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Über das Buch

Das Konsortium besitzt Leuchttürme auf sämtlichen Handelsrouten der Welt sowie ein Netz von Semaphoren, über die Nachrichten mitgeteilt werden. 150 Jahre nach seiner Gründung kann sich kaum noch jemand vorstellen, wie die Welt ohne das Konsortium aussah. Nur das Konsortium hat nicht vergessen, worauf seine Macht in Wahrheit beruht.

Das Erste Gesetz: Die Leuchttürme gehören dem Konsortium. Wer sie nutzt, zahlt.

Das Zweite Gesetz: Die Sterne gehören dem Konsortium. Wer sie beobachtet, ist des Todes.

Das Dritte Gesetz: Die Zeit gehört dem Konsortium. Wer Zeit genau misst, stirbt.

Zwei jungen Menschen dagegen ist es bestimmt, diese Macht zu hinterfragen …

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Das Erste Gesetz:

Die Leuchttürme gehören dem Konsortium. Wer sie nutzt, zahlt.

Das Zweite Gesetz:

Die Sterne gehören dem Konsortium. Wer sie beobachtet, ist des Todes.

Das Dritte Gesetz:

Die Zeit gehört dem Konsortium. Wer Zeit genau misst, ist des Todes.

Das Vierte Gesetz:

Wer etwas kauft, kauft es vom Konsortium. Wer von anderen kauft, ist des Todes.

Das Fünfte Gesetz:

Wer etwas verkauft, verkauft es dem Konsortium. Wer anderen verkauft, ist des Todes.

Das Sechste Gesetz:

Güter werden vom Konsortium transportiert. Wer das nutzt, zahlt.

Das Siebte Gesetz:

Staaten pflegen das Brauchtum.

Das Achte Gesetz:

Alle Staaten sind gleich gut.

Inhalt

1. Kapitel Marietta

2. Kapitel Charles

3. Kapitel Marietta

4. Kapitel Charles

5. Kapitel Marietta

6. Kapitel Charles

7. Kapitel Marietta

8. Kapitel Charles

9. Kapitel Marietta

10. Kapitel Charles

11. Kapitel Marietta

12. Kapitel Charles

13. Kapitel Marietta

14. Kapitel Charles

15. Kapitel Marietta

16. Kapitel Charles

17. Kapitel Marietta

18. Kapitel Charles

19. Kapitel Marietta

20. Kapitel Charles

21. Kapitel Marietta

22. Kapitel Charles

23. Kapitel Marietta

24. Kapitel Charles

25. Kapitel Marietta

26. Kapitel Charles

27. Kapitel Marietta

28. Kapitel Charles

29. Kapitel Marietta

30. Kapitel Charles

31. Kapitel Marietta

32. Kapitel Charles

33. Kapitel Marietta

34. Kapitel Charles

35. Kapitel Marietta

36. Kapitel Charles

37. Kapitel Marietta

38. Kapitel Charles

39. Kapitel Marietta

40. Kapitel Charles

41. Kapitel Marietta

42. Kapitel Charles

43. Kapitel Marietta

44. Kapitel Charles

45. Kapitel Marietta

Das Neunte Gesetz

Nachwort

Danksagung

1. Kapitel

Marietta

Meneer Peeters nickt mir über die Tomaten hinweg zu. Doch vor mir steht jemand in der Uniform des Vierten Gesetzes. Das heißt warten. Es ist eine junge Frau aus Fernost. Ich habe sie noch nie hier auf dem Markt gesehen. Ihre Uniform sitzt präzise. Auch ihr Gesicht hat diese strenge Anmut. Schön, zweifelsfrei. Doch kühl. Sie blickt mich an und ich starre in meinen leeren Korb.

Sie vermisst wortlos den Stand, besieht sich die Waren und setzt einen Preis fest. Meneer Peeters nickt und zahlt das Vierte Gesetz. Er verbeugt sich. Die Frau neigt leicht den Kopf und geht rüber zum Stand von Mevrouw Klaas. Mein Blick folgt ihr.

»Guten Morgen, Mejouffrouw Marietta. Was darf es sein?«, fragt Meneer Peeters.

Die Uniformierte strahlt so viel Abstand aus. Ich atme tief aus und lockere die Umklammerung meines Korbes.

»Mejouffrouw Marietta?«, wiederholt Meneer Peeters.

»Entschuldigen Sie, Meneer Peeters. Guten Morgen.« Ich versuche, meine Beklommenheit abzuschütteln, und sehe mir die Waren an. »Avocado und Zitronen. Oh ja. Die sehen sehr gut aus.« Ich hebe eine Zitrone hoch und reibe an der Schale. Sie riecht gut. Der Duft verbreitet Frische in meinem Kopf und verdrängt dieses bedrückte Gefühl fast.

»Wie geht es Ihrem Herrn Vater? Arbeitet er noch an dem Auftrag für den Großherzog?«

»Ja.« Ich drücke die Avocado. Sie ist sehr reif. »Er wird bald fertig sein.«

»Das ist gut. Er muss sich dringend um meinen Apfel-Sortierer kümmern. Auf den ist kein Verlass mehr.«

»Ich werde es ihm sagen.«

»Der Großherzog sollte nicht so egoistisch sein. Wenn Ihr Herr Vater nicht sein Auge auf sämtliche Geräte hat, gerät alles ins Stocken.«

Ich lächele. »All die Zahnräder, Hebel und Schrauben.« Sie brauchen ihn und seine Hände. Sie mögen ihn, denke ich.

»Ja, genau«, lacht Meneer Peeters. »Die Zahnräder rufen nach ihm! Sagen Sie ihm das!«

Ich verlasse den Markt und zeige meine Einkäufe am Tor des Vierten Gesetzes. Meneer Heckel schätzt meinen Korb. Er wirkt nicht so abweisend und seine Uniform ist nach vielen Dienstjahren nicht mehr so dunkel und faltenfrei wie die der Frau mit den fernen Augen. Sein Sohn Ad war in der Grundschule auf die gleiche Art gemütlich. Er hatte immer Krapfen für alle mit.

Ich bezahle die Gebühr und gehe nach Hause.

Ich bin früh dran. Die meisten anderen kommen erst noch zum Markt. Ich beschließe, zu Fuß zu gehen. Die Monotram über unseren Köpfen fährt jetzt nur selten raus. Mir kommen Leute von der Station entgegen. Kaum jemand ist in meine Richtung unterwegs. Das eine oder andere Mal stoße ich mit meinem Korb gegen jemanden im Strom. Es ist ein anstrengender Slalom. Es wird besser, als ich mich unserer Straße nähere. In unserer Straße scheint irgendetwas passiert zu sein. Die Leute rufen und laufen. Warum laufen sie?

»Oliver!«, rufe ich den Kleinen unserer Nachbarn. »Oliver, bleib stehen!«

Er bleibt stehen. Stolpert fast. Er sieht mich entsetzt an.

»Marietta! Komm schnell!« Er ist den Tränen nah.

»Was ist denn, Oliver?« Ich knie mich hin und streiche ihm über das Haar.

»Dein Vater«, schluchzt er. »Sie haben deinen Vater geholt.«

Sie haben was? Ich springe auf, schnappe mir Olivers Hand und zerre ihn mit. Ich laufe, so schnell es dieses verfluchte Kopfsteinpflaster zulässt.

Vor unserer Tür steht eine Menschenmenge.

»Lasst mich durch!« Ich schubse Nachbarn, Freunde und Kinder zur Seite. »Lasst mich durch!«, schreie ich, bis sie mich endlich hören.

»Marietta«, murmeln sie. Keiner traut sich hineinzugehen. Die Tür wurde gewaltsam geöffnet. Aber niemand wagt es, das Siegel des Dritten Gesetzes zu brechen. Ich reiße es zur Seite und stürze ins Haus.

2. Kapitel

Charles

»Das Erste Gesetz hat immer gut für uns gesorgt, Charles.«

»Ich weiß, Vater.«

Wir stehen an der Reling des Dampfseglers. Es riecht nach Kohle und Salz. Die Gischt spritzt auf mein Gesicht. Es ist noch früh und grau. Und ich bin nicht richtig wach.

»Es ist gut, dass du ab sofort mitkommst. Das Erste Gesetz wird auch gut für dich sorgen.« Er wittert den Wind. Für ihn ist da noch ein Geruch, den ich nicht erkenne. »Ein neuer Leuchtturm«, raunt er.

Er hat recht. Das Erste Gesetz hat all die Jahre gut für uns gesorgt. Vor allem, seit es ihn zum leitenden Ingenieur ernannt hat. Sicher, wir sind oft umgezogen. Zu oft, um Freunde zu finden. Aber das Konsortium hat immer einen neuen Leuchtturm zu bauen. Deshalb gibt es stets genug zu tun für einen Ingenieur, der weiß, wie man einen konstruiert.

Ich habe heute Nacht nicht viel geschlafen. Es ist das erste Mal, dass ich zu einer seiner Baustellen mitkomme. Heute werde ich erfahren, wie mein Leben in Zukunft aussehen wird.

»Siehst du ihn? Hier wird er stehen«, sagt mein Vater stolz.

Ich sehe Meer. Wellen. Ein paar Möwen. Am Horizont erkennt man die Küste.

Er guckt mich an. Ich versuche zu sehen, was er sieht. Da ist aber nichts.

Er zeigt auf eine Stelle vor dem Bug des Dampfseglers. Mein Blick folgt seinem Finger, am Kran vorbei. »Dort. Dort, wo die Wellen kabbeln.«

Vor uns liegt eine Stelle, in der die Wellen in andere Richtungen zu laufen scheinen.

»Diese Untiefe ist das Fundament.«

Ich gucke ihn ungläubig an. »Wie baut man im Meer?«

»Warte noch ein paar Minuten. Wenn die Flut abläuft, siehst du den Felsen. Stabil, breit.«

»Du baust eine Hölle.«

Er schaut mich fragend an, als ob er nicht geahnt hätte, dass ich weiß, was eine Hölle ist. Oder ein Fegefeuer. Oder eben ein Paradies.

»Ja. Diesmal bauen wir einen Leuchtturm mitten im Meer. Kein Land drumherum. Keine Hoffnung auf Erlösung.«

»Aber der Wärter später … Hält man das aus?«

»Es gibt viele, die dafür nicht geschaffen sind. Ohne Land zum Gehen. Doch jeder Leuchtturmwärter muss dem Ersten Gesetz für eine bestimmte Zeit auf einer Hölle dienen, bevor er auf ein Fegefeuer versetzt wird.«

»Auf eine Insel.«

»Genau. Und später bekommen die besten einen Platz auf einem Paradies bei ihren Familien an Land.«

»Wie viel später?«, will ich wissen.

»Wenige Jahre.« Er versucht mich zu beruhigen. »Du würdest dich wundern. Einige wollen sogar auf einer Hölle dienen.«

»Das ist einsam.« Ich schlucke.

»Ja, vielleicht. Dieser Leuchtturm wird jedoch alles andere als einsam.«

Ich blicke ihn fragend an.

»Es wird ein Monotram-Knotenpunkt. Zwei interkontinentale Linien werden sich hier kreuzen.«

Ich halte nach anderen Baustellen am Horizont Ausschau. Aber ich sehe nichts.

»Ein Handelsposten: Umsteigen, Übernachten, Warenumschlag.«

»Wie groß wird dieser Leuchtturm?«, frage ich fassungslos und er grinst.

»Größer als alles, was ich je gebaut habe. Größere hat das Erste Gesetz wahrscheinlich nie errichtet. Nicht, dass ich wüsste, jedenfalls.«

Inzwischen sieht man, wie die Wellen ein Felsplateau freigeben. Minute für Minute kommt mehr vom schroffen Gestein zum Vorschein. Es ist mit Seepocken und Muscheln übersät.

Ein Bauarbeiter von der Mannschaft kommt auf meinen Vater zu und wartet, bis der ihn anspricht.

»Ja?«

»Wir können festmachen, Herr Ingenieur. Der Eisenring liegt frei.«

»Gut.« Er nickt dem Mann zu und wendet sich wieder zu mir. »Du gehst jetzt besser aus dem Weg und siehst zu. Wir haben schon einen Ring zum Vertäuen in den Felsen getrieben, als wir ihn vermessen haben. Es wird trotzdem nicht leicht, mit dem viel größeren Schiff dort festzumachen.«

Männer steigen in ein Beiboot. Einer muss rübersetzen und das Tau festmachen. Aber das Boot wird mit jeder Welle wieder hochgerissen und danach vom Felsen weggesogen. Obwohl es ein friedlicher Tag ist, hat die Rudermannschaft kaum Kontrolle über das Beiboot.

Es kommt auf den Rhythmus an. Einer der Männer hält sich bereit für den Sprung, verliert immer wieder das Gleichgewicht. Als das Boot von der nächsten Welle hochgedrückt wird, springt er zum Felsen. Die Algen sind so glitschig, dass er keinen Halt findet. Er rutscht ab, bekommt den Ring zu fassen, zieht sich hoch. Er ist verletzt. Die Seepocken und Muscheln sind schärfer als manches Messer.

Mein Vater stürzt zur zweiten Rudermannschaft und springt in das Beiboot.

Ich möchte ihn zurückhalten und schreien. Eine muskulöse Hand auf meiner Schulter hindert mich daran. Ich sehe ein Kopfschütteln.

Ich kann nicht verhindern, dass mein Vater sich zu dem Felsen rudern lässt. Ich kann ihn nicht aufhalten, als er versucht, dem Mann ein Tau zuzuwerfen. Der Mann wird immer wieder von Wellen überrollt und kann es nicht festhalten.

Mein Vater will selbst springen. Springt, kommt zum Stehen, wird von der nächsten Welle erfasst und am Muschelfelsen entlanggeschleift. Er versucht die Hand des Bauarbeiters zu fassen. Bekommt niemandes Hand zu fassen und wird ins Meer gezogen.

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Einige Stunden später finden sie seine Leiche. Ich darf sie nicht sehen. Sie sagen, dass Muscheln schärfer sind als Messer.

3. Kapitel

Marietta

Sie haben etwas gesucht. Alles ist umgestoßen. Sogar die schwere Druckerpresse, die Standuhren und – oh nein – auch die Werkbank. Sein Werkzeug liegt überall verteilt. Da weiß ich, er ist nicht hier. Sie haben ihn mitgenommen. Ich sehe trotzdem in jedem Raum nach. Er ist weg. Alles, was in Schubladen war, liegt auf dem Fußboden verstreut.

Er wusste es. »Die Zeit kann nicht dem Konsortium gehören. Egal, was die vom Dritten Gesetz behaupten«, sagte er dann. Er konnte sich darüber in Rage reden, wenn wir allein waren. Er wurde nachdenklich. »Marietta, irgendwann werden meine Uhren zu genau. Das Dritte Gesetz wird es erfahren.«

»Von mir nicht!«, rief ich.

»Ich weiß. Sie werden es trotzdem erfahren.« Er wirkte besorgt. »Falls sie mich mitnehmen …« Er winkte meinen Widerspruch ab. »Doch. Sie werden mich mitnehmen, Marietta. Dann musst du dieses Paket zum Großherzog bringen.«

Es war die Uhr, die er seit einigen Jahren für den Großherzog entwarf. »So genau, dass man die Sonne danach stellen kann.« Genauer, als es das Gesetz erlaubt.

Er zeigte mir, welche Dielen ich drücken musste, welchen Riegel ich im Nebenraum zurückschieben musste, in welcher Richtung ich den Hebel unterm Tisch drehen musste und wo sich das Geheimfach befand, in dem er die Uhr verwahrte.

Die Uhr schmiegt sich in meinen Handteller. Sie ist kaum größer. Ich kann Vaters Wunderwerk der Verkleinerung fast umfassen. Es ist unglaublich, dass ein Uhrwerk so winzig und so präzise sein kann. Ich spüre all die Gewissheit in ihr. Mein jahrelanges Schweigen wiegt wie eine Felswand. Hätte ich einer anderen Seele etwas angedeutet, wäre unser Leben beendet. Ich habe das Unaussprechliche verinnerlicht. Und nun verlangt Vater auszusprechen, was nicht sein darf. Einem anderen zeigen, was wir versteckten. Mit unserem Leben. Ich kenne den Großherzog nicht. Trotz allem muss ich losrennen. Gegen die Felswand rennen. Keinen Ausweg erhoffen.

»Marietta?« Unser Nachbar, Meener van Rijn, kommt ins Haus. Er versucht auf nichts zu treten. »Marietta, du darfst das Siegel des Dritten Gesetzes nicht brechen. Sie werden wiederkommen.«

Ich wische meine Tränen aus dem Gesicht, ziehe den Rotz hoch und packe das Paket in mein Bündel. Vater lässt mir keine Wahl. Ich stoße Meener von Rijn zur Seite und renne aus dem Haus.

Die Monotram zum Palast. Ich renne die Treppen zur Station hoch, springe in den nächsten Waggon. Ich will keinen Sitzplatz, sondern bleibe stehen. So kann ich die Gassen und Straßen unter uns besser im Auge behalten. Muss den Kopf verdrehen. An den anderen Fahrgästen vorbei.

Der Mann, der auf dem Fensterplatz sitzt, versucht Abstand zu halten. Unten sehe ich Männer und Frauen in ungewohnten Uniformen. Schwarz wie alle Uniformen. Doch diese haben dunkelgrüne Streifen – nicht rote wie die auf dem Markt. Das müssen die Uniformen des Dritten Gesetzes sein.

Mir kommen Zweifel, ob es so eine gute Idee war, die Monotram zu nutzen. Hier kann ich nicht raus. Wenn sie an der Haltestelle beim Palast auf mich warten, habe ich keine Chance. Mir krampft sich der Magen zusammen. Ich spüre Schweiß auf meiner Stirn und kriege kaum Luft. Der Mann am Fenster guckt schon. Er reicht mir ein Taschentuch und ein Lächeln. Ich schüttele dankend den Kopf, lehne mich ans Fenster und atme tief durch.

Die Luft tut gut und ich zwinge mich, wieder gerade zu stehen. Vor uns hängen sehr viele Monotrams an der Schiene. Sie fahren nur stückchenweise weiter. Eine Rauchsäule hinter der nächsten. Ich gucke nach hinten. Auch dort bildet sich eine Schlange. Weiter hinten noch mehr aufsteigender Rauch. ›Sie durchsuchen die Wagen!‹, schießt es mir durch den Kopf. Wir sind noch ein ganzes Stück von der Haltestelle am Palast entfernt.

Alle Passagiere merken, dass es nicht weitergeht. Die, die zu zweit unterwegs sind, stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Ich erstarre. Meine Füße fühlen sich an, als ob Bleigewichte an ihnen hängen. Trotzdem gehe ich zum Tramführer. Er sieht angestrengt aus, aber freundlich.

»Was ist denn los?«, frage ich.

»Das weiß ich auch nicht«, antwortet er und wischt sich die Stirn. »Kann noch dauern.«

»Das ist … schade.« Meine Gedanken rasen. Ich fühle mich wie in einem Käfig, von dem man ahnt, dass eine der Türen nicht geschlossen wurde. Ich muss sie nur finden.

»Hmmja«, brummt er.

»Schade, weil … weil ich es eilig habe.«

Er schaltet einen Hebel. Die Tram schnauft und Dampf hüllt den Führerstand ein. Wir rollen einige Meter weiter.

»Und von der Haltestelle muss ich dann zu Fuß noch wieder zurück.« Meine Augen suchen die Strecke vor uns ab.

»Tja, Mejouffrouw, da kann man nichts machen.« Er schaltet wieder, wieder Schnaufen und Rollen. »Sie sehen ja den Stau. Ich kann ja schlecht überholen.«

Ich sehe eine Ladestelle vor uns.

»Überholen bestimmt nicht. Aber es würde auch nichts ausmachen, wenn die Tram kurz anhält.« Ich zeige auf die Ladestelle vor uns. Ein kleiner Abzweig führt zu einem Speicher.

Der Tramführer dreht sich um und guckt mich das erste Mal an.

»Das ist nur für Gütertransporte.« In seiner Stimme liegt, dass er so etwas noch nie gemacht hat. Nüchtern sagt er es, ohne Widerwillen. Vielleicht neugierig. Ich ahne, dass er meine offene Käfigtür sein könnte.

Ich würde ihn gerne zur Seite schubsen, um selber zu lenken. Ich zwinge mich dazu, es nicht zu tun. Ich versuche charmant, selbstbewusst, unschuldig und unaufdringlich zu wirken. »Sie würden keine Zeit verlieren. Die Tram fällt nur wenige Meter zurück und die holen Sie sofort wieder auf. Ich hüpfe einfach rüber. Ein winziger Sprung.«

Er sieht mich lange an. Dann lächelt er. »Na gut.«

Ich lächle zurück. »Vielen Dank, Meneer.«

»Mejouffrouw!« Er nickt und lüpft kurz seine Mütze.

Dann schaltet er und nimmt den Abzweig. Die Tram schwebt zum sechsten Stock des Speichers. Ich stelle mich an die Tür der Tram. Sobald der Wagen steht und die Dampfwolke den Blick auf die Speichertür freigibt, nickt der Tramführer mir zu. Ich mache die Tür auf und springe rüber zum Speicher. Beinahe stoße ich den Kopf am Haken unter der Winde. Zwei junge Burschen haben mich beobachtet und nutzen ebenfalls die Gelegenheit, zu Fuß schneller zu sein als in einer stillhängenden Tram. Sie springen mir nach.

»Jetzt ist es gut!«, höre ich den Tramführer streng rufen. Er schließt die Tür und winkt mir zu. Meine Lippen formen still »Danke«. Ich deute einen Knicks an.

Im Speicher riecht es nach Korn. Es ist nicht richtig hell. Trotzdem finde ich das Treppenhaus schnell. Die Burschen sind schon runtergelaufen. Sie lachen und rufen laut und voller Übermut. Sie nehmen immer mehrere Stufen auf einmal. Auf der Treppe kommt uns ein Packer entgegen. Sie erwischen ihn an der Schulter.

»Hey!«, ruft er und versucht den Sack auf den Schultern wieder ins Gleichgewicht zu bringen. »Das ist kein Bahnhof hier!«, brüllt er den beiden hinterher, zieht jedoch Sekunden später höflich die Mütze vor mir und zwingt sich zu einem freundlichen Gesicht.

Wenn sie einen Rock sehen, verändern sich die Menschen. Keine Zeit, die Augen zu verdrehen. Nicht einmal innerlich.

Unten auf der Straße blicke ich nach oben. Die Schlange der Monotramwagen ist noch länger geworden und steht jetzt völlig. Alle zischen, schnaufen und prusten vor sich hin. Ich presse Vaters Paket an mich und eile zum Palastplatz.

Die Menschen streben in geduckter Aufmerksamkeit ihren Zielen entgegen. Der Platz vor dem Palast ist voller Uniformen. Uniformen mit grünen Streifen. Ich wusste nicht, wie viele Diener des Dritten Gesetzes es gibt. Angesichts des Unübersehbaren versucht jeder so übersehbar zu sein wie möglich. Sobald ich daran denke, unauffällig zu sein, falle ich mir selber auf.

Im Schatten der Arkaden gehe ich zum Dienstboteneingang. Die Küchenmagd nickt mir zu. Die Köche heben die Köpfe nicht. Die Diener lotsen um mich herum wie um ein altbekanntes Möbelstück. Sie erkennen in mir die Botin des Uhrmachers wieder, die ein und aus geht.

Die Wände im Palast sind dick. So dick, dass zwei Diener aneinander vorbeigehen können, ohne etwas zu verschütten. Außerhalb der Wände stört so keine arbeitende Hand den Eindruck der großherzoglichen Gäste.

Ich nehme die ohnmächtigen Gänge, die die Mächtigen nie sehen. Ich komme darin bis zum Audienzsaal, ohne einer Uniform zu begegnen. Statt jedoch Tabletts durch die Klappe hineinzureichen, dienstbar zu sein, trage ich nur meine Angst und die Uhr.

Von hier aus höre ich, was im Audienzsaal gesprochen wird. Doch ich sehe nur wenig.

»Sie geben also zu, dass Sie den Uhrmacher Luca Vandersteen kennen!«

Vater! Eine weibliche Stimme redet mit dem Großherzog. Ob er Vater kennt. Die Stimme klingt machtvoll und packend. Der Großherzog ist ein kleiner Fisch und sie ein Raubtier, das ihn fixiert. Es hat Hunger. Mich graut es.

»Ich würde nicht sagen, dass Meneer Vandersteen ein Uhrmacher ist.« Die Stimme von Johann VI klingt weich und vermittelnd. »Er ist ein Mechaniker. Er hält die Dinge bei uns am Laufen. Und ja, wir kennen einander.«

»Sie meinen, er hält die Uhren am Laufen!«

»Ja, die auch. Wecker. Standuhren. Aber auch den Speiseaufzug, die Getriebe in den Werkstätten, die Spieluhren.«

»Und Sie haben ihm nicht den Auftrag gegeben, eine möglichst genaue Uhr zu bauen?«

»Natürlich nicht, Madame Caracal. Alle Uhren im Palast ticken nach dem Gesetz«, behauptet der Großherzog.

Er lügt. Das weiß ich. Das weiß er. Und das weiß auch diese Madame Caracal. Ich höre sie verächtlich schnaufen.

»Allerdurchlauchtigster Johann VI, ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen nicht bewusst ist, wie wenig Mühe es mir machen würde, ein Embargo über Ihr Herzogtum zu verhängen.«

Für einige Sekunden ist es still im Saal. Ein Embargo des Konsortiums wäre Hunger, Not und Tod für viele.

»Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum Sie das tun sollten, Madame Caracal.«

»Sie bleiben also dabei, dass der Uhrmacher nur Ihre Spielsachen aufgezogen hat?«

»So würde ich die Arbeit von Meneer Vandersteen nicht beschreiben. Aber ja, er hat hier im Palast nichts getan, was das Dritte Gesetz auch nur im Entferntesten betroffen hätte.«

Der Großherzog lügt für Vater. Er belügt ein Gesetz, um Vater zu schützen. Wie eng kennen sich Vater und der Großherzog wirklich? Vater hat nicht viel erzählt, von seinen Besuchen im Palast. Allerdings genug, damit ich weiß, dass der Großherzog nicht so weich, vermittelnd und naiv ist, wie alle denken. »Er hat Pläne«, sagte Vater dann. Oder: »Er weiß, was er tut.« Das ›hoffe ich‹ konnte nur ich hören.

Andererseits lügt der Großherzog nicht. Die Uhr war nie »hier im Palast«. Erst jetzt ist sie das. Unter meiner Jacke. Ich spüre ihre Schwere. Sie scheint Hitze auszustrahlen. Als wenn sie wüsste, dass es um sie geht.

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Kommandantin. Ich habe natürlich größtes Verständnis für Ihre Ermittlungen.« Der Großherzog will etwas. Das hört man sofort. »Es waren eben nicht nur ›Spielsachen‹, mit denen Meneer Vandersteen betraut war. Das Funktionieren des Palastes – ja, der ganzen Stadt – hängt einfach sehr von der Fürsorge ab, die er der Mechanik zukommen lässt.«

Sie lässt seinen Satz in die Stille gleiten. Sie reagiert nicht. Lange Sekunden vergehen.

Der Großherzog räuspert sich. »Mir liegt das Wohlergehen meines Untertanen wirklich sehr am Herzen und ich würde gerne wissen, ob es ihm gut geht und wo er sich zurzeit aufhält.«

»Nun ja.« Ein Lächeln umspielt die Antwort von Madame Caracal. »Er befindet sich an einem sicheren Ort. Und über sein ›Wohlergehen‹ entscheide ich, wenn ich mich mit ihm und seiner Tochter unterhalten habe.«

»Seiner Tochter?«

»Ja. Er hat eine unverheiratete Tochter, die bei ihm wohnt, Großherzog.«

»Mejouffrouw Marietta.«

»Marietta Vandersteen. Richtig.«

Mein Kopf explodiert vor Wachheit. Meine Beine wollen rennen und sind bleischwer. Mein Herz rast. Ich muss weg.

Leise und schnell.

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Ich muss verschnaufen. Bin. Außer. Atem. Das Dach ist kein Ausgang. Wo will ich hin? Doch das Dach ist ein Ort zum Luftholen. Es ist ein so idiotisch gewählter Ort, dass mich hier niemand suchen wird.

Ich stoße die Metalltür auf. Vor mir liegt ein Dächermeer. Das Dach ist kein Ausgang, aber es ist ein guter Ort für den Überblick. Das Dach des Palastes überragt fast alles in der Stadt, seine Kupferbleche eine grüne Insel in diesem Meer. Ich habe noch nie die Rauchfahnen über Hunderten von Schornsteinen gesehen. Ein windflüchtiger Wald.

Ich taste nach meinem Bündel und hole es hervor. Es ist körperwarm. Die Uhr darin wiegt schwer in meinen Händen. Ich muss Vater finden. Wohin hat ihn das Dritte Gesetz gebracht? Wegen dieser Uhr. Verdächtig sieht das Bündel nicht aus. Ich binde es fest um meinen Bauch und schließe die Jacke. Ich probiere aus, ob es mich stört, wenn ich mich bewege. Tut es nicht.

Vater wollte, dass ich sie dem Großherzog gebe. Nur kann ich da nicht runter. Ich will nicht verhaftet werden. Ich hätte keinerlei Chance mehr, Vater zu suchen. Und ich werde Vater suchen. Auch wenn das heißt, dass ich mich nicht an seine Anweisung halte. Ich gehe nicht da runter. In einen Palast voller Raubtiere.

Ich denke klarer. Ich beruhige mich hier oben. Ich wage mich an die Brüstung.

Unter mir liegt der Platz vor dem Palast. Die Gespräche klingen nah und gedämpft gleichzeitig. Die Palasttreppe ist schwarz vor Uniformen. Rund um die Arkaden wird weitergehandelt. Und sei es nur, um einen Grund zu haben, in der Nähe des Geschehens zu sein.

Ich bin nicht weit von dieser Menschenmenge. Und doch bin ich inmitten einer Menschenleere.

»Hallo«, sagt jemand hinter mir. Ich zucke zusammen, kralle mich an die Brüstung und fahre rum.

Die Kluft der Küche. Ein Aushilfskoch. Er hockt auf einem Vorsprung hinter mir und hat seine Butterbrote vor sich ausgebreitet. Wie lange schon? Was hat er gesehen? Wird er mich dem Gesetz verraten?

»Es ist selten, dass ich hier Besuch bekomme. Willst du etwas?«, fragt er. Fröhlich. Fragt er das. Nicht auf Jagd nach Gesetzesbrechern.

Trotzdem sage ich: »Danke. Nein. Entschuldige, dass ich dich gestört habe.«

Ich will allein sein. Ich muss. Ich nehme eine Treppe und klettere über den nächsten Giebel. Hier führt ein Pfad zwischen den Dächern von West nach Ost.

Ich laufe zur Ostseite. Man muss einen Fuß vor den anderen setzen und mit den Armen die Balance suchen. Ich gehe rauf und runter und um Schornsteine herum. An der Ostseite sieht die Stadt anders aus. Weniger zum Vorzeigen. Benutzter. Ich setze mich auf einen Schornsteinvorsprung. Hat er gesehen, wie ich das Bündel hervorgeholt habe? Was darin ist?

»Und ich dachte, ich hätte das Dach für mich allein«, sagt der Aushilfskoch. Ich zucke zusammen. Er liegt eine halbe Etage über mir auf einem Sims in der Sonne und schlägt die Beine übereinander. Es soll überlegen wirken, als hätte er sich schon vor Stunden hergezaubert. Der erste Eindruck trügt. Einen Wimpernschlag später sehe ich, wie sehr sich seine Brust hebt und senkt. Er musst gerannt, geklettert und gesprungen sein, um vor mir hier zu sein.

»Aha«, sage ich. Sein Eindruck trügt. Betrügt.

»John. Mein Name ist John. Barlington.«

»Aha.«

»Ich bin Aushilfskoch hier.«

»Das sehe ich.«

Er wirkt geknickt. »Und du?«

»Ich nicht.« Ich stehe auf und folge einem weiteren Pfad: eine Drei-Stufen-Leiter, ein Regenabfluss, der breit genug ist, eine Treppe, ein Geländer. Ich höre, wie in einiger Entfernung von mir jemand mit großen Schritten über das Dach springt. Sehen kann ich ihn nicht. Das kann ich anerkennen.

Die Nordseite ist immer die Schattenseite. Hier wird geliefert und abtransportiert. Ich gehe über den letzten Giebel. Vor mir ist ein kleines Plateau. John steht schon da. Er stützt sich auf seine Knie und keucht.

»Meine Güte, ist das anstrengend!«, schnauft er. »Hättest du dich nicht einfach setzen können und etwas mitessen?«

»Kein Hunger.«

»Das wirkt, als seist du auf der Flucht …«

Unwillkürlich zucke ich bei seinen Worten zusammen.

»… vor mir.«

Ich sage nichts. Besser, wenn ich schweige. Was weißt du über mich, John Barlington?

»Du bist doch nicht wirklich auf der Flucht?«

Ich kenne dich nicht, John Barlington.

»Mal überlegen.« Er mustert mich. »Ich glaube, ich könnte dir helfen.«

Und du kennst mich nicht, John Barlington. Oder? Warum solltest du das tun?

John guckt sich um. Er schaut zu dem nächsten Semaphoren, der ein paar Straßen weiter die Dächer überragt. Eine Botschaft blitzt auf. Es sieht aus, als ob John die Botschaft liest.

»Hm«, sagt er. »Das wird nicht leicht. Zumindest über die Straßen.«

Wer kann Semaphoren-Botschaften lesen? Ein Aushilfskoch bestimmt nicht, Mister Barlington.

»Es gibt da einen Ausweg.« Er zeigt auf einen Monotramabzweiger über der Gasse vor uns.

Mein Blick folgt dem Verlauf. Der Abzweiger endet auf dem Dach. Eine Einsitzer-Monotram parkt auf dem Dach des Palastes. Das Dach hat einen Ausgang. Manchmal hat ein Falschspieler ein As im Ärmel.

4. Kapitel

Charles

In der kellerkalten Kirche kriecht mir das Klamme in die Knochen. Der Anzug ist zu ungetragen und fein, um mich zu wärmen.

Vor dem Altar stehen zwei geschlossene Särge. »Es ist besser so«, murmeln sie. Sie denken, ich höre es nicht. Doch ich höre. Sie erkennen an, dass der Herr Ingenieur versucht hat, den ihren zu retten. Den ihren.

Wir sind erst vor einigen Wochen hierhergezogen und gehören noch nicht dazu. Ich weiß nicht, ob wir das je tun werden. Die meisten in der Kirche erweisen dem anderen Sarg die Ehre. Ich kenne nur die, die bei uns im Haus wohnen: Mutter, meine Schwester May und Mutters Vater. Mein Onkel Paul, der Bruder meines Vaters, ist angereist. Ich habe ihn schon seit zwei Baustellen nicht mehr gesehen. Er gibt sich sichtlich Mühe, in May und mir Vertrautes zu erkennen. Den Mann in der Uniform des Ersten Gesetzes habe ich schon mal getroffen. Aber ich weiß nicht wann. Oder wo.

Der Priester versucht, Persönliches über meinen Vater einfließen zu lassen. Er will die Kluft zwischen beiden Särgen nicht zu groß werden lassen. Ich spüre trotz allem, dass er nicht wirklich weiß, über wen er redet. »Ehre und Einsatz« ist nicht alles, was Vater ausmachte. Ich denke an das Funkeln ist seinen Augen, wenn er von einer neuen Linse für ein Leuchtfeuer erzählte. »Das ist das Größte, Charles!«, rief er. »Wenn du dann das Leuchtfeuer entzündest. Und alle werden es sehen. Alle werden es brauchen. Alle. Meilenweit. Es wird Leben retten.« In jedes Leuchtfeuer investierte er mehrere Jahre seines Lebens. Und ein neues Zuhause für uns. Neue Nachbarn, eine neue Schule. Vielleicht neue Freunde für ein paar Jahre. Alles für diesen Moment des Leuchtens. »Das Licht ist so schön, Charles.« Wenn er so erzählte, hatte er Tränen in den Augen.

Der Priester und seine Worte verschwimmen vor meinen Augen. Ich will nicht, dass alle sehen, dass ich Vaters Tränen weine. Ich will das Taschentuch in der noch fremden Hose nicht suchen. Mutter reicht mir ihres und legt den Arm um mich. Wie bei May auf der anderen Seite. Wie bei einem kleinen Kind. Es ist gut so.

Abends sitzen wir zusammen am Esstisch. Keiner sagt etwas. Mays Augen und Nase sind rot. Ich will sie drücken, sitze ihr aber gegenüber. Selbst Großvater Charles gibt sich Mühe, seinen Unmut nicht laut auszusprechen. Ich habe meinen Namen von ihm. Ich glaube, er wartet immer noch darauf, dass ich mehr von ihm übernehme als nur seinen Namen. Wir wissen, dass er dem Ersten Gesetz die Schuld an Vaters Tod gibt. Er gibt immer einem Gesetz die Schuld an allem: am versalzenen Essen, an den teuren Preisen für Fisch und am schlechten Wetter. Heute Abend hat er noch nichts gesagt.

»War es schwer, freizumachen?«, fragt Mutter meinen Onkel.

»Es ist noch keine Erntezeit.«

»Wahrlich nicht«, schnauft Großvater Charles.

»Was baut ihr denn an?«, fragt meine Mutter.

»Alles Mögliche. Vor allem aber Gurken. Ihr solltet euch das mal ansehen.« Onkel Paul blickt auf mich. »Für so einen jungen Kerl wie dich haben wir immer was zu tun.« Meine Mutter zwingt sich zu einem Lächeln. Paul sieht es und fügt schnell hinzu. »Und ihr vier seid uns natürlich auch herzlich willkommen.«

Mutter schält einen Apfel und gibt May die Hälfte. Die nagt ein bisschen daran. Schnieft.

»Wessen Gesetzes Diener seid ihr?«, fragt Großvater Charles im Verhörton.

»Wir dienen überhaupt keinem Gesetz! Wir bauen an, was wir wollen, ernten, was wir wollen, und verkaufen, was wir wollen«, sagt Paul.

»Wem verkauft ihr, was ihr wollt?«, hakt Großvater nach.

»Dem Fünften Gesetz natürlich. Alles wird dem Fünften Gesetz verkauft.«

»Ihr seid also Diener des Fünften Gesetzes.«

Onkel Paul will gerade Luft holen. Um zu widersprechen wahrscheinlich. Doch es klopft. Großvater starrt Paul an und Paul Großvater. Es klopft noch einmal. Mutter legt den Apfel und das Messer hin, steht auf, geht aus dem Zimmer und öffnet die Haustür.

Alle verharren und versuchen zu hören, wer an der Tür ist. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, wer uns hier im Ort kennt.

Als Mutter die Zimmertür öffnet, kommt der Mann in der Uniform des Ersten Gesetzes zu uns in die Stube. Großvater ballt eine Faust.

»Mein Beileid«, sagt der Mann. Paul steht auf und holt einen Stuhl.

»Das ist der Herr Ingenieur Fitzgerald«, stellt Mutter den Mann vor. Vaters Vorgesetzter. Mir fällt wieder ein, woher ich ihn kenne. Ich habe ihn bei der Einweihung eines Leuchtturms gesehen. Er hat die Rede auf Vaters Leuchtturm gehalten. Es ging um Handel und Sicherheit. Und ein bisschen um Vaters Leistung.

»Bitte nehmen Sie doch Platz«, sagt Paul und hält dem Herrn Ingenieur Fitzgerald den Stuhl hin.

Mutter sucht einen Teller, aber der Ingenieur macht eine abwehrende Handbewegung.

»Danke. Ich brauche nichts. Vielen Dank.«

Er atmet tief ein. Er sieht mitgenommen aus. Hat ihm Vater so viel bedeutet?

»Das ist wohl der schwerste Teil meiner Arbeit«, sagt er. »Trotzdem passiert es. Es passiert, dass jemand beim Dienst für das Erste Gesetz stirbt. Es ist nicht nur ruhmreich. Es ist auch gefährlich. Das hängt zusammen.« Er guckt in die Runde. »Du bist Maisie?«, fragt er und meine May nickt, hinter ihrem halben Apfel versteckt. Er schaut, bis er mich sieht.

»Und du bist Charles?«, fragt er.

Ich nicke. »Ja, Herr.«

»Wie alt bist du, Charles?« Er wartet keine Antwort ab, sondern mustert mich. »Alt genug. Das ist gut. Dann kannst du eine Arbeit beginnen.«

»Wir haben gerade darüber gesprochen«, sagt Onkel Paul. Wann haben wir das getan?, frage ich mich.

Der Herr Ingenieur Fitzgerald nickt. »Das ist gut. Charles, das Erste Gesetz vergisst keine Familie. Wenn einer im Dienst des Ersten Gesetzes zu Tode kommt, wird seine Familie nicht Hunger leiden. Dein Vater hat lange Jahre für uns gearbeitet. Er hat sich seiner Arbeit verschrieben und viel für das Erste Gesetz getan. Das wird nicht vergessen werden.« Er greift in die Tasche seiner Uniform und holt einen Umschlag heraus. »Charles, du bekommst eine Arbeit von uns. Du fängst auf einem Semaphoren an. Und sei dir gewiss, du wirst genug verdienen, damit deine Familie hier weiter leben kann.«

Er schiebt mir den Umschlag über den Tisch. Ich kann nicht anders, als die Brotkrümel zu bemerken, die im Weg liegen.

5. Kapitel

Marietta

Die Einsitzer ist vorgeheizt. Wer auch immer sie hier parkt, will bald aufbrechen. Ist es Johns? Will er sie stehlen? Ein Aushilfskoch mit einer vorgeheizten Einsitzer auf dem Dach des Palastes? Eher unwahrscheinlich. Ein Aushilfskoch als Dieb? Möglich. Ein Aushilfskoch, der seinen Job hinschmeißt, um zu stehlen? Wohl kaum. Ein Aushilfskoch, der alles hinschmeißt, um mich zu retten? Das kannst du nicht mal dem Grab meiner Großmutter erzählen, John Barlington.

Er starrt mich an. »Komm!« Er winkt mich ran.

Andererseits sind unten Hunderte von schwarz-grünen Uniformen. Bestimmt inzwischen auch in der Küche. Ich könnte mich als Magd ausgeben. Aber ich habe Vaters Bündel. Die Uhr. Die kann ich nicht hierlassen. Ich kann sie nicht zum Großherzog bringen. Wenn man sie fände, wäre Vater so gut wie tot. So viele Diener des Dritten Gesetzes, und alle sind wegen Vater hier. Ich sehe nicht, was an Vater so gefährlich sein soll.

John lächelt. Das soll charmant sein. »Da werden wir schon beide draufpassen.«

Er will mitkommen. Ich bin entsetzt. Meine Gedanken rasen.

Wenn er mitwill. Dann. Ist er. Dann sind sie. Es ist unaussprechlich. Wenn ich die Einsitzer wähle, muss ich schweigen, muss ich mitspielen, muss ich diesen selbst ernannten Aushilfskoch und Retter später loswerden. Das ist trotz allem weniger gefährlich, als durch die Küche nach draußen zu kommen. Für Vater.

»Und deine Mittagspause?«, frage ich, nur um zu sehen, wie Mister Aushilfskoch reagiert.

»Die fällt heute kürzer aus.« Er hat mit der Antwort nicht gezögert.

»Kannst du die fahren?«

»Wird schon gehen.«

Sie hat nur einen Sitz. Ein Sitz für diesen John und mich. Er rutscht weit nach vorne. Es bleibt nur ein halber für mich übrig.

»Komm!«

Das ist mir zu nah. Ich sitze auf der Kante des Sitzes.

»Näher!«, sagt er.

Er wird die Uhr spüren.

»Na los!« Er nimmt meinen Arm und zieht ihn um sich. Legt ihn auf seinen Bauch. »Halt dich fest.« Sein Rücken drückt gegen meinen Körper. Ich rieche den Schweiß des Dachakrobaten. Den ich nicht kenne. Nicht kenne und nicht so nah bei mir spüren will. Als er anfährt, muss ich ihn umklammern, um nicht runterzurutschen.

Die Strecke wird so selten benutzt, dass die Anwohner keine Scheu haben, ihre Wäsche in den Gassen zu trocknen. Wir fahren durch Laken, Hemden und Schlüpfer.

Ich verstehe noch nicht, wie John die Weichen lenkt. Ich sehe nicht, wie er steuert. Doch wir fahren in den dunklen Teil der Stadt. Er nimmt immer die Nebenstrecken. Wenn sich der Blick auf die Hauptstraßen auftut, sehe ich Truppen in Bewegung. Sie haben dieselbe Richtung.

»Alles wird gut«, sagt er wie zu einem kleinen Kind, das Angst vor dem Einschlafen hat. Er muss merken, wie ich verkrampfe. Ich versuche, ihn lockerer zu umfassen.

»Es ist nicht mehr weit.«

Wohin ist es nicht mehr weit, John Barlington?

Er dreht sich zu mir um. »Wir sind bald da.«

»Pass auf!«, schreie ich.

Ein Laken trifft ihn. Er reißt die Arme hoch, will es abwehren. Die Einsitzer bremst abrupt. Ich rutsche, verliere den Halt, falle, versuche etwas zu fassen zu bekommen, kralle eine Hose fest. Die Hose bremst meinen Fall. Meine Arme spüren meine Schwere. Die Wäscheleine reißt. Meine Schwere ist wieder weg und ich rase nach unten. Mein Fuß bleibt in einer Leine hängen. Ich verliere das Oben und das Unten und wieder das Oben. Ein Ruck geht durch mein Bein. Ich stürze auf die Hauswand zu, reiße meine Hände vor mich, schlage gegen die Wand, suche Halt, greife hier und greife dort, bekomme nichts zu fassen, schürfe an der Mauer nach unten. Mein Fuß an einem Vorsprung. Ich stoppe meinen Fall. Meine Hände fangen an zu schmerzen. Blut läuft mein Handgelenk entlang in den Ärmel.

Ich höre, wie die Einsitzer zurücksetzt.

»Marietta? Geht es dir gut?«, ruft John.

»Nein, verdammt!«, brülle ich. Etwas setzt aus. Hinter meinen Gedanken übernehmen andere Gedanken. Auch sie sind ich. Sie wollen. Die Kontrolle. Über mich.

Der Motor stoppt. Aus dem Augenwinkel sehe ich John. Er springt auf einen Stützpfeiler, balanciert auf den Stahlträger, schreckt Tauben auf. Er versucht, das Geflatter wegzuscheuchen. Verliert das Gleichgewicht, stürzt, schlägt mit der Brust auf, umfasst den Träger, schlingert mit den Beinen gegen den Stahl. Es gelingt ihm, wieder auf den Stahlträger zu klettern. Der endet zwei Stockwerke über und vier Fenster neben mir. Er springt auf eine Feuerleiter, stürzt auf die Knie, klettert zu einem Balkon, lässt sich auf den darunter fallen, klammert sich an einen Fenstervorsprung.

Ich spüre, dass ich mich nicht mehr lange halten kann. Meine Knöchel umkrallen einen Ziegel und sind weiß. Der Mörtel bröckelt. Ich wage einen Blick über die Schulter. Es ist zu tief, um zu springen.

John verschwindet durch ein Fenster in das Haus. Sein Kopf erscheint neben mir. Er tastet sich auf einem Vorsprung Fuß für Fuß zu mir, reicht mir die Hand.

»Nimm!«, sagt er.

»Wenn du mich hältst, fallen wir beide.«

»Nimm!«

Für einen weggelassenen Atemzug löse ich den Griff. Ich fasse seine Hand. Er schwankt. Fällt nicht. Er umfasst meine Hüfte und zieht mich durch das Fenster.

Der Idiot hat sein Leben riskiert, um mich zu retten.

Ich streiche über die Stelle, wo er mich umfasst hat. Ich werde den Eindruck seiner Hand nicht los.

Er wusste meinen Namen, sagen die Gedanken hinter den Gedanken. Unseren Namen. Meinen und den der Gedanken. Wer mehr über uns weiß, als er wissen kann, ist Gefahr, sagen sie. Gefahr.

Ich schließe mich ein. Einen Teil von mir bringe ich in Sicherheit. Zeige nicht, was wir denken! Wer wir sind. Unsere Abscheu. Was wir ahnen. Wovor wir Angst haben. Der Rest von mir wagt es, sich der Gefahr zu stellen. Die Gefahr zu nutzen. Lass ihn unsere Vorsicht nicht ahnen! Wer mehr über uns weiß, als er wissen kann, weiß mehr über alles. Über Vater.

Ich will. Ich will …

Ich stehe in der Küche einer fremden Familie zwischen Geschirr vom Morgen und Seifenbottich. Den Geruch von Kartoffelschalen in der Nase, will nur noch zuschlagen. Einfach zuschlagen. Ich will den Lügner verprügeln. Er lacht. Ich will dieses Lachen mit den Fäusten beenden.

Einen Atemzug später konzentriere ich mich darauf, dass ich John noch brauche. Meine Fäuste entspannen sich.

Ich denke an Mutter. ›Wenn du weißt, dass jemand etwas über dich weiß, was er nicht wissen kann, weißt du etwas über ihn. Nutze das.‹ Ob sie ahnte, dass ihre Tochter einen geheimen Teil lebt? In ihren Träumen. In ihrem Sehnen. Einen Teil, den niemand kennt. Nicht einmal Vater.

Sie wollte mich schützen. Für sie war ein Geheimnis nicht nur Gefahr. Es war auch ein Werkzeug. Das Geheimnis eines anderen noch mehr als die eigenen. Die Frage, woher jemand etwas weiß, ist schon eine Antwort, die mir etwas über ihn verrät.

»Oh Retter, habt Dank!«, zische ich zwischen zusammengepressten Zähnen und verfluche Mister Aushilfskoch und seine Zirkuseinlagen.

Das Erste Gesetz

Die Leuchttürme gehören dem Konsortium. Wer sie nutzt, zahlt.

Das Rattern der Zahnräder, wenn sein Assistent die Mechanik der Bühne auf Anfang drehte, hörte er mit den Füßen. Wie ein Elefant. Das Rattern lief durch den Boden des Waggons. Nur das hohe Klicken fügten seine Ohren hinzu.

Es war der Moment, in dem er noch einmal durchatmete und sich aufrichtete. Wenn er sich konzentrierte, konnte er das leichte Schwanken der Monotram spüren. Kurz schloss er die Augen, bevor er mit einem Nicken das Zeichen zum Öffnen der Türen gab.

Dann tauchte er ein, in die Geräusche der strömenden Zuschauer. In das Murmeln, das Erwarten, das Zauber-Erhoffen.

Er liebte diesen Moment, die Ahnung, dass er ihnen alles erzählen konnte. Er erkannte es in ihren Augen. Sie würden alles einatmen und ihm alles – wirklich alles – glauben. Ihm. Sie würden ihm Seele und Leben übergeben, wenn er nur wollte.

Natürlich kannte jeder im Publikum die Geschichte, wie das Konsortium gegründet wurde, wie die Gesetze Ordnung und Wohlstand in die Welt brachten. Sie bekamen trotzdem nie genug davon. Sie wollten sie immer und immer wieder hören.

Die Frauen in den vorderen Reihen sortierten ihre ausladenden Röcke. Hinten schoben sich noch mehr Leute auf die Stehplätze. Viel Platz war nicht. Immerhin musste das ganze Diorama in einen schmalen Tram-Waggon passen. Schon bald würden allerdings die Trompel’œil-Malereien auf der Bühne, die versetzten Ebenen der Kulissen die nahe Rückwand vergessen lassen. Es würde Tiefe entstehen, wo keine war. Schon wenige Bewegungen der Kulissen und der Puppen darin würden ausreichen, um die Illusion der unendlichen Weite des Meeres zu erzeugen.

Alle hatten ihre Plätze gefunden. Er blieb verborgen hinter der Kulisse. Seine Stimme würde das Erste sein, was sein Publikum von ihm mitbekäme. Die Stimme wäre es, der sie lauschten, der sie folgten. Sein Flüstern, sein Schreien, sein Flehen und sein Erzählen.

Ein weiteres Nicken von ihm, und sein Assistent drehte die Gaslaternen langsam herunter. Er wusste, er musste warten, bis sich die Augen des Publikums an das Dunkel gewöhnt hatten. Er drehte die Beleuchtung zwischen der Rückwand der Bühne und den Wellen davor gerade so hell, dass man den Himmel des Meeres erahnen konnte, wenn man seine Fantasie spielen ließ.

»Vor mehr als zweihundert Jahren«, begann er die Geschichte, »riskierten tapfere Händler ihr Hab und Gut – ihr Leben gar –, um ihren Kunden in den kalten, nassen Ländern, aus denen sie kamen, die Waren zu bringen, die sie brauchten. Brauchten, um ihre Babys zu füttern, ihre Kinder zu ernähren. Um der kranken Großmutter die Leiden zu mildern. Den Kaufleuten war es wichtiger, ihre Kunden aus dem elendigen Leiden zu befreien, als ihr eigenes Leben bequem und sicher daheim zu verbringen. Sie verschuldeten sich. Sie verpfändeten ihre Habe. Sie nahmen Kredite von allen Menschen auf, die sie kannten. Sogar von der Krone nahmen sie Kredit. Alle legten ihre gesamten Hoffnungen in die Händler. Sie heuerten für ihr Geld die besten Seeleute an, die sie finden konnten.

So geschah es, dass auch die Kaufleute Albert Lawrence und Bartholomew Belleflower ein Schiff charterten: die TS Baldwin.«

Hier tauchte der Schatten eines altertümlichen Segelschiffes zwischen Himmel und Wellen auf. Es sah majestätisch und erhaben aus, wie es sich in die Wellen legte. Das Licht wurde ganz langsam heller, sodass das Publikum den Sonnenaufgang der Geschichte fühlte.

»Für das Kommando fanden sie niemand anderen als den berühmten Kapitän Hubberston. Sie entschieden sich, dass Belleflower in der Heimat den Kontakt zu ihren Kunden und Gläubigern halten sollte. Lawrence würde aber selbst an Bord steigen und mit der TS Baldwin an das Ende der Welt segeln. Er würde dort mit allem Geld, das sie besaßen, die Waren kaufen, die zu Hause für das Leben so vieler Erleichterung versprachen.«

Das Publikum konnte das Meer riechen und wähnte Magie. Dabei war es der Diorama-Assistent, der Meerwasser fein zerstäubte. Ein Mechanismus über der Bühne setzte sich in Gang und blies dem Publikum sanft den Wind ins Gesicht.

Einer der Geräusche-Macher fuhr mit einem geflochtenen Wedel durch sein Bassin hinter der Bühne. Meeresrauschen umflutete die TS Baldwin. Die andere Geräusche-Macherin blies den Wind in eine Ballonflasche und wrang einen Fetzen Leder aus. An Bord der Baldwin knarrte nun die Takelage.

Der Erzähler blickte die Musikerin an, ließ den Klängen der Musik einige Takte Zeit zu wirken. Ihre Ferne, ihre Tatkraft und ihr Pathos wickelten die Herzen der Zuhörer ein.

Dann versank die TS Baldwin in der Finsternis. Die Szene wechselte von der Mitte zum rechten Flügel der Bühne.

»Im Heimathafen wartete Belleflower auf Nachricht. Doch er wusste, es würden Monate vergehen. Fast ein Jahr, bevor er seinen Kompagnon zurückerwarten durfte. Auch wenn er den Anlegern gesagt hatte, wann frühestens mit der TS Baldwin und ihrer Ladung zu rechnen sei, kam die Erste schon nach wenigen Wochen. Sie trat vor die Tür von Belleflowers Kontor.«

Es klopfte. Licht ging an in dem Kontor. Nur der Schatten von Belleflower war zu sehen. Er zuckte zusammen und ging zur Tür. Eine alte, gebrechliche Frau kam in das Kontor. Auch sie nur ein Spiel aus Licht und Schatten.

»Es war die Großmutter eines der Seeleute – die Großmutter des Moses, des Jüngsten an Bord – sie hatte Schulden aufgenommen, um die Fahrt ihres Enkels zu ermöglichen. Auch sie hatte Anteile an dem Unternehmen gekauft. Wenn auch nur mit geliehenem Geld. Nun ereilten sie aber die Schmerzen eines Gichtschubes. Sie war verzweifelt. Sie konnte entweder den Kredit bezahlen oder den Arzt. Sie bat Belleflower – sie flehte Belleflower an.«

Ihr Schatten brach vor Belleflower zusammen.

»Und Belleflowers Herz gewann die Herrschaft über den gewissenhaften Buchhalter. Wider alle Vernunft kratzte er sein letztes Geld zusammen und kaufte davon den Anteil der Großmutter zurück. Auch wenn er dadurch die kommenden Wochen kaum Essen mehr haben würde und im kalten Kontor den Herbst überstehen musste.«

Belleflowers Schatten öffnete eine Schatulle, schüttelte sie, reichte der Frau seine letzten Münzen. Als sie das Kontor glücklich verlassen hatte, zog er den Rock enger und rückte den Stuhl näher an den Kamin. Die Musikerin schlug melancholische Melodien auf der Geige an. Einige Gäste im Publikum seufzten schwer. Der Erzähler lächelte im Verborgenen. Er liebte es, wenn die Geschichte wirkte, wie sie gedacht war.

Vor der Schattenbühne erschien eine Figur. Ein Lichtschein fiel auf die ernsten Züge. Der Mann war blass, nur die Wangen schienen vor Kälte leicht gerötet.

»Belleflower ging jeden Tag durch die Straßen und Gassen seiner Heimatstadt. Er traf andere Kaufleute.«

Die Figur zog den Hut. Ihr gegenüber tauchten drei weitere aus dem Dunkel auf.

»Sie hatten sich mit größeren Summen an dem Unternehmen beteiligt. Er traf den Pastor der Gemeinde.«

Die Belleflower-Puppe zog den Hut erneut, als der Pastor auftauchte.