Die Autorin

Audrey Carlan – Foto © Melissa McKinley Photography

Audrey Carlan schreibt mit Leidenschaft heiße Unterhaltung. Ihre Romane veröffentlichte sie zunächst als Selfpublisherin und wurde daraufhin bald zur internationalen Bestseller-Autorin. Ihre Serien »Calendar Girl«, »Trinity« und »Dream Maker« stürmten auch in Deutschland die Charts. Audrey Carlan lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Kalifornien.

Das Buch

Für Luna bricht eine Welt zusammen, als der Eigentümer ihr den Mietvertrag für das Lotus House kündigen will. Das Yogastudio ist ihr Leben, ihr Zuhause, und nun soll auf einen Schlag alles vorbei sein? Ihre einzige Chance ist es, Grant Winters, den unfassbar attraktiven und nicht minder arroganten Geschäftsmann vom Lotus House zu überzeugen. Sie machen einen Deal: Grant verbringt Zeit im Yogastudio, wenn Luna dafür mit ihm ausgeht. Wird die sinnliche Leidenschaft, die sie verbindet, reichen, um ihre gegensätzlichen Interessen zu überwinden?

Audrey Carlan

Lotus House - Heiße Leidenschaft

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Elsie Meerbusch

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage November 2019
Copyright © für die deutsche Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Copyright © by Waterhouse Press 2018
Published by arrangement with Waterhouse Press LLC
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Enlightened End. A Lotus House novel,
erschienen bei Waterhouse Press LLC
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
Autorenfoto: © Melissa McKinley Photography
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2112-7

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Motto

Yoga ist nicht einfach nur Sport.

Es ist eine Berufung … eine Lebensweise.

Ein Pfad zur Erleuchtung.


Namaste

1. Kapitel


Das Kronen-Chakra liegt auf dem obersten Scheitelpunkt des Kopfes oder schwebt unmittelbar darüber. Diese Energiequelle steht für die Erleuchtung. Sie ist das siebte Chakra.


LUNA

Angst.

Sorge.

Zorn.

Das sind die vorrangigen Emotionen, die in mir toben, als ich den Brief lese, den ich nun schon zum zweiten Mal von der Winters Group empfangen habe.

Meine Körpertemperatur schießt von lauwarm bis fast zum Siedepunkt nach oben, und ich springe auf und tigere in meiner neuen Wohnung hin und her.

Zum Glück hat Dara mir die Loftwohnung über der Bäckerei überlassen, als sie mit Silas nicht weit von hier in ihr neues Zuhause umzog. Dadurch kann ich massenhaft Geld für Miete sparen. Vollzeit als Yogalehrerin zu arbeiten wird mich niemals reich machen, aber das ist nun einmal das Erbe, das ich angetreten habe. Meine Mutter und ihre beste Freundin, die frühere Mitbesitzerin Crystal Nightingale, haben mir die Yogaschule überschrieben. Komplett und ohne Wenn und Aber. Die beiden Yogis haben der Gemeinschaft in Berkeley fast zwanzig Jahre lang gedient und widmen ihr Leben als sechzigjährige Hippies nun dem Reisen.

Es ist meine Aufgabe und mein Geburtsrecht, das Lotus House erfolgreich weiter zu betreiben und mich um die körperlichen und spirituellen Bedürfnisse der Gemeinschaft zu kümmern. Für manche unserer Kunden haben die von uns angebotenen Kurse die Wirkung einer Therapie. Andere suchen ein körperliches Training und eine bessere Gesundheit – auf psychischer wie auf physischer Ebene. Wir bieten Yoga für Anfänger, Vinyasa Flow, Aerial Yoga, einen Meditationskurs und sogar tantrisches Yoga für Paare an. Meine Mutter und ihre beste Freundin waren stolz darauf, das am besten abgerundete Yoga-Angebot und die vielseitigste Kursliste in der ganzen Bay Area vorweisen zu können. Verdammt, einmal die Woche machen wir sogar Nackt-Yoga für alle, die sich nicht durch gesellschaftliche Normen binden lassen oder die ihre inneren Dämonen herausfordern und jede körperliche Unsicherheit abschütteln wollen.

Jetzt aber halte ich die Räumungsaufforderung eines Firmenmagnaten in Händen, der hierherkommen und uns plattmachen wird. Er wird unser Gebäude zerstören und damit für viele hier die einzige gesunde Alternative zu einer Mitgliedschaft im Fitnesscenter. Und gleichzeitig mein Erbe.

Oh, und großzügigerweise gesteht man uns volle sechs Monate zu, um das Gebäude zu räumen. Als wäre das ausreichend Zeit für eine Institution, die seit zwanzig Jahren hier ansässig ist!

Dann überkommt mich eine Erkenntnis, und ich bleibe unvermittelt bei meinem kleinen Korbsofa stehen. Was ist mit der Bäckerei und meiner eigenen Wohnung darüber? Guter Gott! Wenn Lotus House die Nachricht erhalten hat, dass die Winters Group unser Gebäude abreißen will, haben die Sunflower Bakery, der Buchladen Tattered Pages und das Rainy Day Café vielleicht ein ganz ähnliches Schreiben bekommen! Und vielleicht sogar die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite? Der Secondhandshop New to You, der Tabakladen, die Reel Antiques …

Guter Shiva. Wahrscheinlich befindet sich unsere gesamte Straße in Gefahr. Dieser wunderschöne verborgene Juwel, den wir in der San Francisco Bay Area geschaffen haben – noch jenseits von Oakland am Rande des Stadtkerns von Berkeley –, wird uns abhandenkommen, und wir werden unseren sicheren Hafen verlieren.

»Dieser … dieser Mann … wie heißt der eigentlich zum Teufel?« Ich werfe einen Blick auf den unteren Rand des Schreibens, das ich krampfhaft umklammert halte. Eine kühne steile Unterschrift starrt mir entgegen: Grant Winters, der Geschäftsführer – CEO – der Winters Group.

Ganz oben im Briefkopf finde ich Logo und Adresse der Gesellschaft.

Falls dieser Grant Winters glaubt, er könne uns mit einem einzigen Stück Papier nach zwanzig Jahren hier rausschmeißen, wird er Augen machen!

Ich stampfe zum Tisch, schnappe mir mein Handy und tippe den Namen Dara McKnight aus meiner Liste kürzlich angewählter Gesprächspartner an.

»Oh, verdammt noch mal! Für wen halten sich diese Leute eigentlich? Silas kocht vor Wut und telefoniert gerade mit seinem Anwalt«, schimpft meine beste Freundin los, bevor ich auch nur ein Wort herausbekomme. Ich bin nicht überrascht, sie plötzlich von ihrer harten Seite zu erleben.

»Vermutlich hast du ebenfalls den Räumungsbescheid bekommen?«

»Hm. Ja. Sie haben es auf die komplette Straße abgesehen, beide Seiten. Meine Mama sieht auch schon rot vor Zorn. Sie sagt, das hier war das einzige Gebäude, das wir nicht kaufen konnten. Die Winters Group besitzt hier seit beinahe drei Jahrzehnten alle Grundstücke. Vermutlich haben sie das Land damals erworben, als es noch billig zu haben war. Inzwischen ist es Hunderte Millionen wert.«

Hunderte Millionen.

Diese Zahl ist höher als alles, was ich im Laufe meines Lebens je zu Gesicht bekommen werde. Mein einziger Bezugsrahmen, der einer solchen Summe gerecht wird, sind die Kriegskosten, die manchmal in den Medien genannt werden. Es erscheint mir absolut fantastisch und außerhalb des Bereichs des Möglichen, dass ein einziger Mensch oder eine einzige Familiengesellschaft etwas so Wertvolles besitzen könnte.

»Hast du eine Ahnung, was sie hier stattdessen hinsetzen wollen?«

»Nein. Aber die Lagerhalle gegenüber dem Lotus House steht schon seit Ewigkeiten leer. In Berkeley ist das eine Immobilienlage erster Güte. Ich habe mich immer gefragt, warum hier nicht irgendwas gebaut wurde. Aber anscheinend haben sie sich zurückgehalten, weil sie schon einen größeren Plan dafür hatten.«

Mit verhaltener Stimme murre ich: »Wahrscheinlich setzen sie einen Starbucks und einen McDonald’s hin. Und zerstören die kleine, intime, ökobewusste Gemeinschaft, die wir aufgebaut haben.«

Dara seufzt, und ich höre die Stimme eines Babys, das im Hintergrund brabbelt.

»Höre ich da mein Patenkind?«, frage ich und denke an Daras und Silas’ Sohn Jackson, der inzwischen ein halbes Jahr alt ist.

Dara reagiert mit ein paar Koseworten auf ihr Kind und gibt mir anschließend die Antwort. »Ja, mein Kleiner ist heute ein bisschen schwierig. Er müsste ein Nickerchen machen, versucht aber krampfhaft, wach zu bleiben. Er will nur ja nichts versäumen.« Sie gähnt mir ins Ohr.

»Du klingst so, als könntest du ebenfalls ein Nickerchen vertragen. Ein halbjähriges Kind zu stillen und dabei auch noch eine Zweijährige zu versorgen ist keine einfache Aufgabe, mein Schatz.« Ich weiß es zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber ich unterrichte die Yoga-Geburtsvorbereitungs- und Rückbildungskurse im Lotus House. Um bei diesen Kursen für Mama und Baby keine Fehler zu machen, musste ich eine Menge über Schwangerschaften und den weiblichen Körper vor und nach einer Geburt lernen, und so habe ich vielleicht einen kleinen Wissensvorsprung.

Sie stößt einen weiteren erschöpften Seufzer aus. »Gerade trinkt er an meiner Brust. Sobald er eindöst, mache ich ein Nickerchen. Ich bitte Silas, mit Destiny ins Schwimmbad zu gehen, oder lasse die Kleine einen Film schauen. Mein Schätzchen ist immer auf Trab. Sie hüpft und springt herum, und nie geht ihr die Energie aus. Genau wie ihr Vater. Das Solarplexus-Chakra steht immer unter Strom. Gott sei Dank ist Jackson mehr so wie ich. Seine Energie ist fast immer gelassen.«

»Glaubst du, dass er vom selben Chakra angetrieben wird wie du?«

»Ja. Schon während der Schwangerschaft konnte ich den königsblauen Strahlenkranz um meinen Bauch sehen. Bei Destiny war er immer leuchtend gelb. Ich sollte wohl dankbar sein, dass wir vier einander gut ergänzen.« Sie lacht.

Ich lache ebenfalls, denn ich weiß, wie sehr Silas ein gutes Gegengewicht für Dara abgibt und ebenso Jackson für seine Schwester Destiny. Plötzlich überkommt mich ein Anfall von Neid. Ich wünschte, ich hätte einen eigenen Mann und eine eigene Familie, um die ich mich kümmern könnte, umso mehr jetzt, da alles, was mein Leben bisher ausgemacht hat, mir zwischen den Händen zu zerrinnen droht. Meine Mutter hält sich mit Crystal in einem Ashram in Indien auf und lässt sich von den Mönchen im Meditieren und Arbeiten unterweisen. Jeden Freitagabend ruft sie mich um Punkt achtzehn Uhr dreißig an, denn in Indien ist dann gerade früher Samstagmorgen. Anscheinend ist das der Zeitpunkt in ihrer spirituellen Reise, an dem es ihr am wenigsten ungelegen kommt, sich nach mir zu erkundigen.

Meine Mutter und ich haben eine eigenartige Beziehung. In einer Hinsicht sind wir die besten Freundinnen, aber in vielen anderen einander vollkommen fremd. Jewel Marigold steht auf biologische Nahrungsmittel, ernährt sich glutenfrei, verzichtet auf Alkohol und bemüht sich angestrengt, ein körperlich, spirituell und geistig unverdorbenes Leben zu führen. Sie kippt niemals ein Bier mit ihren Freunden, was bei mir dagegen regelmäßig vorkommt, da die Hälfte meines Freundeskreises aus Männern besteht. Verheirateten Männern zwar, aber Mann ist Mann. Ich finde, dass ich wesentlich offener und unverkrampfter an die Frage herangehe, was ein gesundes Leben ausmacht, sei es nun spirituell oder anders gesehen. Ich glaube nicht, dass ein glutenhaltiges Sandwich mir schadet, solange ich nicht zu viel davon esse. Das Übermaß ist die Wurzel vieler Übel und Probleme. Die Leute wollen immer von allem mehr. Ich dagegen bin der Meinung, dass weniger oft tatsächlich mehr ist.

»Was hast du vor?« Daras Frage reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich streiche mir mit der Hand durch die feuerroten Locken und lasse die seidigen Strähnen wieder und wieder durch meine Finger gleiten, bis nichts mehr stört und ziept. »Ich werde wohl zum Sitz der Winters Group fahren und diesem Mr Grant die Meinung geigen.«

»Die Meinung geigen?« Ihre Stimme hebt sich humorvoll.

»Richtig!«

»Allein? Du nimmst niemanden mit Bärenkräften mit? So jemanden wie Nick oder Clayton? Ach, jetzt weiß ich es. Ruf doch Viv an. Bitte ihren Mann Trent, dich zu begleiten. Dieser Kerl ist ein Riese, ein echter Profi im Ballsport. Andererseits ist Clay zwar kein Profi, aber sogar noch größer als Trent. Vielleicht solltest du also doch mit Moe telefonieren.«

»Ich werde weder Monet noch Genevieve anrufen. Ich muss die Sache selbst anpacken. Ich bin absolut imstande, diesem Grant alleine klarzumachen, was ich von seinem Vorhaben halte.«

Sie stöhnt. »Das weiß ich, mein Schatz, aber mit deinem schneeweißen Teint, deinen großen blauen Augen und deinem roten Haar siehst du aus wie eine Prinzessin aus dem Märchen. Außerdem hast du eine süße Stimme, so melodiös. Du könntest als Synchronsprecherin für Kinder-Trickfilme arbeiten. Aber einem reichen, sturen Firmentycoon jagst du mit dieser Stimme keinen Schrecken ein. Ohhh! Jetzt hab ich es! Nimm meine Mama mit. Dann macht er sich in seine feine Hose vor Angst!« Sie kringelt sich vor Lachen.

Ich warte ab, bis sie sich wieder im Griff hat.

»Aber jetzt mal ganz im Ernst, Babe, so einem stinkreichen Geschäftsmann kannst du garantiert keinen so großen Schrecken einjagen, dass er die Hände von unserer Straße lässt.«

Ich knirsche mit den Zähnen. Seit ich denken kann, steckt man mich in die Schublade der süßen Kleinen. Nun, das ist vorbei! Ich ziehe meine wildesten Klamotten an – Jeans und Lederjacke. Jawohl, genau das werde ich tragen. Mein Look als knallharte Gegnerin. Und dann marschiere ich in das Bürogebäude und bringe diesen Mann zur Vernunft. Er darf unsere Straße nicht niederreißen. Wir sind unersetzlich. Ein sicherer Hafen, in den die Stadtmenschen sich flüchten, wenn sie Erholung vom täglichen Stress brauchen.

»Er mag Geschäftsmann sein, aber er hat auch ein Herz. Wenn er sich unsere Straße und unsere kleinen Betriebe einfach mal anschaut und sieht, wie gut wir der Gegend und der ganzen Stadt tun, verdammt noch mal, der San Francisco Bay Area, wird er einen Rückzieher machen.«

Dara schnaubt auf. »Wenn du es sagst. Währenddessen werde ich beten und unseren Anwalt treffen. Pass auf dich auf, Süße. Ruf mich an, wenn du zurückkommst, und erzähl dann, wie es lief.«

»Okay. Mache ich. Tschüss.«

»Bis später, Luna.«


Der Firmensitz der Winters Group befindet sich im Transamerica Building, dem zweitgrößten Wolkenkratzer im Herzen von San Franciscos Bankenviertel. Besonders interessant an diesem Gebäude ist seine Form – eine Pyramide. Eine Freundin hat mir erzählt, ganz oben liege ein Konferenzraum, der gerne einmal genutzt werde, um einen Kunden zu beeindrucken oder ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Ich bin mir sicher, dass ich diesen Raum niemals betreten möchte.

In dem Gebäude gibt es sogar eine Sicherheitskontrolle. Ich gehe direkt dorthin, vom Geräusch meiner Keilabsätze begleitet, die auf dem Marmorboden quietschen. Ich lege meine Handtasche aufs Laufband und begebe mich zum Sicherheitsmann. Der lässt mich wortlos durch, wahrscheinlich, weil kein Alarm angesprungen ist. Seit meinem Eintreten hat dieser Mann nicht aufgehört, meinen Körper und meine Brüste zu begutachten. Ich beachte ihn nicht weiter und trete zum Tisch, um dort auf meine Handtasche zu warten.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass der Wachmann mich noch immer mit Blicken auszieht. Nur schaut er diesmal auf meinen Arsch. Als die Handtasche aus dem Gerät auftaucht und ich sie über die Schulter werfe, höre ich, wie er sich an einen Mann wendet, der unmittelbar hinter mir kam.

»Richtig, Sir, Sie müssen mir Ihre Zugangskarte fürs Gebäude geben.« Seine Stimme klingt streng und gebieterisch.

Eigenartig, dass er eine solche Zugangsberechtigung von mir nicht verlangt hat. Schon will ich ihn darauf aufmerksam machen, da wird mir klar, dass er mir dann den Zugang zu Grant Winters versperren würde, und ich muss diesem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Er muss mir in die Augen sehen, wenn er mir sagt, dass er mein Lebenswerk vernichten wird … und das Vermächtnis meiner Familie. Anders geht es nicht.

Ich greife hastig nach meiner Handtasche, drehe mich auf meinen Keilabsätzen um und begebe mich zur Hinweistafel. Offensichtlich belegt die Winters Group volle fünf Geschosse. Ich eile zu den Aufzügen und drücke auf die Taste für das fünfte Stockwerk, weil daneben ein kleines Schildchen angebracht ist, auf dem Winters Group Geschäftsführung steht. Am liebsten würde ich einen Freudenruf ausstoßen, weil es bisher so gut läuft. Die Leute, die bis hier kommen, sind normalerweise vorselektiert, und mich hat wohl mein knackiger Po hier hereingebracht. Da bedanke ich mich lieber bei meinen Glückssternen und hoffe, dass das Glück mir gewogen bleibt.

Als ich aus dem Lift trete, blickt eine Frau im grauen Maßanzug von der Empfangstheke zu mir auf. Ihr Haar ist zu einem strengen Knoten hochgesteckt, und ihre Lippen sind kirschrot angemalt. Sie hat mandelförmige Augen. Interessant. Ein bisschen wie die einer Katze.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Äh, ja, gern. Ich möchte bitte mit Mr Grant Winters sprechen.« Ich schenke ihr mein aufrichtigstes und freundlichstes Lächeln.

Als die Frau stirnrunzelnd ein paar Tasten auf ihrer Tastatur anschlägt und angestrengt auf den Bildschirm starrt, bin ich mir nicht so sicher, ob mein einnehmendes Lächeln hier funktioniert.

»Ihr Name?«

»Luna Marigold. Ich bin die Besitzerin von Lotus House Yoga in Berkeley.«

Die Frau zieht einen Moment lang die Augenbrauen zusammen. »Sie haben einen Termin mit Mr Grant?«

Ich schüttele den Kopf und verschränke die Arme auf der hohen Empfangstheke, um es mir etwas bequemer zu machen. »Nein. Mr Winters, äh, hat mir diesen Brief hier geschickt, und ich habe mir gesagt, statt ihn anzurufen oder ihm per E-Mail zu antworten, suche ich ihn am besten persönlich auf. Sie verstehen schon, ich möchte jemandem bei Geschäftlichem in die Augen sehen.« Ich bringe den Brief zum Vorschein, den ich erhalten habe. Er ist voller Knicke und Falten und sieht überhaupt nicht mehr so makellos glatt und weiß aus wie zum Zeitpunkt, als ich ihn in Empfang genommen habe.

Ich reiche ihr den Brief, und sie überfliegt ihn. Ganz kurz weiten sich ihre Augen. »Ich bin mir sicher, Mr Grant würde es vorziehen, wenn Sie ihm Ihre Sorgen und Fragen bezüglich der Räumung vom Lotus House per E-Mail schicken. In diesem Schreiben steht, dass Ihr Gebäude in sechs Monaten abgerissen wird. Da gibt es nichts mehr zu besprechen.«

Ich räuspere mich und atme langsam ein und aus, um mich zu beruhigen. »Entschuldigen Sie, Miss. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber es geht hier um meinen Betrieb. Um meine Familie und mein Leben. Mein Studio. Ihr Chef will es in fünf Monaten und achtundzwanzig Tagen zerstören. Da steht mir wohl das Recht zu, diese Situation direkt mit ihm zu besprechen. Diese Entscheidung liegt nicht bei Ihnen. Seien Sie jetzt bitte so gut, kontaktieren Sie Mr Grant, und sagen Sie ihm, dass ich hier bin und im Empfangsbereich dort drüben auf ihn warte.« Ich deute auf eine Sitzgruppe von weißen Bürosesseln. »Ich werde so lange warten, bis er Zeit hat, mit mir zu sprechen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden.« Erneut lächele ich sie freundlich an, obwohl diese Frau das nicht verdient hat.

Sie presst die Lippen zusammen und legt den Kopf schief. Dann greift sie nach dem Telefon auf ihrer Theke und drückt eine Taste. »Ja, Mr Grant, ich störe Sie nicht gern, aber Luna Marigold von Lotus House Yoga ist ohne Termin hier aufgetaucht.«

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, doch das verunsichert sie nicht. Offensichtlich ist gemein sein für sie die Norm.

»Ja, ich weiß, dass es äußerst ungewöhnlich ist, dass jemand ohne Termin hier auftaucht … Ich kann ihr sagen, dass sie gehen soll, wenn …«

»Ich gehe nicht, bevor Sie mit mir gesprochen haben, Mr Winters!«, sage ich so laut, dass die Person am anderen Ende der Leitung mich hören muss.

Die Dame vom Empfang schluckt. »Ja, Sie haben es gehört. Sie sitzt hier im Empfangsbereich und wartet, bis Ihre Besprechung zu Ende ist. Ich verstehe. Vielen Dank, Mr Grant.«

Sie wirft mir einen Blick aus zu Schlitzen verengten Augen zu. »Mr Grant befindet sich derzeit in einer Sitzung, wird Sie aber rufen lassen, wenn er fertig ist. Sie können sich freuen, dass er so großmütig ist. Das ist nicht sein üblicher Stil.« Sie sieht mich geradezu höhnisch grinsend an.

»Haben Sie jemals einen Yogakurs besucht?«, frage ich sie, um ihre fiese Art von mir abzuschütteln.

»Was?«

»Meditation?«, fahre ich uneingeschüchtert fort.

»Entschuldigung?«

»Haben Sie jemals Ihre Chakren harmonisieren lassen?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Yoga und Meditation. Chakren. Pfft.« Sie wedelt abweisend mit der Hand, als hätte ich gerade in einer anderen Sprache gesprochen.

»Sie wären wesentlich netter und glücklicher und hätten auch viel weniger Falten im Gesicht, wenn Sie Yoga praktizieren und Ihr spirituelles Wohlbefinden pflegen würden.«

Ihre Augen werden so groß wie Untertassen.

Ich krame in meiner Handtasche und ziehe eine Karte heraus. »Hier ist eine Freikarte für eine kostenlose Yogastunde. Sie gilt für Yoga, Vinyasa Flow Yoga, Aerial Yoga, Nackt-Yoga, Meditation und tatsächlich für jeden weiteren Kurs in unserem Angebot.« Ich zucke mit den Schultern. »Einen Versuch ist es wert. Sie würden sich viel besser fühlen und viel besser aussehen.« Noch einmal schenke ich ihr mein freundliches Lächeln.

»Nackt-Yoga?«, flüstert sie.

Ich lächele. »Ja, vollkommen nackt. Und der Kursleiter ist ein Prachtkerl namens Atlas Powers.«

»Ein Mann leitet den Kurs?« Sie führt die Hand vor Bestürzung an die Brust.

»Ja, und der Kurs steht beiden Geschlechtern offen. Es geht dabei darum, sich von den gesellschaftlich aufgezwungenen Hemmungen zu befreien. Man fordert sich selbst dazu heraus, loszulassen und alles Negative, woran man sich festklammert, aufzugeben. Selbst die Kleidung. Grundsätzlich geht es um eine innere Befreiung.«

»Falten?« Sie drückt die Fingerspitzen auf eine winzige Kerbe, die sich zwischen ihren Augenbrauen eingegraben hat, wahrscheinlich, weil sie in ihrem Job den lieben langen Tag so fies ist. »Beim Yoga wird man seine Falten los?«

»Das ist möglich. Wenn man die richtigen Gesichtsyoga-Übungen macht und sich von seinem Stress befreit, gut schläft und viel Wasser trinkt.«

Die Frau hebt kopfschüttelnd die Hand, um die Karte von der Theke zu nehmen. »Danke«, murmelt sie mit gesenktem Blick.

»Gern geschehen. Namaste, meine Freundin.«

»Freundin.« Sie muss beinahe lachen, als wäre es witzig, dass ich sie Freundin nenne. Ich weiß nicht recht, warum sie das so komisch findet. Ich bin fest überzeugt, dass jeder zu einem Freund oder einer Freundin werden kann, selbst, wenn er sich zunächst unhöflich verhält. Manchmal merken Menschen nicht, wie sehr ihr Verhalten andere verletzt. Jeder begeht Fehler, und jeder hat eine zweite Chance verdient. Das habe ich von meiner Mutter und meinem Vater gelernt, und ich lebe weiter nach dieser Devise. Damit bin ich viele Jahre lang gut gefahren.

»Jedenfalls danke. Setzen Sie sich doch, bis Mr Winters nach Ihnen ruft.«

»Gute Idee. Ich bin da drüben und lese.« Ich ziehe mein zerfleddertes Lieblingsbuch heraus: Die sieben geistigen Gesetze des Erfolgs von Deepak Chopra. Wann immer ich das Gefühl für mich selbst und meinen Weg verliere, sei es in Bezug auf das Yogastudio oder anderweitig, lese ich noch einmal die Texte zu jedem einzelnen Gesetz durch. Die Lehren, die Chopra in diesem Selbsthilfebuch vorstellt, können den Leser anleiten, seinen eigenen Weg zu Erleuchtung und Erfolg in allen Dingen zu finden. Das Buch hat mir schon hundertmal geholfen, und das wird es hoffentlich wieder tun.

Gerade als ich noch einmal das Kapitel zum Gesetz des geringsten Aufwands überflogen habe, das einem nahelegt, eine Situation zunächst einmal als das anzunehmen, was sie ist, Verantwortung zu übernehmen, die Energie einzusetzen, die man durch Liebe erhält, und sich für alle Gesichtspunkte offen zu halten, ruft die Sekretärin nach mir.

»Mr Winter wird Sie jetzt empfangen.« Mit einem angedeuteten Lächeln steht sie auf und geht mir voran. »Durch diese Tür.«

He, ich habe diese tiefgekühlte Frau dazu gebracht, mich anzulächeln. Ein gutes Zeichen. Vielleicht wendet sich mein Karma ja von jetzt an und wandelt sich zu meinem Vorteil. Andererseits muss ich mich, wie Deepak in seinen Büchern lehrt, von meinen Wünschen lösen, aber trotzdem hoffnungsvoll sein. Was geschieht, geschieht. Nimm das Ergebnis so hin, wie es ausfällt.

Im Moment bin ich allerdings mit keinem anderen Ergebnis zufrieden als dem, dass dieser Mr Winters mir verspricht, meinen Traum und meine Wohnung nicht dem Erdboden gleichzumachen, einmal ganz abgesehen von der Bäckerei, in der ich jeden Morgen frühstücke, dem Café, in dem ich täglich zu Mittag oder zu Abend esse, und dem Buchladen, in dem ich all meine Lieblingstitel an Land ziehe.

Die Sekretärin führt mich durch einen langen Korridor. Wir kommen an ein paar Fenstern vorbei, hinter denen ich Leute beim Telefonieren oder beim Bearbeiten ihrer Computertastaturen sehe. Merkwürdig ist das schon, denn diese Glasscheiben dienen nicht dazu, auf die Leute draußen zu schauen. Sondern es sind Fenster, um die Leute im Inneren zu beobachten.

Ein Schauder läuft mir den Rücken hinunter, und eine Gänsehaut überzieht meine Arme. Es ist kein gutes Gefühl. Ich könnte nicht in so einem Goldfischglas arbeiten. Das Lotus House ist mit Wandgemälden verschönert, die einen Wald, einen Wasserfall und das Meer darstellen. Leute, die mich persönlich sehen wollen, kommen und begrüßen mich. Sie machen sich die Mühe, eigens meine Kurse zu besuchen und auf meine Worte und meine Unterrichtung zu lauschen. Der Gedanke, ich müsste hinter einem Schreibtisch sitzen, während ich von außen beobachtet werde, erfüllt mich mit einem leisen Gefühl des Grauens.

Die Sekretärin bleibt vor einer Flügeltür am Ende des Korridors stehen. Sie klopft an und öffnet mir dann die Tür, ohne auf ein Herein zu warten. »Mr Grant. Luna Marigold«, kündigt sie mich an, stellt uns einander aber nicht wirklich vor. Ich kann den Mann tatsächlich erst sehen, als ich an ihr vorbei durch die Tür gegangen bin.

Das Büro ist riesig und beherbergt eine Sitzecke, eine Bar und einen Glasschreibtisch mit verchromtem Stahlrohrgestell. Die Fenster sind weißlich trüb, und ich weiß nicht, ob die Scheiben aus Milchglas sind oder ob es sich um eine dieser Jalousien für streng geheime Zusammenkünfte handelt, wie man sie manchmal in Filmen sieht. So, wie sie das Licht filtern, erinnern sie mich an Shoji-Papier. Sie haben eine sehr beruhigende Wirkung, während der restliche Raum in Schwarz, Weiß und Chromstahl gehalten ist und vollkommen unpersönlich scheint.

Hinter dem großen Glasschreibtisch steht ein Bürosessel, und ich sehe einen dunklen Haarschopf, der über die Rücklehne ragt. Der Stuhl ist von mir weggedreht.

»Okay, Vater, danke. Ich kümmere mich darum.« Mr Winters fährt blitzschnell mit dem Stuhl herum, haut den Hörer in die Telefonschale und schießt mir einen Blick zu. Seine Augen haben einen durchdringenden saphirblauen Farbton. Sein Haar ist ein dunkles Lockenwirrwarr. Sein Kinn ist ein wenig kantig, und er hat hohe Wangenknochen und eine schöne starke, gerade Nase. Der wirkliche Hingucker aber sind seine Lippen. Sie haben eine vollkommene Form und in der Mitte der Oberlippe ein Grübchen, in das ich nur zu gern den Finger legen würde. Die Unterlippe ist voll, und ihr eleganter mondsichelartiger Schwung passt gut zu seinem Gesicht.

In einem Wort: Er ist bemerkenswert.

Seine Augen füllen sich mit einem Ausdruck, den ich nicht recht einordnen kann. Dann steht er auf, schließt die Knöpfe seines Sakkos und tritt auf mich zu. Ich habe mich noch nicht gerührt.

Er streckt mir die Hand hin. Meine Güte, er ist wirklich riesig. Im selben Augenblick, in dem unsere Hände sich berühren, schießt ein knisternder Energiestoß durch meine Hand. Ich trete zusammenzuckend ein paar Schritte zurück und entziehe mich seinem Griff.

»Ich muss Ihnen einen kleinen elektrischen Schlag verpasst haben. Tut mir leid.« Er lächelt.

Gütiger Shiva. Sein Lächeln. Ein ebenmäßiges Lächeln mit blitzend weißen Zähnen. Strahlend.

»Wollten Sie mir etwas sagen?«

Ich öffne den Mund, schließe ihn und öffne ihn erneut. Schließlich bringe ich heraus: »Äh … ich bin Luna.«

»Luna.« Seine Stimme hat einen klaren, frischen, männlichen Tonfall. Sie ist selbstsicher. Und direkt.

»Ja. Luna Marigold von Lotus House Yoga.«

Er verschränkt die Arme, und ich beobachte diese Bewegung, als hätte er gerade einen ganz besonderen Tanz aufgeführt. Jeder Zentimeter dieser Person ist faszinierend, von den Spitzen seiner glänzend schwarzen Schuhe über seine langen Beine bis zu seinen breiten Schultern und dem gebräunten Hals. Er trägt einen maßgeschneiderten marineblauen Anzug, der perfekt sitzt. Seine Frisur ist das Einzige, das an ihm ein bisschen ungezähmt wirkt. Alles andere ist bis aufs letzte Detail durchgestylt.

»Wow«, flüstere ich, ohne mir bewusst zu sein, dass ich dieses Wort ausstoße.

Er lächelt. »Dasselbe könnte ich über Sie sagen. Rotschöpfe sind recht einzigartig, sie sind etwas ganz Besonderes. Wussten Sie, dass weniger als zwei Prozent der Bevölkerung rothaarig sind?«

Die Frage dringt in mein benommenes Gehirn ein und macht sich darin breit, bis meine grauen Zellen endlich anspringen. »Äh, ja, das wusste ich, dasselbe gilt für grüne Augen.«

Grant geht zu seinem Schreibtisch und lehnt sich mit dem Hintern dagegen. Er schlägt die Fußknöchel übereinander, legt die Hände auf die Schreibtischplatte und umfasst die Kante mit den Fingern. Er ist vollkommen cool. Er gibt sich lässig, nahezu leutselig, und tritt ganz entschieden großspurig auf.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Luna?«