Kreft, Nora Was ist Liebe, Sokrates?

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Für Emanuel


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Vorwort

Die Liebe stellt regelmäßig unser Leben auf den Kopf. Man kann nicht nebenbei lieben und ansonsten weitermachen wie bisher: Liebe verändert uns von Grund auf, verwandelt Sehnsüchte und Wünsche, und auch unsere Wahrnehmung. Wir sehen und hören anders, wenn wir lieben, weil unsere Aufmerksamkeit einen neuen Fokus hat. Kein Wunder, dass gerade der Beginn der Liebe sehr verwirrend und anstrengend sein kann. Alle Gedanken kreisen auf einmal um den Liebsten oder die Liebste, und man hofft nichts sehnlicher, als dass man zurückgeliebt wird. Das macht ziemlich verletzlich, nicht nur anfangs, sondern überhaupt: Liebende gewöhnen sich nicht wirklich an die Liebe und werden mit der Zeit nicht weniger verletzlich. Wenn man zum Beispiel eine Person verliert, die man liebte, ist es nicht leicht, weiterhin jeden Tag aufzustehen und weiterzuleben. Es ist, als ob uns erst die Liebe erklärt, was Sterben eigentlich bedeutet und was Alleinsein ist.

Liebe überkommt uns manchmal plötzlich und manchmal bahnt sie sich langsam an, aber in jedem Fall entzieht sie sich unserer direkten Kontrolle. Sie mischt sich zwar in unsere Entscheidungen ein, zumindest in die wichtigen, aber zur Liebe selbst kann man sich nicht einfach entscheiden. Man kann sich zu ihr bekennen oder nicht, man kann versuchen, die Schar von Gefühlen und Wünschen zu ignorieren, die sie mit sich bringt, aber ob man überhaupt liebt, liegt nicht einfach in unserer Hand, und das gilt für romantische Liebe ebenso wie für Elternliebe, Geschwisterliebe, tiefe Freundschaft und so weiter.

Wenn sie uns so verändert und verletzlich macht und wir sie noch nicht einmal selbst in der Hand haben, warum sehnen wir uns trotzdem nach Liebe? Was ist das Besondere an ihr? Warum würden die meisten sogar lieber unglücklich als überhaupt nie lieben? Warum versuchen wir sie in unzähligen Liedern in Worte zu fassen? Warum ist es überhaupt so schwer, die richtigen Worte für Liebe zu finden? Warum vertun wir uns so oft dabei und setzen immer wieder an?

Weil Liebe so ein erstaunliches Phänomen ist und weil es sie schon seit Anfang der Menschheit zu geben scheint – auf jeden Fall seit Beginn der von Menschen dokumentierten Geschichte –, hat sich auch die Philosophie schon immer Gedanken über Liebe gemacht. Große Philosophen und Philosophinnen aus allen Jahrhunderten haben sich gefragt, was romantische Liebe, Elternliebe, Geschwisterliebe und tiefe Freundschaft gemeinsam haben, was sie eigentlich alle zu Liebe macht, und kluge Ideen zu Papier gebracht. Wäre es nicht spannend, wenn sie durch die Zeit reisen und unsere Fragen zur Liebe mit uns diskutieren könnten? Die grundlegenden Fragen, die sich allen Menschen schon immer gestellt haben, aber auch die Themen, die uns im Augenblick ganz besonders angehen und die Ausdruck unserer Zeit und Kultur sind – Dating Apps, Liebe und künstliche Intelligenz, und so weiter?

 

In den folgenden zehn Kapiteln spinne ich dieses Gedankenspiel weiter. Acht Philosophinnen und Philosophen treffen aufeinander, und zwar in Immanuel Kants Haus in Königsberg, also im heutigen Kaliningrad. Es sind historische Figuren aus ganz verschiedenen Zeiten, die Wesentliches zur Philosophie der Liebe beigetragen haben: Sokrates aus der klassischen Antike, Augustinus aus deren Endphase und dem beginnenden Mittelalter, Immanuel Kant aus dem 18. und Søren Kierkegaard aus dem 19. Jahrhundert, Sigmund Freud und Max Scheler aus der ersten und Simone de Beauvoir und Iris Murdoch aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie kommen zusammen, weil Immanuel Kant eine mysteriöse Einladung verschickt hat. Früher lud er häufig zu sich ein, aber irgendwann wurde es still um ihn. Jetzt taucht er plötzlich aus der Versenkung auf und will über Liebe reden. Dem historischen Immanuel war die Liebe moralisch suspekt. Der Immanuel in diesem Buch will das Thema noch einmal aufrollen und seine sieben Gäste sollen ihn dabei unterstützen.

Dabei geraten sie natürlich in alle möglichen Diskussionen: Darüber, was Liebe eigentlich ist, ob Liebe Gründe hat, wie man erklären kann, dass Liebende ihre Geliebten für unersetzbar halten und nicht einfach gegen ähnliche oder irgendwie »bessere« Kandidaten austauschen würden. Was Liebe mit Hormonen zu tun hat, ob man Roboter lieben kann, was Sex mit Robotern womöglich mit uns macht. Ob sich Liebe und Autonomie gegenseitig ausschließen oder gar beflügeln, warum Liebe glücklich (und manchmal auch schrecklich unglücklich) macht, ob es ein Recht auf Liebe gibt. Ob man Liebe üben kann, was es mit Liebespillen auf sich hat, wie Dating Apps zu beurteilen sind, und vieles mehr. Die Diskutanten bewegen sich also hin und her zwischen den zeitlosen Fragen und den akuten Themen von heute.

Nicht alles, was die acht Personen hier sagen, kann ihren historischen »Geschwistern« zugeschrieben werden. Einfach weil diese Geschwister noch nicht wirklich über Sexroboter und Dating Apps nachgedacht haben. Aber auch weil die Personen im Buch manchmal ihre Meinung ändern, wie es in Diskussionen so üblich ist. Sie starten von den jeweiligen Positionen aus, die sie mitbringen, aber sie lassen sich auch von den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beeinflussen, wenn diese überzeugende Gegenargumente haben. Und manchmal beschreiten sie ganz neue Pfade.

Ich hoffe, dass ihre Einfälle Lust aufs Mitdenken machen. Die heutige Philosophie der Liebe braucht nämlich dringend Mitdenkende. Einerseits weil sie noch relativ jung ist: Die Philosophie der Liebe ist erst kürzlich wieder verstärkt ins Blickfeld geraten und es gibt viel innovative neue Forschung – unsere acht Diskutanten werden davon einiges erörtern. Und andererseits weil Liebe in unseren politisch turbulenten Zeiten ein wichtiges Thema ist. Obwohl Liebe mit der ihr eigenen, intensiven Fixierung auf eine bestimmte Person beginnt, öffnet sie doch auch den Blick für die fundamentale Unersetzbarkeit aller Menschen und weckt einen Sinn für Gerechtigkeit. Außerdem setzt die Liebe alle möglichen Kräfte frei: Liebende sind erfinderisch, geben nicht schnell auf. Das müssen wir uns zunutze machen, um die großen Aufgaben unserer Zeit anzugehen.

Denken und Liebe werden einander manchmal entgegengesetzt. Die Liebe sei reines Gefühl und als solches weit von Nachdenken entfernt, heißt es. Aber Gefühle sind meines Erachtens selbst verdichtete Gedanken über die Welt. Und was noch wichtiger ist: Liebe inspiriert uns zum Denken. In Platons Dialog Phaidros erklärt Sokrates, dass eine andere Person zu lieben (unter anderem) bedeutet, mit ihr philosophieren zu wollen. Und dass die Philosophie dieses Motiv braucht, weil die Liebe zu einer anderen Person unsere Liebe zur Weisheit erst entfacht. Wenn er recht hat, ist Liebe nicht einfach ein wichtiges Thema der Philosophie neben anderen, sondern Liebe und Philosophie sind aufeinander angewiesen: Liebe drückt sich im Philosophieren aus, und das Philosophieren kann ohne Liebe gar nicht beginnen. Also ohne die Liebe zu einer anderen Person nicht.

Das sind natürlich starke Thesen und wir müssen sie näher untersuchen, bevor wir sie richtig verstehen können. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie etwas Wahres ausdrücken. Liebe ist zentral mit dem menschlichen Verlangen verknüpft, sich selbst und die Welt zu verstehen. Liebende wollen gemeinsam darüber nachdenken, wie sie leben wollen, und was sie glauben sollen und hoffen dürfen – auch wenn das nicht immer bewusst oder explizit geschieht. Möglicherweise ist das gemeinsame Philosophieren der acht Denkerinnen und Denker in diesem Buch also selbst ein Ausdruck von Freundschaft, ein Praktizieren der Liebe.

 

Nora Kreft im August 2019

Die philosophische Tischgesellschaft

Sokrates

Portrait_Sokrates

 

Sokrates kommt aus Athen. Er wurde 469 v. Chr. geboren und verbrachte den Großteil seines Lebens auf den Marktplätzen der Stadt, um die Passanten in philosophische Diskussionen zu verwickeln. Insbesondere trieb ihn um, wie man leben sollte. Er meinte, dass ein unhinterfragtes Leben nicht lebenswert sei. Und es war ihm wichtig zu betonen, dass er eigentlich gar nichts wisse. Weil er sich seines Unwissens bewusst war, soll das Orakel von Delphi gesagt haben, niemand sei weiser als Sokrates. Im Jahr 399 wurde er zum Tode verurteilt, weil er angeblich die Götter verhöhnt und die Jugend verführt hatte. Er war mit Xanthippe verheiratet, die beiden hatten mehrere Kinder.

Sokrates’ berühmtester Schüler war Platon, der nach den Ereignissen von 399 begann, philosophische Dialoge zu schreiben, in denen Sokrates als Hauptfigur auftritt. Drei dieser Dialoge handeln speziell von Liebe: Der Lysis, ein früher Dialog, in dem Sokrates mit zwei Kindern über ihre Freundschaft und das Verhältnis zu ihren Eltern spricht; das Symposion, das bei dem Dichter Agathon spielt und in dem eine Reihe bekannter Intellektueller Reden über Eros, den Gott der Liebe, halten; und der Phaidros, in dem Sokrates mit dem schönen Phaidros bespricht, ob Liebe für die Liebenden gut ist oder nicht. Eine wiederkehrende Idee ist, dass die Liebe zu anderen Menschen in dem Begehren nach Weisheit gründet.

Augustinus

Portrait_AugustinusvonHippo

 

Augustinus wurde 354 n. Chr. in Tagaste im heutigen Algerien geboren. Seine Bekenntnisse – ein langes Gebet und gleichzeitig Autobiografie – sind in zwei Teile geteilt. Im ersten Teil schildert er sein umtriebiges, intellektuelles Leben und seine inneren philosophischen Nöte bis zu seiner Bekehrung zum Christentum im Jahr 386. Im zweiten Teil geht es um philosophische Fragen wie: Was ist Zeit?, Wie kann ich mich selbst und wie kann ich Gott erkennen, und wie hängt das zusammen? 396 wurde er Bischof von Hippo und blieb es bis zu seinem Lebensende im Jahr 430. Die Liebe ist ein wiederkehrendes und zentrales Thema in vielen seiner Werke: Er untersucht, in welchem Sinne Gott Liebe ist, was es bedeutet, Gott und den Nächsten zu lieben, und wie sich diese Liebe zu Freundschaft und erotischen Beziehungen verhält. Ein berühmter Ausspruch von Augustinus ist: »Liebe – und tu, was du willst!« Vor seiner Bekehrung lebte er viele Jahre mit einer Frau zusammen, die er wohl sehr geliebt hat. Die beiden hatten einen Sohn.

Immanuel Kant

Portrait_ImmanuelKant

 

Immanuel Kant wurde 1724 in Königsberg geboren, ist 1804 in Königsberg gestorben und hat die Stadt zwischenzeitlich so gut wie nie verlassen. Seine drei Kritiken – die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft – gehören zu den wichtigsten Werken der Philosophiegeschichte, eine Art »kopernikanischer Wende« der Philosophie. Über Liebe hat er erstaunlich wenig geschrieben, möglicherweise weil sie ihm moralisch dubios erschien. Die exklusive Liebe in erotischen Beziehungen nennt er in einigen Schriften rein »pathologisch« und zählt sie zu den Neigungen, die nicht als Beweggründe für moralisches Handeln infrage kommen. In späteren Schriften scheint er den moralischen Status der Liebe aber auf einmal anders und positiver zu sehen, und es ist eine interessante Frage, ob er seine Meinung geändert hat. Er war nie verheiratet und hatte keine Kinder, aber er hat gern und oft zu sich eingeladen und mit Freunden Wein getrunken.

Søren Kierkegaard

Portrait_SorenKierkegaard

 

Søren Kierkegaard wurde 1813 in Kopenhagen geboren. Viele seiner philosophischen Werke sind literarisch eingebettet: Fiktive Figuren halten innere Monologe, erklären und winden sich, schreiben Briefe. Aber die Schrift, die sich ausschließlich mit Liebe befasst – Die Taten der Liebe –, ist unter seinem eigenen Namen und ohne literarische Distanzierung geschrieben. Es geht um das Verhältnis von christlicher Liebe und Ewigkeit, und um die transformative Kraft der Liebe. Sie ist aber auch eine Kritik der bürgerlichen Ehe und überhaupt von exklusiven erotischen Beziehungen, die in ihrer Schwärmerei oft selbstbezogen sind und in denen die Liebe deshalb nicht wirklich zur Entfaltung kommt. Vielleicht waren es unter anderem Gedanken wie diese, die Kierkegaard bewogen haben, seine Verlobung mit Regine Olsen zu beider Leid wieder aufzulösen. Nach Regine hat er nie wieder eine Beziehung geführt. 1855 starb er viel zu früh an einem Schlaganfall.

Sigmund Freud

Portrait_SigmundFreud

 

Sigmund Freud wurde 1856 in Freiberg im heutigen Tschechien geboren und lebte später in Wien. Er war Neurologe und Begründer der Psychoanalyse, einer Heilungsmethode für psychische Leiden, bei der unbewusste Wünsche und Gedanken zutage treten und damit ihren Bann verlieren sollen. Zentrale psychologische Begriffe wie »das Unbewusste«, »Projektion«, »Verdrängung« und »Sublimierung« gehen auf ihn zurück. In seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie argumentiert er, dass der Libido-Trieb die zentrale Erklärung für menschliches Verhalten ist. In seinem späteren Werk Jenseits des Lustprinzips ist die Libido nicht mehr reines Luststreben, sondern ein Trieb nach Leben, Entwicklung, Verstehen – er nennt sie jetzt Eros. Neben Eros gibt es aber noch einen ähnlich starken Trieb, der Stillstand will, nämlich den Todestrieb. 1938 flohen Freud und seine Familie vor den Nazis aus Wien nach London, wo er nur ein Jahr später starb. Seine Frau Martha Bernays und er hatten sechs Kinder. Insbesondere mit seiner Tochter, der Psychoanalytikerin Anna Freud, verband ihn eine innige Freundschaft.

Max Scheler

Portrait_MaxScheler

 

Max Scheler wurde 1874 in München geboren und war später Professor für Philosophie und Soziologie in Köln. In seinen Werken Die Materiale Wertethik und Wesen und Formen der Sympathie vertritt er die Position, dass es objektive Werte gibt, die wir mithilfe von Gefühlen erkennen können. Die Liebe ist aber nicht einfach nur Erkenntnis eines Wertes im Geliebten. Vielmehr charakterisiert er sie als eine Bewegung hin zu einem höheren Wert im Geliebten, der ihm bereits vorgezeichnet, aber noch nicht aktual geworden ist. Liebe hilft dabei, diesen Wert zu aktualisieren. Allgemein betrachtet er Liebe und Hass als die fundamentalen Beweggründe menschliches Handelns. Er selbst hat einige Male geheiratet und wurde dafür von der katholischen Kirche kritisiert, von der er sich in Folge wieder distanzierte. Zuvor war er vom Judentum zum Katholizismus konvertiert. Er hatte auch einen Sohn. 1928 starb er sehr jung in Frankfurt.

Simone de Beauvoir

Portrait_SimonedeBeauvoir

 

Simone de Beauvoir wurde 1908 in Paris geboren. Nach Bestleistungen in ihrem Studium an der Sorbonne und der École Normale war sie Lehrerin, freie Schriftstellerin und existenzialistische Philosophin. In ihrem Werk Das andere Geschlecht schreibt sie unter anderem über die Gefahr, die Liebe für Frauen in patriarchalen Verhältnissen darstellt. Weil Frauen im Patriarchat ihre Begabungen nicht ausleben können, sehen sie in der Liebe oft einen Ausweg für ihre Frustrationen: Sie hängen sich an einen Mann, der an ihrer Stelle frei lebt und denkt, während sie ihre eigene Geschichte von ihm schreiben lassen. Deshalb ist es für Frauen womöglich besser, keine konventionellen Beziehungen zu führen, sondern entgegen allen Hindernissen ihre eigene Selbstständigkeit zu behaupten. De Beauvoir hat deshalb auch nie geheiratet, sondern führte eine offene Beziehung mit ihrem Lebensgefährten Jean-Paul Sartre. Als sie 1986 starb, wurde sie neben ihm begraben.

Iris Murdoch

Portrait_IrisMurdoch

 

Iris Murdoch wurde 1919 in Dublin geboren. Sie lehrte Philosophie in Oxford zusammen mit anderen Philosophinnen wie Elizabeth Anscombe und Philippa Foot. Anders als ihre Kolleginnen schrieb sie nicht nur theoretische Abhandlungen, sondern wurde vor allem durch ihre Romane bekannt. Die Liebe ist ein wichtiges philosophisches und literarisches Thema für sie: Durch die Liebe lichten sich die Schleier vor unseren Augen, die unser »fettes und unerbittliches Ego« sonst um sie wickelt und die uns davon abhalten, andere richtig zu sehen. Liebe bedeutet, den Geliebten richtig zu sehen, ihm gerecht zu werden. Dieses von ihr so genannte »Unselfing« kann man üben, zum Beispiel bei dem Versenken in ein Kunstwerk. Iris Murdoch war mit John Bayley verheiratet, der nach ihrem Tod 1999 eine inzwischen verfilmte Elegie über ihre letzten Jahre geschrieben hat. Sie führte eine offene Beziehung mit ihm und liebte viel und leidenschaftlich, Frauen so wie Männer.

1 Eine Diskussion über die Liebe: Willkommen in Königsberg!

Immanuel Kant begrüßt die Gäste in seinem Haus.

Abendmahl

 

»Warum willst du über Liebe reden? Nach so langer Zeit, mein lieber Freund …«, dachte Iris bei sich. Ihr Blick streifte flüchtig über die Rücken der Bücher, die in dem Regal an ihrem Bett standen und sie faltete sinnend das Handtuch, das Immanuel neben das Waschbecken gelegt hatte. Wenn man aus dem Giebelfenster blickte, konnte man in die anliegenden Gärten sehen, in denen die kahlen Äste der Bäume im Wind klapperten und wildes Gestrüpp einen Unterschlupf für Mäuse und Igel bot. Kleine Vögel plusterten ihre Federn auf und hopsten frierend hin und her.

Von unten tönte auf einmal ein lautes »Hallo!« herauf. Iris lief ins Treppenhaus. Übers Geländer gebeugt sah sie Immanuel, der einer Gruppe von Eintretenden die Mäntel abnahm. »Ich freue mich, dass ihr den Weg zu mir gefunden habt!«, rief er und ein Herr mit feinem Anzug und Nickelbrille bemerkte amüsiert: »Wenn wir nicht zu dir kommen, wird es ja nichts mit einem Treffen.« Immanuel lächelte ein wenig verlegen, schien etwas erwidern zu wollen, wies dann aber den Weg nach oben in den ersten Stock. Der Mann im Anzug stützte einen weiteren Gast, der hinkte und Mühe mit den Stufen hatte.

Hinter ihnen stolperte noch jemand herein, ein großer Mann, dem trotz der Kälte Schweißperlen auf der Stirn standen. Er fuchtelte mit dem Einladungsschreiben und stöhnte: »Deine Wegbeschreibung ist schrecklich umständlich, Immanuel, ich habe mich verlaufen. Königsberg ist nichts für mich!« Die Tür flog weit auf und erwischte beinahe eine Frau, die im letzten Moment behände zur Seite sprang. »Vorsicht, Max!«, sagte sie missbilligend und brachte den Schal in Ordnung, den sie sich um den Kopf gebunden hatte.

»Simone!«, rief Iris von oben. Die blinzelte hinauf und winkte. »Wo ist Sokrates?«, erkundigte sich der Hinkende während einer Verschnaufpause auf der Hälfte der Treppe. Als Immanuel andeutete, dass Sokrates schon im Esszimmer wartete, schnappte sich Iris die Strickjacke aus ihrem Zimmer und rannte hinunter, um noch vor den anderen bei ihm anzukommen.

Sokrates stand in eine Decke gewickelt mit dem Rücken zur Tür und balancierte auf einem Bein. Iris schlich sich von hinten an, tippte ihm auf die Schulter und brach einen Moment zu früh in Lachen aus. »Iris, da bist du ja!« Sokrates schnellte herum. Sie umarmten einander, und nach und nach traten auch die anderen ein.

Max ließ sich sofort und schwer auf einen Stuhl fallen und streckte die Füße aus. Simone gesellte sich zu Sokrates und Iris und suchte nach den Streichhölzern in ihrer Tasche. Nachdem Iris das Fenster aufgerissen hatte, zündeten sich die beiden eine Zigarette an: ein paar Züge für Simone, ein paar Züge für Iris. »Habe ich dir mitgebracht.« Simone überreichte Iris ein kleines Heft. »Die Politik der Liebe«, las diese. »Wirf doch mal einen Blick da rein«, meinte Simone und blies den Rauch aus, »Ist ein erster Entwurf«, und Iris begann interessiert zu blättern.

Immanuel verteilte Papier und Kaffeetassen an den Plätzen und bat dann alle zu Tisch. Die Gäste gesellten sich in die Runde, schüttelten einander die Hände, zogen Stifte aus den Taschen, bis sich Immanuel feierlich am Tischende aufstellte. Er holte schon Luft für seine Willkommensworte, als eine schmale, hochgewachsene Gestalt durch die Tür huschte. Seine Augen suchten nervös nach einem freien Platz. »Willkommen, Søren«, Immanuel deutete eine Verbeugung an, aber Søren schaute kaum auf, murmelte ein schnelles »Danke, guten Tag« und setzte sich an die freie Ecke zwischen Simone und Max. Dabei fiel ihm ein Notizbuch aus der Hand, das er hastig aufhob und unter dem Stapel Papier vor sich versteckte.

»Willkommen in Königsberg und zu unserer kleinen Tagung über die Liebe!«, begann Immanuel endlich.

»Es ist mir eine große Freude, eine Ehre, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid. Dieses Haus hat lange keine Gäste mehr gesehen und das Geschirr verstaubt schon in den Schränken. Es tut gut, eure Stimmen um mich zu haben. Bitte bleibt, so lange es euch beliebt! Auch weil wir für unser heutiges Thema Zeit brauchen werden. Ihr seid ja Kenner der Materie, aber für mich sind viele dieser Probleme neu, und ich hoffe, dass ihr gnädig mit mir sein werdet, wenn ich nicht alles sofort verstehe. Die Liebe ist eine starke Macht. Wenn sie einmal da ist, kann man sich ihr schwer entziehen, und sie schickt sich an, sämtliche Entscheidungen für uns zu treffen, mal kluge, mal unkluge. Sie verspricht uns den Himmel auf Erden, mutet uns aber nicht selten die schlimmsten Schmerzen zu und lehrt uns das Unglück wie kaum etwas anderes. Manche meinen, dass sie zentral für unser Selbstverständnis ist, ja, dass uns die Fähigkeit zu lieben als Menschen ausmacht. Andere sehen eher die Gefahren der Liebe, wie sie ablenkt, Zeit und Freiheit raubt und uns moralisch korrumpiert. Was ist dieses schillernde Gefühl? Oder ist die Liebe gar kein Gefühl? Da fängt es schon an. Erklärt es mir.«

»Willst du uns nicht erst mal erklären, wo du so lange warst? Du hast dich ewig nicht bei uns gemeldet! Und jetzt diese Einladung?«, rief Max.

»Ganz verblüffend!«, kicherte der Mann mit dem Anzug.

Immanuel bewegte fast unmerklich einen Fuß vor und zurück: »Es tut mir leid. Ich … hatte zu tun.« Er fokussierte die Tischplatte, wie um sich festzuhalten. »Aber bitte, bedient euch doch, es gibt Kaffee.« Während er eilig zu organisatorischen Dingen überging, schob der hinkende Mann seiner Tischnachbarin einen Zettel zu:

»Hast du Informationen?«, stand da.

Iris kritzelte: »Hallo Augustinus.«

»Hi Iris! Also?«

»?«

»Was soll das Ganze?«

»Frag Sokrates.«

»Warum Sokrates?«

»Soll mehr wissen, Immanuel schreibt ihm manchmal.«

Augustinus ließ nicht locker: »Hat er Zweifel bekommen? Liebe = pathologisch etc.?«

»Weiß nicht! Frag Sokrates, werden wir schon noch hören.«

Dann schob sie den Zettel bestimmt zurück und drehte sich leicht weg, um ihm zu bedeuten, dass die Unterredung beendet sei. Immanuel war inzwischen beim Mittagessen angekommen: »… werde ich gegen 13 Uhr servieren. Abendessen recht früh um 18 Uhr, wenn das in Ordnung ist. Zwischendurch legen wir kleinere Pausen ein. Sokrates hat mir versprochen, unser Treffen mit seinen Gedanken einzuleiten. Aber bevor ich nun das Wort an ihn übergebe, möchte ich euch kurz miteinander bekannt machen. Denn nicht alle hier am Tisch kennen einander persönlich. Na ja, mich kennt ihr ja: Ich bin Immanuel.« Einige am Tisch lächelten und erinnerten sich schemenhaft an die Feste, die sie vor langer Zeit in diesem Haus gefeiert hatten. Dann war Immanuel plötzlich abgetaucht und sie hatten vergeblich auf seine Einladungen gewartet und die früheren Feiern in ihren Erzählungen verklärt. So lange, bis das Warten beinahe in Vergessen übergegangen war. Und dann hatten sie sein Schreiben aus der Post gefischt.

Während sich ihre Erinnerungen mit dem Hier und Jetzt vermischten, sprach Immanuel weiter: »Also, gleich hier neben mir: Simone de Beauvoir, Philosophin und Schriftstellerin aus Paris. Bekannt unter anderem für ihre Analyse der Liebe im Patriarchat und den Begriff der authentischen Liebe. Es folgt Søren Kierkegaard aus Kopenhagen, Philosoph und ebenfalls Schriftsteller, nicht wahr, kann man das so sagen?«

Søren sah erschrocken auf und Immanuel machte schnell weiter: »Søren, bekannt für seine Kritik der erotischen Liebe und Gedanken über die Beziehung von Liebe und Ewigkeit. Neben ihm Max Scheler, Philosoph und Soziologe aus München. Max hat behauptet, die Liebe sei kein einfaches Werturteil, sondern eine Bewegung hin zu einem Wert. Dazu kommen wir sicher noch. Wir sind bei Augustinus angelangt, Philosoph und Heiliger. Liebe und tu, was du willst – dieser Satz kommt von ihm und ich hoffe, am Ende verstehen wir ihn besser. Weiter zu Iris Murdoch, Philosophin und Schriftstellerin aus Oxford. Iris glaubt, dass die Liebe eine bestimmte Form des Sehens ist. Nun kommen wir zu Sigmund Freud, Arzt, Psychoanalytiker und Philosoph aus Wien. Von ihm lernen wir, wie Liebe und Lust zusammenhängen.

Und schließlich Sokrates aus Athen, der als Erster sprechen wird. Mein Lieber, du hast das Wort. Ich weiß, du hältst nicht gern Reden. Umso dankbarer sind wir, dass du uns heute deine Ideen erläuterst. Danach steigen wir in die Diskussion ein! Sokrates, was ist Liebe und warum interessierst du dich überhaupt so für dieses Thema?« Immanuel räumte das Rednerpult und setzte sich ans Tischende, rechts neben Simone.

2 Was Liebe mit Weisheit zu tun hat

Sokrates erklärt den Zusammenhang von Eros, Schönheit und dem Streben nach Weisheit.

Sokrates

 

Sokrates wiegte sich leicht hin und her, die Hüften, den Kopf. Seine Decke fiel ihm von den Schultern. »Die Liebe ist eine erleuchtete Bettlerin«, begann er. »Sie ist findig, umtriebig …« Er schwieg nachdenklich. Dann schüttelte er den Kopf und erklärte: »Eigentlich ist es ja unerhört, dass ich als Liebesexperte vor euch stehe, nicht wahr? Ich bin doch Sokrates und Sokrates weiß doch eigentlich gar nichts