Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Shadows We Hide

erschien 2018 im Verlag Mulholland Books.

Copyright © 2018 by Allen Eskens

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: adobestock – Alex Shadrin

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-789-9

www.Festa-Verlag.de

Für Ben

TEIL 1

1

Ich liege auf der Motorhaube meines Wagens, mit dem Rücken gegen die Windschutzscheibe gelehnt, die Finger über dem Bauch verschränkt, und atme entspannt, um das Pochen des Schmerzes zu verringern. Ich würde gern sagen, dass der Tiefpunkt meines Tages darin bestand, grün und blau geschlagen zu werden, aber das wäre gelogen. Die Prügel, die mir dieser Gangster verabreicht hat, sind nichts gegen den Schmerz, den ich mir selbst zugefügt habe. Die Nacht um mich herum ist groß und schwerelos, jene Art Nacht, die nach ehrlicher Reflexion verlangt, und ich tue mein Bestes, dieser Forderung gerecht zu werden.

Ich fühle mich, als wäre ich im Exil, eine Art Nomade, während ich meine Nacht nur mit den Sternen und den Bäumen teile, und mit den Distelsamen, die ab und an von der Sommerbrise vorbeigeweht werden. Ich versuche, darüber nachzudenken, wo ich falsch abgebogen bin, um schließlich hier zu landen, aber ich komme nicht weiter als bis zu meinen armseligen Ausreden, warum das alles im Grunde nicht meine Schuld gewesen sein soll. Ich wäre gern wie Adam, der mit dem Finger auf die Person zeigt, die ihm den Apfel gegeben hat, oder besser noch, ich würde gern der Schlange die Schuld geben, aber das erlaubt mir mein Gewissen nicht. Ich würde mich so gern für einen besseren Menschen halten, aber ich weiß, dass ich genau der bin, der ich bin. Das hier geht auf meine Kappe, niemand sonst ist schuld.

Ich weiß nicht, wann das passiert ist, aber irgendwann wurde ich übermütig. Ich hörte auf, meine Fehler zu sehen, und ließ mich von dem Bild blenden, das ich auch dem Rest der Welt zeigte – eine Seite von mir, die es den Menschen erlaubte, ihre eigene Güte in meiner misslichen Lage wiederzufinden. Denn es ist so, ich kümmere mich jetzt schon seit fast sechs Jahren um meinen autistischen Bruder ­Jeremy und ich habe eine Freundin, die ich unterstützt habe, damit sie Jura studieren konnte.

Die Leute sehen diese Dinge und denken: Was für ein guter Mensch dieser Joe ­­Talbert doch ist. Sie sind so geblendet vom Glanz meiner Rüstung, dass ihnen gar nicht auffällt, dass es nur dünnes Blech ist. Ich habe immer damit gerechnet, dass die Welt irgendwann darauf kommt, dass ich hier gar nicht hingehöre, dass ich weit über meinen angestammten Posten als Grabenbauer hinausgewachsen bin, deswegen hätte es mich nicht überraschen sollen, als alles anfing auseinanderzufallen.

Als ich vor Jahren von zu Hause abgehauen bin, um aufs College zu gehen, war ich pleite und noch grün hinter den Ohren. Ich habe damals nicht wirklich erwartet, dass ich mein Brot jemals mit dem Kopf statt mit den Händen verdienen würde. Schon während der Schulzeit habe ich als Türsteher gearbeitet und ebenso viel Verachtung wie Neid für die Typen empfunden, die zur höheren Schicht gehörten: Männer, deren Hosen auf Hüfthöhe zerknittert waren, weil sie den ganzen Tag im Sitzen verbrachten, und die in ihren weichen, glatten Händen Getränke mit teurem Wodka hielten. Wo diese Kerle arbeiteten, brauchte man keine Schuhe mit Stahlkappen zu tragen. Wenn ich doch nur einer von ihnen sein könnte, dachte ich, dann wäre ich glücklich.

Ich erinnere mich noch genau an den ersten Gehaltsscheck von Associated Press. Ich hielt ihn in den Händen und starrte ihn stundenlang an, bevor ich ihn zur Bank trug. Ich war tatsächlich dafür bezahlt worden zu denken, mein Hirn zu benutzen. Keine aufgeschürften Fingerknöchel, kein schmerzender Rücken. Meilenweit entfernt von meinen ersten Erfahrungen mit dem Arbeitsleben: Als ich 16 war, habe ich einen Sommer lang für den Vermieter meiner Mutter gearbeitet und Wohnungen renoviert. Sein Name war Terry Bremer und ich habe eine Menge von ihm gelernt, aber der Job war ätzend.

Einmal, an einem sengend heißen Augusttag, war ich bereits halb blind vom Schweiß, der mir in den Augen stach, als ich in einen staubigen Dachboden hineinkroch und dicke Dämmstoffmatten aus Fiberglas bis in die hintersten Ecken zerrte. Das Jucken verfolgte mich eine ganze Woche lang. Ein anderes Mal verschliss ich ein Paar lederne Arbeitshandschuhe beim Ausheben eines wirklich erbärmlich stinkenden Grabens, der einen eingestürzten Abwasserkanal ersetzen sollte. Wer hätte gedacht, dass ich einen Schreibtischjob so gründlich vermasseln könnte, dass ich plötzlich ganz nostalgisch auf das Schaufeln von Unrat zurückblicken würde? Aber genau das war mir gelungen.

Wenn wir von miesen Tagen reden, dürfte es schwierig werden, den zu überbieten, der damit beginnt, dass ein kleiner, kahlköpfiger Mann dir eine Vorladung und eine Klage überreicht. Ich war an jenem Tag in einen Artikel vertieft, an dem ich gerade schrieb, und hörte den Mann gar nicht klopfen – man braucht einen Tastencode, um ins AP-­Büro zu gelangen. Ich bemerkte erst, dass er im Raum war, als ich ihn meinen Namen sagen hörte. Einer meiner Kollegen zeigte auf mich und der Mann kam lächelnd auf meinen Schreibtisch zu.

»Joe ­Talbert?«, vergewisserte er sich.

»Ja.«

Er hielt mir einen Umschlag hin, den ich instinktiv entgegennahm. Dann sagte er: »Hiermit ordnungsgemäß zugestellt.«

Zuerst begriff ich nicht, denn er spielte seine Rolle mit dem gut gelaunten Eifer eines Mannes, der auf ein Trinkgeld hofft. »Zugestellt?«, wiederholte ich.

Sein Lächeln wurde breiter. »Sie werden wegen Rufmord verklagt. Schönen Tag noch.« Dann drehte er sich um und verließ das Büro.

Ich stand mit dem Umschlag in der Hand hinter meinem Schreibtisch und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Dann sah ich mich um, sah die Gesichter meiner Reporterkollegen und hoffte, das Lächeln eines Witzbolds zu entdecken, der ein Lachen unterdrücken oder sich auf die Lippe beißen musste, aber stattdessen sahen mich meine Kollegen mit einer Mischung aus Furcht und Mitleid an. Sie waren einen Schritt schneller und hatten bereits begriffen, was hier los war. Ich öffnete den Umschlag, zog die Dokumente heraus und erkannte den Namen des Mannes, der als Kläger vermerkt war. State Senator Todd Dobbins. Da wusste ich, dass es sich nicht um einen Streich handelte.

Das hätte mir nicht passieren sollen. Ich hatte alles richtig gemacht. Den Artikel hatte ich vor über einem Monat geschrieben und er hatte alles: Sex, Skandal, politische Macht – alles außer einer zweiten Quelle, und diese Tatsache hatte meine Redakteurin Allison Cress auch gleich ziemlich nervös gemacht. Aber ich hatte ihr die Glaubwürdigkeit meiner einzigen Quelle dargelegt und dazu das unterstützende Beweismaterial, das meine Geschichte untermauerte. Ich hatte Allison überzeugt, dass die Quelle verlässlich war. Schlussendlich hatte sie die Geschichte vor allem aufgrund meiner Zusicherungen veröffentlicht.

Ich ging in Allisons Büro, um ihr das Dokument zu zeigen, in dem ich und die Associated Press als Beklagte in einem Prozess genannt wurden, denn ich hoffte auf tröstende Worte. So was wie: Das kommt andauernd vor, oder: Mach dir keine Sorgen, das ist nur der Trick eines korrupten Politikers. Aber was sie dann tatsächlich sagte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich hätte mich beinahe übergeben. Sie wurde blass, als sie die Unterlagen durchlas; dann bat sie mich, die Tür zu schließen und Platz zu nehmen.

»Das hier ist übel, Joe«, sagte sie. »Richtig übel.«

»Aber die Geschichte ist wahr«, widersprach ich. »Die Wahrheit ist doch wohl ausreichend als Verteidigung gegen den Vorwurf der Verleumdung.«

»Die Geschichte ist nur dann wahr, wenn wir be­­weisen können, dass sie wahr ist. Das ist das Problem mit Geschichten, bei denen du nur eine Quelle hast – und dann auch noch eine anonyme Quelle.«

»Aber ich habe eine Quelle. Das ist doch der wesentliche Punkt«, beharrte ich in der Hoffnung, dass ­­­­Allison mir zustimmen würde.

»Nach allem, was ich weiß, will deine Quelle nicht namentlich identifiziert werden. Das ist ein Pro­blem. Wenn wir keinen Zeugen präsentieren können – beson­ders in Anbetracht der Umstände in dieser Ge­­schichte –, wird es so aussehen, als hätten wir uns das Ganze ausgedacht. Dann steht dein Wort gegen sein Wort.«

»Gegen ihres«, gab ich kleinlaut zu. Allison blickte mich verwirrt an. »Mrs. Dobbins hat eine eidesstattliche Erklärung verfasst und die Version ihres Mannes bestätigt.«

Allisons Augen waren groß und schokoladenbraun, was es ihr unmöglich machte, ein Pokerface aufrechtzuerhalten. Es war offensichtlich, dass sie versuchte, während unseres Gesprächs ruhig zu wirken, aber ich konnte zusehen, wie sich die Angst auf ihrem Gesicht breitmachte. »Wie stehen die Chancen, dass deine Quelle zustimmt, als Zeugin aufzutreten?«

Als Zeugin aufzutreten? Meine Quelle hatte das Seil losgelassen, an dem sie hing; ich war derjenige, der sie in der Hand hatte, weil sie mir vertraute, dass ich sie nicht fallen lassen würde. Wenn ich ihre Identität enthüllte, würde ich nicht nur das gegebene Versprechen brechen, es würde auch bedeuten, dass sie alles verlor. Manche Grenzen kann man schlicht nicht übertreten. »Aber Reporter verwenden doch andauernd anonyme Quellen«, widersprach ich.

»Ja. Und diese Reporter gehen damit das Risiko ein, dass so etwas passiert.« Allison schüttelte langsam den Kopf, während sie weiter die Anklageschrift durchlas. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und wartete. Als sie zum Ende kam, zu der Passage mit Dobbins’ Forderungen, blickte sie auf. »Er will einen Widerruf, und er will, dass du gefeuert wirst«, stellte sie fest.

»Er will außerdem einen Haufen Geld. Hast du das auch gelesen?«

»Ja, aber ich glaube nicht, dass es ihm vorrangig um Geld geht. Deine Geschichte hat seine politische Karriere beendet. Er hat keine Zukunft mehr im ­Kapitol. Der einzige Weg für ihn, sein Leben zurückzubekommen, besteht darin, dass er irgendeine offizielle Erklärung bekommt, dass die Geschichte unwahr ist. Und dafür braucht er den Widerruf. Ich schätze auch, deine Entlassung ist nur als Zuckerguss für seinen Kuchen gedacht.«

»Die würden mich doch nicht wirklich feuern, oder?«

Allison sah mich mit einem traurigen Ausdruck an, der zu sagen schien: Ach, du armer, naiver kleiner Junge. Dann erzählte sie mir von einem Reporter, der im Jahr zuvor gefeuert worden war, weil er einen einzigen Fehler gemacht hatte. Bis dahin war seine Bilanz einwandfrei gewesen – nicht ein einziger Irrtum in 28 Jahren –, aber dann identifizierte er die Initialen auf einem Dokument falsch und schrieb sie dem falschen Politiker zu. Mehr war gar nicht nötig.

Ich starrte aus dem Fenster von Allisons Eckbüro. Diese Aussicht hatte ich schon häufig genossen, zuletzt eine Woche zuvor, als Allison und ich darüber sprachen, ob mein Artikel in Betracht käme, für den ­Pulitzer eingesandt zu werden. Und jetzt redeten wir über das Ende meiner Karriere. Sie presste die Handballen gegeneinander und lehnte sich auf den Schreibtisch, die Gerichtsunterlagen an ihren Ellbogen, die Fingerknöchel gegen die Lippen gedrückt. »Es wird eine Untersuchung geben«, erklärte sie, ohne aufzusehen. »Ich hänge mit dir am Haken. Ich habe die Story durchgewinkt. Wenn sie dich feuern, feuern sie mich gleich mit.«

Und ich hatte schon geglaubt, ich könnte mich nicht noch schlechter fühlen.

»Die AP stellt dir einen Anwalt. Ich habe das einmal durchgemacht, als ich noch Reporterin war. Es war ätzend. Du musst auf jeglichen Interessenkonflikt formell verzichten, oder du darfst dir selbst einen Anwalt nehmen.«

»Lila steht kurz vor der Zulassungsprüfung.« Ich weiß nicht genau, wieso ich das sagte; ich habe wahrscheinlich nur laut gedacht.

»Du brauchst jemanden, der auf Presserecht spezialisiert ist. Ich bin sicher, dass Lila sehr klug ist, aber nimm das hier nicht auf die leichte Schulter. Wenn du gefeuert wirst, wird dich kein seriöser Nachrichtenkanal mehr einstellen. Niemals. Du bist raus. Unterschreibe lieber die Verzichtserklärung und überlass das den Anwälten von AP.«

»Ja, schätze, das ist sicher das klügere Vorgehen.«

Ich wartete darauf, dass Allison irgendetwas sagen würde, um mich aufzumuntern, aber das geschah nicht. Als ich ihr Büro verließ, schmerzte mein Kopf und mein Brustkorb schien sich um meine Lunge herum zusammenzuziehen, sodass es mir schwerfiel zu atmen. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, auf den Bildschirm meines Computers zu starren; ich traute mich nicht, auch nur ein einziges Wort zu tippen. Die Anschuldigungen aus der Anklageschrift wollten mir nicht aus dem Kopf gehen; Wörter und Sätze trieben wie Schlieren vor meinem Sichtfeld vorbei. Dies konnte das Ende meiner Laufbahn bedeuten. Was dann? Wieder Gräben ausheben? Den Platz auf dem Barhocker einnehmen und wieder den Türsteher vor ­Molly’s Pub machen? Jedes Mal wenn ich diesen Gedanken freien Lauf ließ, drohte ich an ihnen zu ersticken.

Als ich es nicht mehr länger aushielt, ging ich nach Hause, um Lila die Hiobsbotschaft mitzuteilen. Die 20 Minuten dauernde Fahrt führte mich von den gläsernen Türmen in Downtown Minneapolis in das Arbeiterviertel St Paul’s Midway, einen alten Teil der Stadt, wo sich kleine Häuser dicht an dicht drängten und die kastenförmigen Wohnblöcke aus demselben schmutzig gelben Backstein waren wie die angestaubten Ladenzeilen.

Das Apartment, das Lila und ich uns teilten, war eine Zweizimmerwohnung in einem Acht-­Parteien-­Gebäude, das wiederum die Art von Block darstellte, an dem die meisten Menschen achtlos vorbeifuhren. Es gab keinen Balkon, keine Wiese vor dem Haus und keinen Ausblick, denn man starrte direkt auf den Wohnblock gegenüber. Und weil dort ein seltsamer Kerl lebte, der offenbar darauf stand, in unsere Fenster zu starren, hielten wir die Jalousien geschlossen, was das Gefühl noch verstärkte, in einem Gefängnisblock zu wohnen. Aber die Bude war billig und nah an Lilas Jurafakultät, also genau das, was wir vorerst brauchten.

Lila Nash war nach wie vor bloß meine feste Freundin, und wenn ich bloß sage, dann meine ich, dass ich die Sache mit dem Knie noch nicht gemacht hatte. Ich hatte oft darüber nachgedacht, aber es schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein. Wir waren auf dem College, und dann studierte sie Jura. Ich wollte nicht um ihre Hand anhalten, wenn sie gerade für diese Klausur büffelte oder an jenem Rechtsmemorandum arbeitete. Ich war ziemlich sicher, sie würde Ja sagen, wenn ich sie fragte, aber dann würde sie den Ring beiseitelegen und sich wieder ihren Büchern zuwenden. Ich wollte warten, bis wir den Moment genießen und ihm die Bedeutung und Aufmerksamkeit zukommen lassen konnten, die er verdiente. Ich hatte gehofft, dass der richtige Moment kommen würde, nachdem sie ihren Abschluss in Jura gemacht hatte – aber dann kam die Zulassungsprüfung.

Es waren nur noch acht Tage, bis dieser Seelen fressende Leidensweg ein Ende haben würde, und Lila hielt den Stier immer noch bei den Hörnern, das Ziel mit vor Anstrengung weißen Knöcheln und zusammengebissenen Zähnen vor Augen. Sie hatte ein Jobangebot vom Büro des Bezirksstaatsanwalts für Hennepin County, aber dieses Angebot wäre hinfällig, wenn sie die Zulassung nicht bekam. Deswegen lernte sie seit nunmehr zwei Monaten ausschließlich für diese Prüfung und ließ alles andere außen vor – alles außer ­Jeremy. Mitten in dem ganzen Chaos fand Lila irgendwie immer Zeit für meinen Bruder.

Von Anfang an war es Lila gewesen, die die Führung bei ­­Jeremys Betreuung übernommen hatte. Sie hatte sich geduldig durch den bürokratischen Irrgarten gekämpft, um ­Jeremy seinen ersten Job zu verschaffen, bei dem er in einer Wiederverwertungsanlage Gegenstände sortierte. Lila machte sich über Autismus schlau und las sicher ein Dutzend Bücher zum Thema, nachdem ­Jeremy zu uns gezogen war. Dafür fand sie die Zeit, während sie gleichzeitig die gemeinsame Zeit mit mir herunterfuhr, weil das Jurastudium ›ihr den Arsch aufriss‹. Früher haben wir fast jeden Abend Rommé oder Cribbage gespielt, aber nun erinnere ich mich kaum an das letzte Mal, dass wir das gemacht haben.

Ihr jüngstes Projekt mit ­Jeremy war das Lesen von Büchern gewesen. Mein Bruder hatte in der Schule Lesen gelernt, aber unsere Mutter hatte diese Fähigkeit nie wirklich zu würdigen gewusst, also schauten wir zu Hause früher immer Filme. Lila fing an, mit ihm Kinderbücher zu lesen, Klassiker wie Schneewittchen und Die Schöne und das Biest. Und obwohl ­Jeremy das Lesen zunächst nicht gemocht hatte, ließ Lila nicht locker, übte jeden Tag mit ihm, wenn er von seinem Job nach Hause kam, ging mit ihm die Wörter und die Bilder durch, verglich die Geschichte im Buch mit der auf der DVD. Nach ein paar Monaten wurden diese Bücher Teil seiner Routine.

Als ich an jenem Tag nach Hause kam, fand ich die beiden zusammen auf der Couch sitzend, wie sie mit den Wörtern in einem neuen Buch kämpften – Dumbo. Beide schauten auf, als ich hereinkam, ­Jeremy nur eine Sekunde lang, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Buchseite zuwandte. Er hatte kein Zeitgefühl und ahnte nicht, dass ich drei Stunden früher als sonst nach Hause gekommen war. Lila dagegen sah zunächst mich an, blickte dann zur Uhr und wieder zurück zu mir. Verwirrt legte sie ihre Stirn in Falten.

»Du bist früh dran«, stellte sie fest. Es war weder eine Frage noch ein Vorwurf; es war eher eine Notiz, die sie sich in ihrem Gedankengang machte.

Ich trat auf die Couch zu, setzte mich neben Lila und reichte ihr die Vorladung und die Klageschrift. Dann lehnte ich mich zurück und wartete, dass sie zu lesen anfing.

»O mein Gott«, flüsterte sie. »Das ist …« Sie sah mich an und ihre Verwirrung verwandelte sich in Sorge. »Die verklagen dich?«

Ich nickte.

»Was hast du getan?«

»Ich habe gar nichts getan«, erwiderte ich und klang dabei defensiver, als ich vorgehabt hatte.

»Tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint.« Sie drehte sich halb auf der Couch und wendete sich mir zu, so als wollte sie mir in die Augen sehen, wenn sie mir die nächste Frage stellte. »Die sagen, dass du eine Geschichte frei erfunden hast. Das hast du doch nicht wirklich getan, oder?«

»Natürlich nicht. Ich würde nie eine Story erfinden.«

»Todd Dobbins … er ist dieser Senator, über den du geschrieben hast … der seine Frau verprügelt hat.« Lila wandte sich wieder der Klageschrift zu.

»Ja, er hat seine Frau verprügelt.«

»Aber …«

Lila las weiter, und ich konnte sehen, dass sie inzwischen bei der eidesstattlichen Erklärung angelangt war, in der Mrs. Dobbins beschwor, dass ihr Besuch in der Notaufnahme darauf zurückzuführen sei, dass sie eine Treppe hinabgestürzt war. Ungeachtet der Strafe für Meineid beschwor sie nicht nur, dass ihr Ehemann sie nicht geschlagen hatte, sondern dass er darüber hinaus ihr Leben gerettet hatte, indem er sie ins Krankenhaus brachte.

Lila sah von den Unterlagen auf. »Wenn er be­­hauptet, sie ist die Treppe hinuntergefallen … und sie sagt, sie ist die Treppe hinuntergefallen … dann …«

»Ich habe eine Quelle.«

»Wen?«

»Das kann ich nicht preisgeben – nicht einmal dir. Ich habe ihr mein Wort gegeben.«

»Joe, das hier ist eine ernste Sache.«

»Glaubst du, das weiß ich nicht?« Ich hörte selbst, wie meine Stimme lauter wurde, und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Lila war nicht der Feind. Ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen.

»Wenn du deine Quelle nicht publik machst, wie willst du dann beweisen, dass du recht hast? Das Ehrenschutzrecht … Die Times gegen Sullivan …« Lila klang mit einem Mal, als würde sie von ihren Karteikarten ablesen – das war ihre bevorzugte Lerntechnik. »Bei einer Person des öffentlichen Interesses wird ein anderer Maßstab angelegt, und als Senator gilt ­Dobbins ganz sicher als Person des öffentlichen Interesses. Da müssten die schon beweisen, dass du den Artikel mit aktiver Schädigungsabsicht geschrieben hast – dass du wusstest, dass die Sache nicht den Tatsachen entspricht, und ihn trotzdem geschrieben hast.«

»Meine Geschichte war nicht gelogen.«

»Aber deine Zeugin ist jemand, den du nicht preisgeben willst. Du hast nichts in der Hand, um ihre Version der Vorfälle anzufechten. Du siehst schon, wie das aussieht, oder? Du hast dich selbst in die Ecke manövriert.«

»Ich kann meine Quelle nicht preisgeben«, wiederholte ich. »Das werde ich nicht tun.« Aber als ich die Worte aussprach, war mir bereits klar, dass Lila recht hatte. Ich war geliefert. Schlagartig fiel mir das Gespräch mit Allison wieder ein, und damit auch die Aussicht, wegen dieser Sache gefeuert zu werden. Sofort hatte ich aufs Neue das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Ich beugte mich auf der Couch nach vorn und barg mein Gesicht in den Händen. Langsam einatmen. Langsam ausatmen. Lila strich mir mit der Hand über den Rücken, was zwar nicht half, aber nett gemeint war.

Und dann meldete sich ­Jeremy zu Wort. Ich hatte ganz vergessen, dass er mit uns auf der Couch saß. »Joe«, sagte er, »vielleicht wird alles wieder gut.«

Ich setzte mich aufrecht hin und sah meinen Bruder an. Er hatte die Hände im Schoß, das Buch neben sich und der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet Unsicherheit. Wahrscheinlich fragte er sich, ob seine Reaktion in dieser Situation angemessen war. Ich habe keinen Zweifel, dass er nicht verstand, was ein Gerichtsprozess war, aber er verstand meine Reaktion darauf dafür umso besser. Er begriff, dass die Unterlagen in Lilas Hand mir in irgendeiner Form schadeten. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Und was er darauf sagen wollte, was er gerade gesagt hatte, war natürlich das Einzige, was ich gern hören wollte – dass alles wieder gut würde.

Ich lächelte. »Natürlich wird es wieder gut.«

»Ganz genau«, stimmte Lila zu und warf die Blätter auf den Boden.

Und damit verständigten Lila und ich uns, dass an diesem Tag gar nichts Schlimmes passiert war, zumindest was ­Jeremy anging. Wir ließen das Thema fallen und taten so, als wäre es ein ganz normaler Dienstag. Sie ging wieder an ihren Lernstoff und ich ging in die Küche, wo ­Jeremy mich nicht sah. Hier konnte ich mich auf den Boden setzen und zulassen, dass die Welt um mich herum außer Kontrolle und ins Schlingern geriet. Aber so übel dieser Tag auch gewesen sein mochte, der folgende Tag bewies, dass es immer noch schlimmer kommen kann.

2

Ich dachte darüber nach, mir den nächsten Tag freizunehmen, mich krankzumelden und meine Wunden zu lecken. Ich wollte nicht an den gesenkten Blicken meiner Kollegen vorbeilaufen müssen oder das leise Zischen des Geflüsters hören, das aus dem Pausenraum drang, wo man sich über meine Versäumnisse unterhielt. Aber ich musste mich dieser Sache stellen. Ich hatte nichts Falsches getan und wenn ich zu Hause blieb, würde mich das nur schuldig aussehen lassen. Abgesehen davon: Wenn ich in meiner Bude hockte, würde sich das Gewürm meines Selbstmitleids nur noch tiefer in mein Hirn graben. Arbeitete ich dagegen an einer neuen Story, würde mir das vielleicht sogar helfen, nicht dauernd über die Klage nachzudenken. Wer wusste schon, ob ich nicht gar meinen Appetit wiederfinden mochte?

Das Büro der AP befand sich im Grain Exchange Building, einem neunstöckigen Gebäude, das im Jahr 1902, als sie es gebaut hatten, wahrscheinlich noch als Wolkenkratzer durchging – der Himmel hing damals offenbar sehr viel tiefer. Die alte Getreidebörse stand geduckt und massig am Nordrand von Downtown wie der gichtige Onkel der Skyline von Minneapolis. In den vergangenen vier Jahren hatte ich mich daran gewöhnt, das Büro als zweites Zuhause zu betrachten. Als ich jetzt zum Fahrstuhl ging, machte sich ein Bild in meinem Kopf breit: Ich wurde aus dem Gebäude eskortiert und trug meine persönlichen Gegenstände in einem Karton nach draußen. Machen sie das wirklich mit dir, wenn du gefeuert wirst?

Im fünften Stock gab ich den Code auf dem Tastenfeld ein und betrat das Büro der Associated Press, das kleiner war, als die meisten Menschen vermuten würden, deren Vorstellung einer Nachrichtenredaktion Filmen wie Die Unbestechlichen entstammt, in denen eine kleine Armee von Reportern eine ganze Etage füllt. Das AP-­Büro war für Nachrichten in einem Gebiet zuständig, das ganze vier Bundesstaaten umfasste, war aber gerade groß genug, um sechs Reportern, einem Pausenraum, einem Besprechungsraum und einem eigenen Büro für Allison Cress Platz zu bieten.

Wir schrieben die Texte an unseren Workstations, in einer modernen Form des Großraumbüros mit niedrigeren Zwischenwänden, sodass man zwar immer noch ebenso eingeengt in seiner Nische saß, die Privatsphäre älterer Modelle aber fehlte. Die Einrichtung und Platzierung ließ das Ganze ungefähr so aussehen, als säßen wir in einem großen Floß, das aus sechs zusammengebundenen Fahrradschläuchen besteht. Es machte mir allerdings nichts aus, keine Wände um mich herum zu haben, weil ich auf der fensterlosen Seite des Floßes arbeitete. Wenn nicht viel zu tun war, verschaffte mir das die Möglichkeit, trotzdem aus den Fenstern zu schauen – mein Blick hüpfte einfach über Gus ­MacFarlanes Kopf hinweg – und meine Tagträume vom Wind verwehen zu lassen. Diese Träumereien versetzten mich meist in die gläsernen Türme Manhattans oder die in Granit gehauenen Enklaven Washingtons, weil ich einst gehofft hatte, dass meine Karriere mich dorthin führen würde. Heute dagegen bestand mein höchstes Ziel darin, bis zum Feierabend durchzuhalten und dann immer noch einen Job zu haben.

Ich hatte mich gerade in meinem Nest hinter dem Schreibtisch niedergelassen, als Gus sich zu meinem Arbeitsplatz herüberlehnte und flüsterte: »Hey, Joe, Allison hat gesagt, dass sie dich sehen möchte, sobald du da bist.«

Das Herz sank mir im Sturzflug in die Hose. »Wie hat sie ausgesehen?«

Gus dachte eine Sekunde lang darüber nach, bevor er antwortete. »Ernst.«

Ich wollte schon aufstehen, aber dann überlegte ich es mir anders, setzte mich wieder hin und nahm mir eine Minute Zeit, meine Browser-­Chronik zu löschen. Es ging nicht darum, dass ich irgendetwas Skandalöses zu verbergen hatte, aber ich wollte nicht, dass mein Nachfolger wusste, wie oft ich meinen ­Thesaurus benutzte oder dass ich Schwierigkeiten mit den Vergangenheitsformen starker Verben hatte. Ich warf einen Blick in die Schubladen, um zu sehen, wie groß der Karton sein musste, in dem ich meine Sachen wegtragen würde, und die Antwort deprimierte mich. Die Sammlung persönlicher Gegenstände würde locker in einen Schuhkarton passen. Vielleicht war ich unterschwellig die ganze Zeit auf diesen Tag vorbereitet gewesen.

In meinem Magen rumorte es gewaltig, als ich mich auf den Weg zu Allisons Büro machte. Sie war immer eine gute Chefin gewesen. Klug, mit nüchternem Verstand. Ich würde sie vermissen und es machte mich fertig, dass ich sie mit in den Sumpf hinabgezogen hatte. Vor ihrer Tür hielt ich kurz inne, um mich zu sammeln, dann klopfte ich an.

»Ja, bitte«, rief Allison.

Als sie mich sah, machte der neutrale Gesichtsausdruck einer gewissen Schwere Platz.

»Hallo, Joe. Setz dich doch.« Sie wies auf einen Stuhl. Ich schloss die Tür und nahm Platz. Meine Hände auf dem sandfarbenen Vinyl der Armlehnen fühlten sich jetzt schon schweißnass an.

»Bin ich gefeuert?«, fragte ich.

»Was?«

»Wenn du mich feuern willst, tu es bitte schnell.« Ich kniff zwar nicht die Augen zu, hielt aber den Atem an.

»Nein, Joe. Das ist nicht der Grund, warum ich dich sprechen wollte.«

Ich stieß langsam den Atem aus.

Allison schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Wenn das der Fall wäre«, sagte sie, »wäre ich wahrscheinlich mit dir gemeinsam auf dem Weg zur Tür hinaus.«

Ich wollte ihr sagen, dass es mir leidtat, aber ich war ziemlich sicher, dass sie das bereits wusste.

»Joe, hast du irgendwelche Verwandten in Caspen County?«

»Caspen County? Nein. Nicht dass ich wüsste. Warum?«

»Nicht dass du wüsstest?«

»Mein Stammbaum ist eher so was wie ein Gestrüpp. Ich kann nie mit Sicherheit sagen, was da noch ist. Ich habe einen Bruder, ­Jeremy, aber von dem weißt du ja bereits.«

»Was ist mit dem Rest deiner Familie?«

Ich zögerte, aber dann antwortete ich: »Ich habe eine Mutter in Austin, aber mit der habe ich seit Jahren nicht gesprochen.«

»Was ist mit deinem Vater?«

»Mit meinem Vater? Der ist abgehauen, als ich geboren wurde. Hat mir nichts hinterlassen, nur seinen Namen.«

»Du hast denselben Namen wie dein Vater?«

»Ja, aber ich habe ihn nie …« Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück, denn erst jetzt wurde mir klar, dass Allison mich auf ein bestimmtes Ziel zusteuerte. »Was geht hier vor?«, fragte ich.

Sie nahm ein Blatt Papier in die Hand. »Hast du irgendeine Vorstellung, wo dein Vater heute leben könnte?«

»Nicht die geringste, nein«, erwiderte ich mit einem Anflug von Stolz. Es war mir gelungen, mein gesamtes bisheriges Leben hinter mich zu bringen, ohne jemals das Gesicht des Mannes zu sehen, dessen Namen ich trug. Ich hatte mir eingeredet, dass mein Vater, abgesehen davon, dass er seine Spermien für meine Entstehung gespendet hatte, ebenso gut ein Mythos hätte sein können; ein Märchen, das meine kindliche Vorstellung geprägt, aber das ich längst verworfen hatte. Weggeworfen wie ein Paar Sneaker, aus denen ich hinausgewachsen war.

»Worum geht es denn hier?«, wollte ich wissen.

Sie schob mir ein Blatt Papier über den Schreibtisch und ich las es. Es war eine Pressemitteilung über einen Mann namens Joseph ­Talbert, der von Beamten des Sheriffs von Caspen County, Minnesota, tot in einem Pferdestall im Hinterland aufgefunden worden war. Weiterhin stand da, dass ein Verbrechen vermutet wurde.

»Glaubst du, das könnte dein Vater sein?«, fragte sie.

Es gab sicher eine ganze Menge Joe ­Talberts auf diesem Planeten, aber dieser hier war in Minnesota gestorben und vermutlich nicht eines natürlichen Todes; diese beiden Faktoren erhöhten wohl die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um meinen Vater handeln könnte.

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Abgesehen von ein paar Geschichten, die meine Mom mir erzählt hat, weiß ich nichts über ihn.«

»Denkst du, deine Mutter würde wissen, ob er in Buckley gelebt hat?«

»Wie gesagt, ich rede nicht mit meiner Mutter.«

»Tut mir leid. Ich wollte nicht neugierig sein. Ich dachte nur, du solltest das wissen. Ich meine, wenn es mein Vater wäre … selbst wenn ich ihn nie gekannt hätte, würde ich es dennoch wissen wollen.«

»Ich weiß das zu schätzen«, sagte ich. Mein Tonfall war merklich abgekühlt, obwohl das nicht meine Absicht war.

»Alles in Ordnung?«

»Ganz ehrlich, Allison, ich weiß es nicht.«

»Da ist noch etwas«, fuhr Allison fort, während sie ein zweites Blatt Papier aus ihrer Schublade zog. »Ich habe das Sheriffbüro in Caspen County gebeten, mir ein Bild des Mannes zu schicken, den sie tot aufgefunden haben. Möchtest du es sehen?«

Ich starrte auf das Blatt in ihrer Hand und konnte nicht antworten. Dieser Mann bedeutete mir rein gar nichts – weniger als nichts. Ich hätte Allisons Büro verlassen und es dabei belassen sollen, aber das tat ich nicht. Ich streckte die Hand aus und sie reichte mir ein altes Fahndungsfoto. Und mit dieser simplen Geste begann der Mythos, der mein Vater gewesen war, Gestalt anzunehmen.

3

Als ich in der vierten Klasse war, nannte mich ein Junge namens Keith Rabbinau einen Bastard. Ich war mir nicht ganz sicher, was das Wort bedeutete, obgleich ich oft genug gehört hatte, wie meine Mutter es benutzte; ein Pfeil mit stumpfer Spitze, den sie auf die vielen Männer abfeuerte, die sie verarscht hatten. Das Wort Bastard lag damals bereits im Korb meiner gesammelten Schimpfwörter, die ich recht geschickt anzuwenden wusste. Aber an jenem Tag in der vierten Klasse fand ich heraus, dass Bastard eine ganz bestimmte Bedeutung hatte, dass es auf einige von uns eben besser passte als auf andere. Rabbinaus Attacke kam aus dem Nichts, wir hatten gerade keinen Streit – auch wenn er und ich nie weit von einem Streit oder einer Prügelei entfernt waren. Keith war einer der wenigen Jungs in meiner Klasse, die über meine Mutter Bescheid wussten. Ich hatte mir zusammengereimt, dass unsere Mütter irgendwann einmal befreundet gewesen waren, als sie beide noch jung waren und die Kneipenszene in Austin gerade erst zu erforschen begannen. Die Version meiner Mom über den Bruch dieser Freundschaft lautete, dass Libby ­Rabbinau, das Flittchen, ihr ein Arschloch namens Willard ausgespannt hatte. Ich fragte mich damals noch, wieso es meiner Mutter etwas ausmachte, dass jemand ihr ­Willard weggenommen hatte, wenn er doch so ein Arschloch war. Dieses Rätsel wurde gelüftet, als ich älter wurde und meine Mutter besser kennenlernte.

Als Keith mich einen Bastard nannte, warf ich ihm die Beleidigung gleich zurück an den Kopf, nannte ihn ebenfalls einen Bastard, worauf er erwiderte: »Ich bin kein Bastard, ich habe einen Vater.« Seine Antwort brachte mich aus dem Konzept, weil ich nicht verstand, was Väter mit unserem kleinen Zusammenstoß zu tun hatten. Bevor mir also eine Entgegnung einfiel, las Keith die Verwirrung in meinem Blick und legte noch eine Schippe drauf.

»Du weißt noch nicht einmal, was ein Bastard ist, oder?«

»Klar weiß ich das«, gab ich zurück. »Du brauchst nur in den Spiegel zu schauen, dann siehst du einen.«

»Ein Bastard ist ein Kind, das keinen Dad hat«, dozierte er. »Du hast keinen Dad, also bist du ein Bastard.«

»Ich habe wohl einen Dad«, brüllte ich.

»Hast du nicht.« Keith grinste hämisch. »Meine Mom sagt, dass deine Mom eine Säuferin und eine Schlampe ist, bei der es sowieso kein Mann aushält. Das macht dich zu einem Bastard. Joey der Bastard. So solltest du heißen, Joey der Bastard.«

Einige der anderen Jungs auf dem Spielplatz spürten die plötzliche Spannung und umkreisten uns. Ein paar von ihnen wiederholten stichelnd »Joey der Bastard«. Ich begreife bis heute nicht, warum Keith den nächsten Schritt nicht kommen sah.

Die Wut vernebelte mir das Gehör und verwandelte Keiths Spottnamen in ein schweres, fließendes Summen. Ich stürzte mich auf ihn und stieß ihm die Hände gegen die Brust, sodass er rückwärtsstolperte und zu Boden fiel. Er blickte mit großen Augen zu mir hoch, als wäre mein Angriff das Allerletzte, womit er gerechnet hatte. Ich sah zu, wie sein erschrockenes Gesicht sich in ein zorniges verwandelte – und dann ging es los.

Keith kam hastig wieder auf die Füße und ging mit gesenktem Kopf auf mich los, mit der Schulter voran gegen meinen Brustkorb, während er mich mit beiden Händen am Oberkörper festhielt. Ich landete auf dem Hintern, sein ganzes Gewicht auf mir, und drehte mich erst nach rechts, dann nach links im Versuch, ihn von mir herunterzurollen. Er verlor das Gleichgewicht so weit, dass ich mich neben ihn schieben und meinen Arm um seinen Hals legen konnte. Nun hatte ich ihn im Schwitzkasten und kämpfte, ihn fester zu halten.

Inzwischen hatte sich ein ganzer Haufen Kinder um uns herum versammelt; einige feuerten mich an und einige riefen Keiths Namen. Das war genau das, worauf ich gehofft hatte. Wenn unser Kampf so viel Lärm und Aufruhr verursachte, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ein Lehrer uns auseinanderriss. Dann stünde es unentschieden.

Ich sah nur eine Sekunde lang nicht hin, weil ich über die Menge hinweg Ausschau halten wollte. Noch kein Lehrer in Sicht. Und im selben Moment ging Keiths Schulter nach unten und er rollte sich mit einer Bewegung ab, die aus dem Jiu-­Jitsu stammen musste und die mich einmal komplett über seinen Rücken warf. Ich schloss die Augen, als mein Kopf auf dem Boden aufschlug. Als ich sie wieder aufmachte, kletterte Keith auf meinen Brustkorb und holte mit dem Arm aus. Ich hob den Kopf, weil ich hoffte, dass die Wucht seines ersten Schlages meinen Oberkopf statt meines Gesichts treffen würde. Das hatte ich mal im Fernsehen gesehen. Aber es funktionierte nicht.

Er traf meine linke Wange mit aller Kraft und dann wurde alles schwarz und funkelnd. Ich rechnete mit einem zweiten Hieb und hatte ehrlich gesagt auch keinen Schimmer, wie ich dem entgehen sollte, aber es kam kein weiterer Schlag. Ich fühlte, wie Keith von meiner Brust gezogen wurde, während die Gesänge der Menge langsam verstummten. Als ich meine Augen erneut öffnete, hielt einer meiner Lehrer Keith von mir weg und schrie mich an, ich solle aufstehen und ihm folgen.

Als Konrektor Adkins mich fragte, was die Prügelei ausgelöst hatte, antwortete ich nicht. Der Lehrer, der den Kampf unterbunden hatte, sagte Mr. Adkins, dass sie Keith auf mir vorgefunden hatten und sie daher annahmen, er habe das Ganze angezettelt. Keith erklärte aber, dass ich angefangen hätte, dass ich durchgedreht war und ihn ohne wirklichen Grund angegriffen hätte. Schlussendlich brummte Adkins uns beiden dieselbe Strafe auf. Wir sollten in die Schulbücherei gehen, ein Wörterbuch auf einer bestimmten Seite aufschlagen und alle Wörter und Definitionen von dieser Seite abschreiben. Er hätte uns an jenem Tag auch 100 Seiten zum Abschreiben aufgeben können, das hätte für mich keine Rolle gespielt. Es war nicht die Strafe, die Spuren hinterließ.

Sobald Keith das Büro verlassen hatte, rannte er los, um das kleinste Wörterbuch in der Bücherei zu suchen und für sich zu beanspruchen, sodass ich den riesigen Merriam-­Webster nehmen musste. Keith hatte diese Strafe offenbar schon vorher aufgebrummt bekommen. Ich klappte mein Wörterbuch auf und wollte zu der Seite blättern, die Adkins ausgewählt hatte, aber dann hielt ich inne und blätterte zurück, bis ich das Wort Bastard fand.

Bastard:

1) eine Person, deren Eltern nicht verheiratet sind; ein uneheliches, illegitimes Kind;

2) etwas Regelwidriges, Minderwertiges, Unechtes, Ungebräuchliches.

Zu beiden Definitionen gab es noch weitere Ausführungen, aber ich las nicht weiter. Ich fing an, meine Strafarbeit zu schreiben. Meine Welt hatte eine neue Färbung angenommen, denn ich hatte begriffen, dass ich illegitim und minderwertig war. Ich war ein Bastard.

Die Standpauke, die ich in der Schule bekam, war nichts im Vergleich zu dem, was mich zu Hause erwartete. Die Schule hatte meine Mutter angerufen und ihr gesagt, dass ich in eine Prügelei verwickelt gewesen war. Das wäre ja an sich schon schlimm genug gewesen, aber die Tatsache, dass ich vom Sohn Libby Rabbinaus auf die Mütze bekommen hatte, brachte meine Mom am allermeisten zum Kochen. Als ich die Wohnung betrat, erwartete sie mich mit einem Bier in der Hand und einem finsteren Gesicht. »Was zur Hölle ist bloß in dich gefahren, Joey?«, waren die ersten Worte, die aus ihrem Mund kamen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, sie zu Hause anzutreffen, denn sie hatte damals einen Job bei Dairy Queen, wo sie Eis und Shakes servierte. Es war eine der wenigen Zeiten, an die ich mich in meinem Leben erinnern kann, in der sie einen Job länger als ein paar Wochen behielt. Als ich hereinkam, lag die Intensität ihrer Wut bereits wie dichte Schwaden in der Luft, deswegen antwortete ich nicht auf ihre Frage.

»Ich musste heute von der Arbeit nach Hause kommen. Das sind 50 Dollar weniger auf meiner Abrechnung, wegen dir.«

Ich wollte sie fragen, was meine Abreibung damit zu tun hatte, dass sie nicht auf der Arbeit gewesen war. Sie hatten sie nicht in die Schule bestellt, um die Sache zu besprechen. Das wussten sie dort bereits besser. Meine Mutter war eine Handgranate, die nur darauf wartete, dass jemand den Stift herauszog.

»Was glaubst du, wie sich das anfühlt, mich krankmelden zu müssen, weil mein Sohn nicht ein einziges Mal vorher nachdenken kann, bevor er Mist baut? Und Keith Rabbinau? Du musstest ausgerechnet mit ihm einen Streit anfangen? Und du hast zugelassen, dass dich dieser kleine Scheißkerl besiegt. Ich wette, er ist nicht mit einem Veilchen nach Hause gekommen.«

Die Scham wog so schwer, dass ich meinen Kopf senkte.

»Natürlich nicht«, höhnte sie. »Ich kann diese Schlampe Libby geradezu lachen hören, weil ihr Sohn dich vermöbelt hat. Worum ging es bei diesem Streit überhaupt?«

Ich blickte auf, um zu sehen, ob sie die Frage rhetorisch meinte, ob sie nur eine weitere Welle in der Brandung ihrer Tirade darstellte, aber sie starrte mich mit einer in die Hüfte gestemmten Hand an und wartete auf meine Antwort.

»Er hat mich … einen Bastard genannt«, erklärte ich, ließ aber aus, dass Keith sie eine Säuferin und Schlampe genannt hatte. Selbst mit zehn wusste ich bereits, dass eine solche Enthüllung keinerlei Vorteile mit sich brachte.

»Tja, du bist ein Bastard, verdammt noch mal. Dieses nichtsnutzige Arschloch von deinem Vater wollte nichts mit dir zu schaffen haben. Wegen ihm hast du dich geprügelt? Da kannst du ja gleich …« Sie wedelte mit der Bierhand in der Luft herum, als sollte die Geste für die Worte einstehen, die ihr da gerade fehlten. Dann nahm sie einen Schluck aus der Büchse. »Sieh es ein, er hat uns beide verarscht. Du hast ein Problem damit, dass du ein Bastard bist? Kläre das mit deinem Vater. Und viel Glück dabei, ihn aufzuspüren.«

Der nächste Satz kam über meine Lippen, bevor ich ihn aufhalten konnte. Ich fragte: »Wenn er ein so nichtsnutziges Arschloch gewesen ist, wieso bist du dann überhaupt mit ihm ausgegangen? Wieso hast du mich nach ihm benannt?«

Diese Worte trafen meine Mutter hart. Jeder Muskel in ihrem Gesicht spannte sich an, während auf ihrem Hals rote Flecken erschienen. Sie klatschte die Bierdose auf den Tisch, ihr Arm schoss heftig zur Seite und ihr Finger zeigte auf die Tür zu meinem Zimmer. »Geh – auf – dein – Zimmer!«, schrie sie mich an.

Das musste sie mir nicht zweimal sagen. Ich rannte in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und setzte mich mit dem Rücken dagegen auf den Boden. Mein zehnjähriger Körper war nur allzu bereit, jeglichen Versuch ihrerseits, hereinzukommen, zu blockieren. Ich wollte kein weiteres Wort von ihr hören, aber was noch wichtiger war, ich wollte die vergifteten Gedanken, die sich in mein Hirn geschlängelt hatten, nicht mehr loslassen. Manche Dinge blieben besser ungesagt. Ich war ein Bastard. Sie war eine Säuferin und eine Schlampe. Dies waren die Monumente, die wir füreinander errichteten – sie würden bestehen bleiben, auch nachdem unser Verhältnis den Bach hinuntergegangen war.

Als meine Wut verrauchte, entdeckte ich ­Jeremy, der unten im Etagenbett vor und zurück schaukelte. Die Sehnen seines Kiefers spannten sich mit dem Druck seiner Zähne, die er knirschen ließ, während sein rechter Daumen über den Knöchel seiner linken Hand rieb. Die Haut dort hatte sich bereits gerötet, weil er so fest rieb. Ich glitt von der Tür weg und robbte über den Boden, bis ich mich in seinem Sichtfeld befand.

»­Jeremy, mach das nicht«, bat ich und legte meine Hand auf seinen Daumen. »Das wird sonst ganz wund. Es ist schon gut, ­Jeremy.«

Aber ­Jeremy hörte nicht auf, also fing ich an, You’ve Got a Friend in Me zu singen, ein Lied aus Toy Story, zu dieser Zeit sein Lieblingsfilm. Ich ließ es ruhig angehen, meine falschen Töne in sein Bewusstsein dringen, wo sie seine Abwärtsspirale verlangsamten. Ich war bereits mitten in der zweiten Strophe, als der Sog des Liedes den Aufruhr in seinem Kopf endlich überwand. Er sang mit und die drei Töne, die er draufhatte, trafen die Melodie überhaupt nicht, aber das spielte keine Rolle. Er kannte jedes einzelne Wort. Und das Singen, so schief es auch sein mochte, brachte ­Jeremy Frieden.

Nachdem es mir gelungen war, ihn zu beruhigen, stieg ich ins obere Bett hinauf und starrte auf die Muster im Gips der Decke über meinem Kopf. Meine Gedanken drehten sich weder um meine Mutter noch um ­Jeremy, nicht einmal um Keith Rabbinau, sondern um meinen Vater, einen Mann, der nichts mit mir zu schaffen haben wollte. Ich hatte das immer gewusst, aber bis zu jenem Tag war mir nie klar gewesen, dass seine Feigheit mich zum Bastard abstempelte. Ich war illegitim. Ich war minderwertig. Er hatte mir das angetan.

An jenem Tag tat sich eine Kluft in meinem Leben auf; eine Wasserscheide: Vor meinem Streit mit Keith Rabbinau hatte ich manchmal von meinem Vater geträumt und mir vorgestellt, dass er mir entrissen worden war, dass er durch Mächte von mir ferngehalten wurde, gegen die er nichts ausrichten konnte. Dass er ein stiller Held war, der sich eines Tages den Weg zu mir zurückkämpfen würde, um mich vor meiner Mutter zu retten.

Aber nach diesem Tag verstand ich: Mein Vater hatte sich dazu entschieden, mich zu verlassen. Seine Tat machte mich zu dem, was ich war. Er war der Grund für meine Schlägerei mit Keith Rabbinau. Er war der Grund dafür, dass meine Mutter mich anschrie. Mein Vater war kein Held, er war ein Schurke, und ich verfluchte ihn leise, während mir die ersten Tränen des Tages über die Wangen liefen. Ich schwor mir, dass ich nie wieder einen Gedanken an meinen Vater vergeuden, niemals nach ihm suchen würde. Es war vorbei. Ich würde den Schatten dieses Mannes in eine Kiste stopfen und ihn so tief in meiner Erinnerung begraben, dass er nie wieder das Tageslicht zu sehen bekam.

Als ich älter wurde und mir über die Macht und die Möglichkeiten von Internet-­Suchmaschinen bewusst wurde, blieb ich meinem Schwur treu. Nicht ein einziges Mal suchte ich im Netz nach seinem Namen, was gleichzeitig bedeutete, dass ich auch nie nach meinem Namen suchen konnte. Wie ein Drogenabhängiger auf Entzug, der eine Spritze Heroin anstarrt, fand ich mich von Zeit zu Zeit vor dem Computerbildschirm wieder, die Finger auf der Tastatur, und es juckte mich geradezu, die Worte Joe ­­Talbert einzutippen, nur um zu sehen, wohin mich diese Suche führen mochte. Aber jedes Mal wenn mich dieser Drang überkam, drängte ich ihn zurück. Ich hatte nie nach meinem Vater gesucht.

17 Jahre nach meinem Schwur fand ich mich an meinem Arbeitsplatz im Büro der Associated Press wieder. Ich hielt die Pressenotiz in der Hand, die den Tod eines Mannes verkündete, der meinen Namen trug. Ich atmete tief ein und tippte zum ersten Mal in meinem Leben meinen Namen in die Suchmaske ein. Dann drückte ich die Enter-­Taste.