Raul Zelik
Wir Untoten des Kapitals
Über politische Monster und einen grünen Sozialismus
Suhrkamp
Für Malik und Paula,
we tried.
Dieses Buch war bereits im Lektorat, als die Covid-19-Pandemie Europa erreichte und in immer mehr Ländern Ausgangssperren verhängt wurden. Auch wenn im Augenblick noch völlig unklar ist, wie groß die Folgen der Krankheit für die Gesellschaften und die globalen Beziehungen sein werden, stellt sich die Grundfrage dieses Buchs vor dem Hintergrund der Ereignisse nur noch dringlicher. Die Ausgangsthese dieses Essays ist, dass unsere Produktions- und Lebensweise aus ökologischen und sozialen Gründen an ihre Grenzen stößt und wir über Gegenentwürfe nachdenken müssen, die über den Kapitalismus, aber auch den Sozialismus in seinen bisherigen Ausprägungen hinausweisen.
Die Covid-19-Krise führt einem die ganze Absurdität und Zerbrechlichkeit unseres Wirtschaftssystems vor Augen. Während Billionen Dollar und Euro zur Rettung von Finanzmärkten und Konzernen bereitgestellt werden, erleben selbst die reichsten Industriestaaten den Kollaps ihrer Gesundheitssysteme. In Spanien dürfen Kinder aufgrund der Ausgangssperre seit einem Monat nicht aus dem Haus, obwohl wochenlang normal weiter produziert und gearbeitet wurde, um »die Wirtschaft am Laufen« zu halten. Fast überall zeugen leer geräumte Regale davon, dass es mit den Selbstheilungskräften des Marktes in Krisenmomenten nicht allzu weit her ist; die Schlangen vor den Waffengeschäften in den USA geben einen Hinweis darauf, was geschieht, wenn jede*r in den Mitmenschen in erster Linie Konkurrent*innen sieht. Und die in Frankreich auf den Straßen patrouillierenden Militärs sollen wohl jene Sicherheit vermitteln, welche die »schlank« gesparten Gesundheitssysteme nicht mehr gewährleisten können. Dazu kommen erdumspannend Fake News und Weltuntergangserzählungen in den sozialen Netzwerken.
All das ist real. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Krise einen Moment der Offenheit repräsentiert, in dem fast alles zur Disposition steht. So fürchterlich die Bilder aus den Notkrankenhäusern sind und so beängstigend der Wirtschaftskollaps eines schlagartig deglobalisierten Kapitalismus erscheinen mag, sollten wir uns doch auch vergegenwärtigen, dass vieles an der Situation durchaus ermutigend ist. Überall in der Welt werden die größten Einschränkungen des Soziallebens akzeptiert, um die Schwächsten zu schützen, das heißt, die medizinische Versorgung derjenigen zu ermöglichen, die wegen ihres Alters oder aufgrund von Vorerkrankungen auf die Intensivstation müssen. »Flatten the curve« bedeutet ja eben nicht das Recht des Stärkeren, sondern Solidarität, denn in der Sprache des Marktes wären die Alten und Kranken nur ein lästiger »Kostenfaktor«. Die Tatsache, dass die Gesellschaft dem Markt zumindest für einen Augenblick einmal Paroli bietet, ist keine Kleinigkeit.
Auch die Maßnahmen, die viele Regierungen bisher ergriffen haben, tragen immerhin dazu bei, den politischen Vorstellungshorizont wieder ein wenig zu öffnen. Sicher – ein Großteil der Billionen Euro und Dollar wird auch diesmal ausgeschüttet, um Banken und Konzerne, also in erster Linie superreiche Shareholder vor einem Vermögensverlust zu schützen. Aber plötzlich werden wirtschafts- und sozialpolitische Positionen vertreten, die noch wenige Tage zuvor als sozialistisches Teufelszeug galten: Neoliberale Börsenexpert*innen plädieren für die Verstaatlichung von Unternehmen (um sie vor ausländischen Übernahmen zu schützen), Finanzminister setzen die schwarze Null außer Kraft, die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hält jene europäischen Staatsanleihen auf einmal für denkbar, die man dem »verschwenderischen Süden« bislang immer verweigerte, und in vielen Ländern diskutieren Regierungen über die Verteilung von »Helikoptergeld« – eine Art punktuelles Grundeinkommen. In Frankreich erlässt Präsident Macron notleidenden Kleinunternehmer*innen per Dekret Mieten, Strom- und Wasserzahlungen, was schon allein deshalb erstaunlich ist, weil die Politik doch angeblich keine Handhabe bei Privatverträgen hat, und in mehreren europäischen Ländern wird plötzlich Industriekonversion betrieben: Automobilzulieferer sollen auf die Fertigung von Medizingeräten umstellen. Zumindest für einen Augenblick ist die bedürfnisorientierte, demokratische Planung der Wirtschaft, die den Kern jedes sozialistischen Projekts ausmacht, eine reale Option.
Auch vieles von dem, was aus klimapolitischen Gründen seit Langem gefordert wird, ist in der Krise auf einmal Realität. Flugzeugflotten bleiben auf dem Boden, Kreuzfahrtschiffe dürfen nicht mehr ablegen, der völlig überdrehte Massentourismus, der Millionen Menschen zum Biertrinken an Orte befördert, an denen es dank der Tourismusindustrie genauso aussieht wie zu Hause, ist zum Erliegen gekommen. Satellitenbilder zeigen, dass die Luftverschmutzung nicht nur in China, sondern auch in Norditalien innerhalb weniger Tage dramatisch zurückgegangen ist. In Venedigs Kanälen fließt wieder klares Wasser, und in Deutschland die klimapolitischen Ziele für 2020 – eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um vierzig Prozent gegenüber dem Jahr 1990 – sind plötzlich nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.[1]
Das alles sind natürlich trotzdem keine guten Nachrichten, denn die Covid-19-Pandemie wird Hunderttausenden, vielleicht auch Millionen Menschen in der ganzen Welt das Leben kosten. Am Schrecken der Ereignisse gibt es nichts zu beschönigen oder zu relativieren. Trotzdem sollten wir erkennen, in welchem Moment wir uns befinden: Die globale kapitalistische Maschine, die immer weiter beschleunigen muss, ist schlagartig zum Stehen gekommen, und wir sind alle, über nationale Grenzen hinweg, davon betroffen. Gewiss nicht alle gleichermaßen, denn in den Ländern mit kaputtgesparten öffentlichen Gesundheitsdiensten sterben viel mehr Menschen, und wer in Berlin-Zehlendorf oder Hamburg-Blankenese im Garten Home-Office machen darf, kann die Entschleunigung – anders als die Arbeiterfamilie in einer überbelegten Wohnung oder der Geflüchtete in einem Wohncontainer – möglicherweise sogar genießen. Und doch führt die Krise uns allen drei Dinge vor Augen: dass erstens das Hamsterrad, in dem wir eingesperrt sind, sehr wohl angehalten werden kann, dass zweitens die Menschheit so verbunden miteinander ist, dass sich ein Virus innerhalb weniger Wochen durch alle Körper auf dem Planeten hindurch reproduzieren kann, und dass drittens es am Ende immer um das Leben geht, jede gesellschaftliche Ordnung eingebettet ist in ein »Netz des Lebens« (wie es bei dem Soziologen Jason Moore heißt), für das wir Sorge tragen, das wir aber niemals völlig kontrollieren werden.
Walter Benjamin hat in einer Vorarbeit zu seinen geschichtsphilosophischen Thesen einst den Satz notiert, Revolutionen seien gar nicht, wie Marx meinte, die Lokomotive der Weltgeschichte, sondern der Griff des »im Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse«.[2] Dass der Zug kurzzeitig zum Halten gekommen ist, alle Regeln und Vereinbarungen plötzlich zur Disposition stehen und wir beobachten, wie vieles auch ganz anders sein könnte, eröffnet Möglichkeiten. Zum Schlechteren wie zum Besseren.
Es gibt unzählige Gründe, sich Sorgen zu machen. Die Schließung von Grenzen befeuert den Nationalismus, die Unterbrechung der globalen Wertschöpfungsketten kann zur Herausbildung von Regionalblöcken führen, die dann schon bald militärisch um Märkte und Rohstoffe kämpfen werden, in Südeuropa droht die schlimmste Wirtschaftskrise der Geschichte, und die Gesundheitssysteme im globalen Süden werden die schweren Fälle dieser Pandemie gar nicht erst versorgen können. Wir erleben, wie Menschen Psychosen ausbilden, Hamsterkäufe machen, nur an sich selbst denken. Aber auch das Gegenteil: Gesundheitsarbeiter*innen, die alles geben, obwohl sie Gefahr laufen, sich selbst anzustecken und zu sterben, Menschen in Quarantäne, die vom Balkon aus abendlich den Pfleger*innen und Ärzt*innen applaudieren oder sich zum Singen am Fenster verabreden, und bürgerliche Politiker*innen, die auf einmal die Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems als politische Priorität für sich entdecken.
Wenn es einen Lichtblick gibt, dann ist es der Charakter der von der Pandemie aufgeworfenen Fragen: Warum stehen öffentliche Infrastrukturen wie das Gesundheitswesen eigentlich nicht im Mittelpunkt jeder ökonomischen Theorie, wenn sie doch offenbar die Grundlage unseres Lebens garantieren? Wieso werden Krankenpfleger*innen, Kassierer*innen und Transportarbeiter*innen nicht »systemrelevant« bezahlt, wenn ohne sie nichts geht? Weshalb werden die ganzen Markttheorien nicht endlich ins Reich der Ideologie verwiesen, wenn der Markt in jedem schwierigen Moment Panikkäufe und Warenknappheit produziert? Warum werden die Börsen, die sich wieder einmal als tickende Zeitbomben erweisen, nicht endlich geschlossen oder zumindest radikal reglementiert? Wieso ist es normal, dass wir mit Milliarden Euro Steuergeldern Großkonzerne retten, aber undenkbar, dass wir demokratisch darüber entscheiden, was, wo und unter welchen Bedingungen diese Unternehmen produzieren? Und weshalb treiben wir in einer Zeit, in der sich immer mehr Krisen nur global lösen lassen (für den Klimawandel gilt das ja genauso wie für Pandemien), den Aufbau globaler Strukturen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO nicht viel entschlossener voran? Warum bauen wir keine globalen Gesundheits- und Umweltministerien auf, die nicht von Nationalregierungen ernannt, sondern durch eine demokratische Wahl aller Weltbürger*innen bestimmt werden? Oder umgekehrt: Wenn es zu utopisch ist, solche globalen Strukturen jenseits der Nationalstaaten aufzubauen, warum gelingt es uns dann seit Jahrhunderten, globale Wirtschaftskreisläufe zu organisieren? Wäre es nicht andersherum viel erfolgversprechender: mehr globale Demokratie, weniger globalisierte Produktionsketten? Eine für Menschen offene Lokalisierung der Ökonomie?
In Momenten der Krise braucht man konkrete Antworten für konkrete Probleme. Man muss aber auch immer wissen, in welche Richtung man sich bewegen will, und dafür wiederum benötigt man gesellschaftliche Entwürfe, die über das Bestehende hinausreichen. Das 20. Jahrhundert brachte schreckliches Elend, aber auch großen sozialen Fortschritt – möglich war das, weil es Bewegungen und Strategien zur radikalen Veränderung der Gesellschaft gab. Die kleinen, konkreten Erfolge waren möglich, weil es große Projekte, Strategien und Erzählungen gab. Über solche Gegenentwürfe der Solidarität, der Gleichheit, der Demokratie und der Sorge um das Leben müssen wir reden. Jetzt, da die Maschine für einen Moment zum Stehen gekommen ist. Die Pandemie ist ein Scheideweg – entweder wir entscheiden uns für ein Projekt des Lebens oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung.
April 2020