3Axel Honneth

Die Armut unserer Freiheit

Aufsätze 2012-2019

Suhrkamp

7Vorwort: Die Armut unserer Freiheit

Die Mehrzahl der Aufsätze, die in dem vorliegenden Band versammelt sind, verdankt sich dem Versuch, einige mir später klargewordene Lücken meines Buches Das Recht der Freiheit[1]  nachträglich zu füllen; als 2012 die ersten ausführlicheren Reaktionen auf meine Studie erschienen und mich auf gewisse Mängel meiner Überlegungen hinwiesen, habe ich damit begonnen, offengebliebene Fragen zu klären und nicht hinreichend bestimmte Thesen weiterzuentwickeln. Im Rückblick auf diese über einen Abstand von sieben Jahren entstandenen Beiträge bin ich zu dem Entschluss gelangt, sie in einem Band zu versammeln, der um den Begriff der »sozialen Freiheit« kreist; denn in kaum einem der hier versammelten Aufsätze unternehme ich nicht den Versuch, entweder durch Auseinandersetzung mit der Tradition eines solchen Freiheitsbegriffs, durch Aufweis einer mangelnden Realisierung seines normativen Gehalts in der sozialen Gegenwart oder schließlich durch Benennung seiner nach wie vor bestehenden Impulse einen weiteren Schritt in Richtung einer Aufhellung seiner Bedeutung zu unternehmen. Den Titel, den ich dann dem ganzen Band geben konnte, Die Armut unserer Freiheit, habe ich in leichter Abänderung einem der hier veröffentlichten Beiträge entnommen, in dem ich anhand von Hegels Konzept der Sittlichkeit die Idee der sozialen Freiheit weiter habe aufklären wollen: Dass wir heute unter einer Armut an Freiheit leben, soll heißen, dass es uns bislang in dem Bemühen um eine Realisierung der normativen Versprechen moderner Gesellschaften nicht gelungen ist, die Prinzipien sozialer Freiheit dort zu verwirklichen, wo sie am dringlichsten erforderlich wären.

Wie diejenigen wissen, die meine Studie gelesen haben, bildete die Sittlichkeitslehre Hegels das theoretische Rückgrat von Das Recht der Freiheit; insofern steht sie auch im Zentrum der Aufsätze des I. Teils dieses Sammelbandes, in dem ich vornehmlich in der Beschäftigung mit der philosophischen Spannung zwischen Hegel 8und Marx den Begriff der sozialen Freiheit noch einmal weiter zu erläutern versuche. Was mir über die besondere Bedeutung hinaus, welche die intellektuelle Konstellation von Hegel und Marx für das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie als solche besitzt, an dieser Rückschau auf eine konstitutive Debatte des 19. Jahrhunderts von besonderem Gewicht zu sein scheint, ist die Selbstverständlichkeit, mit der damals die Idee der sozialen Freiheit als eine eigenständige Auffassung davon behandelt wurde, was es für uns heißt, tatsächlich frei zu sein: Sowohl Hegel als auch Marx waren der Überzeugung, dass individuelles Frei-Sein letztlich nur in geglückter Intersubjektivität gegeben sein kann, weil es dem Einzelnen ohne die anerkennende Bestätigung durch den Anderen nicht zu gelingen vermag, seine Absichten und Impulse zwanglos zu realisieren – nur dass beide Denker dann sehr unterschiedliche Vorstellungen davon entwickelten, welche sozialen Einrichtungen vorhanden sein müssen, um eine derartige Form von geglückter Intersubjektivität gesellschaftlich zu ermöglichen. Meine Beiträge im I. Teil des vorliegenden Bandes gehen diesen von Hegel und Marx entwickelten Alternativen in beiden Richtungen nach, um zu einer Einschätzung ihres jeweiligen Wertes für unser heutiges gesellschaftliches Selbstverständnis zu gelangen. Im letzten Aufsatz dieses Teiles unternehme ich hingegen den Versuch, den systematischen Kern der Idee sozialer Freiheit in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Freiheitsbegriffen der neuzeitlichen Tradition zu umreißen – ohne mit dem Ergebnis allerdings schon vollkommen zufrieden zu sein.

Der Titel des II. Teils – »Deformationen sozialer Freiheit« – soll signalisieren, dass es hier um Bemühungen geht, genauer zu erkunden, warum und wieso es uns heute in vielen Hinsichten an sozialen Chancen zur Realisierung einer solchen Form von Freiheit fehlt. Den Auftakt macht dabei allerdings der Versuch,[2]  einen Schlüsselbegriff meiner Gegenwartsdiagnose, den der »sozialen Pathologie«, noch einmal unabhängig von der ihm in Das Recht der Freiheit zugewiesenen Bedeutung zu bestimmen; dabei schlage ich neue Wege ein, deren Weiterverfolgung einigen Überlegungen in 9meiner Studie eine andere, radikalere Wendung geben würde. Der Rest der Aufsätze beschäftigt sich mit drei sozialen Arenen, in denen der Mangel an ernsthaften Anstrengungen, soziale statt bloß »negative« Freiheit zu verwirklichen, heute besonders augenfällig ist. Am Anfang steht dabei die Beschäftigung mit einer sozialen Instanz der »Sittlichkeit«, deren Bedeutung ich beim Schreiben jenes Buches aus Gründen vollkommen übersehen habe, die möglicherweise mit einer dann doch zu sklavischen Bindung an Hegels Vorlage zusammenhingen: Mit ihm, der in dieser Hinsicht Kant unterlegen war, lasse ich dort weitgehend außer Acht, welche enorme Bedeutung den öffentlichen Bildungseinrichtungen für die Entwicklung und Stabilisierung demokratischer (bei Hegel »staatsbürgerlicher«) Einstellungen und Dispositionen im Ganzen zukommt.[3]  Der Aufsatz zur Rolle der schulischen Erziehung im demokratischen Prozess, der neben Kant vor allem an John Dewey und Émile Durkheim anschließt, ist ein kleiner Versuch, diesen misslichen Fehler nachträglich zu beheben. Die beiden abschließenden Beiträge zum II. Teil, die einen zunehmend experimentellen Charakter haben, verfolgen ebenfalls das Ziel, sich zu fragen, was an unseren Vorstellungen über zentrale Sphären des gesellschaftlichen Zusammenlebens eigentlich geändert werden müsste, wollten wir im Ernst darangehen, sie als Orte der Verwirklichung sozialer – und nicht bloß »negativer« – Freiheit zu verstehen: In dem Aufsatz über die soziale Rolle der Arbeit lege ich weit über das im Buch Gesagte hinaus dar, warum eine demokratische Willensbildung in elementarer Weise auf Bedingungen einer fairen, inklusiven und transparenten Arbeitsteilung angewiesen ist, in dem Aufsatz über die Kindheit versuche ich mich in tastender Weise zu fragen, welche tiefsitzenden Prämissen unserer liberalen Vorstellungen über Kinder möglicherweise ungeeignet sind, um diesen die Entwicklung einer eigenen Stimme und damit von demokratischer Autonomie zu ermöglichen.

Der Titel, unter den ich die Beiträge im III. Teil versammelt habe, »Quellen sozialer Freiheit«, mag zunächst ein wenig gewollt wirken; hier sind nämlich drei Aufsätze zusammengeführt, die sich nicht nur ganz unterschiedlichen Anlässen verdanken, sondern auch Fragestellungen verfolgen, die auf den ersten Blick kaum mit10einander zusammenzuhängen scheinen. Gleichwohl behandeln sie alle, wenn auch an sehr verschiedenen Wurzeln ansetzend, individuelle oder kollektive Erfahrungen, die, richtig verstanden, uns über die Notwendigkeit aufklären müssten, den Schritt von einer bloß individualistisch verstandenen zu einer wirklich sozialen, in zwangloser Wechselseitigkeit begründeten Freiheit zu vollziehen: An der Logik der Geisteswissenschaften zeigt der erste dieser Aufsätze, dass uns die Beschäftigung mit der geistigen Verfassung unserer sozialen Welt dazu nötigt, uns als Mitglieder einer aktiven, gegen naturhaft scheinende Abhängigkeiten ankämpfende Interpretationsgemeinschaft zu begreifen; der zweite Aufsatz macht in Wiederaufnahme der alten Frage, ob es ein emanzipatorisches Interesse geben mag,[4]  auf den Umstand aufmerksam, dass auch unterdrückte Gruppen ihre Befreiung nur auf dem Weg einer kognitiven Mobilisierung gegen naturalisierende, hegemonial festgefrorene Deutungssysteme gesellschaftlicher Ordnung in Gang setzen können; und der letzte Aufsatz in diesem III. Teil unternimmt schließlich den Versuch, uns Europäer daran zu erinnern, dass wir zu einem solidarischen Miteinander nur zurückfinden können, wenn wir uns im Geist sozialer Freiheit mit der Aufgabe befassen, das von den europäischen Staaten bis in die jüngste Vergangenheit hinein weltweit begangene Unrecht und Unheil gemeinsam aufzuarbeiten und durch Errichtung von normativen Selbstschutzmechanismen zu bezwingen – ein Text, der aus dem Rahmen des vorliegenden Bandes zu fallen scheint, den ich aber unbedingt einbezogen wissen wollte, weil er vielleicht die politische Aktualität einiger der hier angestellten Überlegungen unter Beweis stellen kann.

Wie immer habe ich Eva Gilmer zu danken, die mich auf dem Weg zu diesem Aufsatzband mit der für sie charakteristischen Sorgfalt, Umsicht und Hilfsbereitschaft begleitet hat. Dank schulde ich darüber hinaus Jan-Erik Strasser, der den gesamten Text im letzten Stadium mit großem Sachverstand durchgesehen und korrigiert hat.

Axel Honneth, im Januar 2020

11I. Spielarten sozialer Freiheit