Alexander Kluge

Russland-Kontainer

Suhrkamp

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Abb. 1: Der Autor, während er am Kontainer arbeitet.

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Abb. 2: Mit der 35 Millimeter Kamera Arriflex S120 Blimp.

Von Neugierde, nicht aus einem Sollen (einer Tugendlehre), kommt der Wissensdurst. Und er stammt aus dem Erzählen. Ich fange an zu erzählen, noch bevor ich etwas weiß

Allem, was mich verwirrt an meinem eigenen Land und was ich an meinen unmittelbaren Erfahrungen nicht verstehe, kann ich versuchen näherzukommen, indem ich von einem mir fremden Land erzähle. Das war eine der Ansichten des Dramatikers Heiner Müller. Er kannte Rußland soweit und sowenig wie ich. Es gibt, sagte er, ein großes Rätsel, und das liegt für uns im Osten: eine Wunderkammer, geeignet dafür, daß wir den klassischen Satz zu buchstabieren lernen:

»Ich weiß, daß ich nichts weiß«

Utopie = »an keinem Ort«

In den Hitzetagen im August 2018 schmoren meine Kinder in den Temperaturen Berlins. Das Gestein der Stadt speichert die kontinentale Hitze. Meine Tochter (unbegreiflich, daß ich das knapp fünf Handbreit große Kind, das 1983 das Licht der Welt erblickte, dann das einen Meter große Mädchen und den heute erwachsenen Menschen mit demselben Wort »Kind« bezeichne) sitzt dort im Schneideraum und schneidet an ihrem ersten abendfüllenden Film. Sie und mein Sohn, der zwei Jahre jünger ist, hören zu, wie ich von der Alphabetisierung in Rußland nach 1917 rede. Auch von den Anfängen der Luftfahrt in der jungen Sowjetunion, von Wera Schmidts psychoanalytisch orientiertem Kinderheim-Laboratorium, von den Biokosmisten, von Alexander Bogdanows Roman Der rote Stern (Красная звезда). Meine Kinder wollen zu mir freundlich sein, wünschen, daß keine Verstimmung aufkommt, hoffen, daß ich bald ausgeredet habe und mit dem Thema aufhöre.

Ob sie in unserer Zeit und auf unserer Erde des 21. Jahrhunderts einen Ort kennen, an dem ein »Neuer Mensch« entworfen wird, frage ich. Einen Ort, an dem an einer NEUEN ZEIT gezimmert wird?

Meine Frage beantworten sie schon deshalb nicht, weil sie eine Alphabetisierungskampagne nicht interessiert, schon gar nicht eine von vor hundert Jahren. Hätte man ein Eheanbahnungsinstitut Deutsches Reich / Rotrußland 1917 mit Erfolg eröffnen können? fragt meine Tochter zurück. Ich kann die Frage meiner Tochter nicht beantworten. Die Frage antwortet nicht auf die Perspektive: Gibt es in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts einen Utopie-Horizont?

Der Ort, an dem ich schreibe

Öffne ich beide Flügel meines Dachzimmers im Schloß Elmau, sehe ich auf ein Wolkenschiff im Ausschnitt 4:3. Weiß im Blau des Himmels über sattfarbigem Bergwald.

Das Schloß Elmau ist 1914 eingeweiht worden. Seither besiedelt. Die Zeitgeschichte als ein Metermaß für jeden Raum. Die Zeit »Rußland 1917« bedeutet hier »dreijähriges Bestehen des Hauses«. Seinerzeit depressive Gemütshaltung in Deutschland. In Rußland hingegen: revolutionäre Administration, der Revolution zuwachsender guter Wille, Flüchtlinge, Bürgerkrieg – solche Zustände sind damals wie heute dem Ort, an dem ich schreibe, fremd. Nur einmal ein Kontakt zwischen dem Schloß und den Weiten Rußlands: als Söhne des Hausherrn nach 1941 im Osten gefallen sind, in Holzsärgen hierher transportiert und in einem Hügelwald neben dem Schloß begraben werden.

Glücksfall für die Lebenswelt

Ein Mücken-Muttertier vor meinem Fenster zieht sein Ei hinter sich her, das doppelt so groß ist wie das mittlere Segment seines Körpers, das man als »Bauch« deuten könnte: Alle Mitgift, alle Zukunft dieses Gattungswesens ist in dem Vorratsbehälter »Großei« konzentriert. Die Mücke ist auf eine Fensterglasscheibe geraten, wo sie die Fracht nicht ablegen kann. Kein Versteck, keine Lagerungsmöglichkeit, keine Ritze oder Höhlung. Dem Muttertier ist auf der glatten Fläche die Orientierung abhanden gekommen. Obwohl es ihm nichts ausmacht, das schwere Ei zu ziehen, bewegt es sich doch hektisch, verausgabt die Kräfte. Das Tier verliert auf der Glasfläche, einer Fortschrittsidee menschlicher Häuserbauer, die es nicht versteht, seine traditionelle Chance, über Richtungen zu entscheiden.

Senkrecht zur Erdanziehung mit dem schweren Zukunftsding zu laufen stört es nicht. Daß aber auf der durchsichtigen Fläche nach unten und oben nirgends Horizonte sind, desorientiert seine Sinne. Minute für Minute schlägt es Kreise, zieht Diagonalen. Einen ganzen Sommer hat es Kräfte gesammelt. Alles in ihm »will« ein Versteck für den Schatz finden, den es wie einen übergroßen Handwagen, angeklebt an das Ende seines Leibes, hinter sich herzieht: Eine Grube, eine Lücke im Fortschritt, eine Spalte sucht es, in die es das Ding fallen lassen kann. Dann könnte es, das Muttertier, ruhig sterben. Der Algorithmus einer Fensterfront hat dieses Anliegen des Tieres nicht bedacht.

Nach einiger Zeit (in den Zeitmaßen des Insekts ist das ein ganzes Lebensalter) sind die Kräfte des Tieres entweder erschöpft, denke ich, oder es wird gestorben sein. Oder es ist aus Verzweiflung starr geworden. Später aber sehe ich, wie die Larve mit Muttertier herabgefallen ist auf die Dachziegel. Dort steckte das Ei jetzt glücklich in einer Röhre: aus der die Larve, energiedurchglüht, schlüpfen wird, ein Gegenalgorithmus eigener Art (anti-maschinell).

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»Alle Seelen
Rußlands weisen mit ihren Wurzeln zum Himmel«

»ES WACHSEN AUCH DIE SEELEN DER GEFÄLLTEN BÄUME / UND AUCH DER MOND UND SEINE LIEBLINGSSTERNE«

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Abb. 3.

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Abb. 4.

 

Tod der tausend Seelen

Bis in seine letzten Tage vermochte Modest Mussorgski noch Noten zu schreiben und seine schweren Hände auf dem Klavier zu bewegen. Er war zu mancher Tageszeit betrunken. Seine Vertrauten, die ihn versorgten, verloren die Achtung vor dem Genie. In diesem Zustand komponierte der Meister den letzten Akt seiner Oper Chowanschtschina. Noch klafften gewaltige Lücken in den Notaten der anderen Akte. Alles Skizzierte war bis dahin nur für Klavier gesetzt. Dann versank er in den Tod, ertrank in einer in Worten nicht mitteilbaren Verzweiflung.

In der Skizze zum fünften Akt geht es um die Selbstverbrennung einer altorthodoxen Sekte in Rußland in der wirren Zeit des Machtantritts von Peter dem Großen. Der religiösen Gruppierung, die als fanatisch galt, ging es um eine Frage des Ritus, den sie auf keinen Fall verändert wissen wollte. Ein religiöser Führer veranlaßte dieses gemeinsame Selbstopfer. Eine Vertrauensperson war sein Medium. Sie besaß das Vertrauen aller, war in der Lage, sie zu der Tat aufzurufen. Sie war eine frühere Zauberin und die weggeworfene Geliebte eines Bandenführers (des Bruders des Anführers der »Chowanschtschina«). Diesen Ausbeuter liebte sie, und ihn hatte sie (als die religiöse Sekte ihn gefangennahm) bis zum Fluchtort der Gemeinde, einem Waldstück, als seine Retterin unversehrt durchgebracht. Bäume wurden gefällt, Scheite geschichtet. Es ist viel trockenes Reisig und anderer spontan brennbarer Stoff nötig für das Autodafé. Ein russischer Wald mit seinen frischen Säften ist wenig geeignet für eine Selbstverbrennung.

Der Zar hatte den altorthodoxen Ritus verboten. Die Sekte blieb eigensinnig. Soll Rußland je dem Westen angenähert werden, urteilen der Zar und seine Berater, muß ein Beispiel statuiert werden. Glaube und Ritus müssen in Rußland zentral vereinheitlicht und zur Verständlichkeit für westliche Besucher vereinfacht werden. Das OBEN, das in den Fortschritt führt, muß ins Volksherz eingemeißelt sein. Ein solches »Herz« (aus vielen tausend Seelen und nirgends genau in den Körpern situiert und vielleicht auch lediglich ALS GEIST ZWISCHEN ALLEN MENSCHEN existent) läßt sich jedoch nicht mit Zwang bearbeiten. Das Werkzeug dafür ist nicht erfunden (Stein taugt dazu nicht, Hammer nicht, Stößel nicht, Schmelzofen nicht).

Die Truppe des Zaren hatte den Waldbezirk umstellt. Kundschafter der Eingeschlossenen meldeten den Heranritt der zaristischen Reiterei. Da gibt die Vertraute des Sektenführers (das Medium) das Zeichen. Die mit brennbarer Masse bewehrten Stangen werden aus den Lagerfeuern gerissen und entzünden den Wald. Die Altgläubigen ersticken eher, als daß sie verbrennen. Tot sind sie alle. Als die auf Parade und auf militärische Ordnung gedrillten Soldaten des Zaren das Stück Natur durchforschen, zeigen sie sich verwirrt.

Reaktion eines modernen Publikums

Strawinsky hat diesen Teil der Oper aus den Klaviernotaten Mussorgskis in drastische Chor- und Orchesterakkorde übersetzt. Obwohl in der deutschen Stadt, in welcher die Aufführung stattfindet, nichts Vergleichbares geschehen ist (auch nicht in geschichtlich früherer Zeit), zeigen sich die Zuschauer in Stuttgart erschüttert. Es muß, schreibt der Kritiker Wolfgang Schreiber, »etwas Erinnerbares geben, das nicht bloß im fernen Rußland seinen Ort hat und das der Musik diese Kraft verleiht«. Für mehr als drei Stunden kann keiner der an der Aufführung Beteiligten etwas essen, auch wenn es spät in der Nacht geworden ist.

Alchemie der Macht

In den Gängen des Opernhauses bereiten sich die Choristen auf ihren Auftritt im letzten Aufzug von Mussorgskis Oper Chowanschtschina vor. Es handelt sich um drei verschiedene Chöre. Den Chor der Strelitzen (einer Söldnertruppe des Zaren Iwan), den Chor des Volkes und den Chor der Altgläubigen. Sie werden Raskolniki genannt. Sie sterben lieber, als ihren angestammten Glauben zu ändern.

Die Opern Mussorgskis (Boris Godunow, Chowanschtschina) ziehen Geschehnisse zusammen, die mehr als drei Generationen auseinanderliegen: eine Zeit ohne feste Herrschaft (1), den Machtantritt des Zaren Iwan (2), die Zeit des falschen Demetrius, die zur polnischen Besetzung Moskaus führte (3), die Machtergreifung Peters des Großen (4).

Nachricht an Außerirdische

In der Dokumentation, die im Auftrag der Russischen Akademie der Wissenschaften einer Weltraumsonde beigegeben wurde, von der wir annehmen, daß sie nach Erfüllung ihrer kundschafterlichen Aufgabe in den Weiten des Weltraums verschwinden wird, heißt es in kyrillischer und lateinischer Schrift:

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Abb. 5: Der Zar Iwan, gefangen im Gehäuse der Orthodoxie (»Buch«). Er gilt als gestorben. Man sieht, wie er aus seinem Kerker herausäugt. Im Triptychonbild links unten erschlägt das Volk die Söldnertruppe des Zaren, die sogenannten Strelitzen.

Sturz in den Abgrund der Sterne

Der Blick zum Himmel auf der Südhälfte des Erdballs, in der Atacama-Wüste in Südamerika, aus den Sternwarten Südafrikas und Australiens, ergibt für die Großen Teleskope, aber auch für den Rundblick der wachen, geschulten Augen der russischen Astronomin Karina Sedowa, ein reicheres Panorama an Leuchtkraft, als es je Beobachtungsorte in Rußlands Norden bieten können. Die Elevin Sedowa hatte ihre Anfangsjahre in den Observatorien des Kaukasus absolviert und fand ihre Überstellung an ein Großes Teleskop in der Republik Südafrika zunehmend attraktiv. Hier blickt die Sternenforscherin »hinunter«, unmittelbar auf das Zentrum der Milchstraße. Einerseits nach »innen« (vom System aus gesehen, das uns galaktisch beherbergt), zugleich aber nach außen: in einen »Abgrund«, wenn man die Tiefe des Fernblicks und die Tatsache veranschlagt, daß wir Erdbewohner nicht nach oben in den Kosmos blicken, sondern von der Erdoberfläche hinunter in die Weiten des Himmels, die mit keiner der Dimensionen in den Weiten Rußlands vergleichbar sind. Man würde Jahrtausende fallen, fiele man vom Ort eines der Großen Teleskope in Richtung Zentrum der Milchstraße. Man wäre dann immer noch nicht bis an den Rand der Staubwolken gelangt, welche die Sternenströme, die das Zentrum der Milchstraße rasant umkreisen, für unser Auge verdecken. So etwa äußerte sich Karina Sedowa.

Eine grauenhafte Vorstellung: Noch während der Perestroika war ein russischer Kosmonaut in den freien Raum abgestürzt. Er hatte Reparaturarbeiten an einer der robusten Raumkapseln russischer Bauart, die unseren Planeten umkreisen, durchgeführt. Beim Sturz vom Arbeitsgerüst waren die Halteseile, die den Kosmonauten mit dem Raumkörper wie eine Nabelschnur verbanden, gerissen. Und so war er blind in Richtung der nächstbesten (kombinierten und noch schwachen) Anziehungskraft gefallen. Den verheißungsvollen Orion und die beiden Bären mag er, so Karina Sedowa, noch eine Weile gesehen haben. Verhungert, verdurstet. Kein Funk, kein Rettungsfahrzeug, das ihn hätte leiten oder heimbringen können. Dieses »Wrack eines Arbeiters« gelangte, bald von einer Umrundung der Sonne beschleunigt, zu dem BESONDEREN GRABEN, der unser Sonnensystem von der benachbarten Drei-Sterne-Konstellation trennt. Zuletzt, meint die erfahrene Astronomin, die sich auf ihren Urlaub in Murmansk freut, auf das warme winterliche Quartier dort, wird sich der Verunglückte mitsamt seiner »astronautischen Rüstung« in Partikel aufgelöst haben. Das bewirkt die kosmische Strahlung. Die Elemente, der Staub: ehemals ein Kosmonaut. Der Verunglückte wird nunmehr von einem neuen Attraktor, dem Centaurus-System, beschleunigt. Im mathematischen Sinne, aber nicht für unsere an festen Boden gewöhnte Orientierung, ginge es jetzt »aufwärts«. Bis der »nach oben fallende Rest«, nicht einmal von der Masse eines Fingerabdrucks, einen der drei Nachbarsterne (zu dritt bilden sie das Centaurus-System) umrundet, werden weitere Jahrtausende vergehen. Die schwach leuchtende Kleinsonne dort, ein roter Zwerg, steht von allen Sternen Rußland am nächsten.

Karina Sedowa und der schnellste Stern unserer Milchstraße

Ich führte schon das dritte Gespräch mit Karina Sedowa für mein Kulturmagazin. Ihr deutsches Vokabular war begrenzt. Gern reihte sie Hauptwörter aneinander, eine Methode, die Ausdrucksstärke besitzt. Die Verben werden aus den Sätzen weggesprengt und flottieren frei im Raum. Dazwischen Fachbegriffe in englischer und in russischer Sprache. Ich schätze solche Gespräche, die an der Grenze des Unverständlichen geführt werden und höchst prägnante Messungen darüber mitteilen, wie fern uns die Erfahrungswelt bleibt, von der die Rede ist. So etwas ist im Fernsehen unüblich, gerade deshalb wirkt es attraktiv auf junge TV-Nutzer (und wird von ihnen zu so später Stunde und unter dem Vorwand eines Kulturmagazins gern erlaubt, ja, geschätzt, sobald einer sich daran gewöhnt hat). Es geht um eine sogenannte »Zapperfalle«. Wenn ich das überall Gleiche, das sich dem Verständnis vollständig öffnet, satthabe und hineinschalte zu etwas, das mir fremd ist, hält ein »Restgeheimnis« mich fest. In dieser Hinsicht schien mir die Redeweise von Frau Sedowa »absolut poetisch«.

Sie sprach über ein besonderes Sternenschicksal, über dessen Deutung sie am Computer forschte. Ein Doppelsternsystem hatte sich im Sternbild des Schildes zwischen einem HELIUMSTERN, einem sogenannten heißen Überzwerg (Сверхкарлик), einem sehr alten Geschöpf, das seinen Wasserstoffvorrat aufgebraucht hatte, und einem Weißen Zwerg (Белый карлик) gebildet, einem noch älteren Sternentyp, in dem die Materie so eng gepackt ist, daß die Masse unserer Sonne die Größe der Erdkugel annähme. Die beiden Himmelskörper umrundeten einander auf engen Bahnen mit hoher Beschleunigung. Dadurch floß eine Flut von Helium auf den gravitativ starken Weißen Zwerg hinüber. Inzwischen waren diese MERKWÜRDIG LIEBENDEN (странно любящиеся) ihren ursprünglichen Gleichgewichten so entfremdet, der eine überflutet von der Materie des anderen, daß der seiner Ausdehnung nach kleinere, der Masse nach massivere Weiße Zwerg explodierte. Er verschwand (исчез). Sein Gefährte, der Heliumstern, aber übernahm Drehimpuls und Beschleunigung des untergegangenen Sterns (исчезнувшая звезда). Er wurde zum schnellsten Läufer in unserer Milchstraße. Es wird einsam werden um den Schnellen (»беглянка«), wenn er nach draußen (наружу) gelangt. Er ist nämlich, fügte Karina Sedowa hinzu, so geschwind, daß er die Galaxie verlassen muß. Wird er die Magellanschen Wolken erreichen oder von einer anderen Milchstraße eingefangen? Unwahrscheinlich (невероятно), antwortete die Sternenforscherin.

»IM GRUND GENOMMEN IST EIN STERN EIN

UNGEHEURES ENERGIERESERVOIR, DAS,

SO SCHNELL ES SEINE MASSE ERLAUBT,

VERSCHWINDEN WIRD …

MAN WIRD NICHT ZULASSEN, DASS DIE STERNE

SO WEITERMACHEN; VIELMEHR WIRD MAN

SIE IN EFFIZIENTE WÄRMEMASCHINEN

VERWANDELN …«

HEINER MÜLLER

Politische Ökonomie der Sterne

Daß der Dramatiker Heiner Müller auf dem Schriftstellerkongreß in Bitterfeld jungen Sternen im Weltall verschwenderischen Energieverbrauch vorwarf, erweckte böses Blut. War das Anspielung? War es Spott? Politkader hielten die Ausführung für eine Verballhornung des sozialistischen Ansatzes. Ihnen antworteten aber Astrophysiker von der Akademie der Wissenschaften in Moskau, die an einer Parallelveranstaltung in einer Nachbarstadt teilgenommen hatten und rasch einmal zur Abschlußdiskussion der Dichterkonferenz herübergekommen waren: Ja, es treffe zu, daß die Sterne ökonomisch unausgeglichene Masseverluste produzierten; quasi wie ein Feudalherrscher, der sich um keine Budgets schert; ja, ein solcher Herrscher oder römischer Kaiser befestige durch öffentliche Herausstellung von Luxus, Willkür und Verschwendung seine Macht. Es gehöre nämlich zum Bild des Herrschers, daß er sich durch Verschwendung legitimiert, ergänzten die Historiker. Auch sie waren aus einer Nachbarveranstaltung gekommen.[1] 

Die Ingenieure aus Bitterfeld, denen die Tagung der Poeten zuarbeiten sollte, beharrten darauf, es sei keineswegs ausgeschlossen, auch angesichts der Erfolge der beispielgebenden Sowjetunion auf den Gebieten der Raumfahrt, daß die maschinelle Beherrschung von Sonnen, Planeten und letztlich der Milchstraße ein Ziel sei, das der industrialisierten Menschheit nicht verschlossen wäre.

Einige der anwesenden Politkader wußten aus ihrer Schwarzlektüre (Samisdat), daß Trotzki etwas Ähnliches im Jahre 1922 geschrieben hatte. Er hatte erklärt: Anstelle des Sozialismus im eigenen Land, der auf etwas Unmögliches gerichtet sei, nehme die Perspektive des Internationalismus nicht bloß die Beherrschung der Erde in den Blick, sondern auch die der Sterne, deren momentane Unwirtlichkeit dem menschlichen Bedürfnis angepaßt und politisch ökonomisiert werden müsse.

Das war 1922 ein ähnlicher Kongreß gewesen wie jetzt in Bitterfeld, besucht von Psychoanalytikern, Geologen und Astrologen, zu denen sich mehrere Dichter verirrt hatten. Die Politkader in Bitterfeld, an sich vom überraschenden Verlauf der Nachmittagsdiskussion animiert, machten sich aus Furcht vor Problemen mit dem Parteiapparat, sofern man sich auf unpassierbares Gelände zubewegte, an eine Vollbremsung der Diskussion. Für mehr als fünf Jahre hatte Heiner Müller, was Sonderwünsche betraf, keinen Spielraum mehr.