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Dietmar Dath

Niegeschichte

Science Fiction als Kunst-
und Denkmaschine

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This is the story of an idea and how it played about
in the minds of a number of intelligent people
.

H. G. Wells 1937

Quelle singulière association de mots que science-fiction!

Marcel Broodthaers 1958

Nothing is beyond understanding. A hundred more exhibits,
and I promise you: you’ll be dreaming in five dimensions
.

Greg Egan 1997

Inhalt

Das Buch entwickelt seine Gedanken in zehn Kapiteln. Vorab soll hier eine Übersicht, in der jeweils ein Satz ein Kapitel vorstellt, die Gliederung von Niegeschichte darstellen. Einige Unterkapitel haben wiederum Unterkapitel. Dabei wird von der Zählvorschrift, wonach man, wenn man Punkten schon Unterpunkte zuordnet, doch wenigstens jeweils mindestens zwei davon setzen soll, abgewichen. Der Grund dafür ist, dass das Verhältnis von Kapiteln zu Unterkapiteln weniger das einer Abzählordnung ist und eher zeigen soll, welche Gedanken selbstständig sind (die der Hauptpunkte) und welche abhängig von diesen (die Unterpunkte). Einige Kapitel sind kleinteiliger, die beiden monografischen über Joanna Russ und Greg Egan haben dafür sehr wenige Unterkapitel, da es um zusammenhängende Werkdarstellungen geht. Längere fremdsprachige Zitate, also überwiegend englische, sind vom Verfasser an Ort und Stelle in Fußnoten übersetzt. Diese Übersetzungen sind bei den literarischen Zitaten eher Dolmetscherangebote als ästhetisch angemessene literarische Übertragungen; das Kapitel IX. und insbesondere dessen Unterkapitel 1, »Missverstehen als Fehlübersetzen«, erklärt, warum das so ist.

I Voraussetzungen und Fragen

Der Gegenstand des Buches wird vorgestellt und die wichtigsten Begriffe, mit denen er untersucht werden soll, werden eingeführt.

0Vorwegnahme

1Drei Erstkontakte

2Was Niegeschichte ist und was nicht

2.1Was Niegeschichte behauptet

3Was ist »Science Fiction«?

3.1Fiktionstheorien für Theoriefiktionen

3.2Elemente des Unwirklichen: Kleine propädeutische Mengenlehre

3.3Wege zum Genre

3.3.1Ein persönlicher Zugang

3.3.2Ein gemeinsamer Zugang

3.4Zwei Eroberungsgeschichten

3.5Genealogische Spurensicherung

3.6Coleridges Entdeckung: Die Aufhebung des Unglaubens

3.6.1Wie man (nicht nur ästhetische) Formen vom Dingschema löst

3.7Strukturfunktionalistische Grundsätze

4Zweck, Sinn und Richtung: Entwicklungsfluchtpunkte

4.1Wie man findet, was niemand gesucht hat

4.1.1Ein selbstentblößendes Zeugnis

4.1.2The Big Picture: Naturgeschichtliche Erkenntnisgrenzen

4.1.3Rekursion in Geschichte

II Eine Vorgeschichte der Niegeschichte: Verne und Wells

Im neunzehnten Jahrhundert gab es Literatur, die noch nicht ganz Science Fiction war, deren Stärken und Schwächen aber bald darauf die der Science Fiction wurden.

0Nominalismus

1Der Einzige und seine Zukunft

2Unruhige Träume vom Wissen

2.1Was weiß ich? Exkurs über literarisch-szientistische Angeberei

2.2Konkatenation im Künstlerwissen: SF, das Poetische und Prosamodernismus aus der Nähe

2.3Das Loch im Wissen (und im Wissen vom Wissen): Die Bodenlosigkeit der Selbstreflexion des Bürgers

3Pessimismus und Optimismus

3.1Das Stoffliche und das Werkorganisatorische am guten und am bösen Blick

3.2Das Ästhetische am guten und am bösen Blick

4Collagen und Neologismen: Welches Wissen Dichtung erzeugt und nutzt

5Darwins Kunstwert: Wells gegen Verne in Erzähltiefenzeit

6Scientific Romance, SF, Imperialismus

7Exkurs über einen genregerechten Charakter: Faustische Figuration

8Klarer träumen lernen: Kurd Laßwitz, ein deutscher Lehrer

9Die Geburt des Kinos aus dem Geist der Proto-SF

III Das Genre erkennt sich: Gernsbacks Kontinuum, Campbells Aufbruch

Im frühen zwanzigsten Jahrhundert nahm nicht nur die moderne Science Fiction Gestalt an, sondern auch Leute, die ihre Arbeit nicht so nannten und nicht so genannt hätten, wenn ihnen der Genrename bekannt gewesen wäre, befassten sich mit künstlerischen Problemen, die das Genre hat, braucht und löst.

1Taufe auf dem Marktplatz

2Größer erzählen: Hamiltons Kosmomachie

3Gegen Gernsback: Ein Revisionsversuch

4Kulturkatastrophismus und World Building

5Die Frau im Halbdunkel: C. L. Moore

5.1Körper als Kosmos: Ein ozeanischer Subjektverlust

6Kultur beseitigen, Zukunft schreiben: Frühe deutschsprachige SF

7SF wird Weltkunstform

8Neue Lehre, neuer Lehrer: John W. Campbell

9Mehr Dimensionen: SF als Massenkultur

9.1Warum H. G. Wells den Film Metropolis von Fritz Lang nicht mochte

10Fans in Gesellschaft: Geraffte Geschichte einer Bewegung

11Campbells Rechte, Campbells Linke: A two-fisted tale

IV Innovation als Expansion: Heinlein, Asimov, Jefremow

Jedes Genre hat seine Klassik, in diesem Kapitel wird diejenige der Science Fiction betrachtet.

1Incipit Heinlein Artifex

1.1Wann wirst du sterben? Eine Lebenslinie

1.2Form verführt Funktor

1.3Zukunftsgeschichte und Welt als Mythos

1.4Waffen für Weisheit

1.5Der weiße Anzug oder Faust ganz allein

1.6Heinleins Sozialkritik und ihre Mängel

2Der Champion der Futurians: Isaac Asimov

2.1Foundation

2.2Roboter

3Eine dritte Option: Arthur C. Clarke

4Sowjetische Widerrede: Iwan Jefremow

5Zentrale Exzentrik: Bradbury und Vonnegut

V Produktive Dekadenz: Die New Wave

In den Sechzigerjahren fand ein Kampf statt, bei dem die Science Fiction scheinbar zerstört und in Wirklichkeit für die Zukunft neu erfunden wurde.

1Eine Hausfrauenapokalypse

2Zwei Zentren, kein Kern

2.1Multiversal Moorcock

2.2Kurator der Revolte: Harlan Ellison

3Seltsame Verwandtschaften: Von Arno Schmidt bis Oulipo

4Abgrenzung als Werkstrategie: Wie sich die New Wave von der älteren (und, vorsorglich, jeder späteren) SF distanzierte (am Beispiel Ellison)

5So träumt man Zweifel: J. G. Ballard

6Herbstsänger der Avantgarde: Samuel R. Delany

7Der gebundene Redner: Thomas M. Disch

8Der heilige Paranoiker: Philip K. Dick

9My God, it’s full of stars

10Der Mann, der vom Himmel fiel

11Weise Unmenschlichkeit: Octavia E. Butler

12Nachhall in Ewigkeiten

VI Ästhetisches Gelingen in politischer Verzweiflung: Joanna Russ

Auf der Kreuzung zwischen dem Weg der klassischen Science Fiction und zahllosen anderen Wegen, Kunst über Wissen und Können zu erzeugen, steht eine Stilistin, die das ganze Feld überragt, zu dem diese Kreuzung gehört.

1Ein mieses Paradies

2Im Streit mit dem einzig möglichen Publikum

3Telepathie, der schlechte Tod des Chaos

4Der weibliche Mann und die ungleichzeitige Entwicklung

5Die grundverschiedene Nahverwandte: Ursula K. Le Guin (mit einem Gastauftritt des Advocatus Diaboli Stanislaw Lem)

6Historistische Antipädagogik: Extra(ordinary) People

7Maske und Aufrichtigkeit: James Tiptree, Jr.

8Die Poetik der Joanna Russ: Kritik und Immanenz

VII Inventur: Zersplitterung und Neosynthesen seit Star Wars

Die Literatur als Medium muss sich bei der Science Fiction mit Entwicklungen anderer Medien auseinandersetzen, ob sie will oder nicht, und in den Achtzigerjahren hat sie das schmerzhaft gelernt.

1Pop löscht Avantgarde

2Harlan Ellison rettet die Enterprise

3Innen größer als außen: Doctor Who

4Die Supernova: Star Wars

4.1Bilder statt Gründe: George Lucas ärgert Harlan Ellison

4.2Welches Problem hat Ellison mit Star Wars?

4.3Ist Fantasy schlechte SF, ist schlechte SF Fantasy?

5Nicht wörtlich: Grundsätzliches zu SF-Stoffen außerhalb der Literatur

5.1Erzählbildnerei

5.2Ein Bild als Erzählung: »A Clash of Cymbals« von Chris Foss

6Pixeldichte in Texten: William Gibson

6.1Phantomatik als Ästhetik: Gibsons Raum

6.2Gibsons Cousinen: Frauen im Cyberspace

7Neopolitisierung: John Shirleys Sonnenfinsternis und Geoff Rymans Garten

8Nach dem Introdus: Aus dem Ende aufbrechen

VIII Anagrammatik einer (un-)natürlichen Gattung: Greg Egan

Ein zweites Kapitel über das Werk einer einzelnen herausragenden Persönlichkeit nutzt die Gelegenheit, von der historischen Darstellung der Entwicklung von Science Fiction zu ihrer epochenübergreifenden Analyse zu gelangen.

1Frankfurter Permutationen

2Die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit: Bayes, Implex, Erzählung

3Anagrammatologie

4Zum Ende (und über es hinaus)

5Ums Ganze des Möglichen: Egan gegen Roberts

5.1Zum Vergleich ein Sonder-, kein Unfall: Ted Chiang

5.2Der splinter in Roberts’ Auge

6Egans ferner Nachbar: Cixin Liu

7Egans Hauptwerk: In die Orthogonale entkommen

IX Das Hendiadyoin: Scan | Play, Science | Fiction

Worin liegt der ästhetische Wert der Science Fiction?

1Missverstehen als Fehlübersetzen

2Verisimilitude und der Tau-Null-Standpunkt

2.1Spezialeffekte als Weltanschauung: Der Tau-Null-Standpunkt im Film

2.1.1Das geteilte Hochplateau: Anime und/oder Don Hertzfeldt

3Der Kunstzweck der SF: Ein hendiadischer Kippschalter

4Schreibsystem versus Systemschrift

X Omne possibile exigit existere: Was wahr werden will

Worin liegt der Erkenntniswert der Science Fiction?

1Die unwirkliche Kirche: Niegeschichte als Nichtmythos

2Freiheitsgrade von Revolutionen

3Subjektiv und objektiv, Wissen, Glauben und Erwarten: Ein Lernproblem

3.1Marx lesen, nicht Marx glauben

3.2Wahrheit wozu? Possibilistik und Theodizee

3.3Gegen Althusser: Wahrscheinlichkeit und Ideologie

4Was SF erforscht: Möglichkeitswissen quer durch die Zeit

Dank

Anmerkungen und Nachweise

Literatur

Personenregister

Sachregister

I

Voraussetzungen und Fragen

0 Vorwegnahme

Die Späteren werden die Früheren missverstehen; das ist der Lauf der Welt. Wenn die Späteren begreifen wollen, was die Früheren über die Späteren dachten, müssen sie Spuren suchen, an denen sich zeigt, ob die Früheren beim Spekulieren in der Lage waren, von sich selbst abzusehen, um andere, eben: spätere Weltzugänge erkennen zu können als die ihnen vertrauten.

In dem von Reinhard Heinrich und Erik Simon gemeinsam verfassten, 1977 in der DDR erschienenen satirischen Roman Die ersten Zeitreisen steht ein schöner Satz, der von sich behauptet, in der Zukunft verfasst worden zu sein: »Die Phantastik ist heute ausgestorben, war aber an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend von großer Bedeutung und schuf die Grundlagen für die Entstehung der Symbolliteratur, die solch wahrhaft unsterbliche Werke hervorbrachte wie die des Anton Kornelius – des größten Poeten des vierundzwanzigsten Jahrhunderts –: ›Rotkäppchen und der Wolf‹ und ›Dornröschen‹.«1

Die Methode, mit der man zu solchen ebenso schönen wie falschen Sätzen kommt, halte ich für eine der erheblicheren kulturgeschichtlichen Neuerungen der letzten zweihundert Jahre.

Die bestimmenden Momente dieser Methode, das heißt: ihre Herkunft, ihre Zwecke und ihre Resultate bilden zusammen den dreifaltigen Gegenstand der Abhandlung Niegeschichte.

1 Drei Erstkontakte

Als ich klein war – sechs, höchstens sieben Jahre alt –, spielte ich oft allein und hatte viel Zeit, mir Schlimmes auszudenken. Alles Schreckliche, das ich im Fernsehen sah, konnte mir, meinen häufig abwesenden Eltern und der ganzen Welt passieren. Was mich tagsüber umtrieb und nachts wachhielt, ohne dass ich es hätte ausdrücken können, war Höhenangst vor der Tiefe des Möglichen. Viel später las ich bei Thomas Ligotti, dass wir in die Zukunft fallen wie Leiber in offene Gräber. Das Gefühl, von dem Ligotti schreibt, erkannte ich wieder. Es war meine Kinderangst.

Dieses Buch über die Science Fiction und ihr Paideuma heißt Niegeschichte aus zahlreichen Gründen. Die wichtigsten werden ihre Stichhaltigkeit oder aber Unstimmigkeit erst nach vielen hundert Seiten zu erkennen geben. Der einfachste liegt auf der Hand: Science Fiction erzählt Geschichten von Vorkommnissen, die nie geschehen sind und nie geschehen werden. Es ist ungeheuer unwahrscheinlich, dass die Fantasie etwas in weltadäquater Detaildichte errät, das anschließend wirklich wird. Bei der Science Fiction geht es allerdings um eine ganz besondere Sorte »nie«. Zu den überraschenderen Einsichten in diesem Buch gehört wohl, dass es überhaupt verschiedene Verwendungsweisen der Zeitangabe »nie« gibt. Der Gedanke verstört das Alltagsdenken nicht weniger als Cantors Beweis dafür, dass es verschieden große (er sagt: verschieden mächtige) Sorten Unendlichkeit gibt.

Während ich mich als Grundschüler einerseits selbst über alles Mögliche beunruhigte, fiel mir andererseits bereits auf, dass zwar viel geschah, was mir nicht gefiel, aber doch nie genau das, was ich mir zuvor besorgt ausgedacht hatte. Selbst wenn ich leidlich richtig lag, stimmten zumindest viele Einzelheiten nicht; die meisten.

Der Lauf der Dinge überschrieb meine Fantasie unentwegt.

Ich zog daraus den kindlichen Schluss, dass es mir nützen mochte, wenn ich mir mit gesteigertem Eifer alles Entsetzliche vorstellte, denn dann würde es nicht passieren – zumindest nicht wie ausgemalt. So plante ich die Eroberung des Möglichen nach dem Prinzip der verbrannten Erde: zerstören statt besetzen. Bald regte sich, gestützt von Beobachtungen, der Verdacht, dass die Erwachsenen es mit den Dingen, die sie fürchteten, ähnlich hielten; mit ihren Ölkrisen, Gastarbeitern, linken Terroristen, mit der Arbeitslosigkeit und dem Krebs. Der Fernseher enthüllte sich als Maschine, die den Vorgang automatisierte: Das Böse wurde gezeigt, damit es im Kasten blieb.

Als ich acht Jahre alt war, sah ich auf dem Schirm zum ersten Mal etwas anderes als diesen Bann oder Werbung fürs Vorhandene (ob als Reklame oder Kindermärchen): das Raumschiff Enterprise, in Schwarz-Weiß.

Da gab es einen Nichtmenschen, der fast aussah wie ein Mensch, von Ohren und Augenbrauen abgesehen. Der kannte keine Angst und betrachtete den Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen als reine Rechenaufgabe. Er hieß Spock und diente einem Chef namens Kirk, der ebenfalls keine Angst kannte, weil er das Mögliche mutig in Schach hielt. Diese beiden und ihre Crew nahmen es mit Robotern auf, die denken konnten, mit Gottheiten aus Energie und Tieren aus Pappe. Was ich sah, nannte sich ferne Zukunft. Es zeigte meinen gewohnten Angstgegner, das Mögliche, von einer neuen Seite: Das lockte jetzt, statt zu drohen, und beanspruchte dank dieser neuen Farbe bald mehr von meinen Vorstellungsressourcen als zuvor die Furcht.

Von einem Freund der Mutter erfuhr ich, dass man die neue Farbe »Science Fiction« nannte. Der Mann las die deutsche Heftromanserie Perry Rhodan, bevölkert von Außerirdischen, die noch erheblich exotischer waren als der Vulkanier von der Enterprise: Perry Rhodan kannte Methanatmer, Katzenmenschen und Geschöpfe, die Mäusen, Bibern sowie kleinen Jungs gleichermaßen ähnelten und von denen man in Heften wie Taschenbüchern (»Planetenromanen«) las. Ich konnte schon lesen und wollte diese Welt unbedingt kennenlernen. Eines der Bücher, die mein Mentor mir gab, hieß Sturz in die Ewigkeit (1964), verfasst von Walter Ernsting. Der Band erzählt von einem Mutanten namens Ernst Ellert. Mutanten sind im Perry Rhodan-Erzählkosmos Leute mit genetisch bedingten paranormalen Vorteilen vor gewöhnlichen Angehörigen ihrer jeweiligen Spezies: Telepathen können die Psyche anderer wahrnehmen und beeinflussen, Telekineten Materie gedankenwillkürlich bewegen und Teleporter sich selbst von einem Ort zum anderen versetzen.

Ernst Ellert ist »Teletemporarier«: Er vermag sein Bewusstsein als eine Art diffuser Gedankenwolke zeitlich vor- und zurückzubewegen und kann Körper anderer Intelligenzwesen kapern.

Ernstings Sturz in die Ewigkeit stößt diesen Mann bei einem Unfall aus seinem Leib, wirft ihn durch die Epochen und schickt ihn nach 160 Seiten Abenteuer auf eine kleine, junge Welt mit drei Kontinenten, wo der Erzählgang sein Ende findet:

Ellert gefiel diese Welt, aber er fand keine Möglichkeit, sich in ihr zu materialisieren. Es gab kein organisches Leben.

Er stieg höher und umkreiste sie am Rande des Weltraums. Er war des ewigen Suchens müde geworden und sehnte sich nach Ruhe, die er aber nur dann würde finden können, wenn er wieder einen Körper besaß.

Und dann sah er die Spore.

Es war ein winziges, einzelliges Wesen, das der Lichtdruck der Sterne über unvorstellbare Abgründe hinweg zu dieser Welt getrieben hatte, die es mit ihrem Gravitationsfeld einfing. Nun umkreiste es den Planeten und sank langsam tiefer und tiefer. Eines Tages würde es die Oberfläche erreichen und vielleicht auf einem felsigen Plateau landen. Regen würde fallen und es aus seinem Schlaf erwecken. Es würde wieder zu leben beginnen, sich teilen und immer wieder teilen. Kolonien der Sporen würden entstehen, sich zu einfach organisierten Vielzellern zusammenschließen und neue Lebensformen bilden. In fernster Zukunft, vielleicht, war dann dieser Planet bewohnt. Tausende von Lebensformen würden ihn bevölkern und seiner Oberfläche ein neues Gesicht geben.

Ellert folgte der eingekapselten Spore.

Sie war winzig klein, aber sie war ein Lebewesen. Sie besaß einen Körper.

Ein Körper!

War es nicht gleichgültig, wie groß der organische Körper war, in dem er Zuflucht suchte? Hatte er nicht alle Zeit des Universums zur Verfügung, das letzte Rätsel auch noch zu lösen? Konnte er nicht warten, Millionen oder Hundertmillionen Jahre, bis aus dieser Spore ein intelligentes Lebewesen geworden war?

Sein eigenes Bewußtsein stand jenseits der Begriffe klein oder groß, gut oder böse. Er schlüpfte durch die Kapsel in das einzellige Wesen hinein und wurde eins mit ihm. Langsam sanken sie beide tiefer, hinein in die dichter werdende Atmosphäre des einsamen Planeten, der erst am Anfang seiner Geschichte stand.

Tage später tauchte die Spore ins Meer, die Kapsel weichte auf und fiel ab.

Das organische Leben hatte seinen Einzug gehalten.

Der lange Weg begann …2

Als zehnjähriger Leser stieß ich mich nicht an der verrutschten Evolutionsbiologie zwischen subzellularem, einzelligem und mehrzelligem Leben. Ich wusste auch nichts von der Panspermie-Theorie der Verbreitung biotischer Systeme im Kosmos, auf die Ernsting hier anspielt. Der kleine Junge erkannte weder den Nietzsche-Wink, noch empfand er die nachlässige Wiederholung (»hinein«) als störend. Er war aber äußerst verblüfft darüber, dass ein Vorgang, der bis dahin schon alle seine anderen Lektüren beherrscht hatte und den er erst Jahre später beim richtigen Namen zu nennen lernen sollte (»Identifikation«), sich offenbar bis ins Empfinden einer außerirdischen Spore ausweiten ließ. Der fremdartig angenehme Schauder dieser Verblüffung hat unter Science-Fiction-Kundigen einen Namen: »Sense of Wonder«.

Da ich über Lese-, Seh- oder Hörerlebnisse damals noch nicht in Kategorien der Ästhetik, also auch nicht in denen von Produktion und Rezeption nachdachte, waren die beiden Initiationserfahrungen, die mir das Raumschiff Enterprise im Fernsehen und Ernstings Sporenfantasie auf Papier beschert hatten, zunächst einfach Höhepunkte der inneren Biografie, dann Gegenstände des Gedankenspiels: Was wäre, wenn das wahr wäre?

Im Fall der Enterprise, wie bei vielen Kindern, kam das Spiel mit anderen dazu: »Heute bin ich Spock und du Kirk.« Dass ich vom Alleinsein aus in die Zukunft, in die Science Fiction geraten war, hieß nicht, dass die Beschäftigung damit lange einsam blieb. Es ist ohnehin eine grobe Unwahrheit, dass abseitige Beschäftigungen Menschen isolieren; in Wirklichkeit, durfte ich lernen, stiften gerade abseitige Interessen wie UFOs, Mathematik, Briefmarken oder Bolschewismus eine Sorte Nähe zwischen denen, die sie teilen, an der sich die Zeit die Zähne ausbeißt: Solche Freundschaften oder Liebesbeziehungen halten nach meiner Erfahrung (die nicht nur anekdotisch funktioniert) länger und behaupten sich besser unter Druck oder in räumlichem Abstand als das, was auf der Party, im Schulhof oder im Klassenzimmer sonst so alles zusammenzugehören glaubt.

Ich gehörte bereits seinerzeit zu der Sorte Menschen, deren Freude an Zaubertricks nicht vermindert wird, sondern zunimmt, wenn sie verstehen, wie die Tricks gedacht und gemacht sind. Dass sie überhaupt gedacht und gemacht sind (statt einfach zu passieren), sieht man als junger Mensch bei der Zauberei schneller ein als bei den Erzählkünsten, weil beim Zaubern eine Person dasteht, die den Trick vorführt, während die Wahrnehmung der Existenz von Autorinnen und Autoren bei Geschichten, die man hört, sieht oder selbst liest, erst mit dem Einsetzen der Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Erfahrungen beginnen kann. Die muss man sich erarbeiten.

Ungefähr 1983 kaufte ich mir einen der bei Heyne verlegten deutschsprachigen Auswahlbände von Erzählungen aus dem amerikanischen Magazine of Fantasy and Science Fiction. Darin fand ich Jeffty is five (1977) von Harlan Ellison. Diese Geschichte handelt von einem Jungen, der seine Kindheit gemeinsam mit dem etwa gleichaltrigen Ich-Erzähler erlebt hat. Ihre schönste Zeit verbrachten sie im Alter von fünf Jahren (daher der Titel). Im Gegensatz zum Ich-Erzähler bleibt Jeffty aber in diesem Alter stecken. Das ist keine Krankheit, sondern ein Wunder. Dieses Kind scheint nicht nur der biologischen Alterung enthoben, sondern existiert umgeben von einer intakten Welt der Vergangenheit: Jefftys Radio empfängt neue Folgen der alten Radioserien, die in der Außenwelt längst abgesetzt wurden, er liest neue Ausgaben alter, längst eingestellter Comics und Magazine, und wenn der inzwischen erwachsene Ich-Erzähler mit ihm ins Kino geht, sehen die beiden nicht, was alle anderen dort sehen, sondern neue Filme mit alten Stars, alten Helden, altem production design. Wo Jeffty hingeht, begleitet ihn seine Kinderepoche. Unglücklicherweise aber lässt der Ich-Erzähler seinen Freund mit dem Zugang zur zeitlosen Kindheit schließlich eine Weile auf einer Einkaufsstraße allein. Die Reize, die dort (unter anderem aus Fernsehapparaten) auf Jeffty einstürmen, überwältigen ihn und fügen ihm einen nicht näher erläuterten Schaden zu. Jeffty bricht zusammen.

Der Ich-Erzähler bringt ihn zu zwei auf normale Weise gealterten Menschen, Jefftys Eltern. Die Mutter trägt Jeffty auf sein Zimmer. Der Ich-Erzähler bleibt zurück im Parterre. Dumpf hört er aus Jefftys Radio plötzlich aktuelle Popmusik. Licht flackert. In den letzten beiden Absätzen der Erzählung ist von Jeffty nicht mehr die Rede.

Die Stimme, die das Geschehen erzählt hat, spricht zum Schluss vom Fortschritt, der, so sagt sie, offenbar darin besteht, dass die Menschen nicht mehr an den alten Krankheiten sterben, sondern an neuen.

Ich weiß noch genau, wie mich wenige Minuten nach dem Ende der Erstlektüre dieser Geschichte, die ich seither in zwei Sprachen oft wiedergelesen habe, ein kognitiver Bruch verstörte: Dass ich weiß, dass Jeffty tot ist, vielleicht sogar von seiner Mutter ermordet, kann ich nicht bezweifeln. Aber es steht nicht da. Woher also weiß ich es?

Ich war zum ersten Mal bewusst dem Phänomen »literarische Technik« begegnet.

Nicht lange danach fing ich selbst an, Erzähltexte zu schreiben.

2 Was Niegeschichte ist und was nicht

Tzvetan Todorov hat vor fast fünfzig Jahren eine seither breit rezipierte Theorie der fantastischen Literatur publiziert, in der er behauptet, das Hauptmerkmal dieser großen Gattung aus kleineren Gattungen sei die metastabile Balance, die alle von ihm als »fantastisch« akzeptierten Texte halten müssten – eine Balance zwischen etwas, das er »natürlich« nennt, und etwas anderem, das er »übernatürlich« nennt.

Aus diesem Ansatz hat Todorov Deutungslinien entwickelt, die manchmal recht tief in die analysierten Texte führen. Das »Natürliche« oder das »Übernatürliche« suche ich in meinem Gegenstand aber nicht. Mir geht es um metaphysisch schwächere Kategorien: um die durchschnittliche Erfahrung eines Publikums einerseits und die kontraintuitive Einzelidee in einem Text andererseits. Von einer Erfahrung festzustellen, dass sie mit einer aus früheren Erfahrungen abgeleiteten Gesetzmäßigkeit übereinstimmt, ist eine vorsichtigere Behauptung als die, Ursachen solcher Erfahrungen seien »natürlich«.

Kunst handelt nicht von dem, was passiert. Sie handelt davon, wie Menschen es erleben. In gewissem Sinne ist damit auch Fantastik »realistische« Kunst (nur nicht naturalistische, mimetische): In ihr kommen Zombies vor, weil man Zombies wirklich erleben kann, im Supermarkt, in der Innenstadt, im Großraumbüro. Ich rede von Metaphern: Zombies oder Zeitreisen sind Dinge, die jede und jeder schon einmal erlebt hat, die Fantastik nimmt nur die Namen wörtlich, die diese Erlebnisse in der Kunst von ihren Erfahrungsgrundlagen trennen können, um sie gegen die Empirie zu drehen.

Die fiktionale Behauptung, etwas, das so nicht erlebt wird – ein Zombie als buchstäblich lebender Toter –, werde eben doch so erlebt, öffnet der Rezeption einen Spielraum zur Interpretation, aber die Produktion der fantastischen Kunst selbst hat den gerade da nicht, wo ihre Erzeugnisse tatsächlich zwischen »natürlich« und »übernatürlich« schillern. Sie darf dann nämlich keine Distanz zu dem haben oder behaupten, was da schillert. Das ist Sprache (oder Bildsprache, Tonsprache – jedenfalls: semantisierter Zeichengebrauch), wie man selbst an einem Text zeigen kann, der Todorovs Bestimmung geradezu schmeichelt, China Miévilles This Census-Taker aus dem Jahr 2016, in dem der Verfasser die Zeitebenen und Personenbezüge ineinanderschiebt wie Spielkarten, dabei aber, Todorov zum Trotz, den Spielraum für eine realistisch-naturalistische »Erklärung« dessen, was mit jenem seltsamen »Jungen« eigentlich geschehen ist, der in dieser Geschichte von seinem möglicherweise mit Magie, vielleicht aber auch mit futuristischer Technik arbeitenden Vater und möglichen Tötungsdelikten erzählt, zunehmend verengt, einfach durch die inferentiellen Selbstverpflichtungen der einander widersprechenden Behauptungen des Textes darauf, dass Kausalität walte. Miéville spielt hier nicht mit Todorovs Ideen, aber mit einigen, die ihnen weitläufig verwandt sind. Sie stammen von Ludwig Wittgenstein, weil der gesagt hat, die Grenzen unserer Sprache seien die Grenzen unserer Welt, sowie von den Sprachdenkern Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf, die etwas Ähnliches in der Feldforschung gefunden haben wollen, weshalb man die Idee der Sprachgrenze als Weltgrenze auch »Sapir-Whorf-Hypothese« nennt. Die Linse, die Miéville sich mit dem Werkzeug dieser drei Herren geschliffen hat, soll eine sein, durch die man angeblich mehr als eine Welt erkennt, weil es mehr als eine Sprache gibt, nach deren Logik sie geschliffen sein kann. Leute, die Miévilles Werk näher kennen, werden das vor allem deshalb glaubhaft finden, weil This Census-Taker atmosphärisch (nämlich als Fingerübung in den Techniken des Spurenverwischens) erkennbar eine Erweiterung, Verbreiterung und Vertiefung des direkt und explizit auf die Sapir-Whorf-Hypothese gegründeten Romans Embassytown (2011) vom selben Verfasser ist, also eine Transposition des dort im Rahmen von ziemlich rigid ausgelegten SF-Tropen in ein Idiom, das eher der Science Fantasy als der Hard SF angehört3.

In brüsker Absetzung von Todorovs Überlegungen der Grauzone zwischen zwei Weltgrenzen als Sprachgrenzen, nämlich denen, die jeweils Natürliches und Übernatürliches trennen sollen, ohne das ganz leisten zu können, weil sie eben nicht aneinander, sondern von zwei Seiten ans Fantastische grenzen, hat der Philosoph Quentin Meillassoux, angeregt von Isaac Asimovs Science-Fiction-Kurzgeschichte The Billiard Ball (1967), die Unterscheidung zwischen »natürlichen« und »übernatürlichen« Stoffdomänen in einem Vortrag 2006 und einem daraus entwickelten Essay mit dem Titel »Métaphysique et fiction des mondes hors-science« 20134 in eine Unterscheidung zwischen Wissensweisen (statt ontologischen Bereichen wie »Natur« und »Metanatur«) überführt, die er wiederum mit literarischen Techniken abgleicht, woraus sich für Meillassoux die Bifurkation in zwei Sorten spekulativer Fantastik ergibt: Einerseits derjenigen, die von Wissensgegenständen handelt, die den exakten und Natur-Wissenschaften zugänglich sind, und andererseits solchen, die das nicht sind. In der philologisch-theoretischen Auseinandersetzung mit Science Fiction hat sich unter dem Einfluss von Meillassoux und insbesondere der englischen Version seines debattenprägenden Textes, in welcher der Übersetzer Alyosha Adlebi die beiden vom Autor gegeneinander ins Relief gehobenen Literaturmodi mit dem griffigen Namenpaar »Science-Fiction and Extro-Science-Fiction« belegt, jüngst die Tendenz breitgemacht, das Verstehen und Deuten von Science Fiction an Wahrheitsproduktionsweisen zu binden, weil das den diskursanalytischen und textkritischen Stärken der Gelehrten entgegenkommt, die solche Deutungen herstellen. Aus der Science Fiction selbst und derjenigen außerakademischen Literaturdiskussion, die nicht nur über sie urteilt, redet und schreibt, sondern mit ihr denken will, ist dieser Tendenz freilich scharfe und gescheite Kritik entgegengetreten, besonders eindrucksvoll in einem Band, der in direkter Zusammenarbeit eines politischen Publizisten und einer der besten lebenden Science-Fiction-Autorinnen entstanden ist: Methods Devour Themselves (2018) von J. Moufawad-Paul und Benjanun Sriduangkaew5. Der ganze Streit ist einer um die theoretische Dignität von Kunst, um als Deutungen verkleidete Wertungen, kurz: ein Kanonstreit – wie nah darf Kunst den Wissenschaften und der Technik sein, den Erkenntnisweisen und Warenproduktionsweisen der Neuzeit, ohne ihren Kunstcharakter einzubüßen? Ist Literatur, die nur erzählt, was Ingenieure wissen wollen, überhaupt Literatur, oder sind das nur Drucksachen, Postwurfsendungen der vulgarisierten Aufklärung oder der Angst vor den Schattenseiten des Fortschritts? Wo die neue Debatte über die von Meillassoux bestimmten Fantastikformen so fragt, erbt sie Probleme, die schon bei Todorov angelegt sind.

Kanonüberlegungen wie die, denen Todorov folgte, als er eine Definition der Fantastik aufstellte, die Kafka und Henry James eingemeindet, dafür aber viele populäre Texte ausschließt, sind Niegeschichte fremd. Genauso fern liegt diesem Buch das meiste, was die führenden Köpfe akademischer und krypto-akademischer Tribes der Literaturexegese und Gesellschaftstheorie in der Science Fiction an Belegen für Theorien der Sozial- und Kulturwissenschaften gefunden zu haben glauben, von Fredric Jameson über Darko Suvin bis zu Samuel R. Delany. Kritikerinnen und Kritikern, die im Tagesgeschäft der Buch- oder Filmrezension die Umrisse einer Art von Wertungssystem und Genealogie des Fantastischen und der Science Fiction geschaffen haben, steht der Verfasser von Niegeschichte schon näher. Ich verdanke ihnen wesentliche Anregungen und Präzisierungshilfen, vor allem, wenn es sich dabei um Leute handelt, die selbst Science Fiction geschrieben haben und schreiben, von Joanna Russ über John Clute bis zu Gwyneth Jones.

Der Untertitel des Buches, »Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine«, spricht zwei Befunde aus: Man kann Science Fiction erstens als Kunst genießen, und man kann mit ihr zweitens Dinge und Verhältnisse denken, die ohne sie ungedacht bleiben müssten.

Das Buch entfaltet diese Befunde am ästhetischen Material.

2.1 Was Niegeschichte behauptet

Der Verfasser glaubt mit Hegel und Marx, Kunst sei eine Form von Erkenntnis. Er behauptet, bestimmen zu können, was für eine Erkenntnisform die Science Fiction ist, und ferner, welches Verfahren und welche Resultate der Erkenntnis diesem Genre gemäß sind. Die Schule, in die der Verfasser gegangen ist, kennt vier Ästhetiker, deren grundsätzliche, hegelianische wie marxistische Denkrichtung er teilt: Georg Lukács, Michail Alexandrowitsch Lifschitz, Hans Heinz Holz und Peter Hacks.

Unterwegs durch die Niegeschichte, also die Gesamtheit aller Geschichten, die das Genre erzählt, erfährt das Erbe dieser vier Leute Modifikationen unter dem Einfluss einer Frau, die einerseits eine bedeutende Denkerin der Ästhetik der Science Fiction und andererseits eine große Dichterin im Genre war: Joanna Russ.

Wer Hegels Kunstlehre in Vorlesungen und ausgearbeiteter Form kennt, dann von Lukács die Theorie des Romans (1916) und Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts (1956), von Lifschitz Karl Marx und die Ästhetik (1960), von Hans Heinz Holz die 1996 begonnene mehrbändige Philosophische Theorie der bildenden Künste, von Hacks Die Maßgaben der Kunst (in der Ausgabe von 2003 und später) und schließlich von Joanna Russ die Speculations on the Subjunctivity of Science Fiction (1973) und The Country You Have Never Seen (2007), wird auf die meisten Gedanken, die Niegeschichte tragen, selbst kommen.

Das heißt nicht, dass die Lehrerin und die Lehrer mit allen Schlüssen einverstanden gewesen wären, die der Schüler zieht.

Über Genres insgesamt hat Hacks im »Versuch über das Libretto« (1973) das Entscheidende gesagt:

Das Genre ist eine Mischung aus Bewilligung und Verbot. Es ermöglicht, eine bislang ungekannte Art von Kunst zu machen, indem es sofort festlegt, was alles innerhalb derselben nicht statthaft sei; diese beschränkende Seite ist natürlich die minder beliebte. Aber wenn wahr ist, dass Kunst eine Weise ist, uns und die Welt zu verstehen, und wenn fernerhin stimmt, dass Kunst sich nicht anders als unter bestimmen technischen und soziologischen Bedingungen verwirklichen kann, dann folgt doch nicht weniger als dies: jedes Genre ist, so wie es immer aussieht, ein seiner Fähigkeit nach einmaliges Werkzeug der künstlerischen Erkenntnis.6

Über die Kunstanschauung hinter solchen Feststellungen herrscht Verwirrung. Einzelfestlegungen wie die zitierte Genrebestimmung werden oft nicht als Momente einer größeren Systemarchitektur erkannt, und da es bei Hegel und seiner Schule zum Begriff gehört, dass er sich durch Widersprüche hindurch entwickelt, wird beiden mitunter vorgeworfen, sie stellten die Kunst mal als Erkenntnisinstrument, mal als ein Ding eher praktischer Natur dar (Letzteres etwa da, wo man in der Hegelnachfolge von der Spielfunktion der Kunst spricht). Man sucht also bei der Hegelschule nach der Unbedingtheit von Möglichkeitsbedingungen, die Kant in seinen Kritiken verspricht (darunter auch in der für die Kunst zuständigen Kritik der Urteilskraft). Hegels Schritt über Kant hinaus besteht aber gerade darin, dass er in die vom Älteren begründete kritische Ästhetik neue Differenzkriterien solcher Möglichkeitsbedingungen eingeführt hat: Es gibt bei Hegel nicht allein Bezeichnungen einerseits und Unterscheidungen zwischen Bezeichnungen andererseits, sondern zusätzlich eine »Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung« (Niklas Luhmann), die vor allem die notwendigen mit den hinreichenden Möglichkeitsbedingungen vermittelt.

Für Kunst heißt dies: Das Kunstwerk muss zwar einen Inhalt haben, aber ohne Form (zum Beispiel Genre) kann es den weder tragen noch vorführen, hat ihn dann mithin gar nicht. Wie gewinnt Kunst unterm Formzwang Erkenntnis so, dass sie nicht nur allgemein dem Formanspruch, sondern spezifischer dem Anspruch der Genregerechtigkeit entspricht?

Auch das hat Hacks behandelt, erfreulicherweise sogar in einem Zusammenhang, der zum Erkenntnisinteresse von Niegeschichte passt. Der betreffende Erzähltext spielt im alten Babylon und stellt den Ich-Erzähler als eine Art Teletemporarier vor: Ekbal, oder eine Theaterreise nach Babylon birgt eine Stelle, die dem letzten, im engsten Verständnis theoretischen Teil von Niegeschichte als Motto dienen könnte; Hacks lässt darin seine alten Babylonier übers Theater reden, das Gesagte gilt aber für alle Zugänge zu allen Genres:

(…) der Wunsch zu wissen ist schon mehr als das halbe Wissen. Es geschieht selten, daß wir erkennen: einer ist böse, und ihn dann hassen, oder: er ist gut, und ihn dann lieben. Für gewöhnlich hassen wir einen und erkennen daher, daß er böse ist, oder erkennen, weil wir ihn lieben, seine Verdienste. Es verhält sich auch nicht so, daß wir einen Weg finden, unsere Lage zu verbessern, und es dann tun, sondern die Begierde, unsere Lage zu verbessern, treibt uns auf die Suche nach einem solchen Weg. Das Theater nun lehrt uns wissen, indem es uns die Gefühle aufregt, die wir hätten, wenn wir wüßten. Mit diesen Gefühlen versehen, werden wir die Welt mit mehr Aufmerksamkeit betrachten, und unsere Einsichten, falls wir sie erlangen, werden in diesen Gefühlen haften oder Wurzeln schlagen, denn daß ein Gedanke bloß gedacht ist, heißt nicht, daß man ihn auch hat. Das Theater zeigt wenig genau, wie die Welt ist, aber es zeigt überaus genau, was von der Welt zu halten ist.7

Erkenntnis durch Kunst bedeutet Erkenntnis des Erkenntnisvermögens, qua Empfindung, die dem Empfundenen den Charakter des Erkannten verleiht und ihn daran enthüllt – mit Hegel persönlich:

Den Endzweck (der Kunst) erkennen wir aus dem, was bewirkt wird, in den Formen liegt der Unterschied, der Inhalt bleibt derselbe. Wir können erfahren, daß die Kunst dem Gefühle oder dem Gemüte das überhaupt näherbringt, was im Geiste Hohes und Wahres oder Wesentliches liegt, (und) daß durch die Darstellung der Kunst alles in uns zur Empfindung und Erfahrung gebracht wird. Die Kunst ergänzt stets die Erfahrungen unseres wirklichen Lebens, und durch diese Erregungen werden wir zugleich fähiger gemacht, in besonderen Zuständen und Situationen (gründlicher, tiefer zu empfinden,) oder (werden fähiger gemacht), daß (die äußerlichen Umstände) diese Empfindungen erregen, was erst durch diese Vermittlungen in der Kunstanschauung möglich geworden ist.8

Das ist von der Seite der Rezeption her gedacht. Komplementär dazu, von der Seite der Produktion her, sagt Hacks in einem Brief an den Kollegen Rudi Strahl aus Anlass einiger ästhetischer Bemerkungen des Schriftstellers Gerhart Branstner, der unter anderem auch Science Fiction geschrieben hat:

Branstner vernachlässigt mir zu sehr die Erkenntnisfunktion der Kunst. Er steht da ganz in der Tradition Schillers, der, aus Ärger über die Aufklärung, sehr ausschließlich die Spielfunktion betonte. Aber Kunst ist Erkennen-Spielen.9

Dieses »Erkennen-Spielen« produziert seine »Erregungen«, also dass wir uns dabei fühlen, »als ob wir wüßten« (Hacks), für die verschiedenen Genres je verschieden: Der psychologische Roman erregt uns, als ob wir wüssten, was in den Leuten vorgeht. Der historische Roman erregt uns, als ob wir den abstrakten Begriff des Schicksals in der Besonderheit erzählter Lebensläufe fassen könnten. Der humoristische Roman weckt in uns das Gefühl, wir wüssten, wie wir den Unterschied zwischen Erwartung und Ergebnis von der höchstmöglichen, vom Humor suggerierten Warte aus betrachten könnten; jenen Unterschied, der die viel beredete »Fallhöhe« (Robert Gernhardt) des Komischen ausmacht und für die spontane psychische Aufwandsersparnis sorgt, die sich im Lachen entlädt.

Die drei genannten Genres im Romanspektrum sind in der Tradition der Hegelschule breit behandelt worden. Die Frage nach dem Als-ob-wir-Wüssten der Science Fiction dagegen wird selten mit Blick auf die Genreform, sondern fast immer als stoffliche gestellt.

Niegeschichte schlägt vor, den Namen »Science Fiction« als Formhinweis ernst zu nehmen und diesen Namen als ein Hendiadyoin zu lesen.

Dieses Wort bedeutet »eins durch zwei« und ist in der Rhetorik eine Redefigur, die einen Gedanken erst verdoppelt (oder anders iterativ variiert) und dann die beiden Teilbegriffe zu einem neuen, synthetischen Begriff koppelt. Beispiele dafür sind Wendungen wie »Recht und Ordnung«, »aid and comfort« und Ähnliches. Damit ein Hendiadyoin gegeben ist, muss keineswegs ein Quasi-Pleonasmus oder eine Kopplung mit »und« vorliegen. Oft erlaubt die schlüssige Interpretation einer solchen zweiseitigen Wendung, das in ihr verwirklichte Hendiadyoin als Ergänzung eines Allgemeinen um ein Besonderes zu verstehen – bei »Recht und Ordnung« zum Beispiel darf man sich denken, dass das Recht eine (besondere, von einem Staatswesen garantierte, von einer Polizei bewachte, von einer Regierung beschlossene, von Gerichten ausgelegte) Sorte der Ordnung ist.

Man könnte mich nun so verstehen, ich wollte, wenn ich »Science Fiction« als Hendiadyoin lese, damit nahelegen, »Science« sei eine Sorte »Fiction«. Das hieße dann, die seit Galilei und Newton etablierte moderne Forschung als Erzählzusammenhang zu begreifen. Der Gedanke wäre weder neu noch originell. Ich halte seine Geltung auch keineswegs für so gesichert wie zahlreiche Autorinnen und Autoren, die ihn artikuliert und mehr oder weniger schlüssig begründet haben. In den rund zweihundert Jahren Kulturgeschichte zwischen 1815 und 2015, die der historische Teil von Niegeschichte näher betrachtet, hat sich in humanwissenschaftlich unterrichteten Kreisen eine Auffassung von »Science« herausgebildet, die mit den von der Aufklärung erhobenen Wahrheitsansprüchen an die wissenschaftliche Methode ins Gericht geht. Schöngeister sind nicht die Einzigen, die ihr folgen: Der Mathematiker und Physiker Henri Poincaré vertritt sie in seiner weit über die Fachwelt hinaus beachteten Studie La Valeur de la Science (1905), wie sie sein Physikerkollege Ernst Mach in Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) vertreten hatte, nämlich als den bereits bei Kant voll ausgeformten Einfall, dass die Grundlagen jener exakten wissenschaftlichen Arbeitsweise, systematische Beobachtung und Gegenprobe und ihre Verknüpfung mit logischen Schlussweisen, ihre Grenzen an der Verlässlichkeit und am Wahrheitswert der Beobachtungen haben.

Die sind tatsächlich anfällig für Täuschungen und Fehler, weil unser Wahrnehmungsapparat kein transzendental mit allen überhaupt möglichen Reizauslösern abgestimmtes Wunder ist, sondern unvollkommen und endlich, Ergebnis einer Entwicklung, nie fertig. Den Sprung von den fehlbaren Wahrnehmungen zur logischen Auswertung ihrer Daten hatte Kants Geistesverwandter David Hume daher zur »Entscheidung« erklärt, die man auch bleiben lassen könne. Derlei Zweifel an der Empirie schlechthin ist als Hauptstoßrichtung der durch Pyrrhon von Elis begründeten Denktradition der Skepsis bereits aus der Antike überliefert. In der Moderne haben Neoskeptiker wie Sir Karl Popper die Induktion, das heißt die wissenschaftsnotwendige Verallgemeinerung der Erfahrungsbefunde zu Gesetzen, breit problematisiert. Die Wissenschaftsgeschichtsschreibung nach Thomas S. Kuhn hat die Problematik überdies historisiert: Wissenschaftliche Theorien aus verschiedenen Abschnitten der Forschungsgeschichte seien, lehrt sie, wegen ihrer voneinander abweichenden erkenntnispraktischen Voraussetzungen inkommensurabel.

Die Physik, die im Zentrum von Kuhns Erwägungen steht, treibt seit der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik Hermeneutik, das heißt, sie erstellt »Interpretationen« physikalischer Gleichungen, angefangen mit der instrumentalistischen Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik durch Heisenberg und Bohr. Der Aufwand dieser Hermeneutik ist seit dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts immer weiter gewachsen und hat den sogenannten radikalen Konstruktivismus der Erkenntnistheorie genährt, wie das auch systemische Überlegungen der (Meta-)Biologie und evolutionären Epistemologie getan haben. Gemeinsam ist ihnen allen die Zurückweisung realistischer Korrespondenztheorien der Wahrheit, deren Parteileute Sätze glauben wie: »Wahr sind Sätze oder Gleichungen, die den Welttatsachen entsprechen.«

Die Validitätsansprüche naturwissenschaftlicher Wahrheitenproduktion sind dieser Behauptung zuwider von vielerlei Theoriefiltern durchgemustert und zurückgewiesen worden: diskursanalytischen, dekonstruktiven, postkolonialen, feministischen und so fort.