3Branko Milanović

Kapitalismus global

Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

7Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ich schreibe dieses Vorwort inmitten der Covid-19-Pandemie. Wir wissen nicht, wann und wie wir das Virus unter Kontrolle bringen werden, aber bereits jetzt scheint klar, dass wir nach der Pandemie in einer anderen Welt leben werden. Anfangs glaubten manche Leute, Beginn und Ende der Pandemie würden wie Lichtschalter sein: Covid-19 wurde im Dezember 2019 eingeschaltet, und sobald die Pandemie irgendwann ausgeschaltet war, würde die Welt wieder in den Zustand zurückkehren, in dem sie sich im Dezember 2019 befunden hatte. Mittlerweile wissen wir, dass es nicht so sein wird.

Ich glaube, dass die Pandemie die Welt in dreierlei Hinsicht erheblich verändern wird. Alle drei Veränderungen können anhand des in diesem Buch verwendeten analytischen Rahmens und der hier vorgebrachten Argumente beurteilt werden. Erstens wird die Pandemie die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China sowie allgemein zwischen dem liberalen und dem politischen Kapitalismus verstärken. Zweitens wird sie sich auf den Fortschritt der Globalisierung auswirken, weil sie klar gezeigt hat, wie fragil die Annahmen sind, auf denen die globalen Wertschöpfungsketten beruhen. Drittens wird sie den Einfluss des Staates auf das Wirtschaftsleben erhöhen. Ich werde mich im Folgenden mit jeder dieser Veränderungen im Einzelnen befassen.

Der Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und China ist nicht mehr auf Handelskriege und Strafzölle beschränkt, sondern nimmt die Form eines direkten ideologischen und, was noch bedrohlicher ist, eines militärischen Wettbewerbs an. Mit den Einzelheiten der Verschärfung dieses Konflikts – vom Vorwurf der Desinformation über den Covid-19-Ausbruch in China bis zur Unterdrückung der Autonomie Hongkongs – müssen 8wir uns hier nicht beschäftigen, denn wir werden täglich in den Nachrichten darüber informiert.

Entscheidend ist, wie die beiden Systeme auf die Corona-Krise reagiert haben und welches System am Ende in den Augen der Weltöffentlichkeit besser dastehen wird. Was das anbelangt, hat China die Vereinigten Staaten eindeutig überflügelt, und zwar sowohl gemessen an der Fähigkeit zur Eindämmung des Virus als auch an den Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft. Dieses Ergebnis hatte kaum jemand erwartet. Die Vereinigten Staaten sind nicht nur technologisch das am höchsten entwickelte Land der Welt, in dem es Hunderte medizinische Hochschulen mit vermutlich Tausenden Professoren gibt, sondern man hätte meinen sollen, dass ihr demokratisches System der Regierung größere Anreize geben würde, das Leben ihrer Bürger zu schützen und zu retten. Das Gegenteil ist geschehen.

Die Einstellung zur Rettung von Menschenleben ist ein wesentlicher Punkt. Warum waren die Vereinigten Staaten gleichgültig gegenüber den Todesopfern, während China versuchte, Leben zu retten? Sollten wir nicht das Gegenteil erwarten? Die hartherzige amerikanische Reaktion auf die steigenden Opferzahlen kann nicht allein mit der inkompetenten Reaktion der US-Regierung erklärt werden, sondern sie ist Ausdruck grundlegenderer Probleme: Die Regierung in Washington konnte keine entschiedenen, zentralisierten Maßnahmen durchsetzen; es kam zu Zuständigkeitskonflikten zwischen verschiedenen Behörden; Teile der Bevölkerung widersetzten sich den grundlegendsten Schutzmaßnahmen (und der Staat war nicht imstande, diese Maßnahmen durchzusetzen); und unter den Opfern sind unverhältnismäßig viele schwarze, lateinamerikanischstämmige und einkommensschwache Menschen. In einem Land, das (wie ich in Kapitel 2 erkläre) auf die Plutokratie zusteuert, hat die Tatsache, dass die Reichen weitgehend von gesundheitlichem und finanziellem Schaden verschont geblieben sind, zur Gleichgültigkeit gegenüber den Todesopfern beigetragen.

In Kapitel 3 argumentiere ich, dass der Mangel an demokratischer Legitimität, der die Regierungen in Ländern mit einem 9System des politischen Kapitalismus und insbesondere China plagt, die auf den ersten Blick paradoxe Folge haben kann, dass sich diese Regierungen nicht weniger, sondern mehr um die Entwicklung der Wirtschaft und das Wohlergehen der Bürger sorgen. Der Grund dafür ist folgender: Wenn der implizite Vertrag zwischen Volk und Regierung besagt, dass die Bürger ein autokratisches Regime akzeptieren, solange dieses »Güter« liefert – das heißt solange die politische Freiheit für wirtschaftliches Wohlergehen geopfert wird –, dann hat das Regime jeden Anreiz, alles für das Gedeihen der Wirtschaft zu tun und sich im Fall einer Pandemie darauf zu konzentrieren, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, um seine Legitimität nicht einzubüßen. Die Legitimität beruht hier auf Ergebnissen, nicht darauf, dass die Regierung vom Volk gewählt wurde. Das erklärt in meinen Augen das extrem entschlossene und in einigen Fällen drakonische Vorgehen des chinesischen Staates. Dazu kommt natürlich seine Fähigkeit, die Ressourcen zu bündeln und bürgerliche Grundrechte zu ignorieren, die in vielen Demokratien die Reaktion auf die Pandemie verlangsamt haben.

Die Pandemie hat mit wohl beispielloser Klarheit den ideologischen Konflikt zwischen den beiden Systemen zutage gefördert. Die aggressive Haltung der sogenannten »Wolfskrieger«, junger Diplomaten, die vor allem in den sozialen Medien gegen ihre Gastländer wettern, ist neu in der chinesischen Außenpolitik. Aber wie ich schreibe:

Das neue ideologische Geltungsbedürfnis Chinas muss also als Präventivmaßnahme betrachtet werden, als Forschheit, die potenzieller Schwäche entspringt. Wenn autoritäre Regime kein ideologisches Gegenkonzept zur Demokratie vorschlagen und aktiv vertreten, laufen sie Gefahr, im eigenen Land der ideologischen Anziehungskraft der Demokratie zum Opfer zu fallen. Durch diese potenzielle Schwäche wird China »gezwungen«, sein eigenes Gesellschaftsmodell zu exportieren, obwohl sich das Land historisch gegen ein offensives Vorgehen auf der Weltbühne sträubt und obwohl es schwierig ist, die chinesische Erfolgsformel für die übrige Welt attraktiv zu »verpacken« (mit beiden Fragen befasse ich mich in Abschnitt 3.5b).

Die Vereinigten Staaten und China sind typische Vertreter von zwei Formen des Kapitalismus, aber das darf uns nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass allein diese beiden Länder im Fall von Covid-19 die Unterschiede zwischen den Reaktionen demokratischer und autoritärer Systeme veranschaulichen. Tatsächlich können wir diesbezüglich nicht klar zwischen den beiden Systemen unterscheiden. In Asien haben beide Systeme gute Ergebnisse erzielt: Vietnam und Singapur auf der einen und Taiwan, Japan und Südkorea auf der anderen Seite. In Europa waren einige Demokratien erfolgreich im Kampf gegen die Pandemie (zum Beispiel Deutschland, Dänemark, die Tschechische Republik, Griechenland), während andere die Herausforderung sehr viel schlechter bewältigten (zum Beispiel Schweden, Großbritannien und Italien).

Die zweite langfristige Auswirkung der Pandemie wird eine Verlangsamung der Globalisierung sein. Zu erkennen ist das bereits an den Einschränkungen für Geschäftsreisen. Diese Beschränkungen werden jedoch weitgehend aufgehoben werden, sobald die Pandemie vorüber ist. Aber die Einstellung zu den 11globalen Wertschöpfungsketten wird sich ändern. Wie ich in Abschnitt 4.2 zeige, haben diese entscheidend zur weltweiten Verbreitung der kapitalistischen Produktionsbeziehungen beigetragen. Sie wurden so gestaltet, dass sie unter optimalen Bedingungen, das heißt ohne politische Erschütterungen oder plötzliche disruptive Ereignisse, extrem effizient waren. Für Kostensenkungen wurde auf Sicherheitsmechanismen oder Redundanzen für den Fall plötzlicher Veränderungen in den Handelskanälen oder politischer Konflikte verzichtet. Die Pandemie hat gezeigt, dass die Annahme optimaler Bedingungen auf tönernen Füßen stand. Es ist zu erwarten, dass die Ketten in Zukunft teurer, aber auch robuster werden und dass die Produktion aus politischen Gründen näher bei der Heimat angesiedelt wird. Die Globalisierung kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber die Pandemie war ein Rückschlag. Sie hat Zweifel an der Gültigkeit einiger jener Annahmen geweckt, auf denen die Idee beruht, die Produktion über den ganzen Erdball zu verteilen.

Die dritte Veränderung betrifft die Rolle des Staates. Die Pandemie hat die verborgenen Schwächen der Annahme offenbar werden lassen, dass das Gesundheitswesen und andere Bestandteile der Wirtschaft, darunter Bildung und Infrastruktur, ausschließlich am Gewinnprinzip ausgerichtet werden können. Die Kürzung der Gesundheitsausgaben, die Verringerung der Bettenzahl, der Verzicht auf die Produktion von Schutzausrüstung, die Betrachtung der Entwicklung von Medikamenten als rein geschäftliche Aktivität (in der die Unternehmen kaum Anreize haben, Impfstoffe oder Therapien für selten auftretende Krankheiten zu entwickeln) haben die Schwächen dieses Ansatzes deutlich gemacht. Diese Erkenntnis wird in meinen Augen dazu führen, dass bestimmte wichtige Sphären des Wirtschaftslebens vom Gewinnprinzip ausgenommen werden. Hier wird der Staat in vielen Ländern mit einem liberalen kapitalistischen System eine wichtigere Rolle übernehmen.

Dies ist natürlich nur eine erste Skizze der längerfristigen Auswirkungen der Pandemie. Möglicherweise wird es weitere geben, die wir zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehen können. 12Wenn sich die asiatischen Länder beispielsweise sehr viel schneller als die Mitglieder der Europäischen Union und als Nordamerika erholen (derzeit hat es den Anschein, als wäre es so), wird sich der Schwerpunkt der globalen wirtschaftlichen Aktivität noch schneller nach Asien verschieben. Die Auswirkungen der Pandemie auf Afrika sind bisher begrenzt, doch das könnte sich ändern, was zur Folge haben würde, dass sich Europa einem noch größeren Migrationsdruck infolge des gewaltigen Einkommensgefälles zwischen den beiden Kontinenten ausgesetzt sähe. Schließlich könnte die Pandemie in vielen Ländern erhebliche politische Auswirkungen haben und den Sturz von Regierungen oder sogar Revolutionen auslösen. Es sind keine Prognosen dazu möglich, welche Länder betroffen sein werden, aber es ist zu erwarten, dass ein Ereignis mit derart weitreichenden globalen Auswirkungen aufgrund schlechter Krisenbewältigungsstrategien in einigen Ländern zu Unzufriedenheit und politischer Instabilität führen wird.

Branko Milanović

San Francisco, im Juli 2020