Elena Ferrante

Zufällige Erfindungen

Aus dem Italienischen von Karin Krieger

Illustrationen von Andrea Ucini

Suhrkamp

Kollisionen

18. März 2019

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Im Herbst 2017 schlug mir der Guardian vor, eine wöchentliche Kolumne zu schreiben. Ich war geschmeichelt und ängstlich zugleich. Mit so etwas hatte ich keine Erfahrung, und ich fürchtete, es nicht zu können. Nach langem Zögern teilte ich der Redaktion mit, dass ich den Vorschlag annehmen würde, wenn man mir eine Reihe von Fragen schickte, auf die ich jeweils mit der gebotenen Kürze antworten wollte. Meiner Bitte wurde sofort entsprochen, und wir vereinbarten, dass die Kolumne nach spätestens einem Jahr beendet werden sollte. Nach und nach verging das Jahr, und es war lehrreich für mich. Ich hatte mich noch nie in die Situation gebracht, zum Schreiben verpflichtet zu sein, auf einen unabänderlichen Umfang beschränkt und auf Themen, die auf meinen Wunsch hin von den äußerst geduldigen Redakteuren ausgewählt worden waren. Ich bin es gewohnt, mir selbst eine Geschichte, Figuren, ein Thema zu suchen und dabei fast immer mühsam ein Wort ans andere zu reihen und vieles wieder zu streichen. Und was ich am Ende finde – vorausgesetzt, ich finde überhaupt etwas –, überrascht vor allem mich selbst. Es ist, als erzeugte ein Satz den nächsten, indem er sich meine noch unsicheren Absichten zunutze macht, und ich weiß nie, ob das Ergebnis gut ist. Doch wenn es da ist, muss daran gefeilt werden, es ist der Moment, in dem der Text die von mir gewünschte Form erhält. Aber bei der Arbeit für den Guardian überwog die zufällige Kollision des redaktionell vorgegebenen Themas mit der Eile des Schreibens. Während auf die erste Fassung einer Erzählung sofort eine lange, manchmal sehr lange Zeit des Vertiefens, des Umschreibens, des Ergänzens oder des sehr gründlichen Entschlackens folgt, war dieser Prozess hier auf ein Minimum beschränkt. Diese Texte sind beim raschen Durchstöbern meines Gedächtnisses auf der Suche nach kleinen, exemplarischen Erfahrungen entstanden; beim unreflektierten Hinzuziehen von Überzeugungen, die sich durch das Lesen von Büchern vor vielen Jahren gebildet hatten und nach weiteren Lektüren auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt worden waren; bei der Jagd nach plötzlichen Eingebungen, die durch ebendiese Notwendigkeit des Schreibens entstanden; und beim Rückgriff auf abrupte Schlusssätze aufgrund von Platzmangel. Kurz, es war eine neue Erfahrung. Jedes Mal tauchte ich den Eimer hastig in die dunklen Tiefen meines Kopfes, zog einen Satz herauf und hoffte inständig, dass ihm andere folgen würden. Das Ergebnis ist dieses Buch, das zufällig am 20. Januar 2018 mit der durchweg unscharfen Schilderung eines ersten Mals beginnt und zufällig am 12. Januar 2019 mit der scharfen Fokussierung auf ein letztes Mal endet. Ich war versucht, den unterschiedlichen Texten eine durchdachtere Ordnung zu geben, und variierte ihre Zusammenstellung. Doch sie so zu sortieren, als wären sie durch eine sorgfältige Gliederung entstanden, kam mir wichtigtuerisch vor, daher beließ ich sie am Ende in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Vor allem mir selbst wollte ich nicht verhehlen, dass sie zufällige Erfindungen sind, die sich übrigens nicht von denen unterscheiden, mit denen wir tagtäglich auf die Welt reagieren, in die wir geraten sind.

Die Texte

Das erste Mal

20. Januar 2018

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Vor einer Weile nahm ich mir vor, über meine ersten Male zu schreiben. Ich listete eine ganze Reihe auf: mein erster Blick aufs Meer, meine erste Flugreise, mein erster Vollrausch, meine erste Liebe, mein erster Sex. Dieses Vorhaben war ebenso schwierig wie sinnlos. Wie hätte es auch anders sein können? Wir betrachten jedes erste Mal mit einer übertriebenen Nachsicht. Naturgemäß beruht es auf Unerfahrenheit, wird schnell von allen anderen dann folgenden Malen überlagert und hat keine Zeit, eine eigenständige Form zu entwickeln. Trotzdem erinnern wir uns mit Wohlwollen, mit Wehmut daran und schreiben ihm die Kraft des Einzigartigen zu. Wegen dieses in der Natur der Sache liegenden Widerspruchs geriet mein Vorhaben schnell ins Schlingern, doch endgültig Schiffbruch erlitt es erst, als ich versuchte, wahrheitsgetreu von meiner ersten Liebe zu erzählen. In diesem besonderen Fall kramte ich lange in meinem Gedächtnis nach aussagekräftigen Details und entdeckte auch wirklich nur wenige. Er war sehr groß, sehr dünn, und ich fand, dass er gut aussah. Er war siebzehn, ich fünfzehn. Wir trafen uns jeden Abend um sechs. Wir gingen in eine stille Gasse hinter dem Busbahnhof. Er unterhielt sich mit mir, aber nicht viel, küsste mich, aber nicht oft, streichelte mich, aber nicht viel. Er wollte vor allem, dass ich ihn streichelte. Eines Abends – war es Abend? – küsste ich ihn so, wie ich mir einen Kuss von ihm gewünscht hätte. Ich tat es mit einer so gierigen, schamlosen Intensität, dass ich danach beschloss, ihn nie wiederzusehen. Allerdings wusste ich später nicht, ob diese Begebenheit – das Kernstück meiner Geschichte – wirklich zu diesem Treffen gehörte oder zu einer anderen, späteren Liebelei. Und war er wirklich so groß gewesen? Und hatten wir uns wirklich hinter dem Busbahnhof getroffen? Am Ende stellte ich fest, dass mir von meiner ersten Liebe hauptsächlich meine Verwirrung deutlich im Gedächtnis geblieben war. Ich liebte diesen Jungen dermaßen, dass mir bei seinem Anblick jede Wahrnehmung der Welt abhandenkam und ich kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen, nicht aus Schwäche, sondern aus einem Überschuss an Energie. Nichts war mir genug, ich wollte mehr, und es überraschte mich, dass er mich dagegen plötzlich entbehrlich fand und sich, nachdem er mich so begehrt hatte, aus dem Staub machte, als wäre ich wertlos geworden.

Na gut, dachte ich mir, dann schreibst du eben darüber, wie unzulänglich und rätselhaft die erste Liebe alles in allem ist. Aber je mehr ich daran feilte, desto mehr Unklarheiten, Ängste und Unzufriedenheit stellten sich ein. Folglich sträubte sich mein Schreiben, tendierte dazu, Lücken zu füllen und dem Ganzen die stereotype Melancholie der verlorenen Jugend anzuheften. Da sagte ich mir: Schluss mit der Geschichte von den ersten Malen. Was wir am Anfang waren, ist nur ein verschwommener Farbklecks, vom Rand dessen aus betrachtet, was wir geworden sind.

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Ängste

27. Januar 2018

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Ich bin nicht mutig. Ich fürchte mich besonders vor allem, was kriecht, namentlich vor Schlangen. Ich fürchte mich vor Spinnen, Holzwürmern, Mücken, sogar vor Fliegen. Ich fürchte mich vor großen Höhen und somit vor Fahrstühlen, Seilbahnen, Flugzeugen. Selbst die Erde unter unseren Füßen macht mir Angst, wenn ich mir vorstelle, sie könnte sich auftun oder durch eine plötzliche Störung im Getriebe des Universums einstürzen wie in dem Kinderreim, den wir früher beim Ringelreihen sangen (giro giro tondo, casca il mondo, casca la terra, tutti giù per terra – ich dreh mich, dreh mich rundherum, die Welt stürzt ein, die Erde stürzt ein, und alle fallen hin – wie schrecklich fand ich diese Worte). Ich fürchte mich vor allen Menschen, die gewalttätig werden: Ich fürchte mich vor ihnen, wenn sie schreien, wenn sie schimpfen, wenn sie sich mit verächtlichen Reden hervortun, mit Schlagstöcken, mit Fahrradketten, mit Hieb- und Stichwaffen, mit Schusswaffen oder mit Atombomben. Trotzdem zwang ich mich als junges Mädchen jedes Mal, wenn Furchtlosigkeit gefordert war, auch furchtlos zu sein. Schnell gewöhnte ich mir an, mich nicht so sehr vor realen oder eingebildeten Gefahren zu fürchten, sondern viel, viel mehr vor dem Moment, in dem andere wie ich reagierten, wie gelähmt und zu keiner Reaktion fähig. Meine Freundinnen kreischten vor einer Spinne? Also überwand ich meinen Ekel und tötete das Tier. Der Mann, den ich liebte, schlug mir Ferien im Hochgebirge mit unvermeidlichen Fahrten im Sessellift vor? Ich schwitzte Blut und Wasser, aber ich fuhr mit. Einmal beförderte ich mit Besen und Schaufel eine Schlange, die die Katze mir unters Bett gelegt hatte, schreiend zurück ins Freie. Und wenn jemand meine Töchter, mich, einen anderen Menschen oder ein harmloses Tier bedroht, widerstehe ich meinem Fluchtimpuls. Es heißt, dass wirklich Mut hat, wer so reagiert, wie ich es mir verbissen antrainiert habe, den wahren Mut, der darin besteht, die eigene Angst zu überwinden. Der Ansicht bin ich nicht. Für uns mutige Angsthasen steht von allen Ängsten die Angst vor dem Verlust unserer Selbstachtung an erster Stelle. Unbescheiden messen wir uns einen immensen Wert bei und sind zu allem fähig, nur um nicht mit unserer Entwürdigung konfrontiert zu werden. Kurz, wir drängen unsere Ängste nicht aus Selbstlosigkeit zurück, sondern aus Egoismus. Und offen gestanden fürchte ich mich deshalb vor mir. Ich weiß seit langem, dass ich zu Übertreibungen fähig bin, weshalb ich nun versuche, die aggressiven Reaktionen abzuschwächen, zu denen ich mich schon als Kind gezwungen habe. Ich lerne, meine Angst anzunehmen, sie mit Selbstironie sogar zu zeigen. Damit habe ich begonnen, als ich merkte, dass meine Töchter Angst bekamen, wenn ich sie mit maßlosem Ungestüm vor kleinen, großen oder eingebildeten Gefahren beschützte. Am meisten fürchten müssen wir uns vor der Raserei verängstigter Menschen.

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Tagebuch schreiben

3. Februar 2018

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Als junges Mädchen habe ich einige Jahre Tagebuch geschrieben. Ich war schüchtern, sagte zu allem ja, meistens schwieg ich. Doch in meinem Tagebuch hielt ich mich nicht zurück. Bis ins kleinste Detail schrieb ich mein tägliches Leben auf, streng geheime Begebenheiten, gewagte Gedanken. Darum passte ich sehr auf mein Tagebuch auf, ich hatte Angst, meine Familie, vor allem meine Mutter, könnte es finden und mir vorlesen. So dachte ich mir unentwegt sichere Verstecke aus, die ich schon bald wieder für unsicher hielt. Warum war ich so besorgt? Weil ich zwar im Alltag vor Verlegenheit und Vorsicht fast keinen Mucks sagte, das Tagebuch aber eine Sucht nach Wahrheit in mir auslöste. Ich hielt es für sinnlos, mich beim Schreiben zu mäßigen, und schrieb daher hauptsächlich – vielleicht ausschließlich – alles auf, was ich lieber verschwiegen hätte, wobei ich auch einen Wortschatz verwendete, zu dem ich mündlich nie den Mut gehabt hätte. So entstand schnell eine Situation, die mich sehr anstrengte. Einerseits betrieb ich beim Schreiben täglich einen großen Aufwand, um mir zu beweisen, dass ich gnadenlos ehrlich war und nichts mich je davon abhalten könnte, es zu sein; andererseits hatte ich eine panische Angst davor, dass jemand einen Blick auf meine Texte werfen könnte. Dieser Widerspruch hat mich lange begleitet, noch heute ist er in vielerlei Hinsicht spürbar. Wenn ich mich beim Schreiben doch dafür entschied, das sichtbar zu machen, was andernfalls wohlverborgen in meinem Kopf geblieben wäre, warum lebte ich dann in der Angst, mein Tagebuch könnte entdeckt werden? Mit etwa zwanzig glaubte ich, eine Lösung gefunden zu haben, die mich beruhigte. Ich musste mit dem Tagebuch aufhören und meinen Drang, die Wahrheit zu sagen – meine unaussprechlichsten Wahrheiten –, in erfundene Geschichten umlenken. Ich wählte diesen Weg auch deshalb, weil das Tagebuch selbst nun zu einer Erfindung wurde. Mir fehlte nämlich häufig die Zeit, wirklich jeden Tag zu schreiben, aber ich hatte den Eindruck, dass dadurch der rote Faden von Ursache und Wirkung verlorenging. Deshalb füllte ich die Lücken mit Texten, die ich rückdatierte. Dabei gab ich den Ereignissen und Gedanken eine Kohärenz, die die tagtäglich geschriebenen Seiten nicht besaßen. Wahrscheinlich trugen meine Erfahrungen mit dem Tagebuch und seinen Widersprüchen nicht unwesentlich dazu bei, dass ich Romanautorin geworden bin. In der Fiktion fühlte ich mich – mich und meine Wahrheiten – etwas mehr in Sicherheit. Und wirklich warf ich meine Tagebücher weg, als sich diese neue Art des Schreibens durchzusetzen begann. Ich tat es, weil mir ihr Stil plump erschien, ohne lohnenswerte Gedanken, voller infantiler Übertreibungen, und vor allem meilenweit von der Form entfernt, in der ich mich an meine frühe Jugend erinnern wollte. Seither hatte ich nie wieder das Bedürfnis, Tagebuch zu schreiben.

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Ende

10. Februar 2018

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Immer öfter höre ich meine Freundinnen und Freunde sagen: Ich habe keine Angst vor dem Tod, sondern vor einer schlimmen Krankheit. Und auch ich benutze diese Redewendung. Wenn ich sie genauer betrachte, stelle ich fest, dass sie für mich bedeutet: Nicht die Vorstellung, irgendwann nicht mehr zu existieren, macht mir Angst, sondern die Qualen tun es, die mit der medizinischen Behandlung einhergehen, mit dem Schwanken zwischen Hoffnung auf Genesung und Enttäuschung, mit dem Todeskampf. Meine eigentliche Sorge ist der Verlust meiner Gesundheit mit

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