Benjamin Maack

 Wenn das noch geht, kann es
nicht so schlimm sein

Suhrkamp

Friederike, danke, dass du diesen ganzen Mist aushältst
und mich auch dann noch liebst, wenn mal wieder fast nichts mehr von mir da ist außer dir. Ich weiß, das musst du nicht.
Und ich weiß, dass du das weißt.

»This has been taken straight out of the newspapers.
Nothing has been changed, except the words.«

Bob Dylan

Eins

Wir stehen im Tunnel. Wir stehen im Tunnel unter dem Fluss. Wir stehen im Stau, einem Rückstau. Das passiert. Das passiert ständig. In den Tunnel hinein. Runter, runter, runter. Die Geschwindigkeit halten, die Geschwindigkeit halten, diese besondere Art der Geschwindigkeit halten. Den Schwung, das Rollen, fast wie von selbst. Ein komisches Schweben, als wäre man zu leicht, als würde was fehlen. Oder ein ganz sanftes Fallen. Vielleicht läuft das Radio, vielleicht gehen die Scheibenwischer auf der trockenen Windschutzscheibe hin und her. Und da sind die Musik und die Scheibenwischer und dieser himmlische Schwung, diese ungeheure Leichtigkeit. Rollen und rollen und die großen, rot-weißen Pfeile übersehen, die auf den Boden zeigen. Sie markieren die Tunnelmitte. Und jetzt geht es bergauf, erst ein wenig, dann ein wenig mehr und dann noch mehr. Langsam braucht es Gas, zuerst nur ein leiser Druck auf das Pedal. Das Tempo halten. Und da sind ja noch immer der Schwung und das Schweben. Und dann hupt es. Und da ist es schon zu spät. Da mussten schon Hunderte auf die Bremse treten, da mussten schon viel zu langsame Wagen über die durchgezogene Linie mit ihren silbernen Markierungsnägeln holpern und auf die Überholspur. Und alles bremst und staut und stoppt.

Funktionieren

Zwei

Wir rollen langsam, ganz langsam, Fuß auf der Bremse. Ich sitze am Steuer unseres Familienwagens, der gerade mein Krankenwagen ist. Er ist breit und hoch, es ist bequem Platz für vier und alles, was man braucht. Wir sind zwei. Ich sitze am Steuer, Theos Tante Hanna daneben. Ich fahre, weil Hanna froh ist über jede Strecke, die sie nicht selber durch die Stadt fahren muss.

Drei

Mein Gehirn ist ein Schwamm, vollgesogen mit Medikamenten. Wissen Sie noch in der Schule, wie schön es da war, den Schwamm unter den Hahn zu halten, bis er ganz voll war, und ihn dann mit einem Klatschen gegen die Tafel zu schmeißen? Wie das Wasser die Tafel dunkel färbt, die Spritzer zu allen Seiten? Die Flecken, die in die Klassenraumluft verschwanden wie Geister.

Vier

Am Ende verbringe ich die Nächte auf dem Sofa im Wohnzimmer. Die anderen schlafen, Friederike oben in unserem Bett, in unserem Schlafzimmer, das für mich etwas anderes geworden ist. Vielleicht ist sie allein, wahrscheinlich liegt Wolf bei ihr. Ich müsste ihr nur eine Hand auf die Schulter legen. Und dann was sagen? Es geht nicht mehr? Hilfe? Am Ende ging es bis jetzt ja noch jede Nacht. Und wie um Hilfe bitten, wenn ich gar nicht mehr glaube, dass mir jemand helfen kann? Finger weg von den anderen, von denen, die richtig sind.

Die meiste Zeit starre ich ins Dunkel. Oder noch eine Serie sehen, noch ein letztes Bad aus der Pfütze im Warmwasserspeicher nehmen. Mehr von den Sachen in mich reinstopfen, die irgendwo zwischen dem Kühlschrank und mir in der Dunkelheit ihren Geschmack verlieren. Alles zu normal für jemanden, dem passiert, was mir passiert.

Am Anfang habe ich ja noch versucht, in unserem Bett zu schlafen, das in den letzten Nachtstunden oft Friederikes, Wolfs, Theos und mein Bett ist. Vier Körper, vier Arten, sich auszustrecken, sich aneinanderzudrücken, Platz zu beanspruchen, sich zuzudecken, zu atmen. Drei, die träumen, und einer, der leerläuft, der ein hohes Summen ----------. Zahnarztbohrerheulen in einem leeren Kopf und eine Gehwegplatte auf der Brust. Diese ganze, dieser riesige Haufen -----? Nein. Ja was eigentlich. -----. Denken ist das nicht, Angst ist das nicht, Wut, Trauer, Trauer. Dann eben einfach Trauer. Von mir aus Trauer. Können wir es bitte Trauer nennen? Eine Turbine -- ------ im Kopf, das ganze Drehen. Alles zerreißt, ein heilloses Durcheinander. Alles vertauscht, an falsche Stellen gezerrt und gequetscht und gespuckt. Ich kann keinen Gedanken fassen, sie stolpern über sich selbst. Und da ist kein Gefühl mehr, das ich ertragen kann. Aber die Gefühle durchzucken ja meinen Körper, brennen unter der Haut und über dem Chaos. Und es gibt kein Aufstehen mehr, nur die Panik und den Stapel Gehwegplatten auf der Brust.

Und wenn ich doch kurz einschlafe, schrecke ich aus Träumen hoch, die ich sofort wieder vergessen habe. Ich setze mich auf und gucke stumpf in die Dunkelheit, warum nicht alle wach sind. Weil ich doch geschrien habe, weil ich doch von meinen eigenen Schreien aufgewacht bin. Aber keiner ist wach. Die roten Ziffern auf der Radioweckerdigitalanzeige. Ich hoffe, dass zwei Stunden vergangen sind, wenigstens eine. Bitte eine. Siebzehn Minuten. Und die Dunkelheit und die Nacht sind riesig und überall.

Schlafen. Ich versuche, mich nicht zu bewegen. Wenn man sich in der Nacht nicht bewegt, schläft man ein.

Ich liege starr, um Friederike nicht zu wecken. Meine Muskeln angespannt, mein Blick stochert in der Dunkelheit, als wären die Schrecken da draußen. Wie fremd ich der Welt geworden bin, wie fremd ich mir selbst bin. Wie ich niemand mehr bin. Nichts. Nicht mal -----. Ein –

Was eigentlich? Ich wüsste das so gern. Ich weiß es nicht. Ich bin ein Experiment und weiß nicht, in was ich mich verwandeln werde und wer den Versuch überwacht. Ich habe Angst. Vor mir, vor der Zukunft. Warum? Weil ich nicht mehr ich bin, weil es für das, was einmal ich war, keine Zukunft mehr geben, weil ich nichts Schönes mehr denken kann. Weil ich mich vor mir fürchte, davor, wie die Welt vor meinem Kopf verdüstert und ergraut. Weil mein Kopf mir die Welt zertrümmert hat. Nachts bin ich allein mit mir, mit dieser hässlichen, irren Nacht, die weder hässlich ist noch irre, nur diese stille, unbelebte Welt, die kalt und klirrend ------ -------- ---- -----, eine Nacht, die ich ganz allein mit Hässlichkeit und Irrsinn auffülle. Und die Tage sind die von einer gleichgültigen Sonne übergossene Schwester der Nacht. Tags werde ich nicht mehr richtig wach. Tags finde ich mich noch unheimlicher als nachts, tags habe ich noch mehr Angst vor mir, und ich habe Angst vor den Blicken der anderen. Ich versuche, den anderen so viel wie möglich von dem Nichts zu ersparen, das ich geworden bin.

Also ist unser Bett jetzt Friederikes Bett, und ich oder das, was aussieht wie ich, haust nachts im Wohnzimmer und zieht tags in das Schlafzimmer mit den zugezogenen Vorhängen um, legt sich in das Bett, das nachts Friederikes Bett ist und tags meine Grabkuhle. Einmal höre ich Theo nebenan sagen – Ich glaube, Papas psychische Krankheit ist, dass er Tag und Nacht verwechselt.

Fünf

Ich nehme zwei. Eine ist rosa, die andere weinrot. Zwei, das ist so viel, wie ich das letzte Mal genommen habe. Zwei, das ist die Menge, die macht, dass alles normal ist, außer dass man 225 Milligramm Irgendwas einnimmt, um sich zu ertragen. Aber dieses Mal hilft es nicht. Dieses Mal funktionieren sie nicht. Wie kann das sein? Wie schlimm muss es sein, wenn das nicht mehr funktioniert?

Sechs

Es ist Montag, und wir stehen im Tunnel. Ich wundere mich, dass ich nicht traurig oder verzweifelt bin, sondern erleichtert. Schon am Freitag war ein Platz frei, aber ich wollte mich noch von den Kindern verabschieden, noch ein paar Mal die Nase in Wolfs Haar vergraben, seinen Babygeruch einsaugen, der immer noch da ist, obwohl wir ihn nur noch ›großer Junge‹ nennen dürfen. Noch einmal Theo richtig durchkuscheln, ihm erklären, dass ich in ein Krankenhaus muss, damit ich wieder gesund werde. Dass ich versuche, so schnell wie möglich wieder gesund zu werden. Dass ich versuche, so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen. Dass es aber ein wenig dauern kann. Nicht superlang. Aber ein paar Wochen schon. Dass ich mich immer freue, wenn er mich besucht. Dass er mich immer anrufen kann und dass ich, wenn ich es nicht schaffe, gleich ranzugehen, spätestens nach einer Stunde zurückrufe.

Ich versuche, das alles beiläufig zu sagen, damit Theo nicht weint. Theo weint nicht. Er sieht ernst aus. Viel zu ernst für einen Fünfjährigen. Aber er weint nicht. Er nickt. Ich weine. Immerhin, es gelingt mir, die Tränen nicht runterlaufen zu lassen.

Sieben

Als ich die Kapseln das erste Mal nehme, muss ich richtig lachen. Das ist ein Jahr und ein paar Monate nach Theos Geburt. Da ist manches noch ein ziemlicher Witz. Schon bedrohlich und scheiße, aber irgendwie auch ein interessantes Experiment. Ich glaube, dass es Sommer ist, ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, vielleicht auch ein sehr warmer Frühlingstag. Oder Regen. Ich weiß es nicht mehr. Nein, kein Regen.

Vor Venlafaxin hat der Arzt Cipralex ausprobiert. Ich brauche ziemlich lang, um mich dazu durchzuringen, ihm zu sagen, was passiert ist.

– Als es angefangen hat zu wirken, waren die ersten Tage richtig gut, sage ich.

Dann nehme ich allen Mut zusammen.

– Aber dann ist etwas Komisches passiert. Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, die Wirkung nicht verdient zu haben.

In meiner Erinnerung kneife ich die Augen zusammen und warte, bis der Arzt mich rauswirft, weil ich ein Simulant bin, weil ich ein Nichts bin und seine Zeit verschwende.

– Ja, sagt er stattdessen, das haben wir hier öfter. Dann versuchen wir es mit etwas anderem. Kennen Sie Venlafaxin?

Eine weitere mögliche Nebenwirkung sei Mundtrockenheit, sagt der Arzt noch, als er mir das Rezept gibt. Ja klar.

Ich komme aus der Apotheke, schlucke eine Pille und setze mich aufs Fahrrad. Und irgendwann während der Fahrt, als ich gar nicht mehr daran denke, fühlt es sich plötzlich an, als hätte ich in eine Packung Mehl gebissen. Von einem Moment auf den anderen. Mein Mund, die Wangen, der Gaumen, die Zunge, staubtrocken. Das Schlucken fällt schwer, weil hinten im Rachen irgendwas zusammenklebt.

Acht

In der Nacht bevor ich fahre, kommt Theo ins Wohnzimmer.

– Papa.

Er steht ein paar Schritte entfernt im Dunkel, ein schmaler Schatten, fünf Jahre alt, ein kleiner Mensch, niemand, der sich um seinen Vater sorgen sollte, jemand, der --- ------ ---------- --- ---------- bekommen sollte. Aber das kann ich nicht mehr, und ich hasse mich dafür, und ich weiß, dass dieser Hass nichts besser macht, nur alles schlimmer, aber auch dagegen kann ich nichts mehr machen. Ich sehe den Schatten und frage mich, ob er immer noch seinen Vater in mir sieht oder die Kreatur, die ich geworden bin. Dass ich mich nicht mehr um die wenigen kümmern kann, die ich liebe oder glaube zu lieben, weil ich nicht weiß, ob das, was ich da zustande bringe, noch Liebe ist. Theo, Wolf, Friederike sind die wenigen Menschen, für die ich überhaupt noch etwas fühle. Für alles andere bleiben nur ratlose Taubheit, irgendwann mal sinnerfüllte Gesten, kraftloses Theater.

– Na komm, schlüpf rein, mein lieber Bär, zwinge ich mich zu sagen, weil ich vermute, dass das jetzt das Richtige ist, und mache eine liebevolle Stimme nach.

Es ist März, es wird ein ungewöhnlich heißer Sommer werden, aber jetzt ist es noch kühl. Ich hebe die Bettdecke hoch, und Theo schlüpft zu mir. Er zögert kurz, als hätte er Angst, etwas falsch zu machen. Als würde er denken, da fehlt etwas, da ist nicht genug Vater. Dann drückt er sich an mich, so fest, dass ich Angst habe, dass er sich wehtut.

– Ist alles gut so, Hase?

– Ja.

Er nimmt meinen Arm und schlingt ihn um sich, drückt seinen Kopf fest an meine Brust, als wäre es schwer, meinen Herzschlag zu hören, als müsste er sich vergewissern, dass da noch etwas ist. Seine Hände und Füße sind kalt. Ich habe Tränen in den Augen. Nicht, weil ich es so schön finde, so rührend, dass er kommt, um sich von mir zu verabschieden. Ich weine, weil ich weiß, dass ich jetzt etwas fühlen müsste. Aber da ist nur diese müde, zittrige Leere in mir. Ich weine, ja. Aber ich weine um mich, um den Benjamin, der in diesem Moment nicht das Richtige fühlt. Ich halte diesen Fünfjährigen in meinen Armen, der mich offenbar sehr liebt, und mir fällt nichts ein außer Selbstmitleid. Dieser kleine Junge hält mich mit all seiner Kraft, und ich frage mich, warum er das tut, ob das, was er mit seiner Liebe meint, wenn er mich so umarmt, noch da ist. Er drückt sich an mich, und in meinem Kopf bin nur ich. Aber das ist ja gar nichts. Es gibt ja gar kein Ich. Wo eins sein sollte, sind nur Fremdheit und Taubheit. Und ich wünschte, ich könnte jetzt behaupten, es wäre einfach, zu behaupten, viel leichter zu sagen, dass ich von mir angewidert bin. Aber ich bin nur leer.

Irgendwann lässt er mich los. Er lässt mich los und dreht sich um und schläft sofort ein.

Neun

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Zehn

Wir sitzen im Auto und reden über irgendwas, ich habe vergessen, was. Es geht langsam voran. Manchmal sagt Hanna, dass es das Richtige ist, dass es nicht mehr anders geht, und manchmal sage ich, dass es das Richtige ist, dass es nicht mehr anders geht. Und ich weiß ja auch, dass es nicht mehr anders geht, nur richtig fühlt es sich nicht an. Wir reden irgendwas, und dann ist es manchmal kurz schön, und im Kofferraum ist der große, schwarze Rollkoffer, und manchmal sagen wir, dass es das Richtige ist, und ich denke, dass es das Falsche ist und dass es richtiger wäre, an den Straßenrand zu fahren und zu sterben. Einfach so, mit einem letzten, tiefen Ausatmen hinter dem Steuer zusammensinken und weg sein. Von einem gnädigen Zufall aus der Welt genommen.

Ich darf nicht denken. Das ist eigentlich der Trick für eine akzeptable Fahrt in die Psychiatrie. Wenn ich denke, merke ich nur, wie merkwürdig und fern ich mir geworden bin. Wie ich mir von weitem zuschaue und mich kaum noch erkenne. Und ich denke, dass es auch ein bisschen witzig, ein bisschen bekloppt und absurd ist, sich selbst in die Klinik zu fahren und dabei zu plaudern. Wie die überraschende erste Szene einer erbaulichen Psychiatriekomödie mit Til Schweiger, Florian David Fitz und Matthias Schweighöfer, in der am Ende alle gemeinsam aus der Anstalt abhauen und ans Meer fahren, um einen Sonnenaufgang zu sehen, bei dem der schwer Selbstmordgefährdete erkennt, dass das Leben eigentlich ja doch super lebenswert ist, und der sympathisch ausgeflippte Bipolare nimmt dann doch seine Pillen und heiratet die niedliche Krankenschwester beim Fallschirmspringen, und der irgendwie süße autistische Nerd mit den Panikattacken fährt dem konservativ-vernagelten Managerpapa mit seinem super ungewöhnlichen Blick auf alles einen total guten Deal ein, weshalb Sohnemann das kleine, aber feine Familienunternehmen doch noch übernehmen darf, und ganz nebenbei zeigen die drei ihrem Umfeld, dass normal sein nämlich doch nicht das Maß aller Dinge ist.

Später sagt Friederike, dass sie auch im Auto gesessen hat.

Wir finden einen Parkplatz direkt vor der Klinik, ich wuchte den großen, schwarzen Rollkoffer aus dem Wagen.

– Soll ich noch mitkommen?, fragt Hanna.

– Nee, geht schon. Danke dir. Jetzt wird’s sowieso erst mal langweilig.

Ich umarme Hanna, gebe ihr den Autoschlüssel, bedanke mich für ihre Hilfe, rollkoffere los. Müsste ich jetzt nicht was fühlen? Was müsste man denn jetzt fühlen? Trauer? Oder Angst? Weil nachher die Krankenkarte eingelesen wird und man dann offiziell in der Psychiatrie eingeloggt ist? Aber ich spüre gar nichts. Doch. Scham. Weil ich mit diesem riesigen, schwarzen Rollkoffer anrücke. Sollte man nicht in aller Eile, mit einer nachlässig vollgestopften Tasche und wochenlang nicht gewaschenen Kleidern, ungeduscht und tränenverklebt in die Klinik kommen? Sollte man sich nicht eigentlich um sein Leben einweisen?

Angry Birds Match, Level 11

Venedig

Ich sitze mit Johan in einer Bar in Venedig. Laute Musik, Black Sabbath.

Ich halte mich für irgendwie merkwürdig, aber gesund. Irgendwie merkwürdig, weil Politik und Geld und Beziehungen und Familie und Arbeit und Wünsche, weil eben sowieso alles merkwürdig ist. Gesund, weil, wenn alles merkwürdig ist, merkwürdig ja normal ist.

Ich trinke Bier in tiefen Zügen und rede mit einem Selbstverständnis davon, dass mein Leben ohne Sinn, ohne jeden Zusammenhang ist, dass es sich später anfühlt, als hätte ein Geist gesprochen. Ich sage

– Klar, Sinn, was soll’s, das ist Luxus. Ganz schön, aber braucht man jetzt nicht unbedingt unbedingt.

Ich brauche das schon. Ich erinnere mich dort in der Bar in Venedig nur grad nicht mehr daran. Ich habe das da irgendwie total aus den Augen verloren. Ich bin da schon ein Erledigter, ein Zerbrochener. Ich habe es nur noch nicht gemerkt.

Als ich im Krankenhaus bin, finde ich ein Bild dafür. Bilder sind eine Zeit lang alles, was mich vor dem völligen Verschwinden bewahrt.

Dieses geht so, dass mein Leben nach und nach abgestorben ist, weil es nicht mehr von Gefühlen durchblutet wurde. Dass mein Kopf, dem es schwerer- und schwerergefallen ist, zu fühlen, die Emotionen unbemerkt immer härter rationiert hat, bis das Fühlen in großen Teilen meines Lebens vertrocknet und verschwunden ist. Aus der Arbeit, aus Freundschaften, aus allen Dingen, die mir mal etwas bedeutet haben. Irgendwann treffe ich niemanden mehr, irgendwann sagen mir Worte nichts mehr. Irgendwann ist all das verloren und verstorben, weggebrochen, weggeweht. Irgendwann sage ich mir selbst nichts mehr und mein Leben mir auch nicht.

Und dass einem so ein ganzes Leben überhaupt abhandenkommen kann, und hier geht das Bild weiter, liegt daran, dass Gefühle nicht nur meine Welt am Leben gehalten haben, sie waren auch der Klebstoff für meine Biografie, für alles, was ich mir über mein Leben erzählt habe.

Ohne Emotionen wird aus einem Leben, das sinnerfüllt erscheint, das eine Geschichte ist, Kinder haben, Arbeit haben, Interessen haben, Sachen wollen, lieben, Träume, ohne Gefühle wird das, was bei anderen ein Leben ergibt, zu einer unendlichen, unendlich sinnlosen Reihe von Sachen, die man macht oder machen muss, die man entscheidet oder entscheiden muss. Oder die einem einfach zustoßen. Erst das, dann das, dann das. Ohne Gefühle hat das alles nichts mehr mit dir zu tun, außer dass es dich anstrengt. Es ergibt keine Erzählung. Dein Leben wird zu einer Liste von Erledigungen, und der letzte Punkt ist der Tod. Und alles davor ist mehr oder weniger nervig, mehr oder weniger auslaugend, mehr oder weniger schmerzhaft. Alles davor ist irgendwie sinnlos und leer und unzusammenhängend und furchtbar anstrengend, fast nicht zu schaffen. Und jeder Traum ist ein Albtraum. Besonders die schönen.

Ich merke das nicht. Lange Zeit ist das alles angenehm, weil ich nichts entscheiden muss. Aber irgendwann geht das auch nicht mehr. Und am Ende ist nur die Familie übrig. Und die Familie treibt in einer trüben Suppe aus Gleichgültigkeit und Müdigkeit und Trauer und Selbstmitleid um irgendwas, das da, das man mal gewesen sein muss und das jetzt nicht mehr da ist.

In Venedig brauche ich noch keine Bilder. An diesem Abend reicht es, mich ein wenig zu betrinken und an Johans Seite in unser Airbnb mit Panoramafenster zum Kanal zu wanken und dort noch irgendeinen Film auf Netflix zu sehen, bei dem ich schnell einschlafe. Am nächsten Morgen bin ich wieder um vier oder halb fünf wach, schalte die Nachttischlampe an und lese. Ich muss lesen. Ich weiß nicht, warum. Aber ich weiß, ich muss lesen. Das ist die Regel. Solange ich lese, bin ich okay.

Dreizehn

Ich kenne das Gelände, ich kenne das Gebäude, die Station, den Arzt. Vor vier Jahren war ich schon mal hier. Ich fühle mich wie ein Pauschalurlauber, der zu seiner All-inclusive-Bettenburg vom letzten Sommer zurückrollkoffert.

Ich rollkoffere über den Platz, drücke eine Taste, und die Tür öffnet sich.

Vierzehn

Beim ersten Mal bin ich ins Krankenhaus gegangen, weil ich mich Friederike und Theo nicht mehr antun wollte, weil ich nicht wollte, dass sie mich so sehen, weil ich nicht wollte, dass sie verstehen, was da mit mir passiert. Weil ich Angst hatte, dass Verstehen die Krankheit überträgt.

Als ich wieder gesund bin, will ich Friederike erklären, wie Depressionen sind. Aber Depressionen sind geschickt. Ist man gesund, kann man sich nicht mehr daran erinnern, wie es war, krank zu sein. Und ist man krank, kann man sich nicht vorstellen, je wieder gesund zu werden.

Fünfzehn

Depressionen sind schlau, sie machen es sich in deinem Kopf bequem und tun so lange so, als wären sie ein Teil von dir, bis du es glaubst, und dann sind sie es.

– Ganz schön heiß heute. Ich hätte Lust auf ein Eis.

– Ein Eis also? Ja genau. Lässt deine Familie im Stich, machst es dir mit einem leckeren Eis gemütlich, versteckst dich im Krankenhaus vor deinem Leben, vor deiner Verantwortung als Vater, vor deiner Verantwortung Friederike und deinen Kollegen gegenüber und feierst deine Wehwehchen mit einem leckeren Eis. Einer wie du sollte gar nicht hier sein dürfen, und wenn du schon mal darüber nachgedacht hättest, dich hier ein bisschen anzustrengen, dann wärst du längst nicht mehr hier. Aber was sollte ein Waschlappen wie du da draußen schon machen. Bleib halt hier, verkriech dich weiter mit deiner peinlichen, kleinen Traurigkeit und bemitleide dich selbst. Typen wie du bringen mich zum Kotzen.

Sechzehn

Beim ersten Mal ist das Ankommen, wie durch eine muffige Jahrmarktgeisterbahn zu irren. Ein paar unecht aussehende Puppen, Schwarzlicht, ein Labyrinth und Spiegeltricks.

Und gleichzeitig wummert mein Herz, meine Muskeln sind angespannt und alle Sinne hellwach, weil ich weiß, dass an irgendeiner Ecke der schlimme Moment wartet, dass irgendwo der mies bezahlte Typ im Zombiekostüm steht, der mich plötzlich packt, und ich kreische, und mein Herz dreht durch, und das ist sein wahrer Lohn, meine albern panischen Schreie, die albern panischen Schreie dieses unbedrohten Idioten in einer Rummelattraktion.

Und dann bin ich auf der anderen Seite, und er ist nicht gekommen.

Er sitzt nämlich auf seinem Sofa in einem völlig anderen Stadtteil, raucht und schaut die Zusammenfassung eines Fußballspiels, das ihn nicht interessiert. Aber das weiß ich damals nicht.

Dann bin ich raus und weiter, kann die Geisterbahn schon gar nicht mehr sehen.

Und er? Hat den Job vielleicht gar nicht angenommen. War ihm vielleicht zu albern oder Knieprobleme.

Und ich bin schon lange, Tage, nicht mehr auf dem Rummel und schaue immer noch suchend in die Menge. Ich gehe zur S-Bahn, und irgendwas ist da doch, irgendwas sitzt ein paar Vierer weiter und steigt an derselben Haltestelle aus. Und ich nehme einen anderen Weg nach Hause und weiß, dass es nichts bringt, dass er, wenn ich die Haustür öffne, schon auf meinem Sofa sitzt und Fußball guckt.