Katya Apekina

Je tiefer das Wasser

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit

Suhrkamp

Für David

»… das Leben ist ein Kunststück, ist ein Kätzchen im Sack.«
Anne Sexton, Briefe aus dem Ausland

Teil I

New York

Kapitel 1

Edith [1997]

Es ist unser zweiter Tag in New York. Wir sind bei Dennis Lomack. Mom liegt im St. Vincent's, um sich zu erholen. Vor Kurzem hat sie etwas ziemlich Dummes gemacht, und ich war es, die sie hinterher fand. Dennis hat uns die Stadt gezeigt und sich bemüht, uns von allem abzulenken und die letzten zehn Jahre wiedergutzumachen.

Heute Abend hat er Mae und mich auf ein Date mit einer Rothaarigen zu einer Tanzperformance mitgenommen. In New Orleans waren wir mit Mom ein paar Mal im Nussknacker, aber das hier ist ganz anders. Wir sind im Keller einer Kirche. Es ist voll und feucht. Eine Frau in einem leichten Sommerkleid tanzt allein auf der Bühne. Sie sieht aus wie eine verwilderte Katze, dünn, man sieht ihre Rippen. Ihr dickes hüftlanges Haar schwingt bei jeder Bewegung. Auf der Bühne stehen Klappstühle, und sie tanzt mit geschlossenen Augen. Sie wirkt völlig abwesend und knallt mit Armen und Beinen gegen die Stühle, ohne es überhaupt zu merken. Die Stühle klappen zusammen und fallen um, aber sie tanzt einfach weiter. Plötzlich wird sie langsamer und legt den Kopf schräg, als horche sie, dann fangen ihre Hände an, leicht zu zucken. Sogar auf meinem Platz erreicht mich der Geruch, der bei jeder Drehung von ihrem schmutzigen Haar ausgeht.

Plötzlich verschwimmt sie vor meinen Augen, und ich merke, dass ich weine. Keine Ahnung, warum.

Stimmt nicht. Ich weiß es. Die Frau erinnert mich total an Mom. Es liegt an ihrer Art zu tanzen, so verzweifelt, aber auch ganz in sich gekehrt. Sie tanzt nicht für uns, sondern ist tief in sich versunken. Wenn der Raum leer wäre, würde sie genauso tanzen.

Mae sieht verängstigt aus. Ich drücke ihre Hand, aber sie merkt es nicht. Was in Dennis vorgeht, weiß ich nicht, dazu kenne ich ihn zu wenig. Wahrscheinlich nichts. In dem dunklen Theater wirkt sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Sein Date ist an seiner Schulter eingeschlafen.

Nach der Vorstellung schafft Dennis sich die Rothaarige vom Hals und verfrachtet sie in ein Taxi. Und wie er das macht, ist auch fast ein Tanz. Seine Bewegungen sind zielgerichtet. Offenbar hat er viel Übung darin, Leute loszuwerden. Als das Taxi wegfährt, schaut uns die Frau durch die Scheibe an wie ein Golden Retriever. Mae winkt. Ich weiß schon nicht mehr, wie sie heißt. Rachel? Rebecca? Egal. Wahrscheinlich sehen wir sie sowieso nie wieder.

Schweigend kehren wir zu Dennis' Wohnung zurück. Er geht zwischen uns, hält uns an den Armen. Es ist ein langer Weg, dreißig oder vierzig Blocks. Die Luft ist kalt, und die Fenster der meisten Geschäfte sind mit Metallgittern verschlossen. Auf allen Bänken, an denen wir vorbeikommen, liegen Männer. Manche haben Schlafsäcke, andere sind nur mit Zeitungen bedeckt. Diejenigen, die keine Bank abgekriegt haben, liegen in Hauseingängen oder auf dem Boden. Dennis führt uns stumm um die Männer herum. Ich habe noch nie so viele Obdachlose gesehen. An einer Kreuzung begegnen wir einer Gruppe von Frauen, die lachend Eis schlecken und über die Leute auf dem Gehweg steigen, ohne sie auch nur anzusehen.

»Tut mir leid«, sagt Dennis und lässt die Worte in der Luft hängen. Mae und ich wechseln einen Blick. Ich wünschte, er würde etwas näher ausführen, was genau ihm leidtut.

In der Wohnung setzen Mae und ich uns zum Teetrinken an den Küchentisch. Als ich an die schwankende Frau auf der Bühne denke, fange ich wieder an zu weinen. Mae streicht mir übers Haar, massiert mir mit ihren kalten Fingern die Schläfen. Dennis steht hinter ihr. Er hilft ihr aus dem Mantel und will dann mir helfen, aber ich wehre ihn ab. »Was haben wir bloß gemacht?«, sage ich. »Wie konnten wir sie allein lassen?«

»Bitte beruhige dich«, sagt Dennis und reicht mir eine Serviette. Ich schnäuze mich. Seine Miene ist starr und unergründlich, aber seine Hand zittert, als er Wasser in unsere Becher gießt, und er muss kurz innehalten, damit nichts danebengeht. Ich wende den Blick ab und betrachte das Kästchen mit den Teebeuteln, das Mae gerade inspiziert. Ich will seine zitternde Hand nicht sehen. Er hat kein Recht, die Kontrolle zu verlieren. Ich atme tief durch und konzentriere mich auf das Kästchen. Es ist aus Holz, mit eingeschnitzten Elefanten und voll mit Teebeuteln – Ingwer Zitrone, Rooibos, Acai, lauter Sorten, die ich nicht kenne. Mom trinkt nur Kaffee. Ich entscheide mich für einen Beutel, der am wenigsten nach Gras riecht. Wahrscheinlich wurde das Kästchen von einer Frau zurückgelassen, genau wie die kleine Socke, die wir zusammengeknäuelt in der Ecke unseres Zimmers fanden.

Dennis quetscht seinen Stuhl zwischen Tisch und Kühlschrank, setzt sich, vergräbt die Finger in seinem Bart und starrt uns an. Ich sehe weg, merke aber, dass Mae sein Starren erwidert. Er schüttelt mich an der Schulter, bis ich ihn schließlich ansehe. Es ist komisch, weil seine Augen die gleichen sind, die mir entgegensehen, wenn ich in den Spiegel blicke. Einen Moment lang bin ich wie hypnotisiert, als wäre ich nicht in meinem Körper.

»Hört zu«, sagt er mit gebrochener Stimme. »Mir ist klar, dass ihr mich am Anfang vielleicht als Fremden empfindet. Aber ich bin kein Fremder. Ich bin euer Vater.« Und dann fällt sein starres Gesicht in sich zusammen, und er zieht uns an seine Brust und hält uns fest, bis der Tee kalt ist.

Mae

Meine Mutter hatte komische Vorlieben: Sie suchte sich jemanden aus und folgte ihm stundenlang. Durchs Einkaufszentrum, zur Garage, zu dessen Haus. Einmal fuhren wir die ganze Nacht mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch den Wald zu einer Jagdhütte. Wenn wir tagsüber unterwegs waren, durfte Edie manchmal auch mitkommen, obwohl die Ausflüge mit ihr meistens nett und harmlos verliefen. Ein Spiel, bei dem Mom und Edie sich auf dem Vordersitz eine Tüte Lakritze teilten und Vermutungen über die Leute anstellten, denen wir folgten.

Aber wenn Mom und ich nachts allein unterwegs waren und die Bäume und der Sumpf im Dunkeln an uns vorbeirauschten, war es kein Spiel. Dann war ich in Moms Wirklichkeit gefangen. Manchmal stieg sie aus, und ich musste mit ihr gehen. Einmal gingen wir ziemlich lange einen überwucherten Weg entlang zu einem Hochstand. Die Luft war stickig und kalt. Das Zirpen der Grillen und Quaken der Laubfrösche war ohrenbetäubend. Ich war zehn, vielleicht elf, und ich weiß noch, dass ich alle paar Schritte das unangenehme Gefühl hatte, als würde ich aufwachen und aufwachen und aufwachen.

Der Hochstand war aus Sperrholz. Ich weiß nicht, ob wir zufällig auf ihn stießen oder ob Mom uns absichtlich dorthin geführt hatte. Ich kletterte hinter ihr die Leiter hoch, weil ich Angst hatte, allein unten zu bleiben. Es war wie ein Baumhaus, roch aber nach Schimmel und Blut. Mom verbrauchte ein ganzes Streichholzheftchen, um die Überschriften der alten Zeitungen zu lesen, die auf dem Boden lagen. Auf dem Rückweg zum Auto verirrten wir uns. Ich hatte entsetzliche Angst, dass wir erschossen oder von Hunden gejagt würden. Das war schon vorgekommen. Als wir nach Hause kamen, war es draußen bereits hell, und dann musste ich in die Schule und so tun, als wäre nichts gewesen. Ich musste mich anstrengen, damit ich nicht einschlief oder irgendwie die Aufmerksamkeit auf mich zog.

Ich weiß nicht, wie viel Edie von alldem wusste. Sie sagte immer, ich wäre Moms Liebling, aber das ist nicht wahr. Es war eher so, dass Mom mich als Erweiterung ihrer selbst sah, während Edie die Freiheit hatte, ganz sie selbst zu sein. Edie war mit ihren Freundinnen unterwegs, fuhr Fahrrad, lag in der Sonne, schlich sich heimlich ins Kino, und ich war oben in Moms Zimmer gefangen, lag trotz der Sommerhitze unter Decken und dem Pelzmantel meiner Großmutter begraben. Der Mantel war aus Nutria – Sumpfbiber –, und ich musste stundenlang schwitzend mit Mom unter dem kratzigen Ding liegen, während sie die Ärmel kahllutschte.

Ja, Mom hat mich an jeden schrecklichen Ort mitgeschleppt. Ich musste so weit wie möglich von ihr wegkommen, sonst hätte sie mich verschlungen. An dem Tag, als sie sich am Balken in der Küche aufhängen wollte, lag ich auf dem Fußboden in meinem Zimmer. Mein Verstand glich einem Radio, das auf ihren Sender eingestellt war, und ihr Elend lähmte mich. Wahrscheinlich wusste ich, was sie vorhatte, aber ich hielt sie nicht auf. Edie hat Mom das Leben gerettet.

Als Dad wie aus dem Nichts auftauchte, um uns abzuholen, war es, als hätte ihn jemand herbeigezaubert. Er meldete uns von der Schule ab – ich war in der neunten Klasse, Edie in der elften – und nahm uns mit nach New York. Wir kamen zum ersten Mal über die Grenze von Louisiana hinaus und wussten nicht, wie lange wir bei ihm bleiben würden, weil alles in der Luft hing. Aber mir war klar, dass sich mir die Chance für einen Neuanfang bot, und die wollte ich nicht verspielen.

Alles an Dad war für mich wie ein Déjà-vu. Wenn ich einen Gegenstand sah, fühlte ich mich unwillkürlich zu ihm hingezogen. Ein Paar braune Lederstiefel hinten in seinem Schrank zum Beispiel, die vom Tragen ganz weich waren und neue Sohlen brauchten. Ich erinnerte mich nicht genau an sie, es war eher ein körperliches Gefühl. Ich schloss die Schranktür und presste die Stiefel im Dunkeln an mich. Edie sollte nicht wissen, dass ich so etwas machte, und in der kleinen Wohnung war es schwer, etwas vor ihr zu verbergen.

Ich fand die Wohnung toll. Sie glich einem engen, staubigen Mutterschoß. Edie musste ständig niesen, weil der Staub auf den vielen Büchern nur schwer zu entfernen war. Die Regale im Wohnzimmer quollen bis zum Boden über, und überall waren Bücherstapel, an der Wand, auf dem Klavier, unterm Küchentisch. Dad war Schriftsteller, deshalb vermehrten sich die Bücher in seiner Wohnung wie von selbst. Jeden Tag kamen neue mit der Post, meistens von jungen Autoren, die auf Dads Unterstützung hofften. Ein vollmundiges Lob von Dad auf dem Buchumschlag hatte Gewicht. Er war eine Kultur-Ikone. Einmal war er sogar eine Antwort bei Jeopardy.

Mom war früher auch Autorin, sie schrieb Gedichte, war aber bei weitem nicht so bekannt. Sie las uns oft vor. In einer meiner frühesten Kindheitserinnerungen sitze ich mit Edie auf dem Küchenboden und sehe zu, wie sie mit geschlossenen Augen vor uns steht und, umgeben von ihren Notizbüchern, schwankend und stampfend rezitiert. Manchmal schickte sie ihre Gedichte an Zeitschriften, und als Glücksbringer mussten Edie und ich die Umschläge anlecken. Veröffentlicht wurde sie nur selten. Dann hörte sie auf zu schreiben und irgendwann las sie auch nicht mehr. Die Bücher wurden Requisiten. Sie saß stundenlang am Frühstückstisch, starrte mit leerem Blick in einen aufgeschlagenen Gedichtband, und ihr fettiges Haar hinterließ Flecken auf ihrem Nachthemd. Sie starrte nur vor sich hin und blätterte keine Seite um. Ihre Finger waren wie abgetrennt von ihrem Körper und klopften aneinander, als wollten sie kommunizieren.

Edith [1997]

Das Rauschen des Verkehrs wird lauter, wenn ich die Augen schließe. So dürfte sich das Meer anhören. Unser Zimmer gleicht einer Kabine auf einem Kreuzfahrtschiff. Es war Dennis' Arbeitszimmer und ist so schmal, dass man nicht »wie ein Italiener reden« darf, wie unsere Französischlehrerin gesagt hätte, wenn man in der Mitte steht, weil man sonst mit den Händen gegen das Etagenbett, die Kommode oder die Papierlaterne stoßen würde.

Mae liegt im unteren Bett neben mir. Wenn wir allein in unseren Kojen liegen, haben wir Angst und wachen nachts immer wieder auf.

»Ich komme mir vor wie auf einem Kreuzfahrtschiff«, flüstere ich. Sie lässt die Augen zu, schüttelt nur den Kopf, und ihr dickes, dunkles Haar fällt ihr ins Gesicht. Wenn sie schläft, ist sie wie ein kleiner Backofen. Ihr Haar, das genauso ist wie Moms, klebt an ihrem feuchten Hals. Als sie sich zur Wand umdreht, kämme ich es mit den Fingern und stelle mir vor, Mom würde neben mir liegen. Es tut mir leid, Mom. Es tut mir schrecklich leid. Seit fast einer Woche sind wir jetzt in New York, und die Ärzte halten sich immer noch bedeckt. Dennis erzählen sie, es sei noch zu früh, um etwas Endgültiges zu sagen. Wenn ich anrufe, heißt es, sie seien nicht befugt, ihren Zustand mit mir zu besprechen. Sie behandeln mich wie ein kleines Kind, dabei habe ich mich in all den Jahren um Mom gekümmert.

Dennis hat uns immer noch nicht gesagt, wann wir zurückdürfen. Ich habe nichts gegen eine Pause, aber ich bin in der Schülervertretung und im Homecoming- und Abschlussballkomitee, und je länger ich weg bin, desto wahrscheinlicher krallt sich irgendwer meinen Platz. Außerdem fehlt mir Markus, und es ist bloß eine Frage der Zeit, bis auch ihn sich eine der zwei Laurens krallt.

Ich habe Dennis gefragt, ob wir am 3. oder 4. wieder zurück sind. Aber er lächelt bloß dämlich und beteuert, wie froh er ist, mich bei sich zu haben. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, dass er uns nicht von der Pelle rückt und ständig bescheuerte Bemerkungen über banalen Scheiß von sich gibt. Wie wir unsere Löffel halten! Wie wir Wasser trinken! Wir sind ihm ja so ähnlich! Ach, das Wunder der Genetik! Würde mich nicht wundern, wenn er jetzt vor unserer Zimmertür steht, unserem Schlaf lauscht und sich Notizen macht, wie ähnlich unsere Schlafgeräusche seinen sind. Vielleicht kann er ja das in seinem nächsten Buch unterbringen. Wo wir doch so aufregendes Material sind. Kleine Spiegel, in denen er sich noch mehr bewundern kann.

»Findest du es nicht komisch«, flüstere ich laut, »dass wir Dennis zwölf Jahre lang egal waren, und jetzt plötzlich kriegt er nicht genug von uns?« Hoffentlich hört er mich, wenn er vor der Tür steht.

Mae stellt sich schlafend, aber ich weiß, sie ist wach. Und ich weiß auch, was sie denkt. Sie findet es gar nicht komisch. Als ich das Thema vorhin angeschnitten habe, hat sie ihn verteidigt. Aber sie war erst zwei, als er abgehauen ist, sie weiß also nichts. Ich war vier und erinnere mich noch genau. Ich erinnere mich, wie er mir gefehlt hat und ich jeden Tag wie ein Hund am Fenster auf ihn gewartet habe. Er rief nie an, nicht zum Geburtstag und nicht an Weihnachten. Er schrieb nie Briefe oder Postkarten. Er ist ein berühmter Schriftsteller, und ich kenne nicht mal seine Handschrift. Dazu kommen noch die Geschichten, die Mom uns erzählt hat. Schon als wir klein waren, hat sie offen mit uns geredet, weil wir alles waren, was sie hatte. Sie hat uns erzählt, wie er sie und ihre Jugend ausgenutzt hat, wie eifersüchtig und wütend er war, dass er mit all ihren Freundinnen schlief, und zwar nicht, weil er sie mochte oder sich zu ihnen hingezogen fühlte, sondern weil er nicht wollte, dass Mom Freundinnen hatte. Und sie hatte tatsächlich keine Freundinnen, nicht wirklich. Sie hatte Doreen und sie hatte uns, und das war nicht genug.

»Das ist nicht von Dauer«, flüstere ich. Ich will nicht, dass Mae sich Hoffnungen macht, die dann zerstört werden. »Sobald wir wieder in New Orleans sind, hören wir nichts mehr von ihm.«

Mae kann sich nicht gut schlafend stellen. Sie hält die Luft an, das verrät sie. Ich sage nichts mehr, und schon bald erfüllt das Rauschen des Verkehrs den Raum, bis ich das Gefühl habe, auf dem Rauschen zu schweben. Ich döse ein. Ich bin wieder zu Hause, in meinem eigenen Zimmer. Mom geht es gut. Ich höre sie in der Dusche singen. Siehst du, es geht ihr gut. Ich wusste es. Dann wird ihr Singen schrill, und ich wache von Sirenen auf.

Mae steht am Fenster. Die Lichter eines Krankenwagens sechs Stockwerke tiefer färben ihr Gesicht erst blau, dann rot.

»Mae«, flüstere ich, aber sie rührt sich nicht. Manchmal fällt sie in Trance, darum wurde sie von den Kids in der Schule Spooks genannt.

»Mae.« Ich lege meine Hände auf ihre Schultern. Wir beobachten zusammen, wie unten auf der Straße jemand auf einer Krankentrage festgeschnallt wird.

An dem Tag, als ich Mom in der Küche fand, hat es sintflutartig geregnet. Die Rettungssanitäter und Feuerwehrleute hinterließen Pfützen auf dem Teppich, als sie Mom hinaustrugen. Es war wie eine Fügung Gottes, dass Markus und ich uns gestritten hatten und ich früher von seinem Seehaus zurückgekehrt war und sie fand. Mae sagt, sie glaubt nicht an Gott, aber wie sonst lässt sich mein rechtzeitiges Auftauchen erklären? Nur fünf Minuten später, und Mom wäre gestorben. Ich kann sie mir nicht tot vorstellen. Es ist wie bei einer Sonnenfinsternis, wenn man direkt hinschaut, wird man blind.

Mom wollte nicht wirklich sterben. Das weiß ich genau. Woher ich das weiß? Weil sie den Wasserkessel eingeschaltet und die Kaffeekanne vorbereitet hatte. Die ganze Wand war nass vom Kondenswasser, und der Kessel pfiff immer noch, als ich sie fand. Mir ist schleierhaft, dass Mae nichts gehört hat. Sie muss wieder in Trance gewesen sein.

Ich bringe Mae in ihr Bett zurück und lege die Decke über sie. Sie streckt die Hand aus und streichelt mein Gesicht.

»He, nicht weinen«, sagt sie und schließt die Augen.

Ich hatte nicht gemerkt, dass ich weine. Seit wir hier sind, bin ich am Heulen, als wären meine Augen inkontinent. »Tu ich doch gar nicht«, sage ich und wische mir mit ihrem Haar die Tränen ab.

»Wünschst du dir nicht auch, dass alles wieder wie früher wird?«, frage ich. Bevor das passiert ist, bevor Mom depressiv wurde. Sie war nicht immer traurig. Manchmal war sie glücklicher als alle, die ich kenne. Dann brach sie vor Lachen fast zusammen, kriegte sich gar nicht mehr ein, und wir lachten mit ihr, obwohl wir keine Ahnung hatten, was eigentlich so lustig war. Und dann gab es Zeiten, in denen sie nicht glücklich oder wütend oder traurig war. Dann war sie einfach Mom, ging mit uns in den Park oder zu den Paraden, blieb lange auf und nähte uns aufwendige Mardi-Gras-Kostüme.

Mae antwortet nicht, dreht sich zur Wand. Als ich fast schon schlafe, sagt sie: »Manchmal denke ich, wir sind in verschiedenen Familien aufgewachsen.«

Mae

In den ersten paar Wochen ließ Dad uns nicht aus den Augen. Er machte ewig lange Spaziergänge mit uns, in die er alles Mögliche einbaute, um die verlorene Zeit wiedergutzumachen. Wir liefen Hunderte von Straßen zu Fuß ab. Er sagte, als er damals nach New York zurückzog, fehlten wir ihm so sehr, dass er das Gefühl hatte, in seinem Inneren wimmelte es von Feuerameisen, und dass Spaziergänge ihn vor dem Wahnsinn bewahrten.

In Metairie wäre uns nie eingefallen, zu Fuß zu gehen. Man wäre nicht weit gekommen, ohne wieder da zu landen, wo man aufgebrochen war, oder auf die Autobahn zu stoßen. Es gab die beklemmenden Nachtspaziergänge mit Mom durch sumpfigen Wald, aber das war etwas anderes. In New York zogen wir wie Pilger durch die Gegend, und als unsere Schuhe abgelaufen waren, kaufte Dad uns schicke Sneaker, die für den stolzen Gang von Massai-Kriegern gemacht waren. Wir liefen damit vom Cloisters im Norden Manhattans bis zur Südspitze des Battery Parks, machten unterwegs auf den Bürgersteigen der Lower East Side einen Bogen um Junkies, die vor sich hin dösten, probierten gefüllte Teigtaschen in Chinatown und Pizza in Little Italy, befühlten die Stoffballen im Fashion District und kauften Blumensträuße im Flower District, die verwelkten, bis wir nach Hause kamen.

Wir gingen durch Viertel, als gerade Schulschluss war. Mädchen strömten auf die Straße, und ihre Uniformen sahen so aus wie unsere in der St. Ursula – graugrün karierte Röcke und weiße Blusen –, aber an diesen Mädchen sahen sie viel schicker aus. Wir beobachteten, wie sie vor den Bäckereien in Greenwich Village Schlange standen und in ihren riesigen modischen Taschen herumwühlten.

Dad versuchte uns von diesen Mädchen wegzumanövrieren, weil Edie bei ihrem Anblick unweigerlich schlechte Laune bekam.

»Du hast uns praktisch gekidnappt!«, schrie sie ihn an, worauf einige Mädchen sich umdrehten und uns beäugten, unsicher, ob sie Edies Anschuldigung ernst nehmen sollten. Einmal zog sie ihre neuen Sneaker aus und warf sie nach ihm. Dad war so verdattert und überrascht, dass Edie nur noch wütender wurde.

»Wann können wir wieder nach Hause?«, schrie sie, und die einzige Möglichkeit, sie zu beschwichtigen, war der Hinweis auf die Aussagen der Ärzte und Moms Gesundheitszustand. Danach beruhigte sie sich zähneknirschend und zog die Schuhe ein paar Straßen weiter wieder an.

Am schönsten fand ich es, wenn Dad uns auf Geistertouren an die Orte seiner Kindheit mitnahm, Orte, die nicht mehr wiederzuerkennen waren und an denen er gelebt und ins Kino gegangen war, Malzbier getrunken und geflippert hatte. Ich stellte mir gern eine andere Schicht der Stadt unter der unmittelbar sichtbaren vor. Metairie dagegen war ein statischer Sumpf, bei dem Veränderungen unvorstellbar waren.

Einmal ging er mit uns zum Morningside Park und zeigte uns die Höhlen, in denen er aus Protest gegen Segregationsversuche der Columbia University gecampt hatte. Man hatte dort eine Sporthalle mit zwei getrennten Eingängen für »Weiße« und »Farbige« bauen wollen. Immer wenn er von der Bürgerrechtsbewegung erzählte, vergaß Edie ihre Wut und hörte ihm mit offenem Mund zu.

Brief von Dennis Lomack an Marianne Louise McLean

24. April 1968

Liebe M ‌–

eigentlich wollte ich an einem Roman arbeiten, aber aus allem, was ich schreibe, wird ein Brief an Dich. Ich stehe in Deinem Bann. Warum dagegen ankämpfen?

Fred und ich sind im Morningside Park. Die Bullen drehen ihre Runden um das Gelände, aber sie unternehmen nichts. Selbst dem Bürgermeister ist klar, dass wir im Recht sind. Wir sind betrunken und singen und feiern die Kapitulation der Columbia. Ade, Gym Crow!

Fred hatte versehentlich den Wassereimer über das Holz gekippt und wir konnten es nicht anzünden (armer Fred, keine Tiefenwahrnehmung). Ich musste nach unten klettern und neues Holz suchen. Von unten bietet sich ein wunderbarer Anblick: Höhlen säumen die Felswand, und in jeder brennt ein Lagerfeuer. Und so ist die Felswand plötzlich in einen urtümlichen Wolkenkratzer verwandelt. EIN WOLKENKRATZER FÜR HÖHLENMENSCHEN (diese Wendung kam mir in der Stimme Deines Vaters). Ich wünschte, Ihr beide könntet das sehen! Es ist besser als ein Sit-in, es ist ein Camp-in! Ein HÖHLEN-IN! Hier ist nicht Mississippi! Nicht mit uns! etc. etc.

Wie geht es Deinem Vater? Eigentlich wollte ich ihm schreiben. Von Ann weiß ich, dass der Prozess gegen ihn ein Chaos ist, die totale Farce, wobei sie nicht auf Einzelheiten einging. Ich werde meine Schwester um Rat fragen. Sie ist Anwältin, weißt Du. Tatsächlich habe ich sie erst heute am frühen Abend gesehen. Sie kam mit Schweinefleisch und Kohl vorbei und mit ihrem Typen Stewart, diesem Langweiler. Aus der Höhle nebenan kamen Freunde vorbei, zwei Schwestern aus Puerto Rico. Stewart wollte mit ihnen über Gandhi reden, aber sie waren nicht beeindruckt und gingen wieder. Stewart sagt, wenn er könnte, würde er mich umbringen und in meine Haut schlüpfen. Sein Gesicht sieht aus wie ein »Pickelstrauß«, eine Tatsache, auf die er sein Pech bei Frauen schiebt. Wie meine Schwester es mit ihm aushält, übersteigt meinen Horizont. Die Kerze wird von Stechmücken umschwärmt, ich lösche sie lieber schnell.

Gute Nacht, gute Nacht, meine kleine m.

Edith [1997]

»Ich bin zu alt«, sagt Dennis und winkt uns weiter. Er steht unten auf der Wiese bei den Leuten, die grillen.

Mae und ich klettern unter dem Geländer durch und kriechen eine schmale Steinkante entlang zu den Höhlen in der Felswand. Ich blicke nicht nach unten. Die Höhlen haben kleine Eingänge. Beim Hineinkriechen streifen unsere Hände Dreck und Müll. Bonbonpapiere oder Kondomverpackungen?

»Weiter links, weiter links«, ruft Dennis von unten. Ich strecke den Kopf vor und sehe ihn auf die Höhle neben uns zeigen. In der hat er damals gecampt.

Wir klettern hinüber. Ich hieve Mae hinein, und dann zieht sie mich hoch. Die Höhle ist tiefer und dunkler als die anderen. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnen, und dann sehe ich den Umriss einer Gestalt. Ich spüre, wie Mae erstarrt, aber bevor sie etwas tun kann, halte ich ihr den Mund zu. Dicht vor uns liegt ein Mann auf einem Schlafsack. Er ist nackt und schläft. Trotz der Dunkelheit sehe ich seinen Schwanz. Er liegt auf seinem Bauch und ist direkt auf uns gerichtet. Mae und ich kriechen rückwärts und fallen fast aus der Höhle. Wahrscheinlich ist es der erste Schwanz, den sie je gesehen hat.

»Was ist los?«, fragt Dennis. Mae und ich sind beide außer Atem. Die Stelle, wo meine Hand auf ihrem Mund lag, ist mit Dreck verschmiert. An ihrem Knie hängt ein Snickers-Papier, das Dennis wegzupft.

»Wir haben eine Schlange gesehen«, sage ich. Keine Ahnung, warum ich lüge. Es kommt einfach so raus.

»Oh«, sagt er. »War sie grün und gelb?«

Ich nicke.

»Eine Strumpfbandnatter«, sagt er. »Keine Sorge, die sind harmlos.«

Neben ihm steht eine Frau. Nicht die aus dem Theater, eine andere. Sie lächelt uns zu und sieht dabei aus wie ein Pferd. Als sie Mae zu ihrem Haar beglückwünscht, bekommt sie von ihr nur ein Knurren als Antwort.

Mae

Dad hatte jede Menge Frauen. Es war ratsam, sie nicht zu ermutigen. Am schlimmsten war es, wenn sie Mutter spielen wollten, ich kam mir dann vor wie in einer schlechten Provinzposse, in der sie für eine Rolle vorsprachen, die nicht zu vergeben war. Edie und ich machten es uns zur Aufgabe, sie unhöflich zu behandeln, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Ich hatte endlich einen Vater bekommen, den ich mit niemandem teilen wollte, während Edie in diesen Frauen eine Beleidigung für Mom sah.

Ich glaube, Dad wusste nicht, wie er sich die Frauen vom Hals halten sollte. Schon sein ganzes Leben lang bekam er viel weibliche Aufmerksamkeit. Als Kind war er der Jüngste, und seine Mutter und Schwestern liebten ihn abgöttisch. Und als Erwachsener war er attraktiv und charismatisch, ein großer Mann, der sich unter Türrahmen ducken musste, talentiert und berühmt. Natürlich liebten ihn die Frauen! Aber er schien keine besonders ernst zu nehmen. Er war vollkommen auf Edie und mich fixiert. Es war berauschend, im Mittelpunkt des Lebens eines anderen zu stehen. Wie er uns immer ansah … so etwas hatte ich noch nie erlebt.

Eines Abends, als Edie schlief, schlich ich aus unserem Zimmer zu Dads Tür. Ich stand eine Zeit lang da und nahm meinen Mut zusammen. Ich wollte anklopfen und ihm sagen, dass ich nicht nach New Orleans zurückgehen, dass ich ihn nicht verlassen konnte, aber ich hatte Angst, es ihm vor Edie zu sagen. Ich war nervös, weil ich sie nicht enttäuschen und hintergehen wollte.

Als ich an seine Tür klopfte, ging sie von allein auf. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte auf ein Foto. Als er mich sah, erschrak er und legte das Bild schnell in eine Schublade.

»Wieso bist du noch auf?«, fragte er.

Ich verlor die Nerven, wusste nicht, was ich sagen sollte. Was, wenn Edie nun doch recht hatte? Wenn seine Liebe für uns eine Illusion war und mein Nachbohren es offenbaren und ihn abschrecken würde? Also sagte ich nichts.

Aber das musste ich auch nicht. »Komm her«, sagte Dad und zog mich auf seinen Schoß.

»Hast du Angst?«, fragte er.

Ich nickte, und er küsste mich auf die Stirn.

»Das ist ganz normal«, sagte er.

Edith [1997]

»Meine zwei schönen Töchter, meine wunderschönen Mädchen«, sagt Dennis beim Frühstück. Seine Hand liegt warm auf meiner Schulter. Sein Blick ist sanft, als wären wir seine Vögelchen.

Als ich merke, wie Mae ihn anstarrt, wird mir klar, dass sich etwas langsam in ihr verschiebt wie tektonische Platten.

Ich will nicht lügen. Als er mich berührt hat, habe ich auch einen Moment plötzlicher Vollkommenheit gespürt, als hätte jemand die Drähte zu meiner inneren Alarmanlage gekappt. Aber ich erkenne es wenigstens als das, was es ist. Zwei Wochen ist es her, seit Mom im Krankenhaus verschwand, und schon betrügen wir sie.

»Ich dachte mir, dass ich heute mit euch ins Met gehe«, sagt Dennis. Das Telefon klingelt, aber er lächelt uns weiter an. Ich schlängle mich unter seiner Hand vor. Wahrscheinlich ist es Markus, der mich zurückruft. Ich habe ihm drei Nachrichten hinterlassen. Markus oder eine von Dennis' Frauen. Seinen vielen Frauen. Ständig rufen sie an. Vor ein paar Tagen tauchte eine in einem Trenchcoat auf, mit nichts drunter. Sie war im Ausland gewesen und kam direkt vom Flughafen, um ihn zu überraschen. Überraschung! Sie konnte sich nicht mal hinsetzen, hielt mit einer Hand nur ihren Mantel am Hals zu, während sie uns die andere gab. Sie tat mir fast leid.

»Hallo?«, sage ich in den Hörer.

Eine Männerstimme. »Könnte ich bitte mit Mr Lomack sprechen?« Ich glaube, es ist der Arzt.

Ich reiche Dennis den Hörer und beobachte sein Gesicht.

»Ja«, sagt Dennis. »Wie geht es ihr?« Er senkt den Blick auf seine Hände. »Ja«, sagt er, »ja.« Er dreht sich von uns weg, die Telefonschnur liegt auf seinem Rücken. »Und die Medikation?«, sagt er. »Verstehe, ja.« Seine Stimme verrät nichts.

Mein Herz schlägt bis zum Hals.

»Tut mir leid, das zu hören«, sagt er, klingt aber nicht sehr bedauernd. Sein Gesicht ist abgewandt. Was tut ihm leid?

Mae bewegt sich unruhig, ihr Stuhl quietscht. Offenbar werfe ich ihr einen bösen Blick zu, denn ihre Lippen zittern. Sie ist empfindlich. Das sagt Mom immer. Geh behutsam mit deiner Schwester um, sie ist sehr empfindlich. Ich lächle ihr zu oder versuche es zumindest und atme dann tief durch.

»Ja«, sagt Dennis wieder, zum ungefähr tausendsten Mal. Sie behalten Mom gegen ihren Willen dort. Wahrscheinlich ist sie an ein Bett gefesselt und schreit. Sie hat ihre Stimme verloren. Deshalb darf ich nicht mit ihr sprechen. Sie hat keine Stimme. In meiner Fantasie sehe ich ihren schreienden Mund, aus dem kein Ton kommt. Die Vorstellung macht mir solche Angst, dass ich nach Maes Hand greife.

»Au«, sagt sie und reibt sich die Stelle, wo ich sie berührt habe. Manchmal ist sie eine richtige Zicke.

Dennis legt den Hörer auf. Seine Augen schimmern, und er redet erst, als er wieder bei uns am Tisch sitzt.

»Die Ärzte halten es für das Beste«, sagt er und vergräbt die Finger in seinem Bart, »wenn ihr vorläufig hierbleibt. Eurer Mutter geht es nicht gut. Sie braucht mehr Zeit.«

»Nein«, sage ich.

Dennis nickt. »Ich weiß, damit habt ihr nicht gerechnet.«

»Und was ist mit der Schule? Wir können nicht einfach mitten im Schuljahr aussteigen. Wir können zurückgehen und allein leben. Ich bin sechzehn. Wer, glaubst du, hat sich die ganze Zeit um alles gekümmert?«

»Rechtlich gesehen dürft ihr das nicht«, sagt Dennis.

»Wir können bei Doreen wohnen.« Doreen ist wie eine Schwester für Mom. Keine biologische, aber sie sind zusammen aufgewachsen. Das ist sie uns schuldig.

»Doreen hat das nicht angeboten.«

Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, weil ich weiß, nur so kann ich einen Streit gewinnen, aber ich merke, wie meine Stimme schrill wird. »Damit bin ich nicht einverstanden.«

Mae mischt sich ein. Sie sieht mich wütend an und sagt: »Ich finde, du bist sehr egoistisch.« Es fühlt sich an, als hätte sie mich geschlagen.

Dennis Lomacks Tagebuch [1970]

Gestern Abend begann ich … etwas. Etwas Großes, Lebendiges. Ich will nicht zu früh darüber reden, aber vielleicht endlich ein Buch (!). Während ich getippt habe, lag Marianne auf einer Matratze auf dem Fußboden und beobachtete mich. Bei ihr bin ich wie ein offener Handschuh, der auf eine Hand wartet. Ihre Energie beflügelt mich, da bin ich mir sicher. Ich schrieb die ganze Nacht. Draußen regnete es. Marianne lag auf dem Rücken, hob ihren Arm, betrachtete ihren Ring und schlief ein. Gestern kam meine Schwester zu Besuch in die Stadt, und als wir am Rathaus vorbeikamen, verspürte ich den dringenden Wunsch zu heiraten. Im Deli gegenüber kauften wir leuchtend blau gefärbte Nelken. »Sieh mal«, sagte Marianne und fuhr mit dem Daumen die Stängel entlang, die geädert waren wie Arme. Wir baten einen Touristen auf der Straße, mit seiner Kamera ein Foto von uns zu machen. Er versprach, es uns zu schicken. Und seit unserer Hochzeit drängt es mich zu schreiben. Unter all meinen Worten höre ich rhythmisches U-Bahn-Geratter – meine Frau, meine Frau, meine Frau. Es war schon hell, als ich aufhörte und mich zu ihr legte. Ich brauchte mehr von ihr, um weiterzumachen.

»Sie haben mich die ganze Nacht gebissen«, sagte Marianne verschlafen und zeigte mir ihren Arm. Eine Reihe kleiner roter Hügel. Die Wanzen leben zwischen den Dielenbrettern und in den Steckdosen.

»Das tu ich auch gleich«, sagte ich und biss sie.

Als ich mir danach im Bad das Gesicht wusch, sah ich im Spiegel mein Ohrläppchen – zwei unebene Linien, Abdrücke von ihren schiefen Schneidezähnen. Und wieder dieses plötzliche Verlangen.

Ich eilte zum Bett zurück und knöpfte von unten die Bluse auf, die sie gerade von oben zuknöpfte. Sie schämt sich, aber immer für das Falsche. Ich schob ihre Hände von ihren Brüsten und küsste ihre Handgelenke. Presste sie nach unten.

Und dann ihr geflüsterter Refrain: Du kannst mich retten?

Worauf es nur eine Antwort gibt: Ja, natürlich, ja.