Thomas Anz

Marcel Reich-Ranicki

Sein Leben

Mit zahlreichen Fotografien

Insel Verlag

Karriere eines Kritikers

Vor mehr als zwei Jahrhunderten veröffentlichte der 24-jährige Goethe das Gedicht über jenen unverschämten Kerl, der sich bei seinem Gastgeber erst satt isst und hinterher bei anderen über das Essen mäkelt. Die Wut über den undankbaren Schmarotzer gipfelt in den Ausrufen: »Der tausend Sackerment! / Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.«

Marcel Reich-Ranicki lebte damals leider noch nicht, doch vor einigen Jahren hat er Goethe endlich geantwortet, hat zu dem Gedicht mit dem Titel »Rezensent« gleichsam eine späte Rezension geschrieben. Und obwohl Reich-Ranicki schon damals immer wieder beteuerte, nicht mehr »lauter Verrisse« zu schreiben und tatsächlich nur noch selten solche schrieb, gerieten ihm seine Ausführungen zu diesem Gedicht in der Frankfurter Anthologie zum Totalverriss: Goethe, so Reich-Ranicki, »genießt den Ruf, Deutschlands größter Lyriker zu sein. Das stimmt schon. Wenn es um die Poesie geht, kann ihm keiner das Wasser reichen. Aber natürlich hat auch er, der unverbesserliche Vielschreiber, zahlreiche mäßige oder schwache Gedichte produziert, gelegentlich sogar törichte. Doch das dümmste, das seiner Feder entstammt, ist wohl das Gedicht ›Rezensent‹.« (G 128)

Hinter der demonstrativen Respektlosigkeit dieser Zeilen gegenüber einem Autor, den Reich-Ranicki so hoch schätzte wie wenige andere, stand ein sein literaturkritisches Selbstbewusstsein in mehrfacher Hinsicht kennzeichnendes Programm. Es hat zum Erfolg dieses Kritikers wesentlich beigetragen.

Dass Reich-Ranicki in Deutschland der erfolgreichste, der wirkungsvollste und deshalb auch umstrittenste Literaturkritiker der Nachkriegszeit war, steht außer Zweifel. Mehr als er konnte ein Kritiker wohl nicht erreichen. Wie niemand sonst hat er über ein halbes Jahrhundert lang das literarische Leben in Deutschland mitgeprägt – genauer: seit 1958, als er in die Bundesrepublik reiste und nicht mehr nach Polen zurückkehrte.

Ein bewegtes, einen jeden, der darüber liest oder hört, bewegendes Leben hatte der damals 38-Jährige zu diesem Zeitpunkt hinter sich. Als Jude und polnischer Staatsangehöriger konnte er in Berlin zwar 1938 noch sein Abitur machen, das Immatrikulationsgesuch an die Universität wurde jedoch abschlägig beschieden.

Reich-Ranicki arbeitete zunächst als Lehrling in einer Exportfirma, wurde im Herbst 1938 verhaftet und nach Polen deportiert, lebte dort ab 1940 im Warschauer Getto, aus dem er 1943 zusammen mit seiner Frau in den Warschauer Untergrund floh. Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder wurden von Deutschen ermordet. Die sowjetische Armee befreite ihn, er trat der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitete in der polnischen Militärkommission in Berlin, im polnischen Außenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der Republik Polen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst, wurde nach der Rückkehr in Warschau aus der Partei wegen »ideologischer Entfremdung«, so die offizielle Begründung, ausgeschlossen, dann zwei Wochen in einer Einzelzelle gefangen gehalten.

Mit dieser Haftzeit endete Reich-Ranickis politische Karriere im diplomatischen Dienst – und es begann eine neue: Sie stand im Dienst der Literatur. In dem eindrucksvollen Gespräch, das Joachim Fest im Dezember 1982 mit Reich-Ranicki für die Fernsehserie »Zeugen des Jahrhunderts« führte, erinnerte sich dieser an das Buch, das ihm die Tage im Gefängnis in gewissem Sinn zu den schönsten jener Jahre machte: Anna Seghers Das siebte Kreuz. »Unter dem Einfluß dieses Romans in der Gefängniszelle habe ich beschlossen, mich, wenn ich wieder freikomme, vielleicht doch mit der Literatur zu befassen.« (ZD 90) »Beruflich«, muss man wohl ergänzen; denn zum enthusiastischen Leser war er schon als Berliner Gymnasiast durch die Anregungen des Theaters und des Deutschunterrichts geworden.

Reich-Ranicki kam frei, und er durfte, unterbrochen von Berufs- und Publikationsverboten, in jenem Reservat arbeiten, in dem man anstößigen Individuen einige Narrenfreiheiten zubilligt: auf dem Gebiet der Literatur und des literarischen Lebens. Er arbeitete in einem Verlag, schrieb für die Zeitung und für den Rundfunk, und er übersetzte – immer als Vermittler deutscher Literatur für polnische Leser.

In der Bundesrepublik stand er 1958 zusammen mit seiner Frau ein weiteres Mal in seinem Leben vor dem Nichts. Geld hatte er keines, doch als kulturelles Kapital immerhin vorzügliche Kenntnisse der deutschen Literatur, publizistische Begabung und Erfahrung sowie einige Bekanntschaften mit westdeutschen Autoren.

Heinrich Böll hatte ihm eine Bürgschaft ausgestellt, die für die Ausreisegenehmigung nötig war. Siegfried Lenz tat damals alles, um ihm Kontakte mit Rundfunksendern und Zeitungen zu verschaffen. Kritiken in der Welt und in der Frankfurter Allgemeinen sowie die Teilnahme an Tagungen der »Gruppe 47« machten ihn rasch so bekannt und begehrt, dass ihm Die Zeit zum 1. Januar 1960 eine ständige Zusammenarbeit anbot. Frei von redaktionellen Belastungen, schrieb er vierzehn Jahre lang für sie und wurde schnell zu der literaturkritischen Instanz der Bundesrepublik. Mit Polemik, Ironie und Neid, mit Bewunderung und Respekt ernannte man ihn in diesen Jahren zum »Großkritiker« und zum »Literaturpapst«, doch seine Fähigkeiten, den Willen zur öffentlichen Wirksamkeit und seine Macht konnte er erst 1973, als er die Leitung des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen übernahm, ganz entfalten. Er machte sie zur buch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands. Er machte sie aber auch zur Krönung seiner Kritikerkarriere.

So schien es zumindest. Als Reich-Ranicki Ende 1988, weil es die Gesetze der FAZ so vorschrieben, die Leitung des Literaturteils an einen Jüngeren abgeben musste, glaubten manche, eine Ära der Literaturkritik sei zu Ende, ein Generationenwechsel vollzogen; es finde gleichsam ein Artensterben statt. Denn der Typus des Großkritikers, den Reich-Ranicki ebenso wie Friedrich Sieburg, Günter Blöcker, Walter Jens, Fritz J. Raddatz oder Joachim Kaiser, nur viel vollkommener als alle diese, verkörperte, sei vom Aussterben bedroht.

Nachdem die Kommentare zu Reich-Ranickis Abgang schon den Ton von Nachrufen angestimmt hatten, belehrte dieser die Öffentlichkeit schnell eines Besseren. Abgesehen davon, dass er in der FAZ Herausgeber und Redakteur der von ihm 1974 ins Leben gerufenen Frankfurter Anthologie blieb und weiterhin literaturkritische Beiträge in dieser Zeitung veröffentlichte, hat sich das Spektrum seiner Wirkungsmöglichkeiten nur noch erweitert. Im Spiegel und auch wieder in der Zeit konnte man ihn gelegentlich lesen, vor allem aber konnte man ihn hören und sehen – in seinem »Literarischen Quartett«.

Das Fernsehen, diese gewiss in vieler Hinsicht fragwürdige, aber zweifellos wirksamste Animationsmaschinerie in Sachen Literatur, hatte Reich-Ranicki noch gefehlt. Mit ihm gelang es, seine Popularitätskurve erneut kräftig steigen zu lassen. Sie schien danach nicht mehr überbietbar. Bis Mein Leben erschien. Seinen größten und eindrucksvollsten Erfolg hatte Reich-Ranicki im Alter von beinahe achtzig Jahren – als Schriftsteller, als Autor seiner Autobiografie.

Seinem Beruf, der Literaturkritik, blieb er jedoch treu. Kritik als Beruf heißt programmatisch eines seiner letzten Bücher. Es gibt zahllose Schriftsteller, Journalisten oder Literaturwissenschaftler, die auch als Literaturkritiker tätig sind. Reich-Ranicki war, von gelegentlichen Abwegen abgesehen, ausschließlich Kritiker. Diese Spezialisierung und Konzentration machten seine Professionalität aus und waren einer der Gründe für seinen Erfolg.

Seine Wirkung reichte bis in die Wunsch- und Alpträume berühmter Autoren hinein. Seine Kritiken waren gespannt erwartete Ereignisse. Seine Rezensionen und Essays, zunächst in flüchtigen Medien erschienen, hatten sich zu einem dauerhaften literaturkritischen Werk angesammelt, das bis zu seinem Tod in über dreißig selbstständigen Buchpublikationen vorlag. Sie erschienen meist in mehreren überarbeiteten Auflagen oder fanden als Taschenbücher weite Verbreitung. Die Spannbreite all dieser Publikationen ist enorm: Sie umfasst auch zahlreiche Autoren russischer, polnischer, französischer und vor allem englischer Sprache, und sie basiert auf umfassenden und fundierten literarhistorischen Kenntnissen der Literatur seit Shakespeare.

Reich-Ranicki war Gesprächsthema, wo immer man über Literatur redete. Er wurde imitiert und parodiert, war Gegenstand zahlreicher Anekdoten und ist als mehr oder weniger verschlüsselte Figur in Romane, Dramen oder Gedichte bedeutender Autorinnen und Autoren eingegangen. Mit vielen Preisen hat man ihn bedacht, auch mit akademischen Ehren. Als Gastprofessor lehrte er an zahlreichen ausländischen und deutschen Universitäten. Seit 1974 war er Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1972 zeichnete ihn die Universität Uppsala mit der Ehrendoktorwürde aus. Deutsche Universitäten begannen diesem Beispiel erst zwanzig Jahre später zu folgen.

Woher dieser beispiellose Erfolg, diese konkurrenzlose Dominanz eines Literaturkritikers?

Zu den Gründen für seinen Erfolg gehörte die oft provozierende, für Überraschungseffekte allemal gute Respektlosigkeit im kritischen Umgang mit anerkannten Autoritäten. Die eingangs zitierte Polemik gegen Goethes Gedicht ist dafür nur ein Beispiel. In seinem Buch Der doppelte Boden, einer Art Summe seiner literarischen Erfahrungen und literaturkritischen Ansichten, geäußert in einem langen, spannenden, höchst anregenden und lehrreichen Gespräch mit dem Zürcher Literaturwissenschaftler und Kritiker Peter von Matt, nennt er die Klassikerverehrung eine »Spezialität des deutschen Untertanen-Staates« und bewundert die Engländer, die nie vor der Frage zurückscheuten: »How good is ›Hamlet‹?« In Reich-Ranickis Übersetzung: »Was taugt eigentlich der Shakespeare?« Shakespeare sei dadurch lebendig geblieben. »Durch das Anzweifeln wird die überlieferte Literatur am Leben erhalten, zumindest in vielen Fällen.« (DB 100)

Reich-Ranicki lehrte die Literaturkritik statt einer knienden Haltung den aufrechten Gang. In allen Publikationen ist er ein »Kritiker« im emphatischen Sinn des Wortes: ein engagierter Verteidiger der Kritik gegenüber allen, denen diese genuin aufklärerische Tätigkeit suspekt ist. Auch darin ist seine Reaktion auf Goethes Gedicht typisch. Dass die nationalsozialistische Kulturpolitik 1936 unter dem Vorwand, das schöpferische Genie vor den Zersetzungen der Kritik zu schützen, ein offizielles Verbot der Kunstkritik erließ und sie durch die »Kunstbetrachtung« ersetzte, war für Reich-Ranicki das abschreckende Beispiel in einer langen und bis heute andauernden Tradition der Kritikfeindlichkeit. Gegen sie schrieb er unermüdlich an.

In der Tradition der Aufklärung, der Lessings zumal, verteidigte er die entschiedene Wertung, die Provokation eingespielter Vorurteile. Die polemische Infragestellung anerkannter Autoritäten machte auch vor Lessing nicht Halt. Ihm sagte er zu dessen 200. Todestag nach, er habe »in seinem ganzen Leben zu den Dramen Shakespeares keinen einzigen bemerkenswerten Satz geschrieben«, sondern »immer nur leere Phrasen«. (AL 24) Gleichwohl charakterisierte Reich-Ranicki in anderen Passagen dieses Artikels mit Lessing auch sich selbst: »Seine große Leidenschaft hieß Polemik.« Er liebte »den Widerspruch, die Diskussion, den Streit«. (AL 16) Lessings Rechtfertigung der Polemik als eine Möglichkeit, die Auseinandersetzung mit Literatur zu dynamisieren, stand Reich-Ranickis Selbstverständnis zweifellos nahe. Wer ihn liest, hört oder sieht, merkt: Er will Recht haben. Zugleich aber suchte er den Widerspruch. Wer ihn genauer kennt, weiß, dass dem »Literaturpapst« der päpstliche Anspruch auf Unfehlbarkeit fremd war. Sein Verständnis von Literaturkritik schloss das Risiko des Fehlurteils programmatisch mit ein. Der gute Kritiker, so betonte er wiederholt, zeichnet sich durch den Mut zur Entscheidung aus. »Wer ›ja‹ oder ›nein‹ sagt, der riskiert natürlich einen großen Irrtum. Den schwachen, den schlechten Kritikern, die stets ›Jein‹ sagen, kann schlimmstenfalls ein halber Irrtum unterlaufen. Die bedeutenden Kritiker erkennt man gerade an ihren Irrtümern, weil sie im Urteil irrend gleichwohl ihre Objekte glänzend zu charakterisieren vermochten.« (ZD 15)

In der Tradition der Aufklärung steht auch Reich-Ranickis permanentes Beharren auf einem Maximum literaturkritischer Klarheit und Verständlichkeit. Er begriff sie als Dienst für ein breites, literaturinteressiertes Publikum. Er selbst sieht darin einen der entscheidenden Gründe für seinen Erfolg. Mit den Maßstäben seiner literaturkritischen Urteile – er hatte natürlich welche, auch wenn er das gerne bestritt – maß er zugleich die Qualitäten der Kritik: Literatur und Kritik sollen es dem Leser nicht unnötig schwermachen, sie zu verstehen. Reich-Ranickis hartnäckiges Bemühen, die besonders in Deutschland breite Kluft zwischen anspruchsvoller Literatur und dem literaturinteressierten Publikum zu verkleinern, wenn nicht sogar zu schließen, hat ihn keineswegs daran gehindert, auch schwierige Autoren hoch zu schätzen und öffentlich zu preisen: Wolfgang Koeppen, Thomas Bernhard oder Hermann Burger. Wenn gute Literatur oft schwierig ist, dann hat die Kritik umso mehr die Aufgabe, »zwischen der Kunst und dem Publikum, zwischen der Literatur und ihren Lesern zu vermitteln«. (DB 65)

Es sind diese Vermittlungswünsche und -fähigkeiten, die maßgeblich zu Reich-Ranickis öffentlicher Resonanz beigetragen haben. In dem vielfach gespannten Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und journalistischer Kritik bauen seine Publikationen Brücken, und er hat als Redakteur der FAZ vielen Literaturwissenschaftlern Gelegenheit gegeben, ihrerseits die Kluft zwischen ihrem Fach und der literarischen Öffentlichkeit zu verringern.

Reich-Ranickis Verrisse und Lobreden bezogen ihre mitreißende Energie aus einer geradezu obsessiven Leidenschaft für Literatur. Noch der heftigsten Kritik war bei Reich-Ranicki die Enttäuschung eines Liebhabers eingeschrieben, der nicht gefunden hat, was er leidenschaftlich suchte. Wem Literatur so viel bedeutet, der meint es ernst, wenn er über sie spricht. Wer Reich-Ranicki jedoch immer ganz ernst nimmt, muss ihn verfehlen. Am Ende seines »Literarischen Quartetts« pflegte er zu sagen: »Alle Fragen offen.« Kennzeichnender für ihn und seine Sendung war indes, was er davor sagte: »Vorhang zu.« Denn was da zu Ende ging, war ein Schauspiel, nicht selten eine Komödie. Alle seine Auftritte und auch seine Rezensionen haben etwas von dem Charakter einer Inszenierung. Peter von Matt hat in dem Gespräch mit Reich-Ranicki die vielleicht verblüffende Bemerkung gemacht, er habe bei der Lektüre der Rezensionssammlung Lauter Verrisse viel gelacht. Es sind unter anderem die Stilmittel der überspitzten Formulierung und der maßlosen Übertreibung, die diesen Effekt gewollt hervorbringen. Hierin gleicht Reich-Ranicki einem anderen großen Komödianten und Übertreibungskünstler, den er nicht zufällig außerordentlich schätzte: Thomas Bernhard. Reich-Ranickis Witz entspricht dem, was Literaturkritik seiner Auffassung nach auch zu leisten hat: den Leser zu vergnügen.

Ein Thomas Gottschalk der Literaturkritik? Nein. Ein großartiger Entertainer zwar, aber einer, der seine Begabung, seine Energie, seinen ungeheuren Fleiß und seinen Einfluss nicht an den puren Nonsens verschleuderte, sondern für etwas einsetzte, was Reich-Ranicki neben der Musik über alles liebte: die Literatur.

Über sein Leben zu schreiben muss heißen, seine Arbeit als Literaturkritiker zu beschreiben und zu würdigen. Sie macht seine Bedeutung aus. Sie lässt sich jedoch nicht angemessen verstehen, ohne die Geschichte seines sonstigen Lebens zu kennen. Es ist eine in vielerlei Hinsicht exemplarische Geschichte des 20. und auch noch des 21. Jahrhunderts in Deutschland.

Vater, Mutter, Sohn

Fast alles, was man bis zum Ende des 20. Jahrhunderts über Reich-Ranickis Leben wusste, hat er selbst erzählt, in Gesprächen und vor allem in seiner 1999 erschienenen Autobiografie Mein Leben. Es gab zwar vorher bereits zahllose Berichte, Anekdoten und Impressionen anderer über ihn – seine Person und seine Arbeit sind oft und ausführlich gewürdigt, gelobt oder attackiert worden –, doch umfassendere biografische Veröffentlichungen über ihn sind erst im 21. Jahrhundert erschienen. Einen langen, sehr gut informierten und anschaulich geschriebenen »biographischen Essay« hat allerdings vorher schon Volker Hage, ehemaliger Mitarbeiter von Reich-Ranicki bei der FAZ und später leitender Literaturredakteur bei der Zeit und beim Spiegel, veröffentlicht. Er erschien 1995, als Reich-Ranickis Autobiografie noch nicht vorlag.

Wer bin ich? Woher komme ich? Das sind die Fragen, auf die Mein Leben gleich zu Beginn Antworten zu geben versucht. Es besteht kein Grund, Reich-Ranickis eigenen Auskünften zu misstrauen, doch lässt sich ihnen oft mehr entnehmen, als er ausdrücklich schreibt. Auch seine Autobiografie hat jenen »doppelten Boden«, den der Kritiker in seinem Gespräch mit Peter von Matt zum Qualitätskriterium von Literatur erhob:

Schmuggler haben in früheren Zeiten – und vielleicht ist es heute nicht viel anders – gern Koffer mit einem doppelten Boden verwendet. Wer den Koffer geöffnet hat, sah seinen Inhalt, an dem er sich erfreuen konnte. Er brauchte gar nicht zu wissen oder zu ahnen, dass der innere Boden des Koffers keineswegs mit dem äußeren identisch ist, dass es also unter dem Boden, der innen sichtbar ist, noch einen zweiten gibt und also ein Zwischenraum entsteht. In diesem Zwischenraum verstaute der Schmuggler das, worauf es ihm ankam und was er vor den Augen der Zöllner oder der Polizei verbergen wollte. So ist es mit der Literatur. Die meisten Leser nehmen zwar Kenntnis von dem, was sich auf Anhieb wahrnehmen lässt, sie ahnen nicht, dass in der Novelle oder im Gedicht noch etwas enthalten ist, ein zweiter, über das unmittelbar Erkennbare hinaus gehender Inhalt. Es mag sein, dass es dem Autor darum geht, was er versteckt hat, dass er also dem Schmuggler ähnelt, der mit einem doppelten Boden arbeitet. Es gibt Schriftsteller, die sich um das Zeichenhafte überhaupt nicht zu bemühen brauchen – so will es jedenfalls scheinen –, und es ist dennoch immer da. (DB 45)

Da Autobiografien generell, wie auch Biografien, ein kaum entwirrbares Gemisch von Realität und Fiktion, von »Dichtung und Wahrheit« sind, ist es nicht ehrenrührig, wenn man, wie Reich-Ranicki den guten Schriftsteller, auch den Autobiografen mit einem Schmuggler vergleicht. Der Koffer eines Schmugglers enthält mehr und anderes als das, was auf den ersten Blick in ihm sichtbar ist.

Offen sichtbar sind die Fakten: In Włocławek, einem polnischen Städtchen an der Weichsel, kam er am 2. Juni 1920 zur Welt. Er blieb das jüngste Kind in der Familie: Die Schwester war dreizehn, der Bruder neun Jahre älter.

Der Vater, damals vierzig Jahre alt, hieß David Reich, war in Polen geboren und Sohn eines erfolgreichen jüdischen Kaufmanns. Die vier Jahre jüngere Mutter Helene Reich, geborene Auerbach, war eine Deutsche, ihr Vater ein verarmter Rabbiner. Sie kam aus Preußen, war in der deutschen Kultur verwurzelt und wurde durch ihre Ehe nach Polen gleichsam verbannt.

Doppelbödiger ist die vom Autobiografen geschilderte Beziehung des Sohnes zum Vater und zur Mutter. Nur mit Einschränkungen entspricht sie jener zeittypischen Familienkonstellation, die damals die Psychoanalyse beschrieben und in Erinnerung an den antiken Ödipus-Mythos auf den Begriff gebracht hat. Kafka und viele andere Autoren haben sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts literarisch ausgemalt. Der Fall Marcel Reich ist ein anderer. Zwar liebt der Sohn die Mutter, aber er rivalisiert nicht mit einem übermächtigen Vater.

Der schwache Vater

Wie Reich-Ranickis Autobiografie den Vater charakterisiert, ist gleichwohl beklemmend. »Er war solide und anspruchslos, gütig und liebenswert.« (ML 22) Geliebt hat der Sohn den Vater jedoch nicht. Er hat ihn verachtet. Noch die Autobiografie des fast 80-Jährigen ist davon gezeichnet. Den üblichen Konflikt zwischen Vater und Sohn habe er nie selbst gekannt. »Wie hätte auch ein solcher Konflikt entstehen können, da ich meinen Vater niemals gehaßt und leider auch niemals geachtet, sondern immer bloß bemitleidet habe.« (ML 56) Es gibt in der Autobiografie kaum eine andere Person, die mit solcher Vehemenz kritisiert wird. Nur die Musikalität des Vaters wird positiv erwähnt. Ansonsten hat der Sohn unter ihm gelitten. Und zwar nicht, weil er zu stark, sondern weil er zu schwach war. »Das Scheitern meines Vaters, kläglich und erbärmlich zugleich, warf einen düsteren Schatten nicht nur auf meine Jugend.« (ML 24)

Der Vater wird schuldig gesprochen für eine vom Kind nur undeutlich, doch intensiv wahrgenommene »Familienkatastrophe«. Diese »hatte zwei Gründe: die große Wirtschaftskrise und meines Vaters Mentalität.«

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte er in Wloclawek – wahrscheinlich mit dem Geld seines Vaters – eine Firma gegründet, eine kleine Fabrik, in der Baumaterialien produziert wurden. Er bezeichnete sich gerne als »Industrieller«. Doch in den späten zwanziger Jahren hat man in Polen immer weniger gebaut, der Bankrott der Firma ließ sich nicht mehr vermeiden. Das war damals nicht ungewöhnlich, was freilich meine Mutter nicht trösten konnte: Hätte ihr Mann, pflegte sie zu sagen, Särge hergestellt, dann würden die Menschen aufhören zu sterben. (ML 23)

Was damals, zumal in einer jüdischen Familie, die Fähigkeit des Vaters bedeutete, Frau und Kinder zu versorgen, wissen wir nicht zuletzt aus den Briefen, Tagebüchern und literarischen Werken Kafkas. Erst als Ernährer einer Familie galt ein Mann wirklich als Mann. Als Gregor Samsa, der vom Vater die Rolle des Familienernährers übernommen hat, eines Morgens seinem Beruf nicht mehr nachkommt, sieht er sich in ein Ungeziefer verwandelt.

Dass der Vater 1929 die Familie nicht mehr ernähren konnte, hat ihm der damals neunjährige Sohn nie verziehen. »Er war ein Geschäftsmann und Unternehmer, dessen Geschäfte und Unternehmungen in der Regel wenig oder nichts einbrachten. Natürlich hätte er dies früher oder später einsehen sollen, er hätte sich nach einer anderen Tätigkeit umschauen müssen. Aber hierzu fehlte ihm jegliche Initiative. Fleiß und Energie gehörten nicht zu seinen Tugenden. Charakterschwäche und Passivität bestimmten auf unglückselige Weise seinen Lebensweg.« (ML 22 f.) In Erinnerung an die Zeit im Warschauer Getto werden die Urteile noch vernichtender. Auch im Getto »blieb mein gutmütiger, mein gütiger Vater ein Versager«. (ML 56) Der Sohn schämte sich vor den Kollegen, dass er sich, damals zwanzig Jahre alt, für seinen sechzigjährigen Vater um eine kümmerliche Beschäftigung bemühen musste. Es ist die gleiche Scham, die Jahre zuvor die Mutter empfand, als ihr Mann bankrott war: »Sie hat damals sehr gelitten. Sie schämte sich, auf die Straße zu gehen, denn sie rechnete mit höhnischen oder verächtlichen Blicken der Nachbarn und Bekannten.« (ML 23) Vielleicht jedoch habe sie »mehr als die Verachtung der Mitbürger deren Mitleid« (ML 23) gefürchtet.

Die soziale Degradierung, die Mitleid auch bedeuten kann, vollzieht der Sohn an seinem Vater – als wolle er die der Mutter angetane Schmach rächen. Er habe ihn »immer bloß bemitleidet«. Die Angst vor Verachtung oder gar Mitleid, die Furcht vor sozialer Deklassierung und Abhängigkeit scheint eine der Triebkräfte zu sein, die das Leben des Sohnes prägten und seinen forcierten Selbstbehauptungswillen hervorbrachten. Auch die zuweilen frappierende Empfindlichkeit dieses gegenüber anderen wenig zimperlichen Kritikers angesichts mehr oder weniger gravierender Missachtungen seiner Person findet hier eine mögliche Erklärung. Reich-Ranickis Autobiografie deutet das selbst an: »Als Halbwüchsiger sah ich sehr genau die Abhängigkeit meiner Eltern von jenen Verwandten, die ihnen halfen. Die Furcht, ich selber könnte je in eine solche demütigende Abhängigkeit geraten, hat noch viele Jahre lang auf manche meiner Lebensentscheidungen einen starken Einfluß gehabt.« (ML 24)

Die Lebensentscheidungen des Sohnes scheinen von dem unbedingten Willen diktiert, nicht so zu werden wie der Vater. Der Mutter wäre, so legt es die Autobiografie nahe, ein stärkerer Mann zu wünschen gewesen. Eine schon zitierte Formulierung sei hier wiederholt. Sie ist in hohem Maße irritierend: Auch im Getto »blieb mein gutmütiger, mein gütiger Vater ein Versager«. »Gutmütig« und »gütig«: Das klingt, als zitiere der Autor hier eifersüchtig und abfällig die Prädikate, mit denen andere den Vater häufig auszeichneten. Vielleicht auch die Mutter?

Mutter, Liebe und Literatur

Die Liebe zur Mutter spricht aus allem, was der Sohn später in den Erinnerungen an sie geschrieben hat. Wenn er sie in einer negativen Eigenschaft dem Vater gleichsetzt – auch sie war »vollkommen unpraktisch« (ML 23) –, findet er dies bei ihr verzeihlich. »An der ganzen Katastrophe war sie, versteht sich, unschuldig: Daß sie auf die erschreckende Untüchtigkeit ihres Mannes keinerlei Einfluß hatte, konnte ihr niemand vorwerfen.« (ML 23)

Wer versucht ist, mit psychoanalytisch inspiriertem Blick die Erinnerungen an die Mutter nach Zeichen erotischen Begehrens abzusuchen, kann manche doppelbödige Entdeckung machen. Worte wie »Liebe« oder »Leidenschaft« benutzt Reich-Ranicki zwar vor allem, um seine Beziehung zur deutschen Literatur und Kultur zu kennzeichnen, unmissverständlich macht er aber klar, wer in der Familie diese Kultur repräsentiert: die Mutter. Die Liebe zur Mutter und die Liebe zur Literatur sind bei ihm eng assoziiert. Und dass die Liebe zur Literatur von Beginn an eine eminent erotische ist, dass die sinnliche Anziehungskraft von Literatur nicht zuletzt auch auf ihren sexuellen Inhalten beruht, ist eine Einsicht, die sich nicht erst, wie manche seiner Kritiker und Kritikerinnen ihm spöttisch oder bissig vorhielten, den Obsessionen eines alten Mannes verdankt. Über die Liebe lautet der Titel einer 1985 erschienenen Zusammenstellung von Gedichten und Interpretationen aus der Frankfurter Anthologie. Das Wort »Liebe« ist das vielleicht häufigste in den Titeln seiner Bücher, Aufsätze und Rezensionen. Für Reich-Ranicki ist Erotik, als Thema wie als Wirkung, eine der wichtigsten Qualitäten von Literatur. Ob Goethe, Heine oder Brecht, sie gehören für ihn vor allem deshalb zu seinen liebsten Dichtern, weil die Liebe zentraler Gegenstand ihrer Werke ist.

Reich-Ranickis Leidenschaft für Literatur als eine erotische Obsession begann in früher Jugend: in der Pubertät. Sexuell aufgeklärt wurde der Jugendliche nicht zuletzt durch Literatur, durch einschlägige »Stellen« in Hermann Hesses Narziß und Goldmund, Flauberts Madame Bovary oder in Romanen Jakob Wassermanns.

Wo die Autobiografie über die ersten erotischen und sexuellen Beziehungen zu Frauen erzählt, stehen auch diese im Zeichen von Literatur. Die Erinnerung an eine über zehn Jahre ältere Fotografin ist eine Erinnerung an viele gemeinsame Gespräche über Literatur, genauer: über die Liebe in der Literatur. Sie »kam von der Liebe zur Literatur, ich wollte von der Literatur zur Liebe kommen. Wir trafen uns auf halbem Wege«. (ML 141) Eine Schauspielerin verführte den 18-Jährigen unter dem Eindruck von melancholischen Versen aus Hofmannsthals Der Tor und der Tod und den Terzinen über Vergänglichkeit. In Warschau dann lud den 19-Jährigen eine ebenfalls ältere Frau, deren exzentrische Theatralik ihn zunächst beeindruckte und deren Englischkenntnisse verbesserungsbedürftig waren, regelmäßig zu sich ein, damit er mit ihr englische Prosa lese. Das Lesen wurde zum Bestandteil eines rituellen Vorspiels.

Erst als der junge Reich wenig später Teofila Langnas, seiner späteren Frau, nahekam, scheint er sich von seiner Mutter und von mutterähnlichen Frauen gelöst zu haben: Tosia, wie sie genannt wurde, war im selben Jahr wie er geboren, sie war keine Deutsche, und die erste, entscheidende Begegnung stand nicht im Zeichen der Literatur, sondern des Todes. Doch schon in der zweiten Phase gegenseitiger Annäherung waren Liebe und Literatur wieder eng assoziiert. »Wir erzählten uns gegenseitig unser Leben […], wir lasen Gedichte von Mickiewicz und Tuwim, von Goethe und Heine. Sie wollte mich für die polnische Poesie gewinnen, ich wollte sie zur deutschen Dichtung bekehren und verführen. So gewannen wir einander, und bisweilen unterbrachen wir die Lektüre.« (ML 218) Zum 21. Geburtstag, am 2. Juni 1941, schenkte sie ihm eine mit eigener Hand abgeschriebene und illustrierte Auswahl aus Erich Kästners Gedichtband Lyrische Hausapotheke. Zusammen mit der Literatur und der Musik, so beschreibt es der Autobiograf, wurde die Liebe zu einem »Narkotikum, mit dem wir unsere Furcht betäubten – die Furcht vor den Deutschen«. (ML 218) Und der Geschichte dieser Liebe gibt die Autobiografie ein literarisches Motto. Mit zwei Versen aus Hofmannsthals Rosenkavalier, die der junge Reich sich im Warschauer Getto vor der Polizeistunde auf dem Weg von der Geliebten nach Hause immer wieder vorsagte, ohne recht wahrzunehmen, was sich um ihn herum abspielte, beendet der beinahe 80-Jährige seine Lebensgeschichte: »Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein, / daß wir zwei beieinander sein.« (ML 553)

In der frühen Phase dieser Liebesgeschichte taucht allerdings noch eine weitere Mutterfigur auf: die polnische Schriftstellerin Gustawa Jarecka. Die Mutter von zwei Kindern war Reichs Mitarbeiterin im »Judenrat« des Warschauer Gettos. Er habe sie geliebt, bekennt der Autobiograf, »aber es war eine ganz andere Beziehung als die zu Tosia«. (ML 239) Was die beiden verband, war erneut die Literatur, nicht die deutsche, sondern die französische und russische. In den Abschnitten der Autobiografie über die Beziehung zu dieser Frau deutete Reich-Ranicki erstmals selbst die Zusammenhänge zwischen seiner Mutterbeziehung und den Liebesbeziehungen zu anderen Frauen an. Und er, der in seinen Schriften gelegentlich und immer respektvoll Sigmund Freud erwähnt, verwendet in diesem Zusammenhang nicht zufällig das Wort »unbewusst«: »Gustawa empfand ich als eine Kontrastfigur: Sie war nicht nur älter als ich und Tosia, sie war auch reifer und selbständiger. Unbewußt fand ich bei ihr jenen Beistand, den meine Mutter mir nicht mehr bieten konnte – und Tosia noch nicht.« (ML 240 f.)

Reich-Ranicki hat seine Entdeckung der deutschen Literatur in einer Anspielung auf Goethes Ballade »Der Fischer« beschrieben, die den Zusammenhang mit der Entdeckung der Sexualität unmissverständlich aufzeigt: »Ein extremes, ein unheimliches Gefühl hatte mich befallen und überwältigt. Ich war verliebt. Halb zog sie mich, halb sank ich hin – ich war verliebt in sie, die Literatur.« (ML 35)

Derart deutliche Worte finden sich in den Beschreibungen der Liebe zur Mutter nicht. Sie sind frei von erotischen Andeutungen. In der Erinnerung ist mit der Mutter allerdings eine zweite weibliche Person, gleichsam eine zweite Mutter, eng assoziiert: die Lehrerin mit dem Namen Laura. Was sich der Autobiograf in den Beschreibungen der Mutter versagt, verbietet er sich nicht in der Schilderung Lauras. Neben den deutschen Büchern, die sie von der Mutter ausleiht, erwähnt er ihren »stattlichen Busen«, und das wenig später gleich ein zweites Mal: Der Ruin des Vaters zwingt die Familie, Polen zu verlassen und in Berlin die Unterstützung eines wohlhabenden Bruders der Mutter zu suchen. Der Sohn wird vorausgeschickt. Vor der Abreise verabschiedet er sich von der Lehrerin. Das Wort, das sie ihm auf den Weg gab, habe er nie vergessen: »Denn das Fräulein Laura mit dem wogenden Busen richtete den Blick in die Ferne und verkündete ernst und feierlich: ›Du fährst, mein Sohn [!], in das Land der Kultur.‹ Zwar habe ich nicht verstanden, worum es ging, doch fiel mir auf, daß meine Mutter zustimmend nickte.« (ML 25)