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Veröffentlichungen der Unabhängigen

Historikerkommission zur

Erforschung der Geschichte des

Bundesnachrichtendienstes

1945–1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,

Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang

Krieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 11

In der Forschungsreihe zur Geschichte des BND sind bisher erschienen:

BAND 1

Christoph Rass: Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes.

Von den Anfängen bis 1968

BAND 2

Gerhard Sälter: Phantome des Kalten Krieges.

Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes »Rote Kapelle«

BAND 3

Ronny Heidenreich, Daniela Münkel, Elke Stadelmann-Wenz:

Geheimdienstkrieg in Deutschland. Die Konfrontation von DDR-Staatssicherheit und Organisation Gehlen 1953

BAND 4

Sabrina Nowack: Sicherheitsrisiko NS-Belastung.

Personalüberprüfungen im Bundesnachrichtendienst in den 1960er-Jahren

BAND 5

Armin Müller: Wellenkrieg.

Agentenfunk und Funkaufklärung des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968

BAND 6

Agilolf Keßelring: Die Organisation Gehlen und die Neuformierung des Militärs in der Bundesrepublik.

BAND 7

Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Die Biografie.

Band 1: 1902–1950, Band 2: 1950–1979

BAND 8

Jost Dülffer: Geheimdienst in der Krise.

Der BND in den 1960er-Jahren

BAND 9

Thomas Wolf: Die Entstehung des BND.

Aufbau, Finanzierung, Kontrolle

BAND 10

Klaus-Dietmar Henke: Geheime Dienste.

Die politische Inlandsspionage der Organisation Gehlen 1946–1953

Ronny Heidenreich

Die DDR-Spionage des BND

Von den Anfängen bis zum Mauerbau

Ch. Links Verlag, Berlin

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung der an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden im Juli 2019 verteidigten Dissertation. Gutachter: Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke, TU Dresden, Prof. Dr. Daniela Münkel, Leibniz Universität Hannover.

Editorischer Hinweis:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, November 2019

ISBN 978-3-96289-024-7

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

Geheimdienste im Kalten Krieg

Geheimdienste im geteilten Deutschland

Forschungen zur Geschichte des BND

Aufbau

Quellen

I.Der lange Weg nach Osten

1.Ein Geheimdienst entsteht

Personen und Strukturen

Verpasster Anfang

2.Der Sprung nach Osten

Ein »Feld-, Wald- und Wiesen-Dienst«

Im Visier westlicher Dienste: die sowjetischen Truppen in der SBZ

Anfänge der Wirtschaftsspionage

Spionage in der Praxis

Einbrüche: Der Kreis um Walter Kammer

3.Das Krisenjahr 1948

Ein sowjetisches Täuschungsmanöver?

Im Visier der sowjetischen Spionageabwehr

Krisenmanagement

Berlinblockade und Übergabe an die CIA

4.Spionage im Gründungsjahr der DDR

Neuausrichtung der DDR-Spionage

Operation »Baldur« und das Deutschlandtreffen der FDJ 1950

II.DDR-Spionage zwischen Koreakrieg und Staatssicherheitsaktionen

1.Koreakrisen

Das Jupiter-Pogramm

Auf Erfolgskurs

2.Pullach gegen die Kasernierte Volkspolizei

Operationen in der DDR

Die Gründung der Kasernierten Volkspolizei

Operationen im Westen

3.Neue Wege in der Militäraufklärung

Anwerbung von sowjetischem Militärpersonal

Vorwarnung, Funk und Stay behind

4.Wirtschaftsspionage in den 1950er Jahren

Agentenrekrutierung im Wirtschafts- und Staatsapparat

Wirtschaftliche Störmaßnahmen

Fluchtverleitung

5.Die Organisation Gehlen im Geheimdienstdschungel

Vernetzung mit alliierten Diensten

Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit

Die Ostbüros der Parteien

6.Volksaufstand vom 17. Juni 1953

7.Im Kreuzfeuer der Staatssicherheit

»Konzentrierte Schläge«

Krisenmanagement

Schadensbegrenzung

DDR-Spionage unter veränderten Vorzeichen

Atempausen: Übernahmen vom FDP-Ostbüro und der RIAS-Informationsabteilung

III.Als Bundesnachrichtendienst in der DDR

1.Neuverortung der DDR-Spionage

Militärspionage im Auftrag des Verteidigungsministeriums

Juniorpartner der Alliierten

2.Pullach gegen die NVA

Operationen in der DDR

Deserteursbefragungen

3.Wirtschaftsspionage des BND

Beziehungen zum Wirtschaftsministerium

Agentenrekrutierung in der DDR

Westaufklärung

4.Die Mauer in Sicht

5.Raus aus der DDR: Flüchtlingsbefragungen

Notaufnahme oder Befragungswesen

Die Hauptstelle für Befragungswesen

»Konspiratives Befragungswesen«

6.Die DDR und die anderen westdeutschen Geheimdienste

Das Gesamtdeutsche Ministerium

Das Bundesamt für Verfassungsschutz

Auflösung von KgU und UfJ

Das Ostbüro der SPD

7.Spionage gegen das Ministerium für Staatssicherheit

Umorientierung 1953/54

Das MfS im Visier des BND

Überläuferbefragungen

Propagandakampagnen

8.Die Politische Ostaufklärung des BND

Die Anfänge der politischen Ostaufklärung

Der Fall Elli Barczatis

Ein Geheimdienst im Geheimdienst: Der Strategische Dienst

Die Netzwerke des Thomas Sessler

Die Apparate des Kurt Weiß

Spitzenquellen: Günter Hofé und Willi Leisner

Kontrahenten: Die politische Auswertung

Imagepflege und Propaganda: Topspione in den Medien

IV.Mauerbau

»Aus Moskau wird berichtet«

Logistische und militärische Vorbereitungen

Erklärungsnöte

V.Ausblick bis 1968

Folgen des Felfe-Verrates

Spione auf Reisen

BND und Fluchthilfe

Operationen im Westen

DDR-Berichterstattung in der Endphase der Ära Gehlen

Schlussbetrachtung

Agentenrekrutierung

Im Westen

Informationsmanagement

Einflussinstrument

BND, DDR und die deutsche Teilung

Anhang

Abkürzungen, Chiffren und Tarnbezeichnungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Archive

2. Websites

3. Zeitungen und Zeitschriften

4. Gedruckte Quellen

5. Zeitgenössische Schriften

6. Memoiren und Erinnerungsschriften

7. Forschungsliteratur

Ortsregister

Personenregister

Dank

Der Autor

Vorbemerkung

Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968

Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zuallererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monografien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.

Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.

Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.

Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),

Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

Einleitung

Wenn es ein Loch im Eisernen Vorhang gab, durch das westliche Geheimdienste während des Kalten Krieges in den sowjetischen Machtbereich eindringen konnten, dann war es nach den Worten des britischen Historikers Paul Maddrell die DDR. Angesichts der Massenspionage westlicher Dienste in Ostdeutschland können die Jahre bis zum Mauerbau nach seinen Worten sogar als »the years of the Germans« gelten.1 Zu diesen Geheimdiensten, die in der DDR operierten, gehörte auch die 1946 unter Aufsicht der amerikanischen Armee in Deutschland begründete Organisation Gehlen. Nach ihrem ersten Leiter Reinhard Gehlen benannt, unterstand sie seit 1949 dem amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA und sollte diesen mit Informationen über den sowjetischen Machtbereich versorgen. Sieben Jahre später wurde der Gehlen-Dienst der Bundesregierung unterstellt und ist seitdem der Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland.2 Auf dem Gebiet der DDR-Spionage galt der Bundesnachrichtendienst (BND) mitunter als »Marktführer«, für Reinhard Gehlen war sie das Aushängeschild seines Dienstes.3 Wie die DDR-Spionage des Gehlen-Dienstes tatsächlich funktionierte und welche historische Bedeutung sie hatte, ist Gegenstand des vorliegenden Buches.

Unzweifelhaft war das Territorium der DDR für alle westlichen Geheimdienste von besonderem Interesse. Bei Kriegsende befand sich auf dem Gebiet der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) eines der größten Kontingente der sowjetischen Truppen in Europa, das in den militärischen Planungen Moskaus während des Kalten Krieges eine zentrale Rolle spielte.4 Die sowjetischen Verbände standen in direkter Opposition zum westlichen Verteidigungsbündnis, weshalb deren Beobachtung für die westliche Allianz besondere Bedeutung hatte.5 In Ostberlin und aufgrund der dort bis 1961 offenen Grenzen in der geteilten Stadt für die westlichen Geheimdienste leicht zugänglich, befanden sich wichtige Betriebe und die DDR-Ministerien sowie Handelsvertretungen und Botschaften der Ostblockstaaten.6 Hier ließen sich Informationen über die ostdeutsche Wirtschaft ebenso beschaffen wie über das östliche Wirtschaftspotential. Zudem waren die Jahre zwischen 1945 und 1961 von einem enormen rüstungstechnologischen Fortschritt gekennzeichnet, der ebenfalls im Fokus westlicher Geheimdienste stand. Auf dem Territorium Ostdeutschlands befanden sich trotz der Demontagen in der Nachkriegszeit wichtige Forschungszentren, die Einblicke in technologische Entwicklungen des Ostblocks zuließen. In diesem Zusammenhang spielte beispielweise die Erschließung der Uranvorkommen im Erzgebirge für die Entwicklung des sowjetischen Atomprogrammes eine wichtige Rolle.7 Nicht zuletzt boten sich westlichen Geheimdiensten für die Ausforschung der politischen Pläne der Moskauer Führung zahlreiche Ansatzpunkte in Ostberlin. Hier ließen sich etwa die Kommunikation der Besatzungsbehörden bzw. später der Botschaft mit den Moskauer Zentralstellen abhören oder Gewährsleute gewinnen.8 Die Unterwanderung der Ostberliner SED-Spitze sollte Aufschlüsse über Initiativen der Moskauer Führung bringen, weshalb, soweit bekannt, vor allem amerikanische Dienste dort Zuträger erfolgreich platzierten.9

Die westlichen Geheimdienste beschränkten sich nicht nur auf die Sammlung von Informationen. Die amerikanische Außenpolitik stand in den 1950er Jahren im Zeichen der sogenannten Befreiungspolitik. Ihr Ziel war es, durch offene und verdeckte Unterstützung von Regimegegnern in die DDR-Gesellschaft hineinzuwirken.10 Vor allem amerikanische Dienste unterstützten zu diesem Zweck ein Netzwerk antikommunistischer Organisationen. Die von diesen Institutionen betriebene Propagandaarbeit in der DDR sollte eine Konsolidierung der SED-Herrschaft in Ostdeutschland verhindern. Zugleich dienten die aus Spionageoperationen gewonnenen Informationen dem Westen auch dazu, durch Handelsbeschränkungen und Embargos die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Ostblocks im Allgemeinen und der DDR im Besonderen zu schwächen.11

Geheimdienste im Kalten Krieg

Mit der DDR-Spionage des Bundesnachrichtendienstes wird ein Ausschnitt des zentralen weltpolitischen Konfliktes der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des Kalten Krieges, behandelt. Der diese Epoche bestimmende Gegensatz zwischen Ost und West reichte zwar, wie Odd Arne Westad betont, weiter zurück, wuchs sich aber erst nach 1945 zu einem globalen Konflikt aus.12 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zerfall der gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpfenden Anti-Hitler-Koalition wich das vormalige Bündnis einer scharfen Systemkonkurrenz zwischen dem westlichen Lager unter amerikanischer Hegemonie und einem sowjetisch dominierten kommunistischen Block. Der sich entfaltende Kalte Krieg erschien den Zeitgenossen allgegenwärtig und wurde nicht nur mit »kalten« Mitteln auf politischideologischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, kultureller und sozialer Ebene ausgefochten. Der Konflikt formte auch Mentalitäten und Sinnwelten, bei deren Vermittlung Medien- und Propagandaapparate eine zentrale Rolle spielten.13 Es entstanden verschiedene »Kulturen des Kalten Krieges«, welche die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse in einzelnen Regionen bis in die Gegenwart hinein prägten.14 Gleichzeitig mündete der Kalte Krieg an einigen Orten immer wieder in begrenzte militärische Konfrontationen. Angesichts der wechselseitigen atomaren Bedrohung vermieden beide Supermächte einen direkten Schlagabtausch.15 Es handelte sich damit nach Bernd Stöver um eine totale Auseinandersetzung, die von beiden Seiten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ausgetragen wurde.16

Der Kalte Krieg war trotz aller ideologischen und politischen Unterschiede zwischen den beiden Blöcken keine zwangsläufige Entwicklung. Vielmehr waren seine Entstehung und Ausformung wesentlich von Wahrnehmungen geprägt, die »einen konstitutiven und konstituierenden Anteil an der Ausprägung und dem Verlauf« des Konfliktes hatten.17 Zentral war dabei die Konstruktion von Feindbildern und aus ihnen abgeleiteten Bedrohungsvorstellungen. Wilfried Loth verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Ansätze zur Entspannung und Annäherung insbesondere in der Frühzeit des Konfliktes schwach bleiben mussten, weil wechselseitige Fehlwahrnehmungen den Ost-West-Gegensatz anheizten.18 Daran waren Geheimdienste beteiligt, wenn auch keineswegs exklusiv.19 Neben ihnen sieht Loth in dem nach 1945 weltweit stark expandierenden Militär- und Rüstungsbereich einen »sekundären Verursacher« des Kalten Krieges, der erheblich von dem heraufziehenden Konflikt profitierte.20

Gleichwohl kann Ähnliches auch über die Geheimdienste gesagt werden. Im Gegensatz zum Militär sind sie ein relativ neues Phänomen in der Geschichte, auch wenn die Tradition der Spionage sehr viel länger zurückreicht. Bis zum Ersten Weltkrieg war sie vor allem auf die Beschaffung militärischer und diplomatischer Geheimnisse ausgerichtet. Mit der Technisierung der Kriegführung seit dem späten 19. Jahrhundert wuchsen diese Apparate, weil sie in stärkerem Maße auf spezialisierte Kräfte und technische Expertise angewiesen waren.21 Daneben existierte eine Politische Polizei, die mit geheimen Methoden inneren Feinden nachspürte und bis mindestens in die Frühe Neuzeit zurückverfolgt werden kann.22 Aus diesen Vorbildern entstand nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland ein neuartiger Überwachungsapparat, der den Feind sowohl im Äußeren als auch Inneren bekämpfte. Er war zunächst nötig, um die Bolschewiki an der Macht zu halten, entwickelte dann aber eine eigene Dynamik, die ständig neue Feindbilder schuf und gesellschaftlich implantierte.23 Unter anderen Vorzeichen, wenn auch mit ähnlichem Ergebnis, bildete sich in Deutschland nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ein Geheimdienstkomplex heraus. Auch er beschränkte sich nicht mehr auf die politischen Gegner im Inneren und die Militärspionage im Ausland.24 In beiden Fällen zwangen die ideologisch verzerrten Feindwahrnehmungen dieser Regime ihre Geheimdienste dazu, mehr zu produzieren als Feindlageberichte: Weil diese Staaten eine Neuordnung von Gesellschaft, Staat und Raum anstrebten, benötigten sie umfassende Informationen über mutmaßliche Gegner ebenso wie über die eigene Bevölkerung.

Die sowjetischen und nationalsozialistischen Geheimdienstapparate hatten nicht nur gemein, dass sie Diktaturen dienten. Vor allem entstanden sie in Zeiten politischen und gesellschaftlichen Umbruchs, die von Unsicherheit geprägt waren. Davon war auch die historische Epoche des Kalten Krieges gekennzeichnet. Überall auf der Welt entstanden jetzt Geheimdienste als behördliche und auf Dauer angelegte spezialisierte Apparate. So wurde in den USA nicht nur der bei Kriegsende bereits abgewickelte Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) wiederbelebt, sondern in der CIA zu einem sehr viel größeren Komplex entwickelt.25

Der Geheimdienstforscher Christopher Andrews wies bereits vor mehr als 30 Jahren darauf hin, dass die Geschichte des Ost-West-Konfliktes deshalb ohne Einbeziehung der Geheimdienste nicht zu schreiben sei.26 Trotz einer inzwischen umfänglichen Geheimdienstliteratur ist ihre Rolle allerdings noch heute nach Einschätzung Westads »far from clear«.27 Einigkeit herrscht darüber, dass die allgegenwärtigen Bedrohungswahrnehmungen in der Frühphase des Kalten Krieges für die Entstehung von Geheimdiensten im Westen und den Ausbau der Geheimpolizeien im Osten ursächlich waren.28 Weniger deutlich ist, ob und gegebenenfalls wie dieser Aufwuchs der Dienste an personellen, materiellen und finanziellen Ressourcen und ihre Rolle im politischen Raum die zeitgenössischen Wahrnehmungen und damit die Dynamik des Kalten Krieges konkret beeinflussten.

Folgt man der Geheimdienstforschung, hätten die Dienste ihren Nutzen vor allem auf dem Gebiet der Militärspionage unter Beweis gestellt.29 Dank technischer Aufklärungsmöglichkeiten seien sie in der Lage gewesen, die militärischen Fähigkeiten, besonders das atomare Potential des Gegners, wechselseitig zutreffend zu erfassen, was zur Stabilisierung des Konfliktes beigetragen habe.30 Als defizitär hingegen gilt bei den westlichen Diensten die Beschaffung und Analyse von Informationen über die politischen Absichten der Sowjetunion, weil es ihnen nicht gelang und je nach Auffassung auch nicht gelingen konnte, in die Entscheidungszentren in Moskau einzudringen. Bei der Beurteilung der politischen Absichten der Sowjetunion hätten sich die Regierungen im Westen deshalb stark auf andere etablierte Politikberater aus Diplomatie und Militär verlassen müssen.31

Umgekehrt liegen zahlreiche Hinweise vor, dass besonders in der Frühzeit des Kalten Krieges die Tätigkeit westlicher Geheimdienste den Konflikt anheizte. So hatten überzogene Geheimdienstberichte über das sowjetische Militärpotential in den 1940er Jahren nicht nur einen Aufrüstungsschub in den USA zur Folge.32 Es ist nachgewiesen worden, dass führende amerikanische Geheimdienstler solche Fehlannahmen aus Eigeninteresse zielstrebig beförderten, um das Überleben und den Ausbau ihrer Institutionen zu sichern.33 Ebenfalls eskalierend wirkte das aktive Eingreifen der Dienste durch verdeckte Operationen im gegnerischen Machtbereich. Solche Unternehmungen zielten beispielsweise durch Propaganda34 auf eine Destabilisierung des Gegners ab oder verfolgten das Ziel, durch zum Teil bewaffnete Interventionen an der Peripherie der Machtblöcke die Ausweitung der gegnerischen Einflussgebiete zu verhindern.35 Nicht nur solche von Geheimdiensten betriebenen Sonderoperationen konnten den Kalten Krieg befeuern. Es waren mitunter auch fehlgeschlagene Spionageunternehmungen selbst, wie der Abschuss eines amerikanischen Aufklärungsflugzeuges über der Sowjetunion 1960, die zu schweren Spannungen zwischen den Blöcken führten.36 In dem von Ängsten und Bedrohungsvorstellungen geprägten Klima des Kalten Krieges schien bereits von der bloßen Existenz der Geheimdienste für die jeweils andere Seite eine Gefahr auszugehen, die sich zudem politisch instrumentalisieren ließ. So wurden im Westen aufgedeckte Spionagefälle sowjetischer Dienste öffentlich inszeniert, um Infiltrationsängste zu schüren und den Ausbau der eigenen Geheimdienstapparate zu rechtfertigen.37 Unter umgekehrten Vorzeichen fanden ähnliche Kampagnen im sowjetischen Machtbereich statt, die ebenfalls der Herrschaftssicherung und dem Ausbau der Überwachungsapparate dienten.38 Die öffentliche Inszenierung dieses Geheimdienstkrieges zwischen Ost und West in Presse, Literatur und Film und Fernsehen dürfte damit eine nicht minder große Bedeutung für den Verlauf des Ost-West-Konfliktes gehabt haben, über deren Stellenwert allerdings bislang wenig bekannt ist.39

Trotz dieser Ambivalenzen und dem tatsächlich nur punktuell messbaren Einfluss der Geheimdienste stehen ihre Ressourcen und Rechte sowie der Aufwand, mit dem sie bisherigen Studien zufolge Informationen zusammentrugen, in einem deutlichen Missverhältnis zu ihrer politischen Wirkung. Das liegt in starkem Maße auch daran, dass sich die Geheimdienstforschung für diese Fragen kaum interessiert. Bisher konzentrierte sie sich vor allem auf Organisationen und Personen, einzelne Operationen und, gerade mit Blick auf die CIA, auf politische Einflussnahme.40 Eine Besonderheit dieser Geheimdienstforschung ist zudem, dass sie sich vorrangig für politische Ereignisgeschichte interessiert und die Forscher zu ihrem Objekt oftmals in naher Beziehung stehen.41 So plädiert zwar die Geheimdienstforschung dafür, den Nutzen von Geheimdiensten in längerer Perspektive zu messen und nicht an einzelnen, zumeist öffentlich bekannt gewordenen und oftmals skandalisierten Fehlleistungen festzumachen.42 Wie dies zu leisten sei, bleibt allerdings offen, weil einige zentrale Fragen, wie die Fähigkeit zur geheimen Nachrichtenbeschaffung und -verarbeitung, ja selbst die Beauftragung der Dienste, aufgrund noch heute bestehender überbordender Geheimhaltungsmaßgaben bislang einer Untersuchung nicht zugänglich sind.

Die Möglichkeit, die Arbeitsweise eines westlichen Geheimdienstes im Kalten Krieg auf breiter Quellengrundlage zu erforschen, bietet sich erstmals exemplarisch mit der Überlieferung des BND, die seit 2011 in den Untersuchungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (UHK BND) aufgearbeitet wird. Am Beispiel der Spionage in der DDR wird im Folgenden systematisch die Beschaffung von Informationen untersucht, angefangen von der Auswahl, Rekrutierung und Führung von Agenten. Daran schließt sich eine Betrachtung der durch Sichtung und Evaluation der beschafften Informationen geprägten Verarbeitungsprozesse an. Die Analyse der selektiven Weitergabe und Rezeption der Geheimdienstberichte im politischen Raum soll Rückschlüsse auf die Wirkung der BND-Unterrichtungen über die DDR zulassen. Mit diesem breiten, aber zugleich auf die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen fokussierten Ansatz betritt die vorliegende Arbeit Neuland. Die geografische Beschränkung auf die SBZ und frühe DDR bis zum Mauerbau 1961 ermöglicht zum einen die konzentrierte und exemplarische Untersuchung der Nachrichtenbeschaffung und -verarbeitung. Zum anderen erlaubt die breite historische Forschung über die deutsche Teilungsgeschichte und die DDR eine Einbettung der Pullacher Erkenntnisse. Das macht die Erforschung dieses Geheimdienstes für weiter gehende Fragestellungen anschlussfähig.

Die Spionage in der DDR stand zugleich in einem größeren Kontext der Nachrichtenbeschaffung des frühen Bundesnachrichtendienstes, deren Stellenwert, wie zu zeigen sein wird, sich im Verlaufe der Jahrzehnte veränderte. Andere Aktivitäten wie beispielsweise Propagandaarbeit und verdeckte Einflussnahme,43 militärische Ernstfallplanungen44 oder die Personalpolitik und ihre Kontinuitäten seit der Zeit vor 194545 sind Gegenstand anderer Studien der UHK BND und werden nur insoweit thematisiert, wie sie für die vorliegende Untersuchung relevant sind.

Eine Untersuchung der DDR-Spionage des frühen Bundesnachrichtendienstes ist auch deshalb besonders aufschlussreich, weil es sich um einen Geheimdienst im Entstehen handelt. Ungeachtet der Vorerfahrungen zahlreicher Mitarbeiter in den Militär- und Sicherheitsapparaten des nationalsozialistischen Deutschlands war der Bundesnachrichtendienst wie alle anderen westlichen Geheimdienste auch eine neue Institution. Er befand sich damit in einem Prozess des Probierens und Lernens und war gezwungen, Standards für die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen zu entwickeln.

Über die Praxis westlicher Spionage in Ostdeutschland liegen mit den Arbeiten Maddrells wertvolle Hinweise vor. So konnte er auf Grundlage von Spionageabwehroperationen östlicher Geheimdienste nachweisen, dass die Beschaffung von Informationen zunächst wesentlich auf der Zusammenarbeit mit Gewährsleuten beruhte, während technische Möglichkeiten erst Mitte der 1950er Jahre zum Einsatz kamen.46 Zugleich kann er zeigen, dass die massenhafte Rekrutierung solcher Zuträger maßgeblich auf den sozialen Bindungen in der deutschen Bevölkerung und dem Flüchtlingsstrom aus der DDR beruht haben dürfte.47 Doch trotz solcher ausschnittartiger Einsichten sind Logiken und Prozesse der Auswahl, Anwerbung und Führung von Gewährsleuten bei westlichen Diensten weitgehend unbekannt.48 Ganz im Gegensatz etwa zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR, über dessen Zusammenarbeit mit Zuträgern es eine breite quellengestützte Forschung gibt.49

Die genannten Defizite sind vor allem darauf zurückzuführen, dass alle westlichen Geheimdienste auch heute noch ihre »sources and methods« schützen und deshalb für die Erforschung dieses zentralen Bereiches geheimdienstlicher Arbeit eine breite Quellengrundlage fehlt.50 Zudem sind die in der Forschung anhand östlicher Quellen herausgearbeiteten Praktiken westlicher Dienste dem Vorwurf ausgesetzt, nicht hinreichend durch andere Überlieferungen belegbar zu sein.51 In diesem Zusammenhang wird gerade im Bereich der DDR-Forschung ein von der Staatssicherheit erhobener Spionagevorwurf als Ausdruck ideologisch verzerrter Feindwahrnehmung oftmals mit politischer Verfolgung gleichgesetzt. Angesichts unzweifelhaft fehlender rechtsstaatlicher Untersuchungsverfahren in der DDR lässt sich damit der Unrechtscharakter des SED-Staates herausstreichen. Zugleich halten solche Vorannahmen aber davon ab, die in den Akten der östlichen Geheimpolizei dokumentierten Vorgänge ernster zu nehmen.52 Das aber erscheint umso wichtiger, als erste Untersuchungen über den Gehlen-Dienst und andere antikommunistische Organisationen im Spiegel östlicher und westlicher Akten gezeigt haben, dass die Bedrohungsvorstellungen der Staatssicherheit oftmals Bestätigung in der westlichen Gegenüberlieferung finden.53 Die vorliegende Untersuchung wird diese Lücke weiter schließen, indem sie nun erstmals quellengestützt Methoden, Ziele und Erfolge der Quellenrekrutierung des frühen Bundesnachrichtendienstes beschreibt.

Ähnlich wie die Nachrichtenbeschaffung weitgehend im Dunkeln liegt, sind auch Prozesse der Informationsverarbeitung bei westlichen Geheimdiensten angesichts verschlossener Archive bislang kaum zu erforschen gewesen.54 Zwar liegt aus dem Umfeld der Intelligence Studies reichlich Literatur über Modelle der Nachrichtenbeschaffung und -verarbeitung vor. Sie sind, wie selbst die Geheimdienstforschung einräumen muss, jedoch kaum hinreichend empirisch untermauert, so dass über ihren Realitätsbezug nichts oder wenig bekannt ist.55

Als hilfreich erweisen sich in diesem Zusammenhang theoretische Überlegungen der Literaturwissenschaftlerin Eva Horn.56 In Anknüpfung an Horn hat der Historiker Gerhard Sälter daraufhingewiesen, dass Geheimdienste bei der Zusammenarbeit mit V-Leuten vor der Herausforderung stehen, dass sie sich über die Herkunft ihrer Informationen und die Intention ihrer Zuträger nie sicher sein können. Das ist zunächst ein allgemeines Problem, weil Informationen, die aus Beziehungen zwischen Personen gewonnen werden, stark von Interpretationen abhängen und deshalb schwer zu verifizieren sind.57 Die Dienste sind deshalb gezwungen, Kriterien für die Beurteilung der Zuverlässigkeit ihrer Gewährsleute und des Wahrheitsgehalts der von ihnen gelieferten Berichte zu entwickeln. Das erfolgt, so wiederum die Geheimdienstforschung, im Wesentlichen durch einen Vergleich der Informationen mit anderem geheimen und offenen Material.58 Dieser Ansatz ist allerdings gerade im geheimdienstlichen Geschäft erschwert. Weil es der Anspruch der Dienste ist, mit geheim gehaltenen Informationen zu arbeiten, und ihr Wissen demnach aus einem geschützten Raum stammt, zu dem ein nur begrenzter Zugang besteht, bieten sich kaum Möglichkeiten des Abgleichs.59 Wie der frühe Bundesnachrichtendienst mit diesen Problemen umging und welche Kriterien er entwickelte, um seinen Quellen und den von ihnen gelieferten Informationen vertrauen zu können, wird zu zeigen sein.

Ungeachtet dieser zentralen Probleme leiten Geheimdienste aus ihrer Fähigkeit zur geheimen Nachrichtenbeschaffung einen Anspruch auf Exklusivität des von ihnen generierten Wissens ab. Das müssen sie auch, weil das ihre Existenz letztlich ebenso rechtfertigt wie das Recht, ihre Tätigkeit gerade im operativen Bereich den Einblicken oder gar einer Kontrolle und auch Erforschung durch Dritte zu entziehen. Zugleich neigen Geheimdienste nach den Beobachtungen von Horn in ihrer selbst gewählten Abgeschiedenheit zur Überschätzung der eigenen Erkenntnisse und Informanten. Das von ihnen reklamierte Alleinstellungsmerkmal birgt für die Dienste die Gefahr, ihre Sicht auf die Welt für die einzig zutreffende zu halten, und ist potentiell geeignet, Fehlwahrnehmungen zu befördern.60 Daraus leiten sich zwei Fragen ab: Erstens, in welchem Maße die vom BND beschafften Informationen über die DDR angesichts offener Grenzen und einer verflochtenen Gesellschaft den Anspruch des Geheimen und Exklusiven einlösen konnten. Zweitens, in welchem Maße die vorgeblich exklusiv beschafften Erkenntnisse die in den politischen Raum gegebenen Berichte prägten.

Der in den Diensten um ihre Informationen und Arbeitsweisen ausgeprägte Geheimniskult setzt sich in der Präsentation der Berichte bei den Abnehmern fort. Schon die geheime Aufmachung und die Vorlage bei einem ausgewählten Empfängerkreis erwecken den Eindruck, das in den Berichten enthaltene Wissen sei an sich bedeutsam. Der tatsächliche Mehrwert geheimdienstlicher Unterrichtungen lässt sich indes erst durch Einbeziehung alternativer Informationsquellen der Empfänger genauer bestimmen.61 Deshalb würde es auch zu kurz greifen, die Pullacher DDR-Berichterstattung allein auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Vielmehr kommt es darauf an, sie mit anderen Berichten und Informationskanälen zu vergleichen, die den Adressaten zur Verfügung standen.

Angesichts dieser Desiderate unternimmt die vorliegende Untersuchung den Versuch einer Geheimdienstgeschichte, welche die Praxis der Spionage mit den Prozessen der Informationsverarbeitung verbindet und in einem politischen Rahmen betrachtet. Ein solch umfassender Ansatz kann hier erstmals verfolgt werden, weil nun die Akten dafür zur Verfügung stehen.

Geheimdienste im geteilten Deutschland

Die hier untersuchte Phase zwischen Kriegsende 1945 und Mauerbau 1961 war für die Entstehung der beiden deutschen Staaten konstitutiv. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes vollzog sich in diesen Jahren die Teilung des zunächst gemeinsam von den Siegermächten verwalteten Nachkriegsdeutschlands, die 1949 in der Gründung der beiden deutschen Staaten mündete. In welchem Maße beide Machtblöcke ein Interesse an dieser Entwicklung hatten und den Prozess bewusst vorantrieben, ist ebenso Gegenstand der Forschung wie die Frage, in welchem Maße die beiden deutschen Staaten selbst den Teilungsprozess vorantrieben, weil sie ihm ihr Entstehen verdankten.62 Unabhängig von den Handlungsspielräumen und Motiven der Akteure kann die hier untersuchte Phase, wie Christoph Kleßmann bereits vor Jahrzehnten betont hat, als die Periode gelten, in der sich die DDR und BRD auseinanderentwickelten und sich die deutsche Teilung verfestigte.63

Trotz der von den Siegermächten beförderten Integration der beiden deutschen Staaten in den jeweiligen Herrschaftsbereich blieben sie stets im Sinne einer asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte aufeinander bezogen und interagierten miteinander.64 So war für die DDR die westdeutsche Gesellschaft stets wichtiges Referenzobjekt und Gegenentwurf zugleich, wie sich die junge Bundesrepublik mit ihrem Antikommunismus gegenüber dem SED-Staat politisch und gesellschaftlich abzugrenzen suchte. Unterhalb des politischen Teilungsprozesses blieben aber, wie Michael Lemke gezeigt hat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur und nicht zuletzt auch die Mentalitäten durch eine länger zurückreichende gemeinsame Erfahrungsgeschichte miteinander verbunden.65 Solche Verflechtungen wirkten fort und konnten den Abgrenzungsprozess erschweren, weil sie der Herausbildung klarer Loyalitäten gegenüber den entstehenden neuen Staaten in Ost und West entgegenstanden.66 Ganz praktisch halfen dabei die bis zum Mauerbau am 13. August 1961 offenen Grenzen. Sie erlaubten alltägliche Begegnungen, was insbesondere für das unter Viermächteverwaltung stehende Berlin und sein Umland gilt. Gerade hier ermöglichten die offenen innerstädtischen Grenzen den Menschen einen für beide Seiten unkontrollierbaren Wechsel zwischen beiden Systemen. Das war letztlich von den Besatzungsmächten ebenso wie von den Regierungen in Bonn und Ostberlin gewollt: Beide Stadthälften waren als Schaufenster konzipiert, das die Bevölkerung der jeweils anderen Seite anziehen und von der Überlegenheit des eigenen Systems überzeugen sollte.67

Diese gewachsenen sozialen Beziehungen sowie die Möglichkeit alltäglicher Begegnungen erschienen zugleich zeitgenössisch als Problem und wurden deshalb im Zuge des politischen Teilungsprozesses aufgebrochen. Die Konstituierung von Grenzen und ihre Überwachung wurden von beiden Seiten mit dem Ziel vorangetrieben, Kontrolle über die eigene Bevölkerung und ihre Kontakte in den anderen Machtbereich zu erlangen.68

Die Verflechtungsgesellschaft galt einigen deshalb als Bedrohung, weil die unkontrollierbaren Bindungen ein potentielles Einfallstor für den jeweiligen Gegner sein konnten. Die Angst vor Subversion war stark, weil Einflussnahme auf die Gegenseite von beiden Parteien aktiv versucht wurde. Für die Bundesregierung war die Absichtserklärung der SED-Führung bedrohlich, mit Hilfe befreundeter Parteien und Vorfeldorganisationen in die westdeutsche Gesellschaft hineinwirken zu wollen. Auch wenn die Wirkungsmächtigkeit dieser Unternehmungen von den Zeitgenossen überschätzt und namentlich den westdeutschen Geheimdiensten überzeichnet wurde, verstärkten sie das Bedrohungsgefühl der jungen Bundesrepublik.69 Umgekehrt und gleichermaßen fürchtete die SED-Führung die gesamtdeutsche Rhetorik der Bundesregierung wie auch die von regierungsoffiziellen Institutionen wie dem Gesamtdeutschen Ministerium geförderte Propagandaarbeit in Richtung DDR, die ihren Herrschaftsanspruch in Ostdeutschland untergrub und die ohnehin vorhandene Ablehnung in der eigenen Bevölkerung bestärkte.70

In den Bemühungen um die Eindämmung solch wechselseitig wahrgenommener Bedrohungen spielten Geheimdienste eine zentrale Rolle. In der Bundesrepublik begann bald nach der Staatsgründung der Aufbau eigener Geheimdienstapparate, die auf die Abwehr einer östlichen Bedrohung ausgerichtet waren und auf die innere Konsolidierung der westdeutschen Gesellschaft abzielten, bei der Durchsetzung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aber retardierend wirken konnten.71

Im Osten wiederum fiel der sowjetischen Geheimpolizei und dem 1950 gegründeten Ministerium für Staatssicherheit bei der Diktaturdurchsetzung von Beginn an eine zentrale Bedeutung zu. Die SED begründete die Notwendigkeit gezielter Repressionen durch das MfS gegen politische Gegner und ganze Bevölkerungsgruppen mit der Furcht vor westlicher Einflussnahme. Die Bedrohungsvorstellung der SED beförderte damit zugleich die Professionalisierung und den Ausbau des Überwachungsapparates, die nach dem Mauerbau in einer nahezu geschlossenen überwachungsstaatlichen Durchdringung der DDR-Gesellschaft mündeten.72 Nicht zuletzt nutzte die SED-Führung die von den westlichen Geheimdiensten ausgehende wahrgenommene Bedrohung, um außen- und innenpolitische Ziele durchzusetzen.73 So lieferte während der zweiten Berlinkrise die Tätigkeit westlicher Geheimdienste in Berlin für die Moskauer Führung und die SED einen Begründungszusammenhang, um den Abzug der alliierten Schutzmächte aus den Westsektoren der Stadt zu fordern.74 Nicht zuletzt legitimierte die SED-Führung die Grenzschließung 1961 mit dem an den Westen gerichteten Vorwurf einer gezielten Abwerbung von Fachkräften.75 Das war zwar überzeichnet, doch stellte wenigstens der damit verbundene Abfluss von Wissen ein Sicherheitsproblem dar, das die Ostberliner Führung lösen musste.76

Solche Bedrohungswahrnehmungen der SED entbehrten im Kern nicht einer realen Grundlage. Gerade die sich aus der Verflechtungsgesellschaft ergebenden Verbindungen ließen sich für die westliche Spionage in Ostdeutschland hervorragend nutzbar machen. Die gemeinsame Sprache und Kultur erleichterten das Ansprechen potentieller Zuträger. Bestehende Bindungen in Familien- und Freundeskreisen oder auch Geschäftskontakte konnten gezielt für die Beschaffung von Informationen instrumentalisiert werden. Hinzu kam die seit 1945 anhaltende und erst durch den Mauerbau gestoppte Migration von Ost nach West, die zunächst eine Folge des Krieges und spätestens seit 1949 Ausdruck der fehlenden Akzeptanz des entstehenden SED-Staates war.77 Das Wissen der Geflohenen, unter denen sich auch Mitarbeiter des ostdeutschen und sowjetischen Militär- und Sicherheitsapparates befanden, war eine wesentliche, wenn nicht sogar die wichtigste Informationsquelle über den sowjetischen Herrschaftsbereich in Europa, deren Ausnutzung westliche Geheimdienste mit erheblichem Aufwand betrieben.78

Hinzu kam, dass diese Möglichkeiten nicht nur von westlichen Geheimdiensten selbst ausgenutzt wurden. Auch die von ihnen unterstützten antikommunistischen Organisationen wie die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU), der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UfJ) oder die Ostbüros der Parteien, um nur einige zu nennen, waren an Spionageoperationen beteiligt.79 Ihre Wahrnehmung in Forschung und Öffentlichkeit war lange Zeit von der Propaganda- und Widerstandstätigkeit geprägt, während ihre Bedeutung als Nachrichtenbeschaffer für die westliche Geheimdienstallianz weitgehend ausgeblendet blieb.80 Enrico Heitzer indes hat inzwischen am Beispiel der KgU die zentrale Bedeutung geheimdienstlicher Informationsbeschaffung in der Arbeit dieser Gruppierungen nachgewiesen.81 Diese Institutionenteilten ihr Wissen mit dem westdeutschen Regierungsapparat. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Gesamtdeutsche Ministerium (BMG), das in die Koordination der Aktivitäten dieser Gruppierungen einbezogen wurde und dank solcher Kooperationen im Regierungsauftrag die Lage in der DDR beobachten konnte.82

Trotz der guten Ausgangsbedingungen für Spionageunternehmungen und der herausragenden Bedeutung, welche die DDR als Einfallstor in den sowjetischen Machtbereich hatte, ist über die Aktivitäten westlicher Dienste dort bis heute wenig bekannt. Das ist, wie bereits dargelegt, in starkem Maße ein Quellenproblem. Aus den bislang herangezogenen Unterlagen der östlichen Geheimpolizeien, die Aussagen verhafteter Agenten oder mitunter sichergestellte Unterlagen enthalten, ist einigermaßen zuverlässig eine punktuelle Beschreibung der Erkenntnisinteressen westlicher Dienste zu rekonstruieren. Gleichwohl lassen sich damit nur Ausschnitte erfassen, die eine Annäherung an das tatsächliche Ausmaß der westlichen Spionage, vor allem aber die Bedeutung der aufgedeckten Operationen für die Auftraggeber nicht zulassen.83 Insofern sind die umfänglichen Veröffentlichungen ehemaliger Mitarbeiter des MfS eine nur sehr bedingt zuverlässige Quelle, wenn es um Ziele und Erfolge westlicher Geheimdienste geht. Sie liefern ebenso wie die zeitgenössischen Ermittlungsakten der Staatssicherheit in erster Linie Hinweise auf Bedrohungswahrnehmungen.84

Besonderes Interesse in der historischen Forschung haben bisher die Aktivitäten der CIA, des wichtigsten und größten westlichen Geheimdienstes, gefunden. Für diesen spielte die DDR gegenüber der Sowjetunion und den übrigen Ostblockstaaten allerdings eine nur nachgeordnete Rolle. Ostdeutschland war zwar wichtiger Aktionsraum und Sprungbrett in den Osten, weniger aber eigentliches Aufklärungsziel.85 Das erscheint auch deshalb plausibel, weil das Interesse der amerikanischen Regierung an der DDR im ersten Nachkriegsjahrzehnt nur schwach ausgeprägt war.86 Weitaus weniger ist über die Tätigkeit der mit dem Auslandsgeheimdienst konkurrierenden Militärgeheimdienste der amerikanischen Streitkräfte bekannt. Dabei ist gerade die Geheimdienstabteilung der US-Army als aufsichtführende Instanz der Organisation Gehlen in den Jahren 1946 bis 1949 und später neben der CIA als wichtiger Partnerdienst des BND für die vorliegende Untersuchung von zentraler Bedeutung. Mit welchen Zielen die amerikanischen Militärgeheimdienste in der DDR operierten, lässt sich in einigen Überblickwerken bislang nur ansatzweise erkennen.87 Noch weniger ist über die Arbeit der britischen und französischen Dienste in Ostdeutschland bekannt. Hier fehlen quellengestützte Untersuchungen vollständig.88

Neben den Geheimdiensten der Alliierten waren an der Ausforschung der DDR auch weitere westdeutsche Dienste beteiligt. Zu ihnen gehörte vor allem das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das als Inlandsgeheimdienst bei seiner Gründung 1950 auf die umfassende Beobachtung der DDR festgelegt wurde.89 Die jüngst vorgelegte, aber auf die politische Geschichte des Kölner Amtes und seines Personals fokussierte Studie von Constantin Goschler und Michael Wala erwähnt diesen Aspekt nur am Rande.90 Ähnliches gilt für den ebenfalls 1950 begründeten kurzlebigen Geheimdienst des späteren Verteidigungsministeriums, der, nach seinem ersten Leiter Friedrich Wilhelm Heinz benannt, die Wahrnehmung der DDR im Kanzleramt maßgeblich mitprägte, über dessen Aktivitäten in Ostdeutschland aber wenig bekannt ist.91 Die Berichte beider Institutionen standen damit bereits vor Gründung des Bundesnachrichtendienstes 1956 in Konkurrenz zur DDR-Spionage der Organisation Gehlen.

Forschungen zur Geschichte des BND

Angesichts der guten Voraussetzungen für die Gewinnung von Zuträgern vermutete Wolfgang Krieger 1997, der Bundesnachrichtendienst sei in der DDR »Marktführer« unter den westlichen Geheimdiensten gewesen.92 Dafür sprechen die große Intensität der Spionageaktivitäten und der aus ihnen gewonnene dichte Kenntnisstand, den Armin Wagner und Matthias Uhl anhand der Berichte und Arbeitskarteien des BND über die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen untersucht haben. Unter Einbeziehung von Bedrohungswahrnehmungen in den MfS-Akten, gehen sie davon aus, dass die Pullacher Aufklärung gerade auf diesem Gebiet bis 1989 erfolgreich operierte.93 Zu ähnlich positiven Ergebnissen kommt auch Jan-Hendrik Hartwig mit Blick auf die Wirtschaftsspionage. Auch er rekonstruierte durch Auswertung von Materialsammlungen und Berichten den Informationsstand des BND, dessen Stichhaltigkeit im Lichte heute zur Verfügung stehender Quellen überprüft wurde.94 Was beide Arbeiten mangels geeigneter Quellen nur in Ansätzen beantworten können, sind Fragen nach der Bedeutung der gewonnenen Informationen für den Kenntnisstand des Dienstes und die Relevanz der Berichte für die Empfänger.

Die Einbeziehung solcher Aspekte zeitigt andere Ergebnisse, wie zwei im Rahmen der Unabhängigen Historikerkommission publizierte Studien über die Pullacher Wahrnehmung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 und die Reaktionen des Gehlen-Dienstes auf die erste Verhaftungswelle der Staatssicherheit im Herbst des Jahres zeigen. Gestützt auf bis dahin nicht zugängliche BND-Quellen wird in beiden Fällen deutlich, dass sowohl die Fähigkeiten der Pullacher Nachrichtenbeschaffung wie auch die Validität der weitergegebenen Berichte defizitär waren, was das Urteil über die Leistungsfähigkeit des Gehlen-Dienstes in der DDR bereits in ein anderes Licht zu rücken begann.95

Einer solchen Quellengrundlage entbehren die bis 1990 entstandenen Veröffentlichungen über den BND und dessen Spionageaktivitäten in der DDR vollkommen. Sie speisen sich aus einer für den Leser nicht entwirrbaren Mischung östlicher wie westlicher Presseveröffentlichungen und Indiskretionen aus dem Dienst. Die 1971 unter einem gewissen Einfluss des BND entstandene Darstellung der Spiegel-Redakteure Hermann Zolling und Heinz Höhne zeichnete sich zwar durch eine kritische Distanz aus, rückt aber die Ostaufklärung des frühen Bundesnachrichtendienstes in ein insgesamt positives Licht.96 Beide Publikationen waren lange Zeit wichtige Referenzwerke und Grundlage für weitere, vor allem politikwissenschaftliche Untersuchungen über den BND, die auch östliche Veröffentlichungen über den Gehlen-Dienst einbezogen.98