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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Reinhard Brendli

Lektorat: Janette Schroeder, Berlin

Covergestaltung: Independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Yuliia Antoniuk

impressum ISBN 978-3-8338-7215-0

1. Auflage 2019

Bildnachweis

Illustrationen: Claudia Lieb, Nike Schenkl

Fotos: akg-images/Michaud, ddpimages/Wolf, Getty Images, Interfoto, Mauritius Images, Shutterstock

Syndication: www.seasons.agency

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Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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Tradition & Erneuerung

Seitdem »Das große Yoga-Buch« 1999 zum ersten Mal und 2010 völlig überarbeitet ein zweites Mal erschienen ist, hat der Yoga einen gewaltigen Aufschwung erlebt. Laut einer repräsentativen Umfrage in Deutschland 2015 gaben 13 Prozent der Bevölkerung (das sind etwa 12 Millionen Menschen) an, dass sie schon mal Kontakt mit Yoga hatten. Etwa 2,7 Millionen (3,3 Prozent der Deutschen) sagten, dass sie regelmäßig Yoga praktizieren. Diese Zahlen machen deutlich, dass es sich bei Yoga nicht mehr um ein Nischenphänomen handelt, sondern dass dieser Übungsweg heute auch bei uns mitten in der Gesellschaft angekommen ist.

Gleichzeitig hat Yoga auch einen festen Platz in der Gesundheitsvorsorge, in der Stressbewältigung und zunehmend auch in der Therapie gefunden. Die Anzahl der wissenschaftlichen Studien zu Yoga hat sich in den letzten Jahren vervielfacht und gleichzeitig hat auch die Qualität dieser Studien so zugenommen, dass es heute kaum noch gesundheitliche Störungen gibt, wo man sagen kann, dass Yoga nichts bewirkt.

»Jeder Mensch kann Yoga üben – solange er atmet.«

Sri Pattabhi Jois, Begründer des Ashtanga-Yoga

Altes Wissen, neue Blickwinkel

All das war möglich, weil es schon immer zu den Konzepten des Yoga gehörte, sich den jeweiligen Bedürfnissen der Übenden anzupassen und sich damit in gewisser Weise immer wieder neu zu erfinden. Das hat sicher sehr viel damit zu tun, dass sich über die Jahrhunderte hinweg in Indien unzählige Traditionslinien und Schulen herausgebildet haben, die die Lehren des Yoga immer wieder anders interpretierten und die teilweise einen äußerst unterschiedlichen Fokus setzten. Selbst wenn es immer mal wieder versucht wurde, konnte doch keine dieser Yoga-Traditionen für sich beanspruchen, dass sie den »einzig wahren Yoga« lehrt, denn der Yoga selbst erlaubt keinen Dogmatismus, ist sein großes Thema doch von jeher Verbindung und nicht Abgrenzung.

Die vielen neuen Yogaformen, die vor allem aus den USA zu uns kamen, sind also keineswegs immer Verflachungen und Verdünnungen der alten Lehren, sondern zeigen vielmehr erfrischend neue Blickwinkel und unvermutete Herangehensweisen an das überlieferte und bewährte Wissen.

Diesen Entwicklungen will die hier vorliegende Neuausgabe gerecht werden. Als Standardwerk für den modernen Yoga, das nun schon seit 20 Jahren vielfach genutzt wird, möchte dieses Buch widerspiegeln, was und wie heute geübt wird.

Individuelleres Üben

Form und Methode des Übens sollten sich im modernen Yoga ganz stark an den Bedürfnissen, Möglichkeiten und der Konstitution des Einzelnen orientieren, um heilsam und nachhaltig wirken zu können. So habe ich am eigenen Leib die positiven Auswirkungen der Atemtypenlehre erfahren und bei anderen Yoginis und Yogis beobachten können. Fortan habe ich immer die typenpolare Ausrichtung in den Ansagen zu den einzelnen Körperhaltungen (Asanas) und der Atmung berücksichtigt.

Die Entdeckung der Faszie

In der vorliegenden Neuausgabe wird endlich auch die Struktur und Funktionsweise der Faszie berücksichtigt, die uns als unser Binde- und Stützgewebe Struktur und Halt gibt. Obwohl dieser Gewebetyp ja alle unsere Zellen zu Organen, Muskeln, Gefäßen und Körperwänden zusammenfügt und über diesen Zusammenhalt die Form unseres Körpers erschafft, wurde die Faszie lange in der Medizin vernachlässigt.

Die Kenntnis über Aufbau und Funktion der Faszie und das Erkennen des individuellen Status des Bindegewebes bestimmen die Vorbereitung komplexer Asanas und Bewegungsabläufe zunehmend, wodurch die Verletzungsgefahr (etwa durch Zerrungen oder Überdehnungen) enorm sinkt.

Ich bin sehr glücklich, dass ich für das neue Faszienkapitel in Lilla Wuttich eine echte Expertin auf diesem Gebiet gewinnen konnte. Mit ihren tief reichenden Kenntnissen in funktionaler Anatomie und Physiologie und ihrer jahrelangen Erfahrung als Physiotherapeutin und in der Spiraldynamik (die sie als Ausbilderin weitergibt), ist ihr Ansatz immer praxisorientiert.

Neues und Bewährtes

Die Neuausgabe wurde um eine Reihe von Übungen erweitert – die die Bedürfnisse der Faszie berücksichtigen und sehr gut als Vorbereitung verschiedener Asanas, Atemübungen und zur Entspannung eingesetzt werden können.

Alles, was sich über die Jahre bewährt hat, ist unverändert geblieben. Speziell dem, was ich 1998 und 2010 im ersten Kapitel geschrieben hatte, war über weite Strecken – bis auf die erweiterte und vertiefte Sichtweise auf den Hatha-Yoga, angestoßen durch ein interdisziplinäres, langfristig angelegtes internationales »Hatha-Yoga-Project«, – kaum etwas Substanzielles hinzuzufügen.

Das ist eben das Einzigartige am Yoga: Viele seiner Weisheitstexte lassen sich – wenn wir nur die altertümliche Sprache, in der sie verfasst sind, etwas anpassen – wie moderne Ratgeber lesen. Offensichtlich haben sich die Natur und der Geist des Menschen über die Jahrtausende erstaunlich wenig verändert. So wirkt sich beispielsweise Stress auf unseren Körper und Atem nach wie vor genauso aus, wie es in den Yogatexten beschrieben wird. Das Einzige, was sich etwas verändert hat, sind äußere Stress auslösende Faktoren.

»Eine Übungspraxis wird nur dann Erfolge zeigen, wenn wir sie über einen langen Zeitraum ohne Unterbrechung beibehalten, wenn sie von Vertrauen in den Weg und von einem Interesse, das aus unserem Inneren erwächst, getragen ist.«

Patañjalis Yoga-Sutra I.14

Reichtum und Tiefe

Die Vielfalt der Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre mit verschiedenen Übungsweisen der Yogatraditionen und verwandter Übungswege gemacht habe, ist in dieses Buch eingeflossen. »Das große Buch vom Yoga« ist das Resultat von mehr als 44 Jahren Unterrichtspraxis. Es kann Ihnen vom ersten Schritt an helfen, sicher und effektiv zu üben, und auch Ihre fortgeschrittene Übungspraxis immer wieder befruchten. Es soll Ihnen ein zuverlässiger Begleiter auf Ihrem Yogaweg sein und Sie darin unterstützen, den Reichtum und die Tiefe dieser seit Jahrhunderten bewährten Übungspraxis für sich zu entdecken.

Der Yoga spricht uns Menschen in unserer Ganzheit an. Wenn Sie sich auf ihn einlassen und erlauben, dass die Übungen und die mentale Ausrichtung in Ihnen wirksam werden, dann wird er Sie verwandeln. Er wird Ihnen ermöglichen, Ihre Potenziale, Ihre Güte, Ihre Empathie und Ihre Liebe zu entfalten und zunehmend in den Dienst der Menschheit und der Erde stellen zu wollen.

Ich hoffe, dass ich Sie mit diesem Buch motivieren kann, sich auf den Weg zu sich selbst zu machen, indem ich Sie für den Yoga begeistere!

VOM WERDEN DES HATHA-YOGA

Der Yoga ist als Übungsweg seit mindestens 3500 Jahren überliefert, wahrscheinlich aber ist er wesentlich älter. In den Traditionslinien des Yoga hat sich ein enormes Wissen darüber angesammelt, wie der Körper und der Geist des Menschen strukturiert sind, welche Störungen entstehen, die uns Leid verursachen, und wie man dem am wirkungsvollsten und nachhaltigsten begegnen kann.

»Führe mich vom Unwahren zur Wahrheit. Führe mich von der Dunkelheit ins Licht. Führe mich von dem, was tot ist, zu dem, was lebendig ist!«

Ausrufung aus der Brihadaranyaka-Upanishad, 1.3,28

»Yoga ist die Fähigkeit, sich ausschließlich auf einen Gegenstand, eine Frage oder einen anderen Inhalt auszurichten und in dieser Ausrichtung ohne Ablenkung zu verweilen. Dann scheint in uns die Fähigkeit auf, etwas vollständig und richtig zu erkennen.«

Yoga-Sutra 1.2–3

Tradition und Konzept des Yoga

Der Yoga kommt aus Indien. Der Begriff bezeichnet dort nicht nur eines der sechs großen philosophischen Systeme beziehungsweise eine Sichtweise auf die Wirklichkeit (Darshana), sondern auch eine Methode der Geistesschulung, die hilft, den Geist zu klären und zu beruhigen. Yoga wird außerdem als ein Übungsweg angesehen, der zur Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung führt.

URSPRÜNGLICH EIN SPIRITUELLER WEG

Der Yoga war ursprünglich im Herzen des komplexen religiösen Systems angesiedelt, das im Westen Hinduismus genannt wird. Seit der Entwicklung des Yogasystems durch den Weisen Patañjali (sprich: Patandschali) vor knapp 2000 Jahren hat sich der »klassische« Yoga jedoch weitgehend von seiner religiösen Bindung gelöst und gilt heute zumindest in Indien eher als weltlich. Tatsächlich aber kann sich die geistige Disziplin des Yoga, wie sie von Patañjali niedergeschrieben wurde, mit allen Religionen Indiens und des Westens verbinden. Daher konnte sich in den letzten Jahrzehnten sogar ein christlich gefärbter Yoga herausbilden.

Insgesamt kann man sagen, dass der Yoga in seiner reinen Form eine nicht religiöse, universale Spiritualität ist. Yoga, als eine psychologische Wissenschaft, ist ebenso neutral wie etwa Physik oder Psychotherapie. Sein Erkenntnisweg kann sowohl vom Gläubigen wie auch unabhängig von Religion beschritten werden.

Ausgerechnet der im Westen so populäre und viel praktizierte Hatha-Yoga ist jedoch ursprünglich in ein religiöses Weltbild eingebunden, und zwar in das des Shivaismus. Dieser Yogaweg gilt in Indien als von Gott Shiva offenbart und zeigt Methoden auf, den Übenden zur Einheit mit dem Göttlichen oder Absoluten zurückzuführen. Da sich nur wenige Lehrende der theistischen Ausrichtung des Hatha-Yoga bewusst sind, ist dieser Aspekt heute weitgehend verloren gegangen.

Yoga heißt »die Zügel in die Hand nehmen«

Das Wort Yoga geht auf die indogermanische Wurzel yuj zurück. Yuj bedeutet »anschirren« und »zusammenführen von zwei oder mehreren Pferden vor einem (Streit-)Wagen«, aber auch »zusammenbinden«, »anjochen« oder »ins Joch spannen«.

Das Bild des Jochs als Sinnbild des Yoga war weit verbreitet. Oft wurde auf die enge Wortverwandtschaft von Yoga und dem deutschen Wort Joch, dem französischen joug, dem spanischen yugo oder dem lateinischen iugum verwiesen. Der französische Indologe Jean Varenne zieht jedoch inzwischen die Übersetzung »Gespann« vor. Warum, wird klar, wenn man etwas mehr über den historischen Hintergrund dieses Begriffs erfährt.

Die wilden Rösser der fünf Sinne zügeln

Indien ist seit ungefähr 1500 v. Chr. in weiten Teilen von den Indoariern erobert worden, die ihre Kriegszüge und Landnahmen mit Streitwagen machten, die von edlen Rössern gezogen wurden. Diese Pferde waren der wichtigste Besitz der Häuptlinge, und ihr Prestige hing wesentlich von der Anzahl und Kraft ihrer Hengste ab. Die Tiere zu bändigen und sie vor einem Wagen anzuschirren, erforderte Kraft und Geschicklichkeit.

Es gibt die Theorie, dass diese Eroberer – neben der Kunst, Streitwagen zu lenken, das Schwert zu führen und mit Pfeil und Bogen zu schießen – eine Geistesdisziplin mitbrachten, die sie Yoga nannten. Sie zeigte Methoden auf, die unruhigen und »wilden Rösser der fünf Sinne« zu zügeln und vor den Wagen zu spannen, der den Körper symbolisiert. Wagenlenker ist der Geist, der bestimmt, wohin sich Körper und Sinne bewegen sollen.

Dementsprechend ist es für die heutigen Indologen näherliegend, das Wort Yoga mit »Gespann« zu übersetzen, da »Joch« sich eher auf die Ackerbaukultur der eroberten Völker bezieht.

Neben dieser historischen Bedeutung wurde der Begriff Yoga aber auch schon sehr früh sinngleich verwandt für alle Techniken der Konzentration, Verinnerlichung und der Verbindung mit etwas Höherem, in der Regel mit dem Göttlichen.

DIE LANGE GESCHICHTE

Yoga ist in Indien seit 3500 Jahren bekannt – dieser Zeitraum zumindest lässt sich einigermaßen schlüssig durch Quellen belegen. Es gibt immer wieder Spekulationen, dass der Yoga bereits in der Hochkultur des Industals (ab etwa 2500 v. Chr.) entwickelt wurde und somit viel älter sei, aber für diese Kultur ist die Quellenlage äußerst ungewiss. Wir wissen also so gut wie gar nichts über die religiösen und spirituellen Gebräuche dieser Zeit, da man bis jetzt nicht die Schrift zu entschlüsseln vermochte und gut 75 Prozent der Bauten noch nicht ausgegraben werden konnten. Man kann also höchstens vermuten, dass yogaähnliche Techniken sowohl in der jungsteinzeitlichen Induskultur als auch im Rahmen schamanischer Techniken auf dem indischen Subkontinent seit frühester Zeit ausgeübt wurden. Wenn es so war, sind diese frühen Strömungen mit größter Wahrscheinlichkeit so mit den sich später herausbildenden Strömungen des Yoga verschmolzen, dass sie sich heute nicht mehr von ihnen trennen lassen.

Asketen glauben, dass extremer Verzicht und Selbstgeißelung – etwa das Sitzen zwischen fünf Feuern an glutheißen Tagen oder jahrelanges Stehen auf einem Bein – die Götter zwingen würden, die Gebete zu erfüllen. Fakire wollten zeigen, dass Gott in ihnen so stark ist, dass ihr Körper unempfindlich gegen Verletzungen werden konnte.

Frühzeit – Yoga als magisches Ritual

Die Vedas, uralte Textsammlungen, die etwa 1500 v. Chr. niedergeschrieben wurden, belegen, dass das, was Yoga genannt wurde, viel mit magischen Opferhandlungen und Ekstasetechniken zu tun hatte. Sie dienten dazu, durch intensive Konzentration auf die angerufenen Götter zu Visionen oder ekstatischen Zuständen zu finden, die den Erfolg magischer Praktiken wie Opferhandlungen oder Feuerrituale garantieren sollten.

Diese Rituale und Opfer wurden im Laufe der Jahrhunderte immer aufwendiger und komplizierter. Opferte man früher ein Pferd, so wurden den vedischen Göttern schon mal 1000 Hengste dargebracht. Entsprechend wurden auch die Anstrengungen im Yoga verstärkt. Aus der Lebensgeschichte Buddhas, der jahrelang als Yogi umherwanderte, wissen wir, dass Yoga zu üben auch bedeutete, sich extremer Askese zu unterziehen und zum Fakir zu werden – beides Tendenzen, die heute noch oft mit dem Yoga in Verbindung gebracht werden.

Meditation als Weg der Selbsterkenntnis

Diese Entwicklung führte dazu, dass eine Gegenbewegung aufkam: Das äußere Opfer wurde mehr und mehr durch ein inneres Opfer ersetzt, und statt Reis, Blumen oder Tieren opferte man nun zum Beispiel symbolisch den Atem.

An die Stelle von Askese trat die Meditation darüber, was das eigentliche Selbst des Menschen ausmacht und in welchem Zusammenhang es mit dem kosmischen Selbst steht.

Diese vielfältigen Reflexionen und Spekulationen fanden ab etwa 800 v. Chr. ihren Niederschlag in den »Upanishaden«. Diese Textsammlungen umfassen Dialoge zwischen Lehrer und Schüler, in denen über die existenziellen Fragen der Menschheit nachgedacht wird. Die »Upanishaden« entwickelten die Lehre, dass Gott und die Schöpfung identisch sind, dass also alles eins ist: Da Gott in allem ist und alles in Gott, sind äußere Opfer und Rituale überflüssig. Stattdessen geht es nun darum, in sich den göttlichen Wesenskern, das Selbst (Atman) zu entdecken, also das, was unsterblich, ewig und unbeeinflussbar ist.

Zu dieser Zeit entstand auch die Vorstellung von der Wiedergeburt und einem persönlichen Schicksal, das von Wiedergeburt zu Wiedergeburt mitgeführt wird, in Form von Svadharma (die Aufgabe hier und jetzt in der Welt) und Karma (das Gesetz von Ursache und Wirkung).

»Er, dessen Bewusstsein unerschüttert bleibt inmitten von Leiden und Freuden, ist frei geworden von Verlangen. Neigung, Furcht und Zorn sind aus ihm gewichen. Er ist der Weise, dessen Verstehen auf sicherem Grunde ruht.«

Bhagavadgita 2.56

Unmittelbare religiöser Erfahrung

Ebenfalls um diese Zeit wurde der Yoga in Indien zum ersten Mal populär. Während er vorher vor allem von weltabgewandten Asketen und Suchern (Rishis) ausgeübt worden war, gewann er nun zunehmend Einfluss bei all den Kasten, die von der Ausübung der »offiziellen« Religion, also des Hinduismus, ausgeschlossen wurden.

Angehörige unterer Kasten, Kastenlose, zu denen auch die Ureinwohner des indischen Subkontinents zählen, und Frauen (!) hatten keinen Zugang zum Ritual und religiösem Wissen, sondern ausschließlich Männer, die den drei oberen Kasten angehörten. Die Ausübung religiöser Praktiken wie Opfer und Gebet wurde durch eine Priesterschaft geregelt, die die Tempel wie Familienunternehmen verwaltete. Die Brahmanen ließen sich ihr Wissen, wie man mit Gott in Verbindung treten kann, bezahlen und machten Religion zunehmend zu einer Angelegenheit der Wohlhabenden.

Yoga ermöglichte dagegen jedem Menschen die unmittelbare religiöse Teilhabe, da Gott nun im eigenen Inneren gesucht wurde. Er zeigte Methoden, Zugang zu Gott zu finden, Selbsterkenntnis zu erlangen und das eigene Schicksal positiv zu beeinflussen. So waren die Menschen nicht mehr darauf angewiesen, dass ihnen die Priester bei der Befreiung aus dem »ewigen Rad der Wiedergeburten« halfen. Jeder konnte sein Geschick selbst in die Hand nehmen und Verantwortung für sein Leben im Hier und Jetzt übernehmen. Praktisch sah es jedoch weiterhin so aus, dass dieser Weg nur den Wenigen offenstand, die die Texte zu lesen vermochten oder deren Lebensumstände es erlaubten, dass sie eine Weile mit einem spirituellen Lehrer (Guru) zusammenleben konnten.

Der Yoga in der Bhagavadgita

Einer der berühmten Texte, der den Weg des Yoga beschreibt, ist die »Bhagavadgita« (Der Gesang des Erhabenen), die jedem Inder von Kindesbeinen an geläufig ist. Sie ist Teil eines der großen indischen Nationalepen, des »Mahabharata«.

Im zentralen Teil dieser Geschichte legt der Gott Krishna dem Kriegshelden Arjuna den Weg des Yoga dar. Genauer gesagt zeigt er ihm vier sich ergänzende Yogawege auf, die zum einen dem unterschiedlichen Naturell der Menschen gerecht werden, zum anderem aber auch sehr klar den Weg der Erkenntnis und ihrer Umsetzung im täglichen Leben nachvollziehen. Es sind:

Krishna erklärt Arjuna, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Kaste, die Methoden des Yoga nutzen und im Geist des Yoga leben kann.

Ein ganz wesentlicher Gedanke dieser Belehrung besagt, dass der Mensch die Umstände annehmen muss, unter denen er geboren wurde, also Kastenzugehörigkeit, Gesundheitszustand und Grad des Wohlstands, um dann daraus das Beste zu machen. Die »Bhagavadgita« macht deutlich, dass eine innere Einstellung, die sich der Annahme dieser Gegebenheiten widersetzt, viel Leid verursachen kann und verhindert, dass man seine Aufgabe und damit den Sinn seines Lebens findet. Krishna lehrt, wie wir zu einer Geisteshaltung gelangen können, die uns tatsächlich und unter allen Umständen hilft, Leid zu vermeiden, indem wir lernen zu erkennen, was der Sinn des Lebens und seine Perspektive ist und wie wir zum Wohl des großen Ganzen beitragen können. Der Text empfiehlt, mit dieser Erkenntnis zunächst in die Stille zu gehen, um herauszufinden, was genau stimmiges und förderliches Denken, Fühlen und Handeln wäre – und dann auf der Grundlage des so entstandenen Wissens tatsächlich zu handeln.

Als Freund und Lehrer der Menschen gibt uns Krishna in der »Bhagavadgita« zu bedenken, dass unsere Perspektive natürlicherweise immer eingeschränkt ist und wir nie bis in alle Konsequenz bedenken oder wissen können, was unser Handeln – oder Nichthandeln – bewirkt. Deswegen rät er Arjuna, sein Tun dem Göttlichen (oder einem größeren Zusammenhang) zu widmen.

Wir sollen unsere Absichten überprüfen und so gut handeln, wie es uns zum gegebenen Zeitpunkt nur eben möglich ist. Aber Handeln ist wie das Bogenschießen: Wir spannen den Bogen, zielen mit dem Pfeil, richten uns innerlich ganz aus – und müssen den Pfeil dann fliegen lassen. Seinen Lauf können wir nicht mehr beeinflussen. Bhakti-Yoga ist eben dieses Loslassen, im Vertrauen darauf, dass wir das Richtige tun und unsere Handlungen zum Wohle aller Wesen beitragen mögen.

Ähnlich wie die Lehren Buddhas, die etwa zeitgleich entstanden, sind auch die Gedanken der »Bhagavadgita« zeitlos und heute noch hilfreich, obwohl sie unter dem Einfluss anderer Herrschaftsstrukturen entwickelt worden sind.

Buddha hatte selbst Yoga praktiziert – daher lassen sich viele Elemente des Yoga in den Meditationspraktiken des Buddhismus finden. Vor allem das Sitzen in der Stille (Asana), die Atembeobachtung (Pranayama) und das Zurückziehen der Sinne (Pratyahara) wurden fester Bestandteil des buddhistischen Übungswegs.

Der »klassische« Yoga

Der andere Text von überragender Bedeutung ist das »Yoga-Sutra« (Sutra = Leitfaden). Es heißt, dass es vom Weisen Patañjali verfasst worden ist, wahrscheinlich aber wurde es von einem Autorenkollektiv zusammengestellt, das das Yogawissen der Zeit um etwa 400 n. Chr. sammelte und niederschrieb. Das »Yoga-Sutra« begründete die systematische Wissenschaft des Yoga, die bis heute aktuell geblieben ist, weswegen der darin beschriebene Yogaweg oft als »klassischer Yoga« bezeichnet wird. Mit psychologischem Blick diagnostizierten die Verse des Sutra, was den Geist des Menschen trüben und was sein inneres Wachstum sowie seine Selbsterkenntnis behindern kann, und zeigen dann einen für jeden Menschen nachvollziehbaren Übungsweg auf, diesen Schwierigkeiten zu begegnen.

Da das »Yoga-Sutra« für den gesamten Yoga bis zum heutigen Tag so wichtig ist, wird es später noch ausführlicher behandelt (>).

Das Wort Tantra kommt von der Wurzel tan, was »ausbreiten, vermehren« heißt und »das, was die Erkenntnis ausdehnt« bezeichnet. Eine andere Wortbedeutung ist »Gewebe«. Sie bezieht sich darauf, dass sich alle großen Geistesströmungen dieser Zeit im Tantrismus miteinander verbanden.

»Gayan-Chopah-Yantra«: tantristisches Meditationsbild mit Schriftzeichen und Gottheiten. Die Schlangen symbolisieren die aufsteigenden Energien im Körper des Meditierenden.

Der Einfluss des Tantrismus

Ab ungefähr 500 n. Chr. erschütterte eine große kulturell und religiös gefärbte Revolution Indien, die unter dem Namen Tantrismus bekannt wurde.

Ausgehend von den Rändern des indischen Subkontinents, vor allem von Assam und Kaschmir – also Gebieten, die die Indoarier nie wirklich kolonialisiert hatten –, zog eine große Frömmigkeitsbewegung über das Land. Sie gewann schnell Einfluss bei allen »offiziellen« Religionen dieser Zeit: dem Hinduismus (hier vor allem bei den Anhängern des Gottes Shiva), dem Buddhismus und dem Jainismus (siehe auch Glossar >).

Die Tantriker forderten als Erstes, allen Menschen den Zugang zur Religion zu gewähren. Wurde bis dahin das gesamte religiöse Wissen in der alten heiligen Sprache Sanskrit bewahrt, die nur bestimmte Menschen lernen durften, so wurden das Ritual und das Wissen nun in die unzähligen regionalen Sprachen Indiens übertragen und damit zum ersten Mal allen zugänglich gemacht.

Alles, was ist, ist Ausdruck des Göttlichen

In der Weltsicht der Weisen und Philosophen der vortantrischen Zeit herrschte die Ansicht vor, dass alles, was wir sehen, erfahren und erleben, Illusion (Maya) ist, also ein Trugbild, das sich unser Geist erschaffen hat. Im Tantrismus dagegen wurde die Welt mit allen uns erfahrbaren Erscheinungen als real angesehen. Die Vorstellung, dass die Schöpfung eine Täuschung sei, würde schließlich bedeuten, dass auch Gott eine Täuschung ist. Gott aber war den Tantrikern eine erfahrbare Wirklichkeit. Also wurde und wird von ihnen unterschiedslos alles, was war, was ist und was sein wird, als Ausdruck des Göttlichen angesehen und verehrt.

Dadurch änderte sich die Wertschätzung für den Körper ganz enorm. Während er im vortantrischen Yoga vor allem als Hindernis angesehen wurde, weil er uns mit seinen Bedürfnissen vom Wesentlichen, zum Beispiel der Meditation, abhalten kann oder weil er uns über die Sinne immer wieder aus der Konzentration in die Zerstreuung führt, sollte der Körper – und damit die Natur – beherrscht und bezwungen werden, damit er dem Geist willig diente. Das Ideal war, dass er völlig in den Hintergrund trat und nicht wahrgenommen wurde. Deshalb kannte man im vortantrischen Yoga zwar Sitzhaltungen und einige Atemübungen, aber wohl keine Körperübungen in der Art, wie wir sie heute mit der Yogapraxis verbinden.

Hatha-Yoga – der Körper als Ausgangspunkt des Weges

Der körperbezogene Übungsweg des Hatha-Yoga entwickelte sich etwa im 8. Jahrhundert n. Chr. in Nordindien auf der Grundlage des Tantrismus. Er war sehr stark von der Verehrung Shivas geprägt, da seine Begründer, die Nath-Yogins, dieser Richtung des Hinduismus folgten. Sie erklärten, dass der Hatha-Yoga den Menschen vom Gott Shiva offenbart worden sei, damit sie einem methodischen Weg folgen könnten, der sie zur Quelle ihres Seins zurückführen würde.

Das wichtigste Ziel des Hatha-Yoga war es ursprünglich, den Übenden die Begegnung mit Gott im inneren Sein zu ermöglichen. Das Üben sollte sie erfahren lassen, dass sie von Lebensenergie (Prana) durchströmt sind, dass ihr Körper ein Wunderwerk ist und dass der Atem, der sie »inspiriert«, von Gott kommt und sie mit ihm verbindet. Indem sie das Schwingen und das Pulsieren des Atems und der Lebensenergie in sich wahrnehmen, erfahren sie Gott in sich, denn diese Energie ist der reine, uranfängliche Ausdruck des Göttlichen (Shakti), und die Tatsache, dass man sie überhaupt wahrnehmen kann, ist Ausdruck des reinen Bewusstseins (Shiva). Diese Sichtweise basiert auf dem tantrischen Schöpfungsmythos (siehe > f.).

Hatha-Yoga als mystischer Übungsweg

Die Meister des Hatha-Yoga entwickelten in den folgenden Jahrhunderten auf der Grundlage dieser Konzepte einen komplexen Übungsweg mit Körperhaltungen (Asana), Reinigungsübungen (Kriya), Atemtechniken (Pranayama), Konzentrationen (Dharana), Visualisierungen (mittels Bhavana, Yantra und Mandala) und Übungen, die den Klang (Nada) mit einbeziehen. Dieses Konzept berücksichtigt in genialer Weise die vielfältigen Erscheinungsformen der menschlichen Natur sowie die Stärken und Schwächen der menschlichen Psyche. Dadurch ist es wohl auch zu erklären, dass der »Körperyoga« so viele Jahrhunderte lang überleben konnte und auch heute noch die Menschen in aller Welt fasziniert.

Jeder, der mit dem Üben beginnt, kann die in den Grundlagentexten beschriebenen Erfahrungen am eigenen Leibe spüren und nachvollziehen. Jeder, der sich auf diesen Weg einlässt, wird feststellen, dass das Üben ihn im Laufe der Jahre in seiner Gesamtheit verändert und transformiert.

Der bedeutendste Quellentext des Hatha-Yoga, die »Hatha-Yoga-Pradipika« (etwa 1450 n. Chr.), stellt klar, wie dieser Übungsweg zu verstehen ist. Der Autor Svatmarama vergleicht den Weg des Hatha-Yoga mit einer Leiter. Der Weg führt von Sprosse zu Sprosse – von der Überprüfung und Klärung der eigenen Absichten und der inneren Einstellungen, mit denen man diesen Weg zu gehen gedenkt (Yama und Niyama genannt), über die Reinigungstechniken für Körper und Energiekörper zu den Asanas. In der Mitte der Leiter finden wir als zentrale Technik die Atemübungen (Pranayama) in Verbindung mit energetischen Verschlüssen (Bandhas), die im Becken, Bauch und an der Kehle gesetzt werden und helfen sollen, die Bewusstseinsenergie (Prana) nach oben zu lenken – also die Leiter hinauf. Das vorletzte Glied dieses Weges wird Siegel (Mudra) genannt. Gemeint ist damit die schon erwähnte Erfahrung des lebendigen Pulsierens und Strömens des Prana im Körper. Diese Erfahrung wird im Hatha-Yoga als die Rückkehr zu der Quelle allen Seins (Shiva als Zustand reinen Bewusstseins) gesehen. Was in anderen Yogawegen Samadhi (Zustand des Einsseins) genannt wird, heißt im Hatha-Yoga »Auflösung« (Laya) und meint, dass sich das individuelle Sein im absoluten Sein auflöst und wie eine Welle in der unendlichen Weite des Ozeans aufgeht. Es heißt, dass sie einhergeht mit der Empfindung großer Glückseligkeit (Ananda), denn der Übende erfährt sich als heil, vollkommen und als zutiefst im Sein angekommen.

Das Bild der Leiter legt aber nicht nur nahe, dass der Übende auf ihr Sprosse für Sprosse aufsteigt – und ganz oben die Erfahrungen macht, die den Aufstieg lohnen –, sondern dass er damit erfüllt auch wieder hinabsteigt in seinen ganz normalen Alltag, den er nun in einem anderen – weiteren – Zusammenhang sehen kann.

Pranayama und Meditation im Zentrum des Hatha-Yoga

Im Hatha-Yoga ging es also nie um Körperertüchtigung, sondern darum, den Geist zu beruhigen. Dem Körper wird dennoch Bedeutung beigemessen, denn er ist der einzige Ort, an dem wir Erfahrungen machen können. Die Meditationen dieses Yogawegs laden uns ein, die Empfindung unseres inneren lebendigen Seins immer mehr zu verfeinern und damit zu erkennen, dass wir mehr sind als das Ego (das unsere individuelle Persönlichkeit formt). Die Forschungsarbeiten des »Hatha-Yoga-Projects« zeigen deutlich, dass der Schwerpunkt der Übungspraxis immer auf Pranayama und Mudra (also auf Meditation) lag. Eine etwas ausdifferenziertere Asanapraxis lässt sich erst ab dem 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung nachweisen. Sie bleibt allerdings eher die Ausnahme. Der Großteil der Asanas, die wir heute üben, wurde erst im 20. Jahrhundert entwickelt.

Die dunkle Zeit

Der Hatha-Yoga stand im Mittelalter allen Menschen in Indien als Übungsweg zur Verfügung, egal welcher Religion oder Kaste sie angehörten. Im Gegensatz zum klassischen Yoga war auch Frauen das Üben erlaubt.

Ab 1500 n. Chr. verlor der Hatha-Yoga jedoch an Popularität, da sich die ursprünglichen, streng religiösen Strömungen wieder durchsetzten. Das führte zum Beispiel dazu, dass Frauen erneut ausgeschlossen wurden und dass wie zuvor das Üben des Yoga an eine bestimmte Kastenzugehörigkeit geknüpft wurde.

Wegen seiner teilweise absonderlich anmutenden Techniken (wie Körperhaltungen oder Reinigungsübungen) kam der Hatha-Yoga sogar zunehmend in Verruf. Nur noch wenige authentische Traditionslinien existierten weiter und bewahrten das alte Wissen bis in unser Zeit. Selbst Wissenschaftlern, die sich mit indischer Geistesgeschichte beschäftigen, ist über den Zeitraum von 1600 bis 1900, in dem der Yoga gewissermaßen in der Versenkung verschwand, wenig bekannt.

»Solange der Atem bewegt ist, ist der Geist bewegt. Sobald der Atem unbewegt ist, ist der Geist unbewegt und der Yogi erreicht vollkommene Regungslosigkeit.«

Hatha-Yoga-Pradipika 2.2

Neubelebung alten Wissens

Erst im 20. Jahrhundert erfuhr der Yoga eine ungeahnte Wiederbelebung: Nach der langen Periode der Kolonialisierung durch den Islam und später die Engländer begannen die Inder, sich wieder auf ihre eigene Kultur zu besinnen. Nicht zuletzt trug das große Interesse europäischer Indologen und Religionswissenschaftler dazu bei, dass wichtige Grundlagentexte des Yoga aus ihrem jahrhundertelangen Dämmerschlaf in den Bibliotheken geholt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die alten Techniken wurden überprüft und den Bedürfnissen der modernen Menschen angepasst. Man begann mit ersten wissenschaftlichen Forschungen zu den Wirkungen des Yoga. Und es entstand ein Bedürfnis, die Botschaft des Yoga mit den Menschen anderer Kulturen zu teilen, um auch ihnen die Möglichkeit zu geben, gesünder, klarer und verantwortlicher zu werden.

Der Yoga kommt in den Westen

Das einschneidende Ereignis in dieser Hinsicht war der Auftritt von Swami Vivekananda beim »Weltparlament der Religionen«, das 1893 in Chicago stattfand. Als Botschafter des Hinduismus begeisterte Vivekananda in einer Rede sein Publikum für die Geisteswelt Indiens, was dazu führte, dass er im Anschluss eine Tournee durch die Vereinigten Staaten von Amerika unternahm und mit seinen Ausführungen die Neugier und den Forscherdrang der Amerikaner weckte.

In Europa tauchten der körperbetonte Hatha-Yoga und der klassische Yoga Patañjalis um 1930 auf. Während sich zu dieser Zeit eher einzelne Sucher mit den Grundlagentexten und den Übungen beschäftigten, wurde der Yoga ab den 1960er-Jahren äußerst populär, was sich in einer Vielzahl von Publikationen und Radio - sowie Fernsehbeiträgen niederschlug. Dabei wandelte sich allerdings der Akzent von einem spirituellen zu einem gesundheits- und fitnessorientierten Übungsweg. Yoga wurde nun geübt, damit man (zumeist allerdings frau) gesund, schlank, leistungsfähig, konzentriert und entspannt den Alltag bewältigen konnte.

»Unter Yoga versteht der Inder das Streben, vermittels systematischer Schulung des Körpers und Geistes auf dem Weg innerer Sammlung durch unmittelbares Schauen und Erleben die erlösende Erkenntnis oder die Erlösung selbst zu erlangen. Er ist also keine Lehre, sondern eine Methode, und kann als solche mit den verschiedensten Lehren in Verbindung treten.«

Erich Frauwallner, Indologe

Der moderne Yoga heute

Erst in den späten 1990er-Jahren setzten sich im Yoga die Aspekte der Selbstfindung, der Selbstverwirklichung und der Spiritualität wieder stärker durch. Gleichzeitig wurden die Körperübungen immer weiter verfeinert, um verschiedenen therapeutischen Ansprüchen zu genügen. Der Yoga wurde dabei einerseits wieder authentischer und puristischer, andererseits verband man seine Grundgedanken mit vielen neuen Körpertechniken wie Stretching, Feldenkrais, Alexander-Technik, Pilates oder der Rückenschule.

Es gibt heute Yogaschulen, die vor allem die Körperübungen in den Mittelpunkt stellen, andere, die sehr therapeutisch orientiert sind, und schließlich solche, in denen Philosophie und Meditation im Vordergrund stehen (siehe > rechte Seite). Das vorliegende Buch versucht eine Verbindung dieser drei großen Strömungen, so wie es ursprünglich im Hatha-Yoga gedacht war.

Dieser kurze Überblick zeigt, dass der Yoga in den gut drei Jahrtausenden seines Bestehens vielfältigen Wandlungen unterworfen war. Die Zeitströmungen veränderten ihn jedoch nie so stark, dass seine Essenz verloren gegangen wäre. Immer wieder zeigt er sich frisch, lebendig und faszinierend. Da sich die grundlegenden Probleme des Menschen offenbar ebenso wenig ändern wie seine Natur, ist anzunehmen, dass der Yoga auch alle weiteren gesellschaftlichen Veränderungen, Moden und Trends überstehen wird, denn er hat eine Vielfalt erprobter, hilfreicher Antworten und Lösungsvorschläge anzubieten.

DIE WICHTIGSTEN TRADITIONSLINIEN, DIE HEUTE DEN YOGA BESTIMMEN

Die folgende kurze Übersicht ist als Orientierungshilfe gedacht, wenn Sie nach einem Yogalehrer suchen. Sie beruht auf den Erfahrungen der Autorin mit den unterschiedlichen Traditionen, ist also subjektiv. Probieren Sie selbst aus, welcher Stil – ob indisch oder westlich – und welche Lehrerin/welcher Lehrer Ihnen entspricht.

  • Iyengar-Yoga (sprich Aijengar): Begründet von B. K. S. Iyengar (Poona/Indien) und weltweit verbreitet. Kraftvoller, körperorientierter Yoga im indischen Stil. Bedingt geeignet für reine Anfänger/innen. Menschen mit ernsthaften körperlichen Problemen (Rücken, Knie) finden guten Einzelunterricht.
  • Ashtanga-Yoga: Begründet von Pattabhi Jois (Mysore/Indien). Sehr kraftvoller, körperorientierter Yoga im indischen Stil. Lange Übungsreihen, die sehr dynamisch geübt werden. Geeignet für alle, die eine strukturierte, kraftvolle und doch meditative Körperübungspraxis suchen. Inzwischen gibt es auch eine modifizierte, den individuellen Bedürfnissen angepasste Form des Ashtanga-Yoga, den von dem Arzt Dr. Ronald Steiner begründeten »Ashtanga-Yoga Innovativ«.
  • Yoga der Energie: Begründet von Lucien Ferrer und Roger Clerc (Paris). Verbreitet in Frankreich, zunehmend auch in Deutschland. Kraftvoller Hatha-Yoga unter Einbeziehung aller Techniken (Atmung, Konzentration, Meditation, Visualisierungen und Mantra-Singen) und der klassischen Texte, angepasst an die Möglichkeiten und Bedürfnisse westlicher Menschen. Geeignet für alle, für Anfänger und Fortgeschrittene jeden Alters.
  • Vini-Yoga: Begründet von Sri Krishnamacharya (Madras/Indien) und seinem Sohn Desikachar. Verbreitet in Europa und den USA. Verbindung von Hatha-Yoga-Techniken und der Philosophie Patañjalis. Oft sehr therapeutisch ausgerichtet (Einzelunterricht) und stark an den Bedürfnissen der Übenden orientiert. Geeignet auch für Menschen mit gesundheitlichen Problemen.
  • Sivananda-Yoga: Begründet von Swami Sivananda (Rishikesh/Indien). Klassischer Hatha-Yoga im indischen Stil. Kurse in Philosophie (Vedanta), Meditation und Ernährungslehre. Geeignet für gesunde Menschen mit gutem Körpergefühl.
  • Kundalini-Yoga: Begründet von Yogi Bhajan in der religiösen Tradition der Sikhs und weltweit verbreitet. Klassischer Hatha-Yoga im indischen Stil mit intensiven Körper- und Atemübungen (>). Kurse in Mantra-Singen, Ernährungslehre und Lebensführung. Geeignet für körperlich und seelisch gesunde, stabile Menschen mit gutem Körpergefühl.
  • Kriya-Yoga: Der bekannteste Vertreter war Yogananda. Weltweit verbreitet. Körper- und Atemübungen, vor allem aber Meditation und geistige Schulung im indischen Stil. Geeignet für alle.
  • Integraler Yoga: Begründet von Sri Aurobindo (Pondicherry/Indien) und weltweit verbreitet. Ein hauptsächlich geistiger Weg, der Selbsterfahrung und Meditation in den Mittelpunkt stellt.

Jede dieser Yogatraditionen setzt andere Akzente und leistet auf ihre Weise ihren Beitrag zu den Schätzen, die der Yoga den Menschen über die Jahrtausende hinweg zur Verfügung stellt. Jede Tradition bringt ihre eigenen Meister hervor, die ihren Schülern helfen, ihren Geist, ihren Körper und damit ihr Leben zu meistern und mit Sinn zu erfüllen.