich ihr zu eröffnen«. Den Krieg fürchtet er sichtbar weniger als ein Liebesgeständnis, und, es könnte ja sein, er käme doch nicht zurück, dann wäre er noch mal davongekommen …

So aber nimmt die Geschichte ihren Lauf:

Als die Torpedoboote zu einer Überholung in die Werft mußten, fuhr Klabautermann kurz entschlossen auf Urlaub. Wie lange sollte er noch warten? Wie lange würde der Krieg noch dauern? Es war nicht abzusehen.

Seine Braut Gertrud war mit allem einverstanden. In ein paar Tagen waren die Formalitäten erledigt und sie heirateten.

Im Erzgebirge, an dem Ort, wo sie sich gefunden hatten, verlebten sie einige Wochen ungetrübten Glückes.

Dann mußte Peter zurück. Seine Frau blieb vorläufig bei ihren Eltern. Das ewige ’raus und ’rein der Torpedoboote wäre nichts für eine junge Frau gewesen. Gertrud sah das ein.29

Immerhin, sie wurde vom Hochzeitstermin unterrichtet und war sogar einverstanden; im Übrigen aber ist sie Objekt seines Vorgehens, für das er immer dann Zeit hat, wenn ein Kursus abgebrochen oder ein Kriegsschiff überholt wird. Ihre Eltern verständigt er, wenn er sie besuchen will, nicht sie selbst und alles »kurz entschlossen« – der Mann hat Tempo, aber bis er zur Frau kommt, dauert es doch seine Zeit.