Morten Traavik

Liebesgrüße aus Nordkorea

Ein Extremdiplomat berichtet

Aus dem Norwegischen von Stefan Pluschkat

Suhrkamp

*

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

LENIN

*

His longing for a new world,

however, is always balanced

by regret for the world that must be

destroyed to make way for it.

ROBERT CHANDLER

*

we do what we’re told

we do what we’re told

we do what we’re told

told to do

one doubt

one voice

one war

one truth

one dream

PETER GABRIEL

*

FÜR Ri Yong Man

*

VOLLMACHT

Pjöngjang, den 4. März 2011

Hiermit bevollmächtigt das Kulturministerium der Demokratischen Volksrepublik Korea Herrn Morten Traavik, Regisseur und Künstler, in unserem Namen Verhandlungen bezüglich kultureller Verbindungsarbeit mit dem Ausland in die Wege zu leiten.

Aufgrund seiner Erfahrungen in der Planung und Durchführung kultureller Kooperationen zwischen unterschiedlichen Ländern und Kulturen halten wir Herrn Traavik für geeignet, um – in Rücksprache mit uns – erste Schritte in Richtung eines solchen Dialogs zu unternehmen.

Mit freundlichen Grüßen

Herr Kim Dan-il

Abteilungsleiter, Europaabteilung

Kulturministerium der Volksrepublik Korea

BRIEFE EINES VERRÄTERS

*

Vertrauen ist Liebe.

KIM JONG-IL

*

Lieber Mister Win,

von meinen Quellen in Pjöngjang höre ich, dass Du am Leben bist.

Und damit nicht genug. Es heißt, Du seist auf eine weniger strapaziöse Stelle in einer deutlich ruhigeren Abteilung des Ministeriums versetzt worden. Wenn das stimmt, bin ich aufrichtig erleichtert und froh. Was damals zwischen uns passiert ist, hat zu keiner Zeit nur Wut in mir ausgelöst, und diese Wut war nie auf Dich allein gerichtet. Nichtsdestotrotz bist und bleibst Du derjenige, der mir an jenem Vormittag unter vier Augen damit gedroht hat, mich zu töten, oder töten zu lassen.

»Ich sage es mal so: Eine einzige kleine Kugel …«

In Deinem winzigen Büro wurde es noch wärmer und stickiger, als es ohnehin schon war. Der beißende Rauch Deiner nordkoreanischen Zigaretten, zu denen ich wirklich nur im äußersten Notfall greife, stieg in Ringen zur Decke empor.

»… eine einzige Gewehrkugel reicht aus, um einen Mann zu töten.«

Lange, lange Pause.

»Na, mal sehen, was passiert.«

Mir wurde mulmig zumute. Schon seit geraumer Zeit warst Du immer weniger Du selbst, Du kamst mir vor wie ein Fremder – wie ein düsterer, unberechenbarer und zerstörerischer Dämon, der die Sprache der Menschen kaum noch sprach oder verstand. In ganz Pjöngjang herrschte mittlerweile ein an Feindseligkeit grenzendes Misstrauen, wie ich es noch nie erlebt hatte. In Deinen Worten schwang außerdem ein, sagen wir, besonderer Klang mit, schließlich hatte die nordkoreanische Regierung die Welt nur wenige Tage zuvor mit dem größten Atomtest in der Geschichte des Landes in Angst und Schrecken versetzt; die Sprengkraft hatte sogar die Hiroshimabombe um ein Zehnfaches übertroffen. Als ich zusammen mit den anderen kreidebleichen und im wahrsten Sinne des Wortes erschütterten ausländischen Hotelgästen in der Lobby die Sondersendung des Staatsfernsehens verfolgte, in der Nordkorea sich zur Atommacht erklärte, warst Du nicht da. Vielleicht warst Du gerade irgendwo etwas trinken. Im Laufe der letzten Monate habe ich viel darüber nachgedacht, ob es Dir damals womöglich um etwas viel Fundamentaleres als eine Morddrohung ging. Deine Stimme hatte nichts Hartes, nichts Böses an sich, eher etwas Weiches und Trauriges. Jedenfalls weiß ich noch, dass ich weniger ängstlich als betroffen war. Und das Allerschlimmste war der giftige Verdacht, der mit einem Mal alles überschattete, was wir bisher zusammen durchgemacht hatten. War das alles nur ein Spiel gewesen? Dieser abgrundtiefe Zweifel, der rückwirkend unsere gesamte langjährige Freundschaft infrage stellte, trieb uns beide noch tiefer in die Finsternis, die sich langsam, aber stetig über Nordkorea und Pjöngjang zusammengebraut hatte. Nun ja, laut meiner Quellen bist Du ja jetzt wieder auf der sicheren Seite, Deiner sicheren Seite, und ich bin auf meiner. Damit Du irgendwann diese Zeilen lesen kannst, muss Dein gesamtes Dasein, das Land und das System Nordkorea, zu Staub zerbröselt sein. Oder Du musst selbst zu einem der Verräter werden, vor denen Euer Staat Euch warnt und beschützt – von früh bis spät, jahrein, jahraus, bis ans Ende Eurer Tage. Aber für Dich und den Rest der nordkoreanischen Bevölkerung hoffe ich, dass fürs Erste nichts davon eintrifft.

Egal, was passiert ist, Du bist und bleibst derjenige, dem ich dies hier schreibe. Schließlich warst Du von Tag eins an mein nordkoreanischer Reisekamerad, Dolmetscher, Organisator, Kooperationspartner, Krisenmanager, Drinking buddy, Freund, Feind, wieder Freund, wieder Feind – und daran wird sich nie etwas ändern. Dich aus meinem Nordkorea wegzuretuschieren, ist nicht nur unmöglich, es wäre auch irreführend und ungerecht dem Menschen gegenüber, der Du einmal warst und vielleicht eines schönen Tages wieder sein wirst. Deshalb hoffe ich, Du bist einverstanden, wenn ich Dich nun auf diese letzte Reise mitnehme, denn ich kenne niemanden, der Nordkorea ein menschlicheres Gesicht verleihen könnte als Du.

Danke, mein Freund.

*

Die Schönheit eines Mannes liegt nicht in seinem Aussehen, sondern in seiner ideologischen und moralischen Gesinnung.

KIM JONG-IL

*

Wie bei den meisten Koreanern ist Dein Name eine Kombination aus drei einsilbigen Sprachlauten. Diese wiederum sind aus den relativ wenigen Standardzeichen, den Bauklötzen der koreanischen Schriftsprache zusammengesetzt. Der vollständige koreanische Name besteht aus einem meist einsilbigen Familiennamen, zum Beispiel Kim, gefolgt von einem üblicherweise zweisilbigen Vornamen, mit Betonung auf der letzten Silbe: Kim Jong-un. Als wäre es nicht genug, dass die Welt mit Nordkorea vor allem Dinge wie Stechschritt und Kadaverdisziplin assoziiert, tendiert auch die koreanische Sprache zum Kommandoton, ganz gleich, ob südkoreanische Popstars den Gangnam Style blöken oder im Staatsfernsehen die Nachrichten im klangvollen Pjöngjang Style verlesen werden. Die Artikulation ist immer klar und stakkatoartig, mit volltönenden Diphthongen und Satzmelodien, die einem explosiven Ausrufezeichen entgegenhecheln:

Il-SIM-DAN-GYOL![1] 

Deinem »Vornamen« belasse ich im Folgenden seine globale Anonymität, schließlich nenne ich Dich auch im wahren Leben »Mister«. In Nordkorea ist dieses Wort nicht nur in phonetischer Hinsicht ein Fremdkörper, es passt außerdem äußerst schlecht in das durchpolitisierte öffentliche Vokabular. Schließlich hat der Titel »Herr« seinen Ursprung in der Feudalgesellschaft vergangener Zeiten und impliziert ebenjene höfliche Unterwürfigkeit, die der sozialistische Gleichheits- und Brüderlichkeitsgedanke auszumerzen sucht. Während sich im Süden der koreanischen Halbinsel die »Marionetten des Kapitalismus« meist mit »Herr« oder »Frau« anreden, benutzt Ihr im Norden den Ausdruck dongji, der dem sowjetrussischen tovarisj, dem (ost)deutschen Genosse oder dem norwegischen kamerat entspricht. Zu Hause redet man Dich daher mit (Dein Vorname)-dongji an, aber Du und Deine Ministeriumskollegen – pardon, Arbeitskameraden – habt trotzdem nichts dagegen, wenn ich Euch Mister Kim, Mister Choi oder Mister Soundso nenne.

Das liegt zum einen daran, dass wir beide zum Aus-der-Reihe-Tanzen und politisch Unkorrekten neigen, und diese Gemeinsamkeit ist nur einer der vielen zarten Fäden, die wir im Laufe unserer langjährigen Zusammenarbeit zwischen uns gesponnen haben. In meinem Fall geht es aber auch um eine rein westliche Bequemlichkeit, um Rhythmen, an die sich meine Zunge und mein Gehirn gewöhnt haben, nachdem ich zeitlebens mit Sprachen zu tun hatte, die ganz anders funktionieren als das Koreanische: Erst kommt das zweisilbige Wort, dann das einsilbige.

Den Nachnamen »Win« habe ich allerdings eigens für diese Briefe gewählt. Er sieht nicht nur koreanisch aus, sondern ähnelt typisch koreanischen Familiennamen wie Won, Shin, Min, Mun oder Wi. Aber in Wahrheit existiert die Lautkombination »Win« im Koreanischen nicht, auch wenn sie das rein phonetisch durchaus könnte. Mit anderen Worten: Dein Deckname ist glaubwürdig, entspricht aber nicht ganz der Wahrheit – eine Eigenschaft, die auf vieles in Nordkorea zutrifft.

Jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen. Du weißt selbst, dass das Land und das System, denen Du dienst – immerhin seid Ihr eine single-hearted unity –, in meinen Breitengraden mitunter als »grauenhafte Diktatur«, »gleichförmigste Gesellschaft der Welt«, »angstbasiertes System« und »absurdes, totalitäres und grausames Straflager« bekannt sind. Die Kurzfassung: Nordkorea gilt als »das am stärksten abgeschottete Land und grausamste Regime der Welt«. Wahrscheinlich schüttelst Du jetzt resigniert, vielleicht aber auch lächelnd den Kopf. Dabei weißt Du sehr wohl, dass ich und jeder andere Ausländer, der sich eingehender mit Nordkorea beschäftigt – und zwar nicht in der Rolle des widerwilligen Diplomaten, bedrückten Hilfsarbeiters oder aufgebrachten Menschenrechtsaktivisten –, automatisch Freiwild für ganz ähnliche Verbalkanonen wird. Hier ein Best-of der Auszeichnungen, die mir unsere Zusammenarbeit über die Jahre beschert hat: »Marionette der Schreckensregierung«, »unmoralisch und selbstherrlich«, »Propagandawerkzeug eines der grausamsten Regimes der Menschengeschichte« und nicht zuletzt »verblendeter Mitläufer«.[2] 

Natürlich ist Dein Päckchen mindestens genauso schwer wie meins, nur der Inhalt ist ein anderer. Schließlich ist Dein Arbeitgeber – »das grausamste Regime der Welt« – von der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin und mit der ich mich identifiziere, auch nicht sonderlich angetan, um es mal vorsichtig auszudrücken. »Imperialistische Ideologie und Kultur«, »vor Dekadenz strotzende Bücher und Filme aus dem Westen« und »intellektuelles und kulturelles Gift« sind nur ein paar Zitate aus den nordkoreanischen Staatsmedien, die das belegen.[3] 

Wir wissen beide, dass man Vorurteile nicht einfach bei der Einreise im Schließfach verstauen kann. Vielleicht erinnerst Du Dich noch an Deinen Landsmann, den Musikprofessor, den wir vor ein paar Jahren zu einem Gastspiel in Norwegen eingeladen hatten und der einen Beweis für die Verdorbenheit des Kapitalismus bekam, als er im Frognerpark in Oslo mal austreten musste.

Der sonst so liebenswürdige, zurückhaltende Gentleman war völlig außer sich, dass man in unserer durch und durch korrupten Gesellschaft nicht mal eines der menschlichsten Bedürfnisse erledigen konnte, ohne vorher etwas zu bezahlen! Aber wenigstens, meinte er, konnten seine mitgereisten Schüler so mit eigenen Augen die unfassbare Kaltblütigkeit des Kapitalismus erleben. Wenn Deine Regierung und das System, dem Du dienst, sich selbst beschreiben, wird allerdings ein ganz anderer Ton angeschlagen – wie gesagt, die Zitate sind zufällig ausgewählt und bilden nur einen Bruchteil des unerschöpflichen Angebots ab: Nordkorea, »Asiens Licht seit Anbeginn der Zeit«, »das Land der Morgenstimmung«, »das Land, in dem der Traum von einem glücklichen Leben im Sozialismus in Erfüllung geht«[4] , »eine politisch unabhängige, wirtschaftlich selbstversorgende und militärisch wachsame sozialistische Großmacht«[5] , »ein kenntnisreicher wirtschaftlicher Gigant« oder, um es in den Worten Eures Ewigen Präsidenten zu sagen:

»Eine Nation mit fünftausendjähriger Geschichte, ein mutiges und ehrgeiziges Volk, das sich seit je unermüdlich gegen Eindringlinge und Generationen reaktionärer Despoten zur Wehr setzt. Eine begabte Nation, die die Entwicklung von Wissenschaft und Kultur vorangetrieben hat.«

Und zu Hause denken wir, in etwas gut zu sein sei typisch norwegisch!

Du und andere Regierungsvertreter, die Ihr regelmäßig Kontakt zu Ausländern habt und Euch oft und über längere Zeiträume außerhalb der Landesgrenzen aufhaltet, seid Euch durchaus bewusst, wie stark die Fremdwahrnehmung und die streng durchinszenierten Selbstdarstellungen Nordkoreas auseinanderklaffen und zu welch festgefahrenen Konflikten das führt. Alle Einreisenden – die Ihr prinzipiell für verdächtig haltet, egal, ob es sich um Atom-Kontrolleure, Rucksacktouristen, namhafte Politiker oder Hilfsarbeiter handelt – hegen den kollektiven Tagtraum, als Erste den Nordkorea-Code zu knacken. Sie eint die abenteuerliche Hoffnung, »hinter die Fassade« zu blicken und das »echte Nordkorea« zu entdecken.

Diesen scheinbaren Gegensatz zwischen »echt« und »falsch« oder »authentisch« und »inszeniert« predigen wir Europäer (und unsere Nachfahren in der Neuen Welt) schon mindestens seit der Antike – oft wider besseres Wissen –, aber Dir muss ich ja nicht sagen, dass alte Gewohnheiten nur langsam sterben. Du und die anderen Gatekeeper, ihr riecht natürlich Lunte. Ihr wittert den Geruch von Christenblut, wie es in unseren alten Volkslegenden heißt. Je neugieriger und draufgängerischer wir auftreten, desto mehr verschanzt Ihr Euch, womit Ihr unsere Neugier nur noch mehr schürt und so weiter und so fort – die unaufhaltsame Kraft trifft auf das unbewegliche Objekt.

Euer übertriebenes Misstrauen wirkt auf uns manchmal komisch, aber Ihr kaschiert und zügelt damit eine beinahe anrührende Naivität. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum Ihr Nordkoreaner Euch so schwer damit tut, Ausländer einzuschätzen – oder besser gesagt, warum Ihr Euch weder die Erlaubnis noch die Möglichkeit gebt, sie besser einschätzen zu können. Wahrscheinlich fehlt Euch schlicht und einfach der Riecher dafür, wer Euer Freund und wer Euer Feind ist. Aber wie sollte es anders sein? Schließlich bekommt Ihr von Eurem Regime wahrlich keine Fleißkärtchen für Neugier auf die Umwelt und Inspiration von außen.

An dem Tag, an dem freier Rucksacktourismus in Nordkorea erlaubt – oder zumindest als Konzept verstanden – wird, kann Euch die folgende Geschichte vielleicht ein Lächeln abringen: Ein Bekannter von mir wurde eines schönen Sommertages von zwei höflichen jungen Backpackern am Fuß der Karl Johans gate, der Prachtstraße in Oslo (Du bist dort gewesen!), angesprochen. Sie fragten ihn, wo sie typisch norwegische Souvenirs fänden, Trollfiguren zum Beispiel. Da sie sich auf der Straße mit der vermutlich größten Dichte an Souvenirshops – und damit der größten Trollfiguren-Dichte – befanden, war mein Bekannter, ein gebürtiger Norweger, im ersten Moment ziemlich baff. Aber Menschen von auswärts, das weißt Du selbst, brauchen manchmal ein bisschen Hilfestellung. Also deutete er zögerlich auf die zahlreichen Billigläden und Souvenirbuden und sagte sinngemäß: »Na ja, Sie müssen nur …« Die beiden jungen Abenteurer winkten mit einem nachsichtigen Lächeln ab, traten einen Schritt näher und flüsterten meinem Bekannten verschwörerisch ins Ohr: »No, no, we don’t mean that tourist stuff. Where do you Norwegians buy your trolls?«[6] 

Von solchen Primärtrieben abgesehen, sind wir Nordkorea-Touristen ein bunt gemischter Haufen. Für manche ist die Reise eine Art Männlichkeitsprobe, für andere eine Pilgerfahrt und für einige schlichtweg Routine. Die meisten von uns trefft Ihr nur ein einziges Mal, und in der Regel reden wir Euch aus (übertriebener) Höflichkeit und/​oder Furcht nach dem Mund. Deshalb bin ich überzeugt, dass auf dem Weg, den wir nun gemeinsam bestreiten werden, vieles zur Sprache kommt, was Du und Deine Landsleute noch nicht wisst oder nicht wissen dürft. Sowohl über Nordkorea als auch über uns, die es zu Euch verschlägt. Es gibt nichts, was Ihr mehr fürchtet als den Blick von außen. Und es gibt nichts, was Ihr dringender braucht. Hier jedenfalls ein paar Basisfakten über Dein Land, über die sich die meisten Nicht-Nordkoreaner mit einigermaßen solidem Grundwissen einig sind:

(RELATIV ZUVERLÄSSIGE) FAKTEN

Flagge: rot, weiß und blau

*

Die rote Farbe in der Flagge der Demokratischen Volksrepublik Korea symbolisiert das Blut der revolutionären Vorkämpfer und Waffenbrüder, die weiße Farbe die Reinheit der Loyalität zu unseren Truppen und denen, die unsere Partei unterstützen, und die blaue Farbe unsere großen Träume und hehren Ziele.

KIM JONG-UN

*

Name: Demokratische Volksrepublik Korea

Von Kim Il-sung am 9. September Juche 37 (1948) proklamiert, und zwar als unabhängiger sozialistischer, die Interessen des koreanischen Volkes wahrender Staat, in dem die Menschen die Herrscher aller Dinge und die Dinge die Diener der Menschen sind. Obwohl Kim Il-sung nach der Befreiung des Landes eigentlich alle Hände voll zu tun hatte, widmete er der Frage, wie der neue Staat heißen sollte, größte Aufmerksamkeit. Kritische Stimmen meinten, der Name sei zu lang, andere Länder hätten viel kürzere Namen. Der Präsident entgegnete: »Wir können selbst entscheiden, wie unser Land heißt, schließlich sind wir die wahren Herrscher.«[7] 

Innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen wird der sperrige Name jedoch häufig mit DRPK, den Initialen des englischen Democratic People’s Republic of Korea, abgekürzt.[8] 

Von den staatlichen Guides, die zugleich als Dolmetscher, Reiseplaner und nicht zuletzt Aufpasser agieren, werden Sie diese offizielle Bezeichnung (in der englischen Aussprache di-pi-ar-key) bei einem Nordkoreabesuch am häufigsten hören.

Wenn Sie lieber den international geläufigen – und deutlich einprägsameren – Namen »North Korea« verwenden möchten, stört sich in der Regel niemand daran, Sie riskieren keine Strafen oder andere Unannehmlichkeiten. Tatsächlich spricht man auch in der nordkoreanischen Öffentlichkeit oder, wenn man es so nennen will, im nordkoreanischen Staatsnarrativ von »Nord« und »Süd«, um die zwei Koreas zu differenzieren. Aber immer mit kleinem Anfangsbuchstaben, also »north Korea« und »south Korea«! Die Teilung der Koreanischen Halbinsel gilt nämlich als temporärer Zustand, und mit der Verwendung von Großbuchstaben würde die unnatürliche Spaltung von Volk und Land indirekt akzeptiert.

Zeitrechnung: Juche

Obwohl die Halbinsel in derselben Zeitzone wie Japan liegt, hat Nordkorea eine ganz eigene Zeitrechnung: Juche (ausgesprochen: tsjútsje), benannt nach der gleichnamigen Staatsideologie, wurde offiziell 1997, nach dem Ende der dreijährigen Trauerzeit für Kim Il-sung, eingeführt. Beginn des Juche-Kalenders ist Kim Il-sungs Geburtsjahr 1912, das allerdings nicht dem Jahr null entspricht, schließlich wäre es anstößig (und riskant), das Geburtsjahr des Großen Führers mit dem Nichts gleichzusetzen. Dementsprechend fällt unser gregorianisches Jahr 1912 mit Juche 1 zusammen, und das hundertste Geburtsjubiläum Kim Il-sungs wurde 2012 als Juche 101 gefeiert. Mit v. K. (vor Kim) oder n. K. (nach Kim) operiert Nordkorea nicht, und selbst in der Heimat des Juche-Kalenders hat dessen Verwendung etwas Halbherziges an sich.

In nationalen wie internationalen Medien werden Jahreszahlen üblicherweise mit der westlichen Zeitrechnung in Klammern angegeben, zum Beispiel Juche 109 (2020).

Geographische Lage: Im Zentrum von Ost-Asien[9] 

Im Norden bilden die Flüsse Amnokkang (chinesisch: Yalu) und Tuman (Tumen) eine knapp 225 Kilometer lange natürliche Grenze zwischen Nordkorea und China (die längste nordkoreanische Landesgrenze). Diese bildet im Osten ein Dreiländereck, bei dem die zwei Länder auf Russland treffen. Unser Nachbar im Osten (von Norwegen aus gesehen) teilt allerdings nur eine läppische siebzehn Kilometer lange Grenze mit Nordkorea (Russlands östlichste und kürzeste Landesgrenze). Ein Tourist aus Norwegen kann trotzdem mit Fug und Recht mit seinen nordkoreanischen Gastgebern darauf anstoßen, dass sie im Grunde nur durch ein Land voneinander getrennt sind. Noch weiter östlich liegt eine weitere regionale Großmacht, Japan, zu der Nord- und Südkoreaner aus offensichtlichen Gründen ein sehr komplexes, historisch vorbelastetes Verhältnis haben. Seit Jahrhunderten wechseln China und Japan sich gegenseitig damit ab, Korea zu dominieren. Zeitweise war die gesamte Halbinsel kolonisiert.

Der Umstand, dass Korea zwischen drei Großmächten eingequetscht ist, hat zahlreiche Abwandlungen der koreanischen Redewendung »eine Krabbe zwischen Walen sein« und des Sprichworts »Im Kampf der Wale wird die Krabbe zermalmt« hervorgebracht.

Am bekanntesten ist jedoch die dritte Landesgrenze zum »anderen Korea« im Süden, die als DMZ (demilitarisierte Zone) zu Weltruhm gelangte. An dieser – entgegen ihrem Namen alles andere als entmilitarisierten – Demarkationslinie wird einem eindrücklich vor Augen geführt, was es bedeutet, dass Nordkorea sich seit fast siebzig Jahren im Krieg befindet – und das nicht allein in ideologischer Hinsicht. Schließlich führte das Waffenstillstandsabkommen, das die am Koreakrieg beteiligten Parteien 1953 unterzeichneten, zwar zum Niederlegen der Waffen, aber nicht zur Friedensschließung. Rein formell ist Nordkorea noch immer im Krieg, mit den Erzfeinden Südkorea und den USA sowie mit der UN und damit der ganzen Welt, inklusive Ihnen und mir.

DIE VERBREITUNG DER DISCOKRATIE

(Morten der Dritte)

*

Der Kontakt mit dem Ausland ist ein hochsensibles Unterfangen, das umfassende politische Kenntnisse, äußerste Vorsicht und ein großes Bewusstsein für die Etikette voraussetzt.

KIM JONG-IL

*

2008. Der klapperige Tupolew-Flieger, das Rückgrat der leicht antiquierten, aus ex-sowjetischen Flugzeugmodellen bestehenden Air-Koryo-Flotte, ruckelt behäbig auf das weit entfernte Terminal zu. Auf der schier endlosen, gewundenen Landebahn wird das Ausrollen zu einer fast zehnminütigen Spazierfahrt. Vermutlich ist sie deshalb so angelegt worden, damit der Landeprozess amerikanischer Flugzeuge hinausgezögert wird, für den Fall, dass der Koreakrieg wieder ausbricht. Dass die Gefahr stets in der Luft schwebt, wird der nordkoreanischen Bevölkerung bei jeder Gelegenheit vor Augen geführt. Ich hieve mich aus dem durchgesessenen Sitz und schnappe mir die erste Trophäe aus »Andersland«: den Fächer mit Air-Koryo-Logo, den die Flugbegleiterin mir wegen der defekten Klimaanlage vor Abflug in die Hand gedrückt hat. Unter den Arm geklemmt trage ich eine Discokugel der Marke Eurolite, dreißig Zentimeter Durchmesser, »klassischer Effekt, stabiler Kunststoffkern, Spiegelfacetten à 10 x 10 mm.«

Vermutlich verstoße ich damit nicht nur gegen das strikte Verbot des nordkoreanischen Regimes, jegliche Formen westlicher Kultur ins Land zu bringen, sondern auch gegen die nicht weniger strengen Importrestriktionen der UN.[10]  Wir befinden uns in der Ära Kim Jong-il und George W. Bush. Erst in sieben Jahren wird Kim der Dritte, der Weise und Fürsorgliche, das Flughafengelände ausbauen und modernisieren lassen. Noch ist Sunan Nordkoreas einziger »International Airport« und für bestenfalls einen ankommenden oder abgehenden Flug pro Tag ausgelegt. Die Größe entspricht der eines durchschnittlichen norwegischen Provinzflughafens.

Seit seinen »Glanztagen« hat der Sunan Airport sämtliche regulären Flugverbindungen mit der Außenwelt (von denen es ohnehin nie besonders viele gegeben hat) eingestellt, ausgenommen die letzte Nabelschnur, die Linie Peking–Pjöngjang. Doch um überhaupt einen Flug pro Tag bewerkstelligen zu können, teilt sich Nordkoreas staatliche Fluggesellschaft Air Koryo die Woche mit Air China – oder besser gesagt: die Werktage. An den Wochenenden macht der internationale Flughafen Sunan nämlich die Schotten dicht.

Hier bin ich also. In Nordkorea, dem Sehnsuchtsort rastloser, unangepasster Abenteurer! Viele von uns, die es hierher verschlägt, eint das Unbehagen über das moderne Leben in unseren Heimatländern. Stress, Tempo, Entfremdung und so weiter und so fort. Die Welt schrumpft, die Pole schmelzen, der Dschungel verschwindet; Thailand ist das neue Mallorca, Vietnam die neue Provence. Im Juli trifft man auf dem Fisketorget in Bergen genauso viele Chinesen wie in Tibet. Aber ein echtes Löwenherz sucht unbeirrt nach dem gelobten Land. Nach Orten, die sich noch entdecken lassen. Nach dem Land, wo die wilden Kerle wohnen.

Vom Flachdach des Terminals erhebt sich der Schriftzug PJÖNGJANG in koreanischen Schriftzeichen auf der linken und in lateinischen Buchstaben auf der rechten Seite. Dazwischen thront ein meterhohes Porträt des glückselig lächelnden Kim Il-sung, der seine irdische Hülle bereits 1994 verlassen hat, aber nach wie vor als Präsident auf Ewigkeit im Amt ist. Kim Il-sung, das einzige tote Staatsoberhaupt der Welt. Jeden, der zum ersten Mal hier ankommt, weist dieses Arrangement aus Schriftzug und Porträt unmissverständlich darauf hin, die drei neuen Bekanntschaften – Land, Stadt und Führer – von nun an als untrennbare Einheit zu betrachten.

Wer buchstäblich mal abschalten will, hat sich das richtige Ziel ausgesucht: Genau in diesem Moment nehmen mir nämlich zwei schroffe Uniformierte mein Handy ab, und ihr englischer (oder genereller?) Wortschatz scheint sich auf zwei Vokabeln zu beschränken: »cell« und »phone!«. Im Gegenzug erhalte ich eine Quittung, das Papier ist allerdings so dünn und faserig wie ein altes Zigarettenblättchen, und ich bete im Stillen, dass es sich bis zum Ende meines Aufenthalts nicht endgültig auflöst. Mit diesem Tauschgeschäft sage ich dem weltweiten Netz und dem globalisierten Chaos fürs Erste Lebwohl und tauche ein in den begrenzten Kosmos der Demokratischen Volksrepublik. Erst in zwei Wochen gehe ich (vielleicht) wieder online.

Draußen auf dem halb leeren Parkplatz wartet bereits der klapprige japanische Minibus der Gastgeberorganisation. Alle Sinneseindrücke, die in diesem Moment auf mich einprasseln, schmecken bittersüß-verlockend nach ehemaligem Ostblock. Die am Fenster vorbeiziehende Landschaft kommt meiner Vorstellung von der norwegischen Provinz in den dreißiger Jahren, also vor der Mechanisierung der Landwirtschaft, erstaunlich nahe. Hin und wieder lehnt am Straßenrand ein Verkehrspolizist an seinem Motorrad. Ein paar Menschen sind mit dem Rad unterwegs, aus irgendeinem Grund gibt es in Nordkorea ausschließlich Damenräder, aber die meisten gehen zu Fuß oder stehen krumm gebeugt auf den Äckern, umgeben von kümmerlichen grünen Büscheln in einem staubig-braunen Meer aus unfruchtbarer Erde. Vor meinen Augen entfaltet sich ein Panorama mittelalterlicher Antibauernromantik, das genauso gut aus einem armen, wenn auch farbenfroheren und Instagram-tauglicheren südostasiatischen Land wie Kambodscha oder Laos stammen könnte – von der kühlen Morgenluft und den fast schon nordisch anmutenden kargen Gebirgszügen am Horizont einmal abgesehen. Wir Norweger vergessen oft, dass unsere Landwirtschaftspolitik, die die ländlichen Regionen Norwegens lebendig, wohlhabend und bewohnt hält, einzigartig in der Welt ist. Für uns ist sie ja quasi ein nationales Gebot. Leider hat sich auch Nordkorea noch nicht von uns inspirieren lassen, und der Kontrast zwischen öder Provinz und prächtiger Hauptstadt steht anderen Entwicklungsländern wie Pakistan oder Uganda in nichts nach.

Keiner meiner Gastgeber kommentiert die Discokugel, die neben mir in der Herbstsonne funkelt wie ein exotisches Weltraum-Ei. Aus Höflichkeit? Aus Unwissen? Aus Abscheu? Regelmäßig warnt die leibhaftige Stimme der Wahrheit, die Parteizeitung Rodong Sinmun (»Arbeiterzeitung«), vor den Gefahren einer schleichenden Discokratisierung, mit erhobenem Zeigefinger in Richtung der jüngeren Nordkoreaner: »Die Imperialisten wollen unsere Jugend in mentale Krüppel verwandeln und mit reaktionären Ideen und einem bürgerlich-korrupten Lebensstil infizieren, um sie anschließend dafür zu missbrauchen, all jene Länder zu vernichten, die ihre Unabhängigkeit verteidigen!«

In meinem mentalen Gepäck verwahre ich die vielleicht nicht ganz unbegründete Erwartung, dass jegliche Formen »reaktionärer und korrupter bürgerlicher Kultur«[11] , als deren Symbol sich meine Discokugel schnell deuten ließe, in Nordkorea streng verboten sind.

Wie so viele Besucher dieses misstrauischen Landes reise auch ich gewissermaßen unter falsche Flagge. Ist ja klar. Meine bislang glücklich nichtsahnenden Gastgeber halten mich für einen ganz normalen, unbescholtenen Touristen. Da sie vom Internet und internationalen Medien abgeschottet sind, haben sie vermutlich keinen Schimmer, was ein Interventionskünstler eigentlich so macht. Noch vor wenigen Monaten hat die Discokugel, die jetzt neben mir liegt, über den Finalistinnen der weltweit ersten Misswahl für Landminenopfer geglitzert. Die Wahl fand in Angolas Hauptstadt Luanda statt, unter großem nationalen und internationalen Medienaufgebot. Die Gewinnerin bekam ihre Krone von keiner Geringeren als der First Lady Angolas überreicht, in einem prunkvollen Bankettsaal in der Nähe des Nationalmonuments für den ersten angolanischen Präsidenten Agostinho Neto (das übrigens von nordkoreanischen Architekten entworfen wurde). Im Vorhinein hatten viele das Miss Landmine-Projekt als unrealisierbar abgeschrieben, und zwar nicht ohne Grund. Am Ende war das weltweite Interesse aber so groß, dass ich Blut leckte und Lust auf ähnliche, auf den ersten Blick undurchführbare Projekte in »Problemländern« bekam. Die Discokugel soll mein Talisman und eine Art Testballon sein, mit dem ich herausfinden möchte, ob es sogar in Nordkorea wenigstens ein klitzekleines bisschen Spielraum für künstlerische Interventionen gibt. In erster Linie habe ich eine Fotostrecke geplant: Ich im typischen Playboy-aus-dem-Westen-Outfit (Designeranzug, Schlips, Ray Ban) und mit der Discokugel unterm Arm, an sämtlichen oder zumindest möglichst vielen Touristenzielen, die wir im Laufe des Aufenthalts besuchen werden. Der Arbeitstitel lautet: Discocracy[12] .