Andrzej Stasiuk

Beskiden-Chronik

Nachrichten aus Polen und der Welt

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall

Suhrkamp

Die Gesichter von Krynki

Leon Tarasewicz rief an und sagte, ich solle nach Krynki zum Trialog kommen. Den Trialog in Krynki organisierte seit Jahren Sokrat Janowicz.

Für ein paar Tage trafen sich dort Leute aus Polen, aus Weißrussland und anderen Teilen der Welt, um zu reden. Hauptsächlich über Kultur. Janowicz war letzten Winter gestorben, aber der Trialog sollte weitergehen. Also rief Tarasewicz an, ich solle kommen. Ich sage:

»Lonik, okay, sofort, aber ich hab noch nie was von Janowicz gelesen.«

»Macht nichts. Wenn du die tausend Kilometer hinter dir hast, wirst du was lesen.«

Es sind fünfhundertachtzig Kilometer in eine Richtung, die Kilometerzahl stimmte also. Ich setzte mich ins Auto und fuhr los.

Er musste es nicht zweimal sagen. In diese Richtung immer. Am östlichen Rand Polens entlang. Mit einem ordentlichen Umweg, denn zuerst musste ich nach Hrubieszów, um dort den gelben Faden der Straße Nummer 816 zu erwischen, und dann die Landkarte hoch, mit all den Namen: Husynne, Horodło, Skryhiczyn, Dorohusk, Wola Uhruska, Dołhobrody, Jabłeczna, Kodeń; der Bug zur Rechten so nah, dass man manchmal den dunkelgrünen Wasserspiegel sieht. Ab Włodawa kann man sich schon Weißrussland vorstellen – dieses unbekannte, beunruhigende Land. Das verriegelte Tor des Ostens. Das wirkt immer auf die Phantasie: Es ist quasi zum Greifen nah, aber du kommst nicht einfach so rein, kannst keinen kurzen Abstecher machen. Das Landschaftsbild ist dasselbe, die Menschen sind ähnlich, der Bug fügt die Landschaft eher zusammen, als dass er sie spaltet; aber über der anderen Seite liegt etwas Düsteres.

Hinter Terespol wurde es dunkel. Die Halle des Grenzbahnhofs leuchtete bläulich. In Siemiatycze verwechselte ich die Straßen und fuhr Richtung Bielsk und Białystok statt Richtung Hajnówka. Vielleicht war es auch besser so, denn schon ab Supraśl ging es immer tiefer in Nacht und Wald hinein. Bisweilen glomm auf der einen oder anderen Seite etwas auf, aber es verschwand schnell wieder, wie ein Irrlicht. Um Mitternacht waren wir da, auf dem grünen Marktplatz. Man konnte im Kreis fahren, zwischen Bäumen, wie auf einem Waldweg. Im Dickicht der Blätter flackerten irgendwelche goldenen Lichtlein. Es war vollkommen still; alle waren schlafen gegangen, weil sie sicher waren, es würde nichts mehr geschehen. Denn was sollte am Ende des Landes um Mitternacht schon geschehen?

Am nächsten Tag schwänzte ich. Auf dem Sofa in der kaukasischen Synagoge saß ich meine Zeit in Gesellschaft der Schriftsteller ab, und dann machte ich mich davon. Direkt bis an die Grenze, an die Swislatsch. In den Sümpfen standen weiß-rote Pfähle. So war es nirgends mehr. Weder im Norden noch im Westen noch im Süden. Nur hier. Im Osten war das Weiß-Rot mächtig in den Schlamm gerammt. Von den Moränenhügeln über Ozierany erstreckte sich die Aussicht weit auf die andere Seite hinüber. Dort war nichts; das Gleiche wie hier, aber sie bewachten die sumpfigen Übergänge. Ich dachte nicht einmal daran, es auszuprobieren. Ich betrachtete nur die weite Landschaft. Hügel für Hügel, Kamm für Kamm, Waldstreifen für Waldstreifen blickte ich in die Tiefe des Blaus, in die Tiefe des Ostens. Sie bewachten die schöne Heide, damit niemand auf die Idee kam, sie sich näher anzusehen.

Ozierany lag friedlich in den letzten Zügen. Es träumte seinen letzten Traum. Unkraut überwucherte es. Kletten und Disteln sprengten die Höfe, die morschen Zäune plusterten sich geradezu auf. Weder ein Tier noch ein Auto. Eine alte Frau saß auf einer Bank. Auf einer anderen wiegte sich apathisch ein ausgemergelter, geistesabwesender Mann. Und gleich dahinter, hinter den Bänken, hinter den Wänden der toten Scheunen standen diese weiß-roten Pfähle.

Es gibt Orte, an denen man das Gefühl hat, am Ende angekommen zu sein. Am Ende des Landes, am Ende der Zeit. Das Gefühl, dass das Angetroffene gerade sein Dasein aushaucht, dass es sich verausgabt hat und nichts mehr kommen wird. Dass aus diesem Alten nichts Neues entstehen, dass es keine Veränderung mehr geben wird. So war es in Ozierany. Die Dorfstraße war einst aus rotem Stein gebaut worden. In den Zwischenräumen des Katzenkopfpflasters hatte sich Gras breitgemacht. Die Straße wurde immer schmaler. Die Leute konnten kaum mehr gehen, die Autos kaum mehr fahren. Ich trieb mich eine oder anderthalb Stunden in der Gegend herum und traf unterwegs auf ein einziges Auto. Darin saßen uniformierte Grenzer, aber das Nummernschild war kein amtliches. Ich fuhr auf einen Hügel und hielt Ausschau nach der Swislatsch, aber Weiden verdeckten die Sicht aufs Wasser. Manche Vögel flogen nach Weißrussland, andere kamen von dort. Die Felder zwischen dem Dorf und dem Fluss wuchsen mit Unkraut zu.

Zehn Kilometer östlich lag Grzybowszczyzna, das Dorf des Propheten Elias oder auch Ilja, der in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts das Dorf Wierszalin gegründet hatte, ein Neues Jerusalem, und zusammen mit seinen Anhängern auf den Weltuntergang wartete. Er hatte eine orthodoxe Kirche gebaut, und die Gläubigen beteten zu Ikonen, auf denen er abgebildet war. Der Abend brach schon an, als ich versuchte, die Kirche und das Dorf Grzybowszczyzna zu finden. Ich irrte auf sandigen Wegen umher. Es wurde immer später und immer schöner. Nebel stieg über den tiefliegenden Wiesen auf, und der dunkelgoldene Schein des Sonnenuntergangs ging alchemistische Verbindungen mit dem grünen Schimmer der Erde ein. Die Holzhäuschen, die kleinen Schweine- und Kuhställe, die Weiler, die zerbrechlichen Zufluchtsorte des Urwaldvolkes – alles erstrahlte in einem übernatürlichen Licht, dick und warm wie Honig. Hat der Prophet Elias dieses Jerusalem gesehen, als er auf dem Feuerwagen in den Himmel von Podlasie aufstieg? Wer weiß. Der Weltuntergang kam am 17. September 1939 in Gestalt der sowjetischen Armee. Sie brachten Elias in ein Lager in der Nähe von Irkutsk, aber angeblich soll er im Osten bis ins hohe Alter gelebt haben. Den Weg habe ich nicht gefunden. Erst ein Traktorfahrer, dem ich begegnete, zeigte ihn mir. Aber es war schon fast Nacht, der Wald sah schwarz aus, wie verbrannt, und ich musste zurück.

Wir frühstückten im Garten von Sokrat Janowicz. In der Sonne, auf weißen Tischdecken, zwischen Hunderten von blühenden Dahlien. Presskopf, Pasteten, Blutwurst, Schinken, gefüllte Eier, vor Ort gebackenes Brot, Kuchen. Stieglitze, Grauammern, Buchfinken und Spatzen pickten die Krümel von den Tischen. Wir wärmten uns in den herbstlichen Sonnenstrahlen. Es war wie bei einem podlachischen Tschechow, einem Michalkow des Kreises Sokółka.

Um mir vor der Fahrt ein bisschen die Füße zu vertreten, machte ich mich zu einem letzten Spaziergang auf. An dem kreisrunden Marktplatz, an dem zwölf Straßen zusammenlaufen, fand ich ein Antiquariat. Es wurde von K. geführt, einem der bekanntesten, vielleicht dem bekanntesten polnischen Anarchisten. Es gab Tausende Bücher und etwa sieben Hunde. Hier wurde auch gefrühstückt. Aber nicht auf Tschechow'sche Art. Die Genossen saßen um den Schreibtisch herum, tranken Spiritus und hörten auf dem Computer anarchistische Lieder auf Russisch. Es war wie bei Babel in der Erzählung Bei unserem Väterchen Machno. Ach, man sollte alles hinschmeißen, alles abgeben, den Schlüssel, den Führerschein, dachte ich, sich dem Chor anschließen und in Krynki bleiben.

Kronos

Alle schreiben darüber, also werde auch ich schreiben. Schaden kann's nicht.

Umso mehr, als ich, von einer seltsamen Intuition geleitet, das Buch gekauft habe. Dabei habe ich nie zuvor »laute« Bücher gekauft, denen Gerüchte vorauseilten, die schon vorher heiß diskutiert wurden. Und wie sich in der Regel herausstellte, hatte ich damit Recht. Aber diesmal habe ich es gekauft, und ich lese. Ein bisschen von hinten, ein bisschen von vorne suche ich Seiten mit möglichst wenigen Anmerkungen aus. Das ist ungünstig, wenn man sich auf Kontinuität einstellt, auf abgeschlossene Sätze, auf in Form gebrachte Gedanken, das heißt überhaupt auf Literatur. Doch in diesem Buch stößt jemandem das Leben auf. Vielleicht ist es sogar der Versuch, das Leben eins zu eins abzubilden. Im Jahr 1938: »Im September München« und »die eine war geil, gab es zu, ihre Füße stanken«. Ich lese halbherzig, ohne die Hoffnung, irgendetwas zu erfahren. Denn ich habe ihn nie besonders aufmerksam gelesen. Keiner der Romane ging an mich ran. Zu viele Purzelbäume, zu viele Salti Mortali und schriftstellerische Autoerotik. Mit den Tagebüchern ging es etwas besser, aber letztlich war ich bequemerweise damit einverstanden, dass er ein großer Schriftsteller war, und ich hatte meine eigenen, die mir mehr unter die Haut gingen oder am Herzen lagen. Später habe ich irgendwo die Aufzeichnung seiner Stimme gehört, wie er etwas liest oder über etwas spricht. Ein hoher, schriller Ton, schon total unmännlich und noch lange nicht weiblich. Wie mit Styropor über Glas. Ich stellte mir vor, wie er mit dieser Stimme zu mir spricht, mich zu überzeugen oder zusammenzustauchen versucht, und ich bekam Gänsehaut. Oder dass er mir vorliest, was er geschrieben hat. Danach habe ich nie wieder zu einem Buch von ihm gegriffen.

Bis jetzt; jetzt lese ich für mich selbst, und diese unerträgliche Stimme ist auf unerklärliche Weise verstummt. Ich lese die Wörter. Lautlos. Allein die Bedeutungen oder Bilder. Im Oktober 1968: »Am 18. frühmorgens, vielleicht gegen 8.00, rannte ich aufs Klo, paff, es ging daneben, und die Hose war versaut, ich ging daran, sie sauber zu machen.« Allein diese Bilder, die die Stimme übertönen. Anschaulicher als jeder Gedanke. Also? Beste Prosa? Behauen, zugerichtet, die puren Tatsachen? Stärker kann man nicht mehr schreiben? Wie er sich kratzt, weil es ihn juckt, wie es ihn beutelt, wie es ihn mit Geschwüren übersät, wie er stinkt, weil es ihn bläht, wie er ununterbrochen Pülverchen und Flüssigkeiten schluckt, weil er kaum Luft bekommt. Namen von Medikamenten werden aufgezählt, die Dosis notiert, die Ausdehnung der Ausschläge und Ekzeme beschrieben. Wen geht das etwas an? Wer mag solche Ekelhaftigkeiten? Für ihn war das sicher interessant, diese Beobachtungen: Wer er war, wer er ist und in was er sich verwandelt. Aber auch für uns ist es interessant.

Was führt uns zum Tod? Mit Sicherheit die Biologie. Doch was umfasst sie? Woraus besteht ihre menschliche Variante? Aus Ereignissen, scheint der Autor zu sagen. Daher erinnert dieses Tagebuch in der Tat an ein Verzeichnis. Wäre es ein ideales Werk, kämen darin alle Begegnungen, Personen, Honorare, Krankheiten, Medikamente, Einkäufe, Besuche, Interviews, Konflikte, jeder Betrug und jede Niederlage vor. Zum Glück retten Gedächtnis und Faulheit uns vor solchen Aufgaben. Uns – die Leser, und sie – die Autoren. Außer der reinen Buchhaltung und Statistik ist alles, was aufgeschrieben wurde, auf irgendeine Weise eine Konzession an die Literatur. Immer liebäugelt er ein bisschen mit ihr. Ein Jahr vor der Verunreinigung der Hose notiert er: »Ich werde unter den ersten sechs für den Nobelpreis genannt, bekommen hat ihn Asturias.«

Das ist es, was am meisten berührt, was irritiert und lächerlich wirkt: diese pingelige Buchhalterei der Karriere, die unablässige Aufzeichnung der Schwankungen an der literarischen Börse, so pedantisch wie das Verzeichnis der Temperatur, abgelesen vom Thermometer unter der Achsel. Er saß im Göttlichen Buenos und später in Vence und lauschte seinem Gedärm und dem Medienrummel. Er horchte auf Symptome der Krankheit und auf den eigenen Namen. (Stellen wir uns bloß vor, wie sein Leben und Horchen im Zeitalter des Internets ausgesehen hätte.) Immer neue Siege, Erfolge, Ausgaben, Notizen und Rüffel, wie Perlen auf den unsichtbaren Lebensfaden gereiht. Ein Abzählreim, dank dem das herbeigesehnte Prestige zunimmt und die Zeit und die Kraft abnehmen. Register. Bilanz. Null Illusion. Es gibt kein Multiplizieren oder Dividieren, nur Addieren und Subtrahieren. Namen von Liebhabern und Liebhaberinnen, Summen in Dollar, Franc und Peso – nichts davon steigt in einen höheren Rang auf. Es ist geschehen und wurde notiert. Wir blättern weitere Seiten um in dem seltsamen Gefühl von Vergänglichkeit, das jedoch nichts mit Veränderung zu tun hat. Vielleicht ist es ein Resultat der Methode – denn dies ist kein Tagebuch, sondern ein Verzeichnis aus zeitlicher Perspektive, ein rückwärts geschriebenes Tagebuch. Daher scheint es, dass der Autor (der Erzähler, der Held) fast ebenso alt geboren wird, wie er stirbt. In anderen Worten, sein Leben erscheint vollkommen uninteressant. Nicht nur für ihn selbst, als er gelebt hat, sondern auch für uns, wenn wir sein Leben betrachten.

Aber vielleicht ist das der tiefere Sinn dieses überaus seltsamen Werkes: Macht euch keine Illusionen, was das Leben anbelangt. Es besteht nur aus Ereignissen, die ihr immer wieder addieren könnt. Doch es gibt keine Summe und keine Summa. Es gibt nur den Tod. Und die einzige Aufgabe der Ereignisse ist es gewesen, diesen aufzuschieben.

Witold Gombrowicz: Kronos. Kraków 2013.

Topol

Ach, dieser Jáchym. Er kam irgendwann mit drei anderen zu uns. Abgerissen, verdreckt, mit museumsreifen Rucksäcken auf dem Rücken. Sie blieben vor der Gartentür stehen und sagten: »Wir sind die Trottel aus Prag.«

Er und seine drei Freunde, darunter ein Bulgare. Die Grenzen waren damals noch bewacht, an den Übergängen standen auf der einen wie auf der anderen Seite die gleichen finsteren Grenzschützer, aber die »Trottel aus Prag« kamen über die grüne Grenze. Durch die Wälder, über die Berge, vom slowakischen Regetovka aus zu dem roten Grenzpfad, und auf der polnischen Seite kamen sie zwischen Konieczna und Zdynia auf die Asphaltstraße. Das jedenfalls erzählten sie. Wir machten eine riesige Pfanne Rührei. Dann entzündeten wir ein Lagerfeuer unweit des Hauses. Wir tranken slowakischen Borovička, Wacholderschnaps (ich habe ihn seither nicht mehr in den Mund genommen und weiß, dass ich das nie wieder tun werde), und hörten die ganze Nacht Musik von rumänischen Zigeunern. Die Morgendämmerung fand uns neben dem erloschenen Feuer im nassen Gras schlafend. Wir machten ein zweites Mal eine große Pfanne Rührei, und die »Trottel aus Prag« traten zu Fuß den Rückweg in ihre Heimat an.

Oder eines Abends irgendwo in Deutschland auf einem Festival. Wir freuten uns so sehr über unser Wiedersehen, dass Jáchym seine schon ein halbes Jahr währende Abstinenz unterbrach. Ein ähnliches Geschenk konnte ich ihm nicht machen, und so nahm ich ihn nur in mein Apartment mit (es war ein Schloss, ich glaube, in Sachsen), das an die tausend Quadratmeter und fünf Bäder hatte, und wir spielten Verstecken. Mitten in der Nacht beschlossen wir, uns zwecks Auffüllung der Vorräte in die Küche zu schleichen, aber wir wurden erwischt, und die Schlosswache geleitete uns zurück zu unseren Betten unter goldenen Baldachinen.

Dieser Topol … Als ich seine Schwester las, hatte ich den Eindruck, ich träumte einen verrückten Traum. Aber ich wusste, dass es sein Traum war, nicht meiner. Ich durfte nur daran teilhaben. Mit anderen Worten, ich beneidete ihn um Die Schwester in dieser süßen Art und Weise, die an Liebe erinnert. Ich war ganz einfach in Die Schwester verliebt. In ihre wilde Schönheit, ihre unbändige Energie. Verliebt in den Paroxysmus, der es erlaubte, eine mächtige und verrückte Geschichte in einem Atemzug zu erzählen. Auf den Spuren dieser Geschichte fuhr ich nach Ubl'a, wo sich der slowakisch-ukrainische Grenzübergang befand. Ubl'a stellte, Topols Vision zufolge, eine Mischung aus Hölle und Vergnügungspark dar. Doch dort war so gut wie nichts. Kurz gestutzte Gärtchen, schläfrige Nachmittagshitze und ein paar Autos in der Schlange.

»Weißt du, ich war nie dort«, sagte er mir später. »Ich habe einfach das östlichste Kaff der Tschechoslowakei auf der Karte gesucht.«

Und dann Die Teufelswerkstatt. Sie ist – ich glaube im Frühjahr [2013] – bei W. ‌A. ‌B. erschienen. Das Buch hat 190 Seiten. Die Handlung spielt in der Gegenwart im tschechischen Theresienstadt, das heißt, in Terezín, und in Weißrussland, und wie das bei Topol so ist: Buffo, Karikatur, eine Achterbahn der Groteske, unterfüttert mit dem schwärzesten Schwarz, direkt aus der Wirklichkeit entlehnt. Eine Gruppe von hauptsächlich jungen Leuten – einige aus dem Westen angereist, einige Einheimische – verwandelt das Museum des Konzentrationslagers in eine Popkultur-Maschine zum Geldverdienen. Da gibt es bedruckte T-Shirts, Ghettopizza, da gibt es »therapeutische Sitzungen« für die Nachfahren der ermordeten Juden … Auf den T-Shirts ist ein Porträt von Kafka mit der Aufschrift: »Wenn Kafka länger gelebt hätte, wäre er hier ermordet worden.« Aus der ganzen Welt kommen Journalisten und Rucksacktouristen, denen in Nepal und Goa langweilig geworden ist. Daraus entsteht eine Art Woodstock der postmodernen Gegenkultur. Die Klientel raucht Gras, liegt auf den Pritschen herum, auf denen einst die Gefangenen gestorben sind, und unternimmt eine Reise ins eigene Innere und in die Geschichte. Es sieht ganz so aus, als ob die holocaust holidays ewig währen würden, doch nein: Die Steuerbehörde greift ein, weil sich das Ganze in einer Grauzone abspielt. Der Protagonist und Erzähler muss nach Weißrussland abhauen.

All das klingt nach einem üblen Spaß, aber es ist todernst. Und zweideutig. Die Popkultur hat uns bis ins Mark durchdrungen. Wie ein Tumor greift sie unsere Identität und unser Gedächtnis an. Natürlich können wir uns von ihr abwenden und in einem Elfenbeinturm leben. Aber wenn wir dann der Welt etwas zu sagen haben, wenn wir ein Quäntchen Erinnerung retten wollen, wird sie uns nicht verstehen. Damit sie uns zuhört, müssen wir schwafeln, müssen uns das Gelaber der Popkultur aneignen, ein Geschwätz, das auch den Dümmsten zugänglich ist. Davon erzählt Topol.

In Weißrussland ist es kalt und öde. Das Land hat sein Los noch nicht gezogen. Im 20. Jahrhundert musste es von allen europäischen Ländern den größten Bevölkerungsverlust hinnehmen, und es hat nichts davon. Russland hat Stalin und den Sieg, Holland hat seine Holzschuhe, sogar das trostlose Polen hat sich berappelt und hat sein Auschwitz mit ein paar Millionen Besuchern jährlich. Und so wird unser tschechischer Erzähler als Koordinator des Programms »Weißrussland Horror Trip« eingestellt – ein weißrussischer Jurassic-Horrorpark. Er soll die titelgebende Teufelswerkstatt einrichten, in der Ortschaft Chatyn (dort, wo auch Komm und sieh von Elem Klimow spielt, der größte Kriegsfilm, den ich je gesehen habe). Die Leichen sollen ausgegraben, konserviert und mit Hilfe moderner Technologien teilweise belebt werden. Sie sollen den Besuchern ihre Geschichte erzählen. Tausende, zig Tausende von Geschichten, Hunderttausende von Leichen, um die weite Welt in die touristische Wüste Weißrussland zu locken … Das Ende gebe ich natürlich nicht preis. Topol ist ein Visionär. Er sieht das Schlimmste und das Wahrste voraus: Wir werden alles verraten, einschließlich der Erinnerung, nur um uns zu amüsieren, denn Langeweile ist schlimmer als der Tod.

Ich denke nicht, dass die einheimischen Liebhaber historischer Rekonstruktionen Topol lesen. Ich glaube, sie lesen außerhalb des eigenen rekonstruierten Gebiets eher wenig. Ein Radymno mit einer Imitation des Massakers von Wolhynien muss nicht gleich eine Teufelswerkstatt sein, aber auch bei Topol beginnt es mit einer unschuldigen Ghettopizza. Erst später folgt die Auferweckung der Toten mit technologischer Hilfe – einfach, damit der weltweite Pöbel sich nicht langweilt. Seien wir wachsam: Die Zeit, da unsere Toten, in Zombies verwandelt, uns retten werden, ist nicht mehr fern.

Mariusz Kargul

Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich ihn kennengelernt habe.

Vor sechs oder sieben Jahren. Er lud mich zu einer Lesung in einer Buchhandlung in Krasnystaw ein. Ich fuhr hin, obwohl ich nicht wusste, wer er war, um was für eine Buchhandlung es ging und überhaupt. Sicher hat mich Krasnystaw gereizt, das ich zwar nur von der Molkerei her kannte, aber es liegt im Osten – und wie man weiß, verheißt der Osten Abenteuer.

Es gab tatsächlich eine Buchhandlung. Außer Büchern verkauften sie dort Spielzeug, Schulbedarf, Kugelschreiber und Papier. Wir standen hinter der Theke und plauderten. Ein paar von seinen Bekannten kamen. Wir plauderten weiter. Vielleicht fünf Leute. Jemand kam herein, um Buntstifte zu kaufen. Jemand kam herein und ging gleich wieder, offenbar eingeschüchtert durch unsere Anwesenheit. Ich unterschrieb ein Blatt Papier, und wir gingen los, um ein bisschen durch diese Stadt zu laufen, die am Rande des Bekannten lag. Vielleicht war es im Herbst? Oder vielleicht bewirkte dieser Rand, dass die Dunkelheit so früh anbrach und man nur gehen und reden, in Gedanken woandershin aufbrechen konnte. Hin und wieder setzten wir uns an warme Orte, denn es war nicht nur dunkel in dieser Stadt, sondern auch kalt. Zum Beispiel in einen Keller oder auch ins Souterrain eines normalen Wohnblocks, der zu einem – sagen wir – Kulturklub umgestaltet worden war. Mit stylishen Tischen, einer Bar wie eine Kredenz, mit Bildern an den Wänden und allem Möglichen, das ganz anders war als Krasnystaw in einer kalten Herbstnacht.

Danach kam ich immer wieder mal nach Krasnystaw und zu Mariusz. Ich glaube, ich war mindestens noch dreimal dort. Wenn mir der Vorwand ausreichend erschien, aber auch einfach, um mich mit ihm zu treffen, denn er imponierte mir irgendwie. Groß, beleibt, stämmig, außer Atem, wie er war, hatte er sich in den Kopf gesetzt, dass in der Stadt, in der Milch, Kefir und Bier fließen, während des Oktoberfests von Krasnystaw etwas los sein sollte. Im kulturellen Sinn. Er hatte eine außergewöhnliche Gestalt ausgegraben und entstaubt, den aus der Krasnystawer Gegend stammenden Bauerndichter Stanisław Bojarczuk: ein wirkliches, absolutes Ausnahmetalent, das die Grenzen der sogenannten Bauern- oder Volksdichtung entschieden sprengte. Bojarczuk stand im Verdacht, eine Art verkanntes Genie gewesen zu sein. Und Mariusz hatte sich darauf versteift, aus dem »Bauern-Petrarca« ein Markenzeichen zu machen, das neue Wappen der Stadt Krasnystaw, das wie ein Stern am kulturellen Firmament Polens leuchten sollte. Er keuchte, schwitzte und brachte seine und Bojarczuks Sache allmählich voran.

Ich war auf dem ersten Festival der Schönen Künste. Es war Mariusz sogar gelungen, Juri Andruchowytsch herzuholen. Die Veranstaltungen fanden im Innenhof des ehemaligen Jesuitenkollegs statt. Wir lasen Bojarczuk. Andruchowytsch trat mit der Gruppe Karbido auf. Der Hof war riesig, das Häufchen Publikum sah unscheinbar aus. Als seien die Leute zufällig gekommen oder suchten Schutz vor einem Unwetter. Ein paar Dutzend. Die laute, schwere Musik von Karbido lockte die Jungs von Krasnystaw an, aber bald kehrten sie wieder zu ihren Dingen zurück, machten sich auf die Suche nach Bier, quatschten miteinander, hockten sich auf die Böschung des Wieprz, um in die Gegend zu starren.

Damals kam Mariusz Kargul mir einsam und heldenhaft vor in dieser Stadt des Kefirs, des Käses und des Hopfens. Wie Bojarczuk mit seinen tausend klassischen Sonetten, die er geschrieben hatte, während er die Kühe hütete. Auf einem an einen Stock genagelten Brettchen, das ihm als Tisch diente.

Später zog Mariusz nach Warschau, und unsere Treffen hatten ein Ende. Krasnystaw war ja etwas ganz anderes als die Hauptstadt. Hätten wir durch die Krakowskie Przedmieście flanieren sollen und über Bojarczuk reden? Ein ziemlich lächerliches Bild. Manchmal stellte ich ihn mir in dieser barbarischen Stadt vor: wie er kämpft, wie er versucht, sich über Wasser zu halten, außer Atem, müde, aber immer mit diesem schüchternen, uneigennützigen Lächeln auf dem runden Gesicht. Er schrieb Rezensionen für Zeitungen, moderierte Lesungen mit Schriftstellern, wollte eine Literaturagentur gründen. In Gedanken wünschte ich ihm alles Gute, aber ich hatte auch etwas Angst um ihn. Warschau ist keine Stadt für Menschen, die schnell außer Atem kommen und aufrichtig lächeln. Wir verständigten uns per SMS. In der vorletzten schrieb er, er sei im Krankenhaus. Ich fragte, ob es etwas Ernstes sei. Er schrieb, es sei dies und jenes, aber schon besser, sie hätten ihn auf die Normalstation verlegt, und es sei »wie im Hotel«. Dann bekam ich noch eine Nachricht, aber ich schob die Antwort hinaus, weil ich unterwegs war, von Stadt zu Stadt: Auto, Lesung, Schlafen. Irgendwo zwischen Katowice und Rybnik erfuhr ich, dass er gestorben war.

Jetzt sitze ich in einem Hotel am Stadtrand von Prudnik und schreibe diesen Text. In der Ferne sieht man die Góry Opawskie, das Oppagebirge. Abwechselnd regnet es und die Sonne scheint. Im Schwimmbad des Hotels ist ein Rest Wasser. Ein paar Enten versuchen zu tauchen. Der Wind wirbelt goldene Blätter auf. Mariusz Kargul lebt nicht mehr. Warum bleibt die Welt die gleiche, wenn jemand stirbt? Wind weht, Enten schwimmen, über die Hänge sieht man Wolkenschatten ziehen. Warum bemerken nur wir, dass jemand fehlt? Als wären wir etwas Seltsames und Fremdes auf dieser Erde, denn niemand außer uns begleitet die Toten.

Im Dezember wäre er siebenunddreißig geworden.

Lichter

Der Wind weht von Osten und führt tiefhängende Nebelschwaden mit.

Alles ist nackt, wie abgeschält. Zwischen den Zweigen sieht man verlassene Vogelnester. Sie erinnern an schwarze Misteln. Das Landschaftsbild ist einfacher geworden. Geblieben sind Striche und wenige gedämpfte Farben. Damit werden wir fünf Monate lang leben müssen. Im Schatten. Unter dem tiefhängenden Himmel wie unter einem grauen Dach.

Gestern war der 2. November, also bin ich zu meiner Totenfeier gefahren. Nach Nieznajowa, nach Czarne, nach Radocyna, nach Długie und nach Grab.

Um ein oder zwei Uhr nachmittags brach die Dämmerung an. Als hätten die Winde alle Nebel und Wolken aus diesem Teil der Welt über die Wasserscheide in den Karpaten getrieben. Es wurde dunkel. Gut, dachte ich – schließlich ist heute der Tag der Seelen im Fegefeuer. Und was könnte mehr an das Fegefeuer erinnern als ein Novembertag in den Beskiden, wenn sich über die dunklen Täler, in denen es einst bevölkerungsreiche Dörfer gab, der Nebel legt? Wenn schwarze Feuchtigkeit in Holz, Stein und in den Boden eindringt und bis zum Frühjahr dort verbleibt. Wenn ein Wind weht, der den Himmel nicht reinigt, sondern ein kaltes Leichentuch von Sibirien oder gar vom Nordpol mit herschleppt. Die Grablichter sind schwer anzuzünden. Man muss sich krümmen, in die Hocke gehen, die Flamme abschirmen. Streichholz um Streichholz in Nieznajowa. Von dem großen Dorf ist nur der Friedhof übrig geblieben. Kalt zieht es vom Himmel her, von der Erde, vom steinernen Flussbett der Zawoja. Zwielicht und Kälte, das heißt Fegefeuer, also Totenfeier. Wie eine Heimsuchung aus dem Traum: Wir irren herum, unter einem schwarzen Dach, wir sehen alles grau und nur ein paar Schritte weit. Wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen. Alles ist halb: halbe Sicht, halbes Gehör, und auch der Körper ist nur halb, denn er hat wie ein Reptil die Temperatur der Umgebung. Das ist mein Traum vom Fegefeuer. Er ist weder angenehm noch schlimm. Er ist genau halb. Also zünde ich ein Licht für das nicht mehr existierende Dorf an und schaue, wie das rote Flämmchen im Halbdunkel flackert.

Totenfeier, das ist die Erinnerung an die Seelen, die den Weg nicht finden können. Zum Beispiel die Seele von Otto Hausbaum. Die Seele von Anton Nemec. Die Seele von Alois Abram. Die Seele von Zlatek Podlegar und Georg Cencelj, von Pjotr Andrejewitsch Bessarabow sowie Hunderte andere Seelen von Soldaten, die am 28. Januar 1915 im Kampf um die Karpatenpässe gefallen sind, als eine österreichisch-ungarische Offensive die Russen aus Ungarn und von den Südhängen der Karpaten vertrieb. Für sie zünde ich auch auf dem Friedhof in Czarne Kerzen an. Hier ist es etwas stiller, die Gräber sind von einem Viereck aus einigen Dutzend Buchen umgeben. Sie wurden gepflanzt, als der Friedhof angelegt wurde, wahrscheinlich 1916, also sind sie etwa hundert Jahre alt. Zwar haben sie keine Blätter mehr, doch sie wachsen so dicht, dass kaum Wind weht und man die Lichter mit dem ersten Streichholz anzünden kann.

Mir kommt in den Sinn, dass eine Zigarette hier wohl angebrachter wäre, aber das ist leider vorbei, und die Jungs müssen sich mit dem roten Licht begnügen. Vielleicht ist das sogar besser als eine Zigarette, weil es sie an glückliche Stunden im Bordell erinnert, da die Todesangst wich und das Leben zurückkehrte. Wer kann das wissen? Wie wir auch nicht wissen, welchen Sinn all diese Lichter wirklich haben. Sind die Seelen wie Falter und wir zünden einmal im Jahr Lichter an, damit sie – irrend und halb blind – den Weg zu ihrem feuchten Zuhause finden? Wir zünden diese Lichter auf schamlose und heidnische Weise unter Kreuzen an, statt den Toten das Begraben der Toten zu überlassen. Wir kommen mit farbigen Gläschen, weil wir glauben, dass sie immer noch dort sind, dass sie nirgends hingegangen sind, dass niemand sie gerufen oder berufen hat, dass sie für immer bei uns bleiben werden, jedenfalls so lange, wie wir die Kraft haben, Lichter anzuzünden.

Später fahre ich noch nach Grab zum Friedhof Nr. 4. Er liegt auf einer Anhöhe. Der Ort heißt Wilcze Jamy. An heiteren Tagen hat man hier einen weiten Blick nach Nordosten, auf Czumak, Wysokie und Czerteż. Dort würde ich irgendwann auch gern liegen, ich weiß nur noch nicht, womit ich das verdienen werde. Giovanni Delamarna vom fünften Schützenregiment fiel am 18. Dezember 1914. Man kann sich vorstellen: Winter, Schnee, vermischt mit Blut und Erde. Und Gräben, voll von Lebenden und Toten, und den Gestank verfaulender Leichen, wenn Tauwetter einsetzte. Oder einen mühseligen Angriff im hüfthohen Schnee, bergauf, ohne jede Deckung, und die Kälte, die bis in die Knochen dringt, während in der Ferne die Dörfer der Lemken brennen und es dort, zwischen den Bränden, warm ist wie am Ofen.

Also gehe ich in diesem nebligen Tag umher und stelle mir vor, wie Grab, Ożenna, Ciechania und Żydowskie brennen, obwohl ich kaum hundert Schritte weit sehen kann. Und die Jungs stelle ich mir vor: aus halb Europa, vielleicht sogar aus Sibirien zusammengetrieben auf dem Rücken der Karpaten, der rot ist von ihrem Blut. Karl Cortečka, Anton Berdok, Emil Gepich, Wilhelm Winter, Johan Szliaszki, Adalbert Pokorny, Gottfried Huber und hundertsiebenundzwanzig mit der Inschrift unbekannt. Denn nur das können wir tun: herkommen und ihre Namen aussprechen, immer wieder, wissend, dass sie am Ende doch vergessen werden. Und keine besonderen Illusionen hegen, dass uns jemand hört.

Alte Männer

Manchmal stelle ich mir verschiedene Dinge vor. Gestern zum Beispiel kam mir in den Sinn, dass aus den Zeitungen, aus dem Fernsehen, aus dem Internet allmählich die alten Männer verschwinden könnten.

Konkret ging es um die Bischöfe der katholischen Kirche, deren mediale Überpräsenz in letzter Zeit deutlich festzustellen ist. Alle sind alt und haben in der Regel einen ernsten, also im Grunde genommen finsteren Gesichtsausdruck. Ihre Ansprachen sind würdevoll und langweilig. In der Regel nehmen sie irgendetwas übel. In der Regel anderen, nicht sich selbst. Selten findet man in ihren Worten Zustimmung – zum Leben, zur Welt, zu Gefühlen, zur Menschheit, überhaupt zu Gottes Schöpfung. Die Bischöfe haben saure Mienen. Sie sind verbittert. Alte Männer, von ihren Kräften verlassen.

Gestern schloss ich die Augen, und anstelle der alten Männer sah ich junge Frauen. Jedenfalls mit Sicherheit jünger als diese Männer. Ich weiß, das ist eine ketzerische Vision. Nichtsdestotrotz attraktiv. Außerdem bringt diese Vision eine Hoffnung auf Belebung mit sich, auf die Wiederbelebung, die Auferstehung dieser Institution, die aussieht, als würde sie unter dem eigenen Gewicht zerfallen, zerkrümeln, zerbröseln wie ein verkalktes Skelett. Es ist so einfach: das Gesicht, die Gestalt einer Frau zu sehen an einer Stelle, wo wir seit tausend Jahren säuerliche alte Männer gewohnt sind. Alte Männer, die Macht besitzen und unser Leben, unsere Gefühle, unsere Welt bestimmen.

Mein Instinkt sagt mir, Frauen würden das besser machen. Sie sind dem Leben und den Gefühlen näher. Schließlich ist es ziemlich irrational, dass über Familie, Sexualität, Liebe und allgemein über das Leben sich ausgerechnet jene äußern, die durch ihr Amt, durch das Zölibat und durch ihr Alter von diesen Dingen am weitesten entfernt sind. Mein Gott, was versteht ein Bischof, der eingeschlossen in seinem Palast lebt, von Familie, Liebe, Mutterschaft oder Vaterschaft? Was versteht ein alter Mann, der von ebenso alten Untergebenen und Schmeichlern umgeben ist, von Gefühlen? Er kann allenfalls etwas verstehen von Gefühlen, die er nie erlebt hat, von unbefriedigten Gefühlen und von solchen, die erloschen sind, bevor sie überhaupt entstanden. Alte Männer an der Macht – das ist keine gute Idee. Sie verlieren ihre Kraft, also fühlen sie sich ständig bedroht. Ans Befehlen gewöhnt, glauben sie an ihre Unfehlbarkeit. Zur Einsamkeit verurteilt, verstehen sie das Leben anderer Menschen nicht. In einem anachronistischen Patriarchalismus gefangen, sagen sie immer wieder, Gott sei der Vater, also ein Mann. Und wenn dem nicht so ist?

Ich betrachte die Gesichter alter Männer auf Fotografien. Keiner von ihnen lächelt. Sie scheinen so griesgrämig, als wären sie übersäuert. Das sind sie wahrscheinlich auch. Sie blicken aus der Tiefe ihrer schwächer werdenden Körper heraus. Sie sehen aus, als sorgten sie sich um das Schicksal ihrer Herde und der Welt. Aber ich wette, am meisten beschäftigt sie der Gedanke an die immer schneller verfliegenden Tage. Deshalb sprechen sie nicht über wichtige Dinge, sondern wiederholen die alte Leier: von Verschwörung, von Hetze, vom Feind, von dunklen Mächten, von Verteidigung, von … und so weiter. Weil die Kräfte sie verlassen haben, weil sie nur noch die Tür schließen und sich vor der Welt schützen möchten.

Ich weiß, was ich sage, weil ich selbst ein älter werdender Mann bin und häufiger als früher einen bitteren Geschmack im Mund habe. Aber ich habe keine Macht, und ich bin kein Bischof. Deshalb kann ich mir die häretische Vision erlauben, in der schöne junge Frauen an die Stelle alter, nicht besonders anziehender Männer treten. Die Frauen können verheiratet oder unverheiratet sein, in eingetragenen oder nicht eingetragenen Partnerschaften leben, sie können geschieden oder auch alleinerziehend sein. Wenn Gott die Liebe ist, wie die alten Männer hartnäckig behaupten, hat der Familienstand keine Bedeutung. Wichtig ist schließlich nur die Liebe. Und Intuition sowie Erfahrung sagen mir, dass die Frauen sich damit besser auskennen. Dass sie dazu berufen sind, auf diesem Gebiet die Entscheidungen zu treffen. Nicht ausgeschlossen, dass sie die einzige Chance für diese halbtote Institution sind, in die sich die Kirche vor unseren Augen verwandelt.

Ist ein einsamer alter Mann, eingeschlossen in seinem leeren Palast, imstande, irgendjemandem Leben einzuhauchen, von der Gemeinschaft der Gläubigen ganz zu schweigen? Wenn wir die Ansprachen der Hierarchen hören, kommen uns Wörter wie »Liebe«, »Leben«, »Geist« eher nicht in den Sinn. Ehrlich gesagt, wenn wir sie hören, kommt uns nichts in den Sinn, außer dem Wunsch, dass sie bald fertig sein und damit aufhören mögen, sich mit der polnischen Sprache abzumühen.

Wir brauchen eine andere Stimme, eine andere Gegenwart. Was bisher funktioniert hat, geht jetzt nicht mehr. Alte Männer können sich mit Politik befassen, manche kommen damit ja ganz gut zurecht. Doch die Seele des Menschen ist zu fragil, als dass man sie deren Obhut anvertrauen könnte. Ich denke, nur das Weibliche ist in der Lage, uns durch diese dürftige Zeit zu führen. Ich glaube daran, dass es den Weg kennt. Und selbst wenn nicht, so ist es leichter, dem Weiblichen zu folgen als alten Männern.

1999 drehte Kevin Smith den Film Dogma. Der Film ist bilderstürmerisch, spöttisch und total witzig. Da treten böse gefallene Engel auf, zwei Junkies, Lumpen und Erotomanen, ein schwarzer Apostel, der aus rassistischen Gründen in der Bibel nicht vorkommt, sowie eine Nachfahrin der Schwester Jesu. Der Film gibt sich als wilde, frevlerische Komödie. Doch in der letzten Szene erscheint der liebe Gott persönlich – in Gestalt einer schönen Frau in einem weißen Ballettkleid. Die Gottfrau dreht Pirouetten im grünen Gras. Die Schönheit und Kraft dieses Bildes ist erschütternd. Und es geht ein großer Trost von ihr aus: Gott ist in der Tat allmächtig. Was für ein Problem sollte es also für ihn sein, den alten Männern ein wenig Ruhe zu gönnen.